In Russland wüten derzeit heftige Waldbrände. In Jakutien stehen rund 1,52 Millionen Hektar in Flammen – eine Fläche etwa so groß wie Schleswig-Holstein. In zahlreichen Städten breitet sich der Rauch aus, Anwohner klagen über Atemwegsprobleme. Auch in Karelien, in Russlands hohem Norden an der Grenze zu Finnland, wurde der Notstand ausgerufen, eine Fläche von rund 7200 Hektar brennt. Wissenschaftler wie Behörden sehen die Ursache für die massiven Brände im Klimawandel. So habe Jakutien – mit seinen extrem kalten Wintern und heißen Sommern – 2021 den heißesten Sommer seit Ende des 19. Jahrhunderts verzeichnet, zitiert Interfax den Gouverneur der Region. Angesichts der Hitze und großen Trockenheit der Böden reichen Blitzeinschläge aus, um das Feuer zu entfachen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass es dazu kommt, allerdings treten Extremwetterereignisse global zunehmend häufiger auf. Der Klimawandel bedroht den Permafrostboden in der Region, die Feuer verstärken diese Entwicklung. Taut der Permafrostboden auf, werden Treibhausgase freigesetzt – was zur weiteren Erderwärmung führt.
Immer wieder gibt es außerdem Kritik an unzureichenden Maßnahmen und Ressourcen, die Brände zu löschen. Nikolaj Schmatkow, Direktor des Forest Stewardship Counsil (FSC) in Russland, etwa, kritisiert auf dem staatlichen Sender Radio Sputnik eine „chronische Unterfinanzierung“ der Forstwirtschaft. Eine Verordnung aus dem Jahr 2015 etwa besagt, dass Feuer in sogenannten Kontrollzonen nicht mehr zu löschen sind, wenn „die voraussichtlichen Löschkosten den voraussichtlichen Schaden übersteigen“. Der Feuerökologe Prof. Johann Goldammer vom Global Fire Monitoring Centre rät im Interview mit der Deutschen Welle dazu, das Problem noch grundsätzlicher anzugehen: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir den Wald um jeden beliebigen Preis löschen – oder ob wir versuchen ihn so zu kultivieren, dass er den Auswirkungen des Klimawandels, wie steigenden Temperaturen, veränderten Niederschlagsmustern, die in Mitteleuropa bereits deutlich sichtbar sind, Orkanen und Bränden standhalten kann.“
In Jakutien sind unterdessen auch zahlreiche Ortschaften von den Bränden bedroht, NGOs wie Greenpeace bilden in Zusammenarbeit mit staatlichen Organisationen freiwillige Helfer bei der Brandhilfe aus. Auch andere Freiwilligen-Trupps helfen bei der Brandbekämpfung.
Die Novaya Gazeta hat mit dem freiwilligen Helfer Ajyl Dulurcha gesprochen. Das Interview gibt Einblick in die Arbeit und das hohe Engagement vor Ort. Dulurcha kritisiert aber deutlich auch Missstände, die er bei der Brandhilfe sieht.
Novaya Gazeta: Erzähl bitte von eurem freiwilligen Einsatz bei der Brandbekämpfung, womit begann alles, wo warst du, was hast du gesehen, was ist überhaupt los?
Ajyl: Alles begann vor etwa zwei Wochen. Auf WhatsApp ging ein Video herum, auf dem man sah, wie Menschen schreiend gegen die lodernden Flammen anstürmen und schreien: „Für die Heimat!“, „Los, vorwärts!“. Das hat mich tief bewegt. Ich redete mit meinen Freunden, und alle fragten sich, wie man helfen, was man in dieser Situation tun kann. Wir machen uns sehr große Sorgen, vor allem um die Natur. Dann redete ich mit dem Leiter von Jakutlesressurs, Djulustan Iwanowitsch Chon, der sagte: „Ja, es stimmt, wir brauchen Leute, uns fehlen etwa 100 bis 150 Freiwillige.“ Ich postete einen Aufruf auf Instagram, Facebook: „Lasst uns mithelfen, meldet euch als Freiwillige!“ Es gab am Anfang sehr viel Resonanz, etwa 70 Menschen haben sich gemeldet, aber als es wirklich losging, sagten viele wieder ab, entweder aus Zeitgründen oder sie haben es sich einfach anders überlegt. Im Endeffekt fuhren wir am 11. Juli zu zwölft los, mit unseren Privatwagen.
Alle fragten sich, wie man helfen, was man in dieser Situation tun kann. Wir machen uns sehr große Sorgen, vor allem um die Natur
Unsere Arbeit besteht darin, Brandschneisen zu ziehen, damit das Feuer nicht überspringt. Unsere Freiwilligen halten Brandwache: Erst gehen wir hinter dem Pflug her, der reißt den Boden auf, und damit der sich nicht wieder verschließt, zerkleinern wir die Erde und verstreuen sie, ziehen einen richtigen Graben. Wenn das Feuer näherkommt, passen wir auf, dass die Flammen nicht überspringen. Meistens sind es große Bäume, die Feuer fangen und auf den ungeschützten Teil kippen, über den Graben hinaus. Parallel dazu sind wir los und haben um Spenden gebeten von Geräten, von denen es für uns nicht mehr genug gab – Spaten, Motorsägen –, ich bin buchstäblich von Geschäft zu Geschäft und habe die Leitung überredet, so habe ich zum Beispiel eine Säge für 23.000 Rubel [etwa 260 Euro – dek] bekommen, und noch andere Dinge. So kamen wir an die Motorsägen …
Ajyl, wie lange hat eure Hilfsaktion gedauert, wie viele Tage?
Inoffiziell im Prinzip seit dem 11. Juli bis heute [dem 21. Juli – A. d. Red.], seit paar Tagen sind wir auch offiziell registriert, wir haben einen gemeinnützigen Verein zur Waldbrandbekämpfung in der Republik Sacha (Jakutien) gegründet.
Haben die Freiwilligen die ganze Zeit im Dorf gewohnt?
Ja, wir alle hatten Schlafsäcke und Zelte dabei.
Wart ihr gleich neben dem Gebiet, wo es gebrannt hat?
Ja, ganz in der Nähe. Von da aus sind wir mit unseren Privatautos los, sind die Waldschneisen abgefahren, an den Überlandleitungen entlang, die Jungs haben ihre Autos nicht geschont, sie waren wirklich toll. Sie waren bereit, fast rund um die Uhr alles zu geben.
Technisch gesehen habt ihr also mit dem Pflug Schneisen gezogen, um die das Lauffeuer aufzuhalten.
Ja, mit Pflug und Spaten.
Das heißt, entweder mit Motorkraft, mit Hilfe eines Traktors zum Beispiel, oder auch mit bloßen Händen. Und ihr habt Bäume gefällt, damit sie, wenn sie Feuer fangen und umkippen, nicht die Flammen überspringen lassen?
Ja, und wir haben die Ausbreitung auch mit Hilfe von Wasser und Spaten gebremst.
Gibt es Hinweise darauf, was die Ursache für den Waldbrand ist, Fahrlässigkeit oder ein Blitzeinschlag?
Man geht davon aus, dass es Trockengewitter waren. Wir hatten kaum Regen hier. Darum war es sehr trocken, und es gab Gewitter. Den letzten Brandherd, den 21., sollen Menschen entdeckt und gemeldet haben. Am nächsten Tag sind die Löschtrupps raus und haben zwei Tage lang gesucht, aber sie haben die Stelle nicht gefunden und aufgegeben. Drei Tage später hat sich der Brandherd ausgeweitet, und es gab kaum noch eine Chance ihn aufzuhalten.
Aber ihr habt diesen Brand irgendwie unter Kontrolle gebracht? Das heißt, eure Mühen waren nicht umsonst?
Ja, auf der Karte sieht man sogar eine gerade Linie, da, wo wir das Feuer stoppen konnten. Wir haben mehrere Anläufe gebraucht, hatten zu wenig Erfahrung – es hat nicht geklappt. Auch der Wind hat uns die ganze Zeit Streiche gespielt. Das war ein richtiger Kampf, wir versuchten, dem Feuer den Weg abzuschneiden, und dann drehte der Wind wieder. Es war wie ein Kampfeinsatz.
Dieser Brand, den ihr gelöscht habt: War die Feuerwehr nach den Verordnungen des Katastrophenschutzes verpflichtet, ihn zu löschen, oder nicht?
Nein, war sie nicht. Das Feuer war am Anfang mehr als fünf Kilometer von der nächsten Ortschaft entfernt, und wir haben versucht, es dort aufzuhalten.
Das war ein richtiger Kampf, wir versuchten, dem Feuer den Weg abzuschneiden, und dann drehte der Wind wieder
Das heißt, das Feuer war im Grunde weit genug weg, und die Feuerwehr hatte das Recht, es nicht zu bekämpfen, richtig?
Ja, sie fangen soweit ich weiß erst ab fünf Kilometern an zu löschen, aber das ist sehr nah.
Was denkst du, ist es normal, dass sich bei uns die Betroffenen quasi selbst retten müssen, wenn sie brennen?
Nein. Aber die Mitarbeiter von Jakutlesressurswaren schon seit April praktisch pausenlos im Einsatz, sie haben gekämpft, das Gleiche gemacht wie wir, aber sie haben es nicht geschafft.
Das heißt, sie konnten nicht rechtzeitig genügend Brandschneisen ziehen?
Ich denke, sie hatten zu wenig Technik, und zu wenig Leute.
Verstehe ich das richtig, dass Jakutlesressursseit dem Frühjahr das Gleiche gemacht hat wie ihr, also Schneisen gegraben und freigelegt?
Ja, und gelöscht.
Wenn ein Wald von Anfang an mit diesen Schneisen durchzogen ist, so wie in den stadtnahen Wäldern bei Jakutsk, dann sollte sich ein Brand im Prinzip nicht über dieses Gebietsstück hinaus ausbreiten, oder?
Ich sag mal so: Wir haben ein großes Problem bei der Finanzierung der ganzen Branche, das fängt schon bei den Feuerspringern an. Als wir im Lager ankamen, wurden wir dem Brandbekämpfungsleiter unterstellt, das sind Leute von Jakutlesresurs. Das heißt, wir haben unter der Anleitung von Profis gehandelt, wir haben uns nicht einfach gedacht: Lasst uns mal machen.
Ich sag mal so: Wir haben ein großes Problem bei der Finanzierung der ganzen Branche
Sehen wir uns doch mal die Zahlen für die ganze Branche an: Zu Sowjetzeiten gab es 1500 Feuerspringer, heute sind es 224.
Was machen Feuerspringer genau?
Das sind die, die vor Ort löschen.
Und von wem werden sie finanziert? Von der Zentralregierung oder von den Regionen?
Soweit ich weiß, von Moskau, 1,3 Milliarden Rubel [umgerechnet rund 15 Mio. Euro – dek] ist das Gesamtbudget in Russland. Aber dieses Geld fließt in den Betrieb der Anlagen, der Technik, der Löschfahrzeuge.
Verstehe ich das richtig, dass das Geld vorne und hinten nicht ausreicht, um die eigentliche Arbeit zu machen?
Der Normsatz für den ganzen Fernen Osten sind 28 Rubel [rund 32 Cent – dek] pro Hektar, das ist der Regelsatz für die Finanzierung. In der Republik Sacha sind es 6 Rubel 90 Kopeken [rund 7 Cent – dek]. Weiter westlich, Richtung Europa, ist der Regelsatz, glaube ich, höher. Aber bei uns sind es 6 Rubel. Und Sie sehen ja die Ausmaße.
Man soll also, grob gesagt, für 6 Rubel einen Hektar Wald mit Gräben durchfurchen?
Im Grunde genommen, ja. So viel gibt es für die Instandhaltung eines Hektars.
Stalin, der „Dshingis Khan mit Telefon“ habe nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg einen Mythos begründet, der noch das Russland von heute prägt – den Mythos „vom siegreichen Führer und dem großartigen Staat, vom Neid des Westens und der Einzigartigkeit der russischen Nation, von den Kränkungen, dem gestohlenen Ruhm, dem Messianismus“, so der Sheffield-Historiker Jewgeni Dobrenko.
Unlängst hat Putin den Hitler-Stalin-Pakt verteidigt und Polen eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gegeben. Nun hat die Staatsduma Anfang Juni einen Gesetzentwurf angenommen, wonach es künftig strafbar ist, die Sowjetunion mit NS-Deutschland zu vergleichen sowie die „entscheidende Rolle der Sowjetunion beim Sieg über NS-Deutschland“ zu leugnen. Schon im Vorfeld wurde Kritik laut, dass der historische Diskurs so noch weiter verengt werde.
Inwiefern der Kriegsmythos unter Stalin die neue sowjetische Nation schuf, wie stark deren Traumata und Phobien Russland bis heute noch prägen und die politische Führung Produkt dieser Traumata und Phobien ist – das diskutiert Olga Timofejewa, Kulturredakteurin der Novaya Gazeta, im Interview mit Jewgeni Dobrenko.
Novaya Gazeta: Als ich Ihre zwei Bände Late Stalinism. The Aesthetics of Politics (dt. Der Spätstalinismus. Ästhetik der Politik) gelesen habe, konnte ich besser verstehen, warum das Interesse an Stalin heute so groß ist. Dass die Menschen die Gräueltaten jener Zeit gutheißen, das kann man sich nur schwer vorstellen, aber das, was Sie über den späten Stalinismus schreiben, erklärt vieles. Was macht diese Epoche so interessant für Sie?
Jewgeni Dobrenko: Es gibt viele Gründe, aber einer der wichtigsten ist, dass diese Zeit im Schatten anderer Epochen steht, die viel turbulenter und deshalb für Historiker interessanter sind – die revolutionäre Epoche der 1920er Jahre, die Epoche des Terrors in den 1930er Jahren und die Tauwetter-Periode von 1956 bis 1964.
Aber für mich sind die wichtigsten Epochen die, in denen nichts passiert. Ein Vulkanausbruch ist nur eine kurze Erscheinung, aber dass ein Vulkan entsteht, dauert sehr lange. Solche Epochen, in denen sich etwas lange hinzieht, formen das Massenbewusstsein. Damit ein langfristiger Effekt eintritt, müssen die Folgen einer Umbruchszeit eine Phase der Stabilisierung durchlaufen, in der die revolutionäre Welle abebbt und die Menschen sich an das Leben unter den neuen Bedingungen anpassen.
Für mich sind die wichtigsten Epochen die, in denen nichts passiert
Natürlich sind es nicht die 1930er Jahre mit ihrer brutalen Kollektivierung, den Kraftakten der ersten Fünfjahrespläne und dem Großen Terror, sondern der späte Stalinismus mit seinem Siegespathos, dem Pomp und der Selbsterhöhung: Diese bleiben als Idealbild und nähren die postsowjetische Nostalgie bis heute.
Dennoch erwachsen aus dieser Nostalgie ziemlich aktuelle Komplexe, wie der Antiliberalismus, der Antimodernismus, die antiwestlichen Stimmungen.
Es ist eher umgekehrt: Sie erwachsen nicht aus ihr, sondern rufen sie hervor. Unter der äußeren Konfliktlosigkeit der Nachkriegsjahre reifte nämlich das heran, was das historische Bewusstsein der sowjetischen, und dann auch der postsowjetischen Nation auf Jahrzehnte geformt hat. Das Ereignis, in dem sich die Nation voll entfaltet hat, war der Sieg im Krieg. Aber geschehen ist das nicht 1945. Damit der Sieg zu einem Triumph des Regimes werden konnte, brauchte es Jahre. Jahre, in denen ein Mythos vom Krieg und der sowjetischen Überlegenheit erschaffen wurde, vom siegreichen Führer und dem großartigen Staat, vom Neid des Westens und der Einzigartigkeit der russischen Nation, von den Kränkungen, dem gestohlenen Ruhm, dem Messianismus. Und daraus sind dann in der Tat viele der heutigen Komplexe erwachsen.
Warum hat Stalin so hartnäckig genau diese Nation geformt?
Er hat ein Land übernommen, dessen Bevölkerung ihre Geschichte und nationale Identität verloren hatte. Während vor dem Krieg die Außenwelt im sowjetischen Bewusstsein kaum existiert hatte, erforderte der Status einer Supermacht eine aktive Außenpolitik, die wiederum eine künstlich erschaffene Bedrohung und den Westen als deren Quelle brauchte.
Um den Sieg zu einem Triumph des Regimes zu machen, brauchte es Jahre
Stalin setzte alle erdenklichen Mittel ein, um Druck auf das Massenbewusstsein auszuüben, denn genau dadurch wird die politische Kultur geformt. Und noch wichtiger – durch die Mentalität. Deshalb frage ich immer, wenn ich höre, Putin sei schlecht: „Können Sie sich vorstellen, dass in diesem Land Václav Havel regiert? Oder Angela Merkel?“ Das wäre unmöglich.
Denn ein Leader, der humanistisch eingestellt ist und ein liberales Programm verfolgt, ist im Bewusstsein der Bevölkerung ein Loser. Gorbatschow ist ein sehr gutes Beispiel dafür. Die Mehrheit sieht ihn als Schwächling, der alles zugrunde gerichtet, zugelassen, nicht verhindert hat … Die Mentalität der Nation bestimmt die Nachfrage nach einem bestimmten Typus von politischer Führung. Stalin hat die sowjetische Nation bewusst geformt, aber auch die Nation hat sich ein Regime geformt.
Bei liberalem Tauwetter beginnt es zu bröckeln, und dann kommt wieder eine Eiszeit, in der nur ein solches Regime möglich ist, das die Nachfrage der Massen bedient.
Warum gibt es dann überhaupt Tauwetterperioden?
Auf Frost folgt Tauwetter, das ist unvermeidlich. Auch nach Putin wird eine Tauwetterperiode kommen. Nicht, weil dann ein Liberaler kommt – Liberale gibt es da oben nicht, woher auch. Es wird jemand kommen, der aus demselben Holz geschnitzt ist, nur hoffentlich jemand, der nicht so verstockt, weniger komplexbeladen, jünger und moderner ist.
Auch nach Putin wird eine Tauwetterperiode kommen
Tauwetterperioden kommen in Russland nicht durch liberale Anführer, sondern weil das Land sich nicht bewegen kann, weil es in einer wirtschaftlichen und technologischen Sackgasse feststeckt. Es verliert seine technologischen, also auch militärischen Vorzüge, und das ist in den Augen des Regimes gefährlich. Deshalb ist das Regime gezwungen, Modernisierung zuzulassen.
Stalins Fünfjahrespläne und der Gulag – war das auch Modernisierung?
Bucharin nannte Stalin einen „Dshingis Khan mit Telefon“. Also einerseits einen orientalischen Despoten, grausam, blutrünstig und so weiter, und andererseits einen ziemlich modernen Demagogen, der ein paar marxistische Begriffe aufgeschnappt hatte und hervorragend mit ihnen zu manipulieren verstand.
Wenn ich vom 20. Jahrhundert erzähle, sage ich meinen Studierenden immer etwas, was ihnen nicht klar ist. Sie denken, die Russische Revolution habe sich 1917 ereignet, aber in Wirklichkeit hat sie ein halbes Jahrhundert gedauert. Sie hat am 9. Januar 1905 begonnen und ist am 25. Februar 1956 geendet – an dem Tag, als Chruschtschow seinen Geheimbericht vorlegte.
Bucharin nannte Stalin einen „Dshingis Khan mit Telefon“
Was ist eine Revolution? Die Revolution ist eine Form des Bürgerkriegs. Was ist der Stalinismus? Der Stalinismus ist ein Bürgerkrieg im institutionalisierten Rahmen. Stalin hat ein System erschaffen, in dem der Bürgerkrieg zur Existenzform wurde. Der Gulag war eine Form des Bürgerkriegs, genau wie die Kollektivierung eine Form des Bürgerkriegs war – wer erinnert sich heute noch an den Holodomor in der Ukraine oder daran, dass ein Drittel der Bevölkerung Kasachstans während der Kollektivierung vor Hunger nach China geflohen ist?
Was ist eine Revolution? Die Revolution ist eine Form des Bürgerkriegs. Was ist der Stalinismus? Der Stalinismus ist ein Bürgerkrieg im institutionalisierten Rahmen
Dann die Industrialisierung, die in den Baracken mit Millionen von hungernden Bauern begann, die der Hunger vom Land in die Städte getrieben hatte. Dann die Zeit des Großen Terrors. Danach stürzte das Land in den Zweiten Weltkrieg mit seinen unfassbaren Opferzahlen, einer zerstörten Wirtschaft und so weiter. Und 1946 beginnt dann der Kalte Krieg … Drei Generationen haben in einem Zustand von Gewalt und Terror gelebt. Was für einen politischen Anführer konnte so ein Land haben? Stalin ist nicht vom Himmel gefallen, er war ein logisches, folgerichtiges Produkt aus diesem Dauerkrieg.
Haben die persönlichen Komplexe totalitärer Herrscher Einfluss auf den nationalen Charakter?
Natürlich. Wenn einer bösartig ist, so wie Stalin, dann findet man auch hochgradiges Ressentiment und Hass. Unter einem weniger bösartigen Anführer wie Breshnew hat das repressive Regime einen anderen Charakter. Aber alle diese Regime folgen einem bestimmten Programm, einer inneren Logik. Aus einer Tulpenzwiebel wächst keine Chrysantheme: Stalin konnte kein Tauwetter initiieren, Breshnew konnte keine Perestroika beginnen.
Drei Generationen haben in einem Zustand von Gewalt und Terror gelebt. Was für einen politischen Anführer konnte so ein Land haben?
Nehmen Sie die sowjetische Geschichte. Was kam nach 20 Jahren Sowjetmacht? 1937. Die Chinesische Revolution hat 1949 gesiegt. Was kam 20 Jahre später, 1969? Die Kulturrevolution. In der Logik ihrer Entwicklung kommen totalitäre Regime nach 20 Jahren (das hängt zu einem gewissen Grad mit dem Generationenwechsel zusammen) offenbar in ein repressives Stadium. Ja, wir haben in Russland im Moment weder 1937 noch die Kulturrevolution, das ist immerhin das 21. Jahrhundert und eine andere Welt, aber die Logik des Regimes ist immer noch dieselbe.
Was denken Sie, ist Putins Hauptinteresse – Macht oder Geld?
Ich denke, Geld ist nur ein Instrument der Macht. Putin ist ein typisches Polit-Tier. Er ist genau wie Stalin ein Machtfanatiker. Geld ist nur ein Mittel, diese Macht zu besitzen. Stalin hat dieses Mittel nicht gebraucht. Er besaß ein Sechstel der Erde, wozu brauchte er einen Biberpelz?
Ich glaube, Putins Problem ist, dass er weiß, wie es bei Stalin ausgegangen ist, und ihm klar ist, wie es bei ihm ausgehen wird. Er weiß, was mit Stalins Leuten, Stalins Kindern geschehen ist. Mit der Tochter, die bettelarm in einem Altersheim irgendwo in der Fremde gestorben ist, seiner Enkeltochter, die an der Supermarktkasse arbeiten musste, und so weiter.
Stalin besaß ein Sechstel der Erde, wozu brauchte er einen Biberpelz?
Ich nehme an, Putin denkt, er muss die ihm Nahestehenden absichern. Außerdem ist Geld etwas, das sein gesamtes Umfeld braucht. Was bekommen denn diese Leute für ihre Dienste? Sie bekommen ihr eigenes Stück Macht, und die bemisst sich in den Summen, die diese Menschen besitzen. Das ist der institutionalisierte Fressnapf, den es in Russland immer gegeben hat. Gogols Revisor ist unsterblich: Alle Beamten klauen auf dem Posten, der ihnen zum Fressen hingestellt wurde. Und so sichern diese Menschen im Endeffekt die Macht des politischen Anführers.
Manchmal scheint es, als würden sie sie zerstören, indem sie immer absurdere Gesetze verabschieden.
Diese Gesetze sollte man nicht zu ernst nehmen: Das wird alles in sich zusammenfallen, sobald das Regime zerfällt. Und das wird nach Putin garantiert zerfallen, selbst wenn er von einem loyalen Nachfolger abgelöst wird. Es gibt einen objektiven Prozess, der unterschwellig abläuft und der absolut unaufhaltsam ist. Die nächste Generation kommt. Die Jugend rückt nach. Was bleibt da noch zu sagen?
Dass Menschen aufgrund dieser Gesetze im Gefängnis sitzen.
Vergessen Sie nicht: Macht ist die Demonstration von Macht. Den Menschen wird diese Show vorgeführt, weil das Einzige, worauf sich dieses Regime stützen kann, seine Härte ist. Und dafür braucht es ein bestimmtes Bild: ein starkes Russland, das sich von den Knien erhoben hat, ein eigenständiges Land, vor dem alle Angst haben, weil es so unbezwingbar ist; ohne uns können sie nichts machen, die Amerikaner werden auf ihren Knien angekrochen kommen et cetera … Aber dieses Bild dient nur einem Zweck: Es soll verbergen, dass dieses Land – das sich als Supermacht darstellt, das Amerika ebenbürtig sein will – ein ganzes Prozent des weltweiten BIP hervorbringt!
Die Lage in Belarus spitzt sich stetig weiter zu: Mehr als 35.000 Menschen wurden seit Beginn der Proteste im August 2020 festgenommen, rund 400 politische Gefangene sitzen derzeit in belarussischen Gefängnissen ein. Erst am Dienstag wurden sieben weitere Aktivisten der belarussischen Opposition zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Darunter auch Pawel Sewerinez, Co-Vorsitzender der oppositionellen und nichtregistrierten Christdemokratischen Partei, der für sieben Jahre ins Gefängnis muss. Für internationales Aufsehen und harsche Kritik sorgte jedoch vor allem die erzwungene Flugzeuglandung einer Ryanair-Maschine in Minsk und die dabei erfolgte Festnahme des ehemaligen Nexta-Chefredakteurs Roman Protassewitsch. Die EU beschloss umgehend Sanktionen, unter anderem ein Landeverbot für belarussische Linien auf EU-Flughäfen. Am Mittwoch hat sich Belarus’ Machthaber Alexander Lukaschenko nun erstmals zu den Vorwürfen geäußert. In seiner Rede sprach Lukaschenko von einem erneuten Kalten Krieg und warnte, Russland könne das nächste Land sein, gegen das der Westen vorgehe. So diskutieren Experten auch, an wen das Vorgehen Lukaschenkos gerichtet ist: Dient der Fall nur als abschreckendes Beispiel nach innen oder auch als Signal an Russland, dass er, Lukaschenko, Moskau loyalster Verbündeter gegenüber dem Westen sei? Damit würde womöglich auch dem Kreml nichts anderes übrig bleiben, als Lukaschenko gewähren zu lassen. Gerade angesichts von früheren Spekulationen, Moskau könne Lukaschenko mittelfristig austauschen oder gar die Integration von Belarus weiter vorantreiben, sagte die Politologin Ekaterina Schulmann auf Echo Moskwy, Lukaschenko sei Erstaunliches gelungen: „Einerseits ist er der Henker seines Heimatlandes, andererseits der letzte Garant dessen Unabhängigkeit.“ Ein Treffen von Lukaschenko und Putin ist für den heutigen Freitag in Sotschi anberaumt. Die Novaya Gazetabringt Ausschnitte aus der Rede Lukaschenkos – aus der nur Auszüge an die Öffentlichkeit gelangten – und überprüft einzelne seiner Aussagen kritisch.
Eine Besonderheit von Alexander Lukaschenko ist: Wenn er von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt. Sonst glaubt es keiner, auch nicht die, die in diesem Moment im Zuschauerraum sitzen. Doch er schert sich nicht um die Reaktionen des Publikums, die Meinung der Leute oder die Reputation des Landes. Lukaschenkos Phantasie prescht seinen Worten voraus und malt so bunte Bilder, dass jeder Surrealist vor Neid erblasst.
Am Mittwoch betrat Lukaschenko den Ovalen Saal des Hauses der Regierung anlässlich eines Treffens mit Abgeordneten, Mitgliedern der Verfassungskonvents und Vertretern von Regierungsorganen. Schon am Vorabend war klar, dass er nicht über die Aussaat und nicht einmal über den Slawjanski Basar, sondern über das am Sonntag gekaperte Flugzeug sprechen würde. Dass er lügen würde und selbst dran glauben. Und so ist es geschehen.
Wenn Lukaschenko von einer Bühne spricht, dann fängt er selber an zu glauben, was er da sagt
Das Flugzeug, so heißt es, wurde über dem Atomkraftwerk Belarus umgeleitet, um eine große Katastrophe zu verhindern: „Im Flugraum befindet sich das Kernkraftwerk Belarus. Und in dessen Nähe kam es zur Umleitung des Flugzeugs. Was wäre gewesen, wenn es plötzlich … Reicht uns nicht ein Tschernobyl? Und wie hätten wohl in einer solchen Situation die USA reagiert, angesichts ihrer eigenen traurigen Erfahrung [am 11. September 2001]? Es liegt nicht nur, besser gesagt, es liegt überhaupt nicht an dem Düsenjäger, der absolut regelkonform losgeschickt worden ist. Fakt ist auch, worüber wir nicht reden: Dass auf meinen Befehl hin alle Schutzsysteme des Atomkraftwerks, einschließlich der Flugabwehr, alarmiert und umgehend in höchste Einsatzbereitschaft versetzt wurden.“ Nur ließ man das Flugzeug über Lida umkehren, das Atomkraftwerk befindet sich allerdings in der Nähe von Ostrowez. Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius. Später sagte Lukaschenko, dass der Flugkapitän sich 15 Minuten lang mit „den Gastgebern“ und mit Mitarbeitern des Flughafens in Vilnius beraten habe. Offenbar hat das Flugzeug in diesen 15 Minuten einfach so in der Luft gestanden und sich nirgendwo hin bewegt – und wartete geduldig auf den Düsenjäger, von dem es dann höflich zum Ort der Landung begleitet wurde.
Von dem Punkt aus, an dem das Linienflugzeug kehrtmachte, sind es 104 Kilometer bis zum Kernkraftwerk, 11 Kilometer bis zur litauischen Grenze und 70 Kilometer bis Vilnius
Natürlich war ein Terrorist an Bord. Natürlich kam die [Info über die] Bombendrohung aus der Schweiz. Natürlich ist das alles eine Hinterhältigkeit des Westens, der sich an Belarus für die Pandemie rächt. Dort bei denen im Westen haben Menschen am Lockdown gelitten, nun sind sie neidisch auf die Belarussen und hassen die eigenen Regierungen. Und das ist ein Motiv, sich an dem stabilen und wohlhabenden Staat zu rächen: „Offensichtlich ist die westliche Gesellschaft nicht zufrieden damit damit, wie sich der Ausgang aus der Pandemie vollzieht, wie sie vor Corona geschützt wurde, wie die Impfstoffe im Westen verteilt wurden und wie die Impfungen laufen. Kurz gesagt, wie die Menschen aus der Gefahr befreit und in Krankenhäusern behandelt werden. Deshalb ist es für den Westen so wichtig zu zeigen, dass es keine besseren Beispiele gibt – wo man sich um die Menschen, ihre Rechte und ihre Gesundheit besser kümmert als bei ihnen. Und deshalb ist es ihnen so wichtig, davon abzulenken, was in ihren Ländern vor sich geht. Unsere Haltung zu Pandemie – diese Erfahrung ist unbequem für sie. Schließlich müssen sie sich vor ihren Bürgern verantworten, für die Lockdowns und das Einsperren. Belarus, insbesondere wenn es wirtschaftlich voller Leben ist, schmeckt ihnen nicht. Also greifen sie an.“
Eiskalter statt Kalter Krieg
Der Angriff, so Lukaschenko, ist brutal. Der Krieg ist nicht mehr kalt, sondern eiskalt. Er könne wohl aber jederzeit zu einem „heißen“ und sogar zu einem Weltkrieg auswachsen: „Wir befinden uns nicht an vorderster Front eines neuen Kalten sondern eines eiskalten Krieges. Und nur ein Staat, der sich dem hybriden Druck nicht beugt, kann dem standhalten. Ich wende mich an die gesamte internationale Gemeinschaft: Belarus zuzusetzen – das macht keinen Sinn! Und bevor Sie irgendwelche überstürzten Schritte machen, denken Sie daran, dass Belarus das Zentrum von Europa ist. Und wenn hier etwas ausbricht, dann wird das ein weiterer Weltkrieg.“ Diesen Krieg werde Belarus laut Lukaschenko nicht gewinnen, sicher sei aber, dass es dem Feind einen „unzumutbaren Schaden“ zufügen werde.
Und genau diese Art von Schaden hat Lukaschenko derweil der einzigen Fluggesellschaft von Belarus zugefügt. Während er vor den Funktionären sprach, verbrannte ein Belavia-Flugzeug, das auf dem Weg nach Barcelona war, über Kobrin kreisend seinen Treibstoff. Es durfte den polnischen Luftraum nicht passieren und kehrte später nach Minsk zurück. Flugverbindungen nach Großbritannien, Litauen, Tschechien, Finnland, Lettland, der Ukraine und Frankreich sind ausgesetzt. Zypern, Österreich, Polen, Spanien, Lettland, Deutschland, die Niederlande, Schweden, Ungarn, die Ukraine, Litauen, Großbritannien und Frankreich wollen den belarussischen Luftraum nicht mehr nutzen. Und das ist offenbar erst der Anfang.
Auf den Krieg bereitet sich Lukaschenko gemeinsam mit seinen engsten Gefährten vor: Premierminister Roman Golowtschenko sagte bei seiner Rede im Ovalen Saal, dass Belarus im Falle neuer Sanktionen als Gegenmaßnahmen ein Importembargo und Transitbeschränkungen einführen wird. Und KGB-Chef Iwan Tertel verkündete, dass die „Hysterie des Westens“ im Zusammenhang stehe mit den Aussagen von Roman Protassewitsch, der natürlich die Namen westlicher Protest-Sponsoren und Auftraggeber von Terroranschlägen preisgegeben habe. Nach diesen Erklärungen – zu Krieg, Embargo, Terroranschlägen und einem Flugzeug mit Sprengstoff über einem Atomkraftwerk – erscheint doch eigentlich nur noch ein Bunker oder ein sofortiger Rausschmiss der gesamten Regierung logisch.
Doch Lukaschenko schmiedet ernsthaft Pläne. Nicht nur, dass er am 26. Mai mit einem „Weltkrieg“ drohte, ein Treffen mit Putin ankündigte, und Putin und Biden zu einem Treffen in Minsk anstelle von Genf einlud. Er sprach auch vom Verfassungsreferendum, das auf jeden Fall 2022 kommen wird. Lukaschenko glaubt, dass er eine Zukunft hat. Oder genau genommen: Er glaubt daran, sobald er beginnt, darüber zu sprechen.
Am 22. Februar 2021 hatten sich Alexander Lukaschenko und sein russischer Kollege Wladimir Putin in der Nähe von Sotschi getroffen. Es war das zweite Treffen nach dem Beginn der historischen Protestwelle im August 2020 in Belarus. Beim ersten Treffen im September hatte Putin am Schwarzen Meer seine Unterstützung für Lukaschenko mit einem 1,5 Milliarden US-Dollar-Kredit untermauert. Diesmal ging es weniger um Geld, Gas und Kredite als wohl mehr um die Symbolik des Treffens, wie Kommentatoren urteilten: Zwei Autokraten präsentierten sich als Einheit im Kampf gegen die Proteste und potentielle demokratische Bewegungen in ihren jeweiligen Ländern.
Dass die belarussisch-russischen Beziehungen in der Vergangenheit immer wieder von großen Schwierigkeiten und wenig Harmonie geprägt waren, beschreibt die Wissenschaftlerin Nadja Douglas in der Gnose zum Thema.
Lukaschenko befürchtet indes, dass die Proteste am 25. März, dem Tag der Freiheit, wieder im großen Stil ausbrechen könnten. Die Opposition hat eine Demonstration für diesen Tag angekündigt. Und der KGB-Chef Iwan Tertel will bereits Hinweise auf Destabilisierungspläne ausgemacht haben. Entsprechend ist zu erwarten, dass der Machtapparat weiter gezielt gegen jeglichen Widerstand vorgehen wird. Auch für diese Gangart diente das Treffen in Sotschi als Rückversicherung.
In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta geht die bekannte belarussische Journalistin Irina Chalip der nicht ganz neuen Zweckharmonie zwischen den beiden Autokraten auf den Grund.
An dem Tag, als Putin und Lukaschenko in Sotschi fürstlich zu Mittag speisten, warf sich in Gomel der sechzehnjährige Nikita Solotarjow gegen die Gitterstäbe seines Käfigs im Gerichtssaal und schrie: „Lasst mich hier raus!“. Nikita wird wegen Vorbereitung von Massenunruhen zu fünf Jahren Lagerhaft verurteilt. Er hat Epilepsie.
Verhaftet wurde Nikita Solotarjow im August 2020. „Papa, sie schlagen mich jeden Tag!“, sagte er zu seinem Vater, der bei den Verhören als gesetzlicher Vertreter des Minderjährigen dabei war. Nikita beklagte, man würde ihm seine Tabletten nicht geben, und einmal soll der Aufseher auf seine Bitte um Medikamente geantwortet haben: „Du bist ein Politischer und wirst verrecken!“
Seit Beginn der Proteste in Belarus sind 200 Tage vergangen, und auf den ersten Blick scheint es, als wären die Proteste vorbei. Viele Menschen sind wegen Corona in Quarantäne. Andere verbringen ihre Zeit vor Gericht: Im Zuge der Proteste wurden an die zweitausend Strafverfahren eingeleitet.
Die Belarussen sind zu einem Langstreckenlauf angetreten
Die Gerichtsverhandlungen laufen seit Dezember. In vielen belarussischen Städten kommen Menschen zu den Gerichten, um die Angeklagten zu unterstützen: den minderjährigen Nikita, die Journalistinnen von Belsat, den Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko sowie Hunderte andere Protestteilnehmer, Journalisten, Administratoren von Telegram-Kanälen, Blogger und Unternehmer. Die Menschen bringen Sachen in die Gefängnisse und stehen in den Postämtern Schlange, um Päckchen, Telegramme oder Geld in die U-Haft zu schicken. Abends oder früh morgens gehen sie mit Flaggen raus zu lokalen Protestaktionen in ihren Vierteln und in den Hinterhöfen. Es ist natürlich dunkel. Und unheimlich. Manchmal scheint es, als sei die Morgendämmerung eine Erfindung der Autoren utopischer Romane.
Die Partisanenaktionen in den Hinterhöfen sind natürlich keine hunderttausendköpfigen Märsche durch die Innenstadt von Minsk. Und die Lage in Belarus ist heute schwieriger denn je. Aber auf keinen Fall hoffnungslos. Im Gegensatz zu der von Lukaschenko, die ist praktisch hoffnungslos. Die Belarussen sind zu einem Langstreckenlauf angetreten, und er aus Gewohnheit zu einem 100-Meter-Sprint. Lukaschenko hat seine Kräfte falsch eingeteilt, und jetzt bleibt ihm nur noch, nach Sotschi zu fliegen und zu hoffen – wenn nicht auf Hilfe, dann wenigstens auf ein freundliches Wort.
Noch vor einem Jahr waren die Treffen zwischen Lukaschenko und Putin Anlass für Diskussionen und akribische Analysen von Wortwahl und Gestik („er hat zweimal geguckt, und einmal hat er ‚kommen Sie rein, es zieht‘ gesagt“), sie schürten Ängste auf der einen und Hoffnung auf der anderen Seite. In Belarus kümmern die Treffen und Dialoge des Selbsternannten mit dem Nullgesetzten jetzt niemanden mehr. Gut, sie haben sich getroffen und umarmt. Getrunken und gegessen, auf Skiern gestanden. Aber das war‘s auch schon.
Sie haben jetzt ihre eigenen Gesprächsthemen, die für die Belarussen nicht mehr interessant sind, weil es nichts mehr zu besprechen gibt außer Repressalien. Lukaschenko und Putin können Erfahrungen austauschen; sie können sich Gedanken machen, ob man Kinder schon jetzt einbuchtet oder noch abwartet, bis sie erwachsen sind; sie können über das Strafmaß für Andersdenkende beratschlagen und ob man ohne Folter auskommt oder doch lieber zu den langerprobten Methoden des Herausprügelns von Geständnissen greift. Putin und Lukaschenko verbindet heute mehr denn je. Die Integrationspläne beider Staaten, Öl- und Gaspreise, frühere Auseinandersetzungen – all das ist in den Hintergrund gerückt und hängt an unsichtbaren Schnüren, die aus dem Zuschauerraum nicht zu sehen sind. Jetzt ist der Moment der wahren Einigkeit gekommen. Es könnte der Beginn einer engen Männerfreundschaft werden, aber auch ihr Ende – Essen unter Freunden können sehr unterschiedlich ausgehen, da können Sie jeden Kellner fragen. Aber im Moment wirken Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko wie zwei alte Freunde, zwei Gleichgesinnte, die zusammen auf der Bank vor der Hütte sitzen, den Sonnenuntergang betrachten, und über den Lauf der Welt sinnieren.
Abrechnung mit Andersdenkenden
Man muss nur die Bilder des jüngsten Treffens in Sotschi mit älteren vergleichen: vor einem, zwei, fünf Jahren. Damals waren das noch zwei völlig unterschiedliche Menschen: Der fast gleich einer Würgeschlange ruhige Putin, der am Haupteingang einen Bittsteller empfängt. Und Lukaschenko, der sich dem Anführer von derartigem Kaliber anbiedert. Der eine genervt, weil er gezwungen ist den anderen zu empfangen, mit dem im selben Raum zu sein und Ebenbürtigkeit vorzutäuschen ihm sichtlich Unbehagen bereitet. Der andere voll Hass, weil er gezwungen ist, Freundlichkeit gepaart mit Gehorsam zu mimen und angesichts des Spotts der Kremlbelegschaft Fassung zu bewahren, der es erlaubt und sogar ausdrücklich empfohlen ist, über die politische Mesalliance zu scherzen.
Und jetzt tun sie beide gleichermaßen so, als wäre in ihren Ländern alles stabil, lügen einander und der Außenwelt im gleichen Tonfall etwas vor, stellen sich gleichermaßen blind und beharren darauf, dass man sie zu Hause respektiert und wählt. Sogar die Kleiderwahl ist fast identisch – im Stil der sowjetischen Landbevölkerung der 1950er Jahre.
Im Grunde haben sie schon lange und jeder auf seine Art auf diese Nähe zugesteuert. Der eine Teilnehmer des Sotschi-Treffens stellte seine Legitimität durch hartnäckiges Nullierungsmanagement in Frage. Der zweite erstickte die Opposition bereits im Keim. Aber in diesem Winter trafen sich ihre Wege an einem Scheidepunkt. An diesem Punkt steht die massenhafte Abrechnung mit Andersdenkenden, willkürliche Verhaftungen und Prozesse, Gewalt gegen Kinder, Drohungen gegen ihre Eltern, Folter und Mord. Vielleicht sieht genau so der Bifurkationspunkt aus.
Übrigens ist Lukaschenko schon ein paar Tage vor dem offiziellen Treffen mit seinem Verbündeten nach Sotschi geflogen – in seinen wohlverdienten Skiurlaub. Am Tag seiner Abreise wurde in Belarus der Prozess gegen die Journalistin Katerina Borissewitsch und den Arzt Artjom Sorokin aufgenommen (weil sie die Wahrheit über die null Promille im Blut des ermordeten Roman Bondarenko ans Tageslicht gebracht haben), wurde ein Dutzend weiterer Protestteilnehmer in Straflager und den offenen Vollzug geschickt, wurde gegen Viktor Babariko eine ellenlange Anklageschrift verlesen, wurde Maria Kolesnikowas Anwältin Ljudmilla Kasak die Lizenz entzogen, wurde die Haftstrafe von Pawel Sewerinzew, der seit dem 7. Juni in U-Haft sitzt, verlängert und wurde der am 11. August in Brest getötete Gennadi Schutow postum des Widerstands gegen die Staatsgewalt schuldig gesprochen. Das ist die Realität, in der die Belarussen heute leben.
Kann man den Menschen vorwerfen, dass sie ihren Protest in die Hinterhöfe verlegt haben und im Partisanenformat fortsetzen? Nein, natürlich nicht. Kann man behaupten, dass Lukaschenko aufgibt und morgen abtritt? Ich würde gerne ja sagen, aber – nein. Kann man davon sprechen, dass die Proteste verloren sind und die Menschen nicht mehr zu Hunderttausenden auf die Straßen gehen werden? Nein, nein und noch dreimal nein.
Am 25. März beginnt der Frühling
Natürlich werden sie wieder auf die Straße gehen. Diese Winterpause war notwendig. Erstens wegen der zweiten Corona-Welle, die man zu Hause aussitzen musste, sich schützen. Zweitens hat das Ausmaß der Verluste die Menschen eine Zeitlang buchstäblich betäubt: Hunderte, die für lange Zeit durch Folter außer Gefecht gesetzt wurden, Tausende, die wegen Strafverfahren in Untersuchungshaft mussten, Zehntausende, die das Land verlassen haben.
Aber die Stimmung in der Gesellschaft zeigt, dass die Belarussen den Frühling kaum erwarten können. Und das Datum für den Beginn der Frühlingsproteste steht bereits fest: der 25. März – Tag der Freiheit, Jahrestag der Gründung der Unabhängigen Volksrepublik Belarus. Der unabhängige belarussische Staat wurde 1918 im deutsch besetzten Minsk ausgerufen und existierte bis Dezember, als die sowjetischen Truppen in Belarus einmarschierten. An diesem Tag gehen die Belarussen immer auf die Straße, auch wenn sie die restlichen 364 Tage zu Hause bleiben. Und immer mit weiß-rot-weißen Fahnen.
Genau dieser 25. März ist jetzt Gesprächsthema Nummer eins: bei den abendlichen, zur Tradition gewordenen Spaziergängen mit der Nachbarschaft, in der Schlange beim Postamt, im Bus und in den sozialen Netzwerken. Die Belarussen warten auf den Tag der Freiheit. Und es ist ihnen völlig egal, was die beiden neuen Busenfreunde irgendwo in Sotschi zu Mittag hatten.
Noch bevor Zehntausende landesweit am vergangenen Sonntag auf die Straße gingen, um ihre Solidarität mit Oppositionspolitiker Alexej Nawalny zu bekunden, hatten Sicherheitskräfte hart durchgegriffen: Es gab zahlreiche Festnahmen, Strafverfahren wurden eingeleitet, Nawalny-Vertraute kamen unter Hausarrest – etwa sein Bruder Oleg Nawalny und die Oppositionelle Ljubow Sobol. Am Sonntag schließlich riegelten Sicherheitskräfte nicht nur den Platz rund um die Lubjanka ab – den ursprünglichen Versammlungsort der Protestierenden, sondern ließen auch Geschäfte und Cafés in Moskaus Innenstadt schließen sowie mehrere Metrostationen. Die Demonstrierenden verlegten schließlich den Treffpunkt, der Protest zersplitterte teilweise in viele kleine Gruppen, die durch die gesamte Stadt zogen, zeitweise war das Untersuchungsgefängnis Matrosenruhe, in dem Nawalny derzeit in U-Haft ist, das Ziel. Landesweit wurden laut OWD-Info über 5000 Menschen festgenommen, darunter mindestens 82 Journalisten. Polizisten setzten neben Schlagstöcken auch Elektroschocker gegen Protestierende ein; Szenen wie die von Festnahmen durch maskierte Sicherheitskräfte in Zivil oder von im Schnee liegenden Demonstranten erinnerten viele Beobachter an die Proteste in Belarus.
„Warum muss man so hart vorgehen?“, das fragen sich angesichts dieser Maßnahmen derzeit viele – Irina Tumakowa von der Novaya Gazeta hat die Frage dem Politologen und einstigen Putin-Berater Gleb Pawlowski gestellt. Im Interview spricht er darüber, welche Botschaft den Bürgern vermittelt werden soll – und warum Nawalnys Team die Situation aktuell mehr kontrolliert als die Staatsmacht.
Irina Tumakowa: Gleb Pawlowski, warum musste beim Auflösen der Protestaktionen so hart vorgegangen werden? Warum will die Staatsmacht diese Protestaktionen überhaupt auflösen, wovor hat sie Angst?
Gleb Pawlowski: Es ist gar nicht die Frage, warum die Aktionen aufgelöst werden, sondern warum sie so erfolgreich sind. In meinen Augen sind diese Aktionen verblüffend erfolgreich, die da im Namen der Befreiung Nawalnys geschehen. Und dieser Erfolg hängt damit zusammen, dass es der Opposition im bedeutenden Ausmaß gelungen ist, strategische Kontrolle über das Handeln der Staatsmacht zu bekommen. Denn dieses Handeln war vorhersehbar und dumm.
Das ist ja genau die Frage: Warum muss man so hart vorgehen – und so dumm?
Die Dummheit der Staatsmacht ist ein wichtiger Faktor in der revolutionären Mobilisierung der Massen. Darüber, wie außerordentlich wichtig diese Protestaktionen sind, wurde zunächst erst einmal Moskau und dann ganz Russland informiert – und zwar durch die Absperrung des gesamten Moskauer Stadtzentrums. Wohlgemerkt, der Hauptstadt unseres Heimatlandes.
Der Opposition ist im bedeutenden Ausmaß gelungen, strategische Kontrolle über das Handeln der Staatsmacht zu bekommen
Ich kann mich nicht mal entsinnen, wann das zum letzten Mal passiert ist. Die haben sehr früh damit angefangen, haben erklärt, dass das mit einer möglichen Protestaktion zusammenhänge. Damit haben sie mindestens 30 Prozent zusätzliche Teilnehmer mobilisiert. Schon vorher. Zweitens ist das ein ganz beliebter Fehler derer, die solche Straßeneinsätze durchführen. Es wurde eine ungeheure Menge an OMON-Spezialeinheiten und Polizei aufgefahren, was gar nicht nötig gewesen wäre. Was sollen die machen? Das Zentrum war abgesperrt, daher hat man dann die Demonstranten durch die Stadtteile, durch kleine und große Straßen gejagt. Daraufhin mussten sie sogar noch weitere Metrostationen schließen.
Übrigens ist es die härteste, direkteste und schnellste Methode, die Stadt über einen Ausnahmezustand in Kenntnis zu setzen, indem man ein paar Metro-Linien sperrt.
Dass das ein Fehler ist, weiß man spätestens seit dem Maidan in Kiew, als die zentralen Metrostationen geschlossen und die Stadtbewohner deswegen wütend wurden. Ganz normale Menschen, die nicht vorhatten, an irgendetwas teilzunehmen. Es dauerte genau einen Tag, dann wurde die Metro wieder geöffnet, denn das ist ein sehr starkes Signal seitens der Staatsmacht.
Dafür, dass sie, also die Staatsmacht, die Sache nicht im Griff hat.
Im Endeffekt haben OMON und Polizei angefangen, die Menschen durch die Straßen zu jagen – und haben damit faktisch die Protestaktion über die ganze Stadt ausgebreitet.
Aber auch bei den Festnahmen wurde sehr hart durchgegriffen.
Was bedeuten diese Festnahmen denn? Sie sind das einzige, was der Staatsmacht bleibt. Was anderes können sie gar nicht tun. Sie können ja nicht die Einwohner aus der Stadt vertreiben. Sie können die Zahl der Verhafteten und Inhaftierten verringern und vermehren. Von ihnen wird ja Rechenschaft gefordert, Erfolgsstatistiken, jeder soll zeigen, dass er was tut. Also steigt die Zahl der Festnahmen. Doch damit wächst der Maßstab der Aktion: Wenn die Zahl der Festgenommenen gen Mittag schon bei über 2000 liegt, dann kriegen Menschen den Eindruck, dass die Zahl der Teilnehmer mindestens das Hundertfache betragen muss.
Jeder soll zeigen, dass er was tut. Also steigt die Zahl der Festnahmen
Sehen Sie darin einen Erfolg für die Bewegung zur Befreiung Nawalnys?
Ich denke, die Bewegung hat schon mehr erreicht, als sie wollte. Stellen Sie sich vor, man hätte ihnen einfach gestattet, eine solche Demonstration abzuhalten. Da wären vielleicht 30.000 oder 40.000 gekommen, hätten gefroren und wären dann wieder nach Hause gegangen. Doch im Endeffekt wurde es so zu einem politischen Großereignis allrussischen Ausmaßes. Besonders anschaulich war das in den Hauptstädten Moskau und Piter.
Deswegen frage ich ja – wozu der ganze Aufwand? Alles, was Sie sagen, war ja vorher abzusehen, lange vor den Protestaktionen, sogar die Verantwortlichen der ganzen Festnahmen hätten sich das denken können.
Sie haben es ja hier nicht mit einem denkenden Wesen zu tun. Sie haben es mit … Das ist so ein amorphes Etwas. Oder gar eine ganze Kolonie von Organismen, die aber alle ihre eigenen Ideen im Kopf haben. Wenn davon gesprochen wird, dass all das einem Plan folge und gesteuert würde, dann ist das falsch. Natürlich wurde ein Einsatzkommando eingerichtet, das die Demonstration verhindern sollte. Und genau dieses Kommando verstärkt das Chaos enorm.
Festnahmen gab es auch früher, aber nicht so einen Irrsinn.
Putin hat den Prozess nicht mehr in der Hand, er ist nicht mehr das mäßigende Glied zwischen den zivilen Staatsdienern und den Silowiki in Uniform, deswegen haben die Silowiki jetzt freien Lauf. Diesen freien Lauf der Silowiki sehen wir auf der politischen Bühne.
Putin hat den Prozess nicht mehr in der Hand
Aktuell werden sie von Nawalnys Team kontrolliert, das die Strategie vorgibt: Nachdem das Team [zur Demonstration] vor der Lubjanka aufgerufen hatte, wurde das Stadtzentrum abgeriegelt. Offenbar hat das Wort „Lubjanka“ einen mächtigen Eindruck auf die Silowiki gemacht. Nawalnys Team hat sie zur Sucharewskaja Metrostation geschickt. Sie haben sich mit aller Kraft dahin gestürzt – weiter haben sie praktisch selbst die Arbeit gemacht und die Demonstranten immer weiter getrieben in Richtung Matrosenruhe [Untersuchungsgefängnis, in dem Nawalny sitzt – dek]. Das war sehr amüsant, das zu verfolgen …
Nawalnys Palast-Film ist mehr beleidigend als enthüllend. Und Sie glauben, dass Putin sich darauf einlassen wird, Nawalny freizulassen?
Das ist ja ein innerer Interessenkonflikt: Will Putin sich seinen Emotionen ergeben oder will er sich politisch retten? Falls er sich politisch retten will, dann sollte er anfangen, zumindest ein wenig rational zu handeln.
Falls er Rache üben will, dann kann er die Landesleitung an [die FSB-Männer – dek] Bortnikow und Patruschew übergeben, die die Sache ganz schnell in die Luft gehen lassen. Schneller als es Putin könnte.
Sie haben Putin persönlich gut gekannt. Zeugen seine jüngsten Taten für Sie davon, dass er seine Gefühle voll im Griff hat?
Jener Putin hatte seine Gefühle im Griff. Beim heutigen sieht es nicht danach aus.
Es scheint, als würden die russischen Silowiki die belarussischen nachmachen: brutale Massenfestnahmen, abgeriegelte Stadzentren, Aussetzer beim Handynetz.
Nein, ich glaube nicht, dass sie das nachmachen. Die verfügen über genug eigene Dummheit. Aber belarussische Techniken und Technologien dringen über zwei Kanäle nach Russland. Zum einen über die Opposition: Nawalnys Bewegung hat die belarussischen Erfahrungen klar im Auge. Sonst hätte man einfach fragen können: Warum zum Teufel sollen wir eine Demo veranstalten, Menschen werden durch die Straßen und Höfe ziehen, sie werden gejagt, was werden sie auf der Demo schon Beeindruckendes hören, und von wem überhaupt, wo doch die Anführer fast alle eingesperrt sind. Zum anderen wird polizeiliches Repressions-Know-How aus Belarus übernommen. Noch recht zaghaft. Aber das wird zunehmen.
Belarussische Techniken und Technologien dringen über zwei Kanäle nach Russland
Und so kommt es zu einer Patt-Situation: Wenn wir euch nicht fürchten, was könnt ihr dann mit uns machen? Ihr könnt uns jagen – dann ziehen wir durch die Höfe auf die nächste Straße.
Es gibt eine andere Möglichkeit des „Was tun?“: Wir werden euren Nawalny für zehn, wenn nicht gar fünfzehn Jahre einbuchten.
Nawalny wird auch so plattgemacht. Wenn Nawalny eingebuchtet wird, dann wird er so lange sitzen, wie sich die gegenwärtige Situation des Regimes halten kann. Aber die kann sich ändern, darum ist Verhandeln sinnlos. Hier geht es nicht um einen Kompromiss. Sie bieten nichts an zum Verhandeln.
Sie sehen, wie mir scheint, eine positive Entwicklung für Nawalnys Team.
Für Nawalnys Team – weiß ich nicht. Die Leute gehen auf Angriff, eine positive Entwicklung wäre für sie, wenn sie zumindest ein Zwischenziel erreichen. Aber generell handeln sie derzeit erfolgreich, zweifellos. Doch das sagt nichts darüber aus, ob sie immer erfolgreich bleiben können. Aber bislang ist es ein Erfolg.
Welche Taktik wäre jetzt erfolgversprechend für die Regierung, persönlich für Putin?
Vermutlich ein Kompromiss. Putin könnte die Idioten mit den Schulterklappen beiseite schieben und das Steuer dem politischen Block seiner eigenen – seiner eigenen! – Präsidialadministration übergeben. Die wird mit der Situation vermutlich ein wenig besser klarkommen.
„Ein Name, ein Leben, ein Zeichen“ – unter diesem Motto startete 2013 in Russland die Bürgerinitiative Posledni Adres. Sie hat sich die „Erinnerung an die Opfer von politischer Repression und Staatswillkür in der Sowjetzeit“ zur Aufgabe gemacht. Analog zu den Stolpersteinen in Deutschland werden an Häusern, in denen die Opfer politischer Verfolgung bis zu ihrer Verhaftung wohnten, kleine Metalltafeln mit Namen und kurzen biografischen Daten angebracht. Mittlerweile wurden auf diese Art mehr als 1000 Opfer des Großen Terrors unter Stalin in mehr als 40 Städten gewürdigt, darunter auch drei in Deutschland.
Diese Initiative stößt in Russland jedoch regelmäßig auf Widerstand der Bewohner, Hausbesitzer oder -verwalter, die sich weigern, die Tafeln anzubringen oder bereits angebrachte Erinnerungszeichen wieder entfernen. Manche Tafeln werden auch mutwillig beschädigt oder zerstört.
Zuletzt wurden 16 Tafeln vom sogenannten Dowlatow-Haus in Sankt Petersburg entfernt. Diese 16 Tafeln erinnerten an 16 Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Nationalität, die zu verschiedenen Berufsgruppen gehörten. Das einzige, was sie außer dem Wohnhaus teilten, war ihr Schicksal: Sie alle wurden während des Großen Terrors festgenommen und erschossen und erst Jahrzehnte später rehabilitiert.
Auf Initiative dreier Hausbewohner hin wurden die Tafeln wieder abmontiert. Dies hat für eine heftige Diskussion und gegenseitige Beschimpfungen in Sozialen Netzwerken gesorgt. Auch in den Medien wird der Fall breit diskutiert.
Warum löst das Thema Repressionen in der heutigen russischen Gesellschaft eine so waidwunde Reaktion aus? Wie wird das kollektive Trauma in Russland und wie in anderen Ländern behandelt? Und kann man Menschen zum Gedenken zwingen? Auf diese Fragen antwortet Boris Kolonizki, renommierter Historiker und Professor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg, im Interview mit der Novaya Gazeta.
Maria Baschmakowa: Die Gesellschaft ist in zwei Lager gespalten. Die einen rufen zur kollektiven Reue auf, die anderen bestehen darauf, dass „wir keine Schuld haben“ und „keine schlechten Menschen sind“. Wie kam es zu dieser Spaltung?
Boris Kolonizki: Die Überwindung des Stalinismus hängt nicht von oktroyierten Losungen und Programmen ab, sondern von der Taktik, mit der man das Ziel zu erreichen versucht. In jeder Politik sind die Mittel wichtiger als der Zweck. Der Zweck heiligt die Mittel eben nicht, sondern die Mittel verändern den Zweck. Und Taktik ist wichtiger als Strategie.
Stalinismus kann nicht mit stalinistischen Methoden bekämpft werden. Ein Teil der Gesellschaft fordert von dem anderen Reue und ruft nicht nur die Nachkommen von Henkern und Denunzianten zur Reue auf, sondern alle, die versucht haben, in dieser schrecklichen Zeit zu überleben. Als ob durch Reue alles gut würde. Doch so funktioniert das nicht. Reue ist eine persönliche Entscheidung, die man nicht erzwingen kann; dazu aufrufen kann man, indem man selbst mit gutem Beispiel vorangeht.
Reue ist eine persönliche Entscheidung, die man nicht erzwingen kann
In Russland wird Deutschland gern als Vorbild hingestellt, das es nachzuahmen gilt. Und gerade in Deutschland bekannten sich viele, die mit den Naziverbrechen persönlich nichts zu tun hatten und sogar im antifaschistischen Kampf aktiv waren, öffentlich zu ihrer Verantwortung für das, was Deutschland im 20. Jahrhundert angerichtet hat. Sogar jene, die während des Krieges und danach geboren wurden, die allein aufgrund ihres Alters an gar nichts beteiligt gewesen sein konnten, sprachen von ihrer moralischen Verantwortung. Beispiele, dass Kriegsverbrecher Reue gezeigt hätten, findet man jedoch selten.
Ein reifer und verantwortungsbewusster Patriotismus verlangt eine Kombination aus Stolz und Scham für die eigene Heimat
Wir beobachten heute einen globalen Viktimisierungswettstreit: Fast alle fühlen sich als Opfer und fordern von anderen Reue. Das ist nicht nur ein russischer Charakterzug, das findet man in vielen Ländern. Für uns wird unsere Geschichte aber noch lange ein Stolperstein sein: Die Menschen fühlen sich oft als Opfer des Stalinismus, des Kommunismus, des russischen Imperialismus, fordern Reue von anderen, ohne über die eigene Verantwortung für die Vergangenheit des Landes zu sprechen.
Ein reifer und verantwortungsbewusster Patriotismus verlangt eine Kombination aus Stolz und Scham für die eigene Heimat. Einem solchen Patriotismus stehen Aufrufe zum Vergessen der „schweren Vergangenheit“ und das Gefühl, sich als Opfer der Geschichte zu sehen, im Wege.
Warum werfen unsere Zeitgenossen heute so leichtfertig mit Worten wie „Faschist“ und „Stalinist“ um sich? Polemik über Repressionen bedeutet im Netz fast immer Streit und Beschimpfungen.
Das ist der, mitunter durchaus unbewusste, Einfluss der sowjetischen Tradition. Die Antikommunisten sowjetischer Provenienz tragen sehr viel Sowjetisches in sich. Die Revolutionäre haben sehr gern das in ihrem Sinne abgeänderte Evangelium zitiert: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Dieser Logik folgen auch viele Antikommunisten. Hinzu kommt die allgemeine Zuspitzung der Situation: Wir erleben mehrere ineinander verwobene Krisen als schwere emotionale Belastung. Auf all das wirkt auch die schwindende, vor allem humanistische, Bildung.
Die Menschen fühlen sich oft als Opfer des Stalinismus, ohne gleichzeitig auch über die eigene Verantwortung an der Vergangenheit zu sprechen
Das zeigt sich auch in einer heimlichen Sehnsucht nach klarer Zugehörigkeit: Das Schema „das Eigene“ versus „das Fremde“ wirkt schon, bevor das erste Argument auf dem Tisch ist.
Das Thema der Verantwortung der Nachfahren für die Handlungen ihrer Väter und Großväter ist komplex. Wer wie leben will, ob er etwas über die Taten seiner Vorfahren wissen will oder nicht, entscheidet jeder selbst.
Keiner meiner Verwandten war Offizier des NKWD. Aber ich kann nicht hundert Prozent sicher sein, dass meine Vorfahren keine Denunziationen geschrieben, bei Versammlungen keine „Feinde“ entlarvt haben. Und es sind auch nur wenige, die mit Sicherheit sagen können, dass ihre Vorfahren ganz bestimmt nicht „beteiligt“ waren.
Wir suchen gern in fremden Kellern nach Leichen, aber haben Angst im eigenen nachzuschauen. Wir haben ein schlechtes politisches Erbe. Wir sind Menschen unterschiedlicher politischer Ansichten, Träger jener radikalen, konfrontativen politischen Kultur, die den Stalinismus ermöglicht hat.
Zur Sowjetzeit haben sich Millionen Pioniere die Frage gestellt: Wie kann ich im Verhör durchhalten, wenn ich der Gestapo in die Hände falle? Mehrere Generationen wurden so erzogen. Wir sollten uns heute die Frage stellen: Wie hättest du dich in einem Verhör beim NKWD verhalten? Und wenn Leute sofort, vollkommen überzeugt und ohne nachzudenken sagen: „Ich hätte niemals jemanden denunziert“, dann glaube ich ihnen das nicht einfach so. Denn zwischen Ablehnung des Stalinismus und seiner Manifestation besteht ein Zusammenhang.
Der Tod der Journalistin Irina Slawina hat viele Kolleginnen und Kollegen der unabhängigen und liberalen Medienszene in Russland tief erschüttert: Am Freitagnachmittag setzte sie sich in Nishni Nowgorod selbst in Brand. Sie tat dies auf einer Bank vor dem Innenministerium der Oblast, zuvor hatte sie auf Facebook den Satz gepostet: „Ich bitte darum, der Russischen Föderation die Schuld an meinem Tod zu geben.“ Slawina hatte das Onlinemedium KozaPress gegründet, sie betrieb es weitgehend alleine und selbstständig. Kollegen bezeichneten sie als unerschrocken. Die Behörden hatten schon lange Druck auf Slawina ausgeübt. Mehrfach musste sie Strafe zahlen, einmal wegen eines Facebookposts, in dem sie eine neu angebrachte Stalin-Erinnerungstafel kritisiert hatte. Der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor stehen mehrere Paragraphen zur Verfügung, die, willkürlich und selektiv angewandt, Druck auf Medien ausüben können – und als drohendes Damoklesschwert für Selbstzensur sorgen. Derzeit war Slawina in einem Verfahren um die in Russland als „unerwünscht“ eingestufte Organisation Otkrytaja Rossija als Zeugin geführt. Dies hatte den Behörden ausgereicht, um eine frühmorgendliche Hausdurchsuchung bei ihr durchzuführen, bei der etwa ihr Laptop und auch der ihrer Tochter beschlagnahmt wurden.
Irina Slawina konnte diesen Druck nicht mehr aushalten. Die Betroffenheit war groß: Warum brachte sie sich um, dazu noch auf diese Weise, fragten bestürzt auch viele liberale, kritische Journalistinnen und Journalisten. Kirill Martynow fragt in der Novaya Gazeta zurück: Was stimmt eigentlich mit uns nicht, dass wir diesen Terror für normal halten?
Wenn wir die Ereignisse in unserem Land analysieren, bemühen wir im Herbst 2020 routiniert den Begriff „politischer Terror“. Unter diesem Terminus versteht man die Einschüchterung politischer Opponenten mittels physischer Gewalt, und davon gibt’s mehr als genug. Wenn Menschen für die Teilnahme an friedlichen Demonstrationen in Haft sitzen, dann ist das politischer Terror. Die Polizei packt einen Menschen und sperrt ihn in einen Käfig, weil er andere Ideen und Gedanken hat. Jeder, der in einer russischen Großstadt lebt und nicht gelernt hat, den Blick abzuwenden, hat gesehen, wie Aktivisten bei Pikets festgenommen werden. Während der Staat so handelt, widmet er sich offiziell der Bekämpfung von Terroristen. Wahrscheinlich sieht er in ihnen Konkurrenten.
Hausdurchsuchungen bei der Opposition sind zum Normalfall geworden, Nachrichten darüber uninteressant. Wenn um sechs Uhr morgens die Wohnungstüren von Staatsbürgern mit Vorschlaghämmern zertrümmert werden – dann ist das ganz normal. Der Terror hat sich nicht nur etabliert, er wurde auch im gesellschaftlichen Bewusstsein zur Normalität. Niemanden wunderte es, dass Nawalny möglicherweise vergiftet wurde dafür, dass „der Typ sich nah an der Grenze bewegte“ – aber ganz Russland bewegt sich dort. Für Journalismus winken einem in unserem Land bestenfalls zermürbende Klagen und Strafen, mit etwas weniger Glück strafrechtliche Verfolgung oder andere „Aktionen der direkten Einschüchterung“.
Über Slawina wird jetzt viel diskutiert: Was stimmte mit ihr nicht? Warum hat sie diesen kopflosen Schritt getan? Ich glaube, ich habe dazu eine Hypothese. Mit der Journalistin aus Nishni Nowgorod war alles in Ordnung. Abnormal sind in diesem Fall alle anderen – jene, die stillschweigend oder ohne besonderen Widerstand hingenommen haben, dass alle zivilgesellschaftlichen Institutionen in Russland zerstört werden und das Land in Richtung Polizeistaat, Willkür und Gewalt abdriftet.
Slawina brannte schon bevor sie sich selbst anzündete
Slawinas Tochter ging am Tag nach der Tragödie mit einem Plakat auf die Straße: „Während meine Mama lebend brannte, habt ihr geschwiegen.“ Denn Slawina brannte schon, bevor sie sich selbst anzündete – und die anderen haben geschwiegen.
In Russland sind Filme sehr beliebt, die vom Kampf für Gerechtigkeit erzählen. Vor drei Jahren war das Publikum ganz begeistert von dem US-amerikanischen Spielfilm Three Billboards Outside Ebbing, Missouri. Irina Slawina hat sich viele Jahre lang dem Journalismus zum Schutz von Menschen- und Bürgerrechten verschrieben und hat mit ihren Publikationen quasi hunderte Billboards in Nishni Nowgorod aufgestellt. Ihre letzte Publikation war der demonstrative, entsetzliche, politische Selbstmord.
Wir hören so oft den Satz, wem die Ordnung im gegenwärtigen Russland nicht passe, der solle doch auswandern, seinem Land den Rücken zukehren und es jenen überlassen, die es ausrauben und zerstören. Meistens wird dieser Satz brutaler formuliert: Passt dir was nicht? Dann verpiss dich! Slawina passte vieles nicht, doch wo hätte sie hinsollen und wozu.
Trotz einiger weniger Achtungserfolge der Opposition verlief der Einheitliche Wahltag am 13. September in den meisten Regionen Russlands ohne Überraschungen: Die Regierungspartei Einiges Russland gewann die Mehrheit in den regionalen Parlamenten, die Gouverneurssitze wurden von den Kreml-Kandidaten besetzt.
Schon seit geraumer Zeit gilt der Gang an die Wahlurne in liberal-demokratischen Kreisen Russlands nicht wirklich als Wählen. In einem Autoritarismus, so heißt es in der Politikwissenschaft, dienen Wahlen ja ohnehin nicht zur Legitimierung eines politischen Systems, sondern vielmehr zur Herstellung von Akzeptanz und Akklamation. Akklamation gilt als emotionale Zustimmung zur autoritären Herrschaft: Sie fußt nicht auf rationalen politischen Entscheidungen, sondern eher auf Stimmungen und Symbolen.
Vor diesem Hintergrund hatten Wahlen in Russland bislang zumindest eine symbolische Bedeutung. Unabhängige Medien berichteten darüber, es gab stets ein gewisses öffentliches Interesse. Das blieb am Einheitlichen Wahltag 2020 jedoch gänzlich aus, meint Dimitri Trawin. Für den Wirtschaftswissenschaftler keine Überraschung – „denn niemand braucht wirklich diese Wahl“. Was vom „Zettel-in-die-Urne-Werfen“ zu halten ist, kommentiert er in der Novaya Gazeta.
Wahlen kann man dieses Zettel-in-die-Urne-Werfen nicht mehr nennen. Es gab mal eine Zeit, da weckten selbst derartige „Unwahlen“ Interesse in der Gesellschaft. Diesmal war jedoch kein Interesse festzustellen. Und das ist kein Wunder. Das Schlimme ist, dass im Grunde niemand diese heutige Art und Weise der Abstimmung braucht.
Erstens: Die Abstimmung kann nicht genutzt werden, um das Putin-Regime zu legitimieren, deshalb ist sie für die Machthaber nicht besonders interessant. Die Manipulation der Wähler hat ein derartiges Ausmaß erreicht, dass sie nicht mehr als Manipulation durchgeht, sondern als offene Fälschung, als Imitation von Wahlen. Ungefähr so wie in dem beliebten Witz, der derzeit bei den belarussischen Protesten kursiert: „Ein Mann geht die Straße entlang, die Miliz greift ihn sich und prügelt auf ihn ein. Er schreit: ,Bitte nicht schlagen, ich habe Lukaschenko gewählt!‘. Darauf die Antwort: ,Lüg doch nicht. Keiner hat ihn gewählt.‘“
Unterm Strich hält sich Lukaschenko schon heute nur an die nackte Gewalt, und Putin wird morgen dasselbe tun. Die Meinung des Volkes ist nicht mehr so wichtig, die Zettelchen, die es braucht, um die Formalitäten einzuhalten, landen auch so in der Urne.
Zweitens eröffnet diese Art der Abstimmung, anders als echte Wahlen, der Opposition keine Möglichkeit für einen Machtwechsel, und deshalb verlieren auch diejenigen das Interesse am Wahlgang, die gegen Putin eintreten. Wie hieß es doch so schön in der Sowjetzeit: Wählen oder Nicht-Wählen – du kriegst sowieso Einiges Russland oder im äußersten Fall die Kommunistische Partei oder die LDPR. Sogar die, die sich kürzlich noch für [Nawalnys – dek] Smart-Voting-Konzept starkmachten, verlieren jetzt das Interesse daran. Denn die Idee des Smart-Votings basiert darauf, dass der stete Tropfen den Stein höhlt. Doch diese Art, das Regime langsam auszuhöhlen, gefällt nur einigen wenigen. Nämlich nur denen, die der Meinung sind, dass man am Wahltag nicht auf dem Sofa sitzen kann, sondern irgendwas tun muss, und sei es noch so aussichtslos. Der Großteil aber will Ergebnisse, und zwar hier und jetzt. Das Smart-Voting ergibt hier und jetzt viel zu wenig, um das Interesse einer auch nur halbwegs breiten Masse wachzuhalten.
Drittens ist diese Abstimmung nicht mehr interessant für die, die die Dynamik des politischen Wettkampfs lockt. Es ist schwer heute etwas Langweiligeres zu finden als den Gang zum Wahllokal. Niemand kämpft mit niemandem, niemand verspricht irgendetwas Neues, niemand spinnt Intrigen, niemand behauptet, dass sich das Schicksal des Landes just an diesem Tag entscheidet. Die Leute zu überzeugen, an einer solchen Abstimmung teilzunehmen ist so, als wolle man die Fans der englischen Premier League zu einem Fußballspiel zwischen Bolzplatzmannschaften schleppen, am besten noch mit einem gekauften Schiri.
Es ist besser, die Aufzeichnungen der Wahlen vor 30 Jahren anzuschauen als live dieser heutigen Ödnis beizuwohnen.
Klar, wenn es an die Putinwahl 2024 geht, wird es unterhaltsamer. Nicht, dass Konkurrenz auftauchen würde, aber immerhin werden die Fernsehleute halbherzig irgendwelche Shows zusammenschustern mit Titeln wie Heimat in Gefahr! oder CIA gegen Putin!. Doch auch ein solcher Rummel wird den Wähler kaum motivieren, persönlich am Zettel-in-die-Urne-Werfen teilzunehmen.
Viertens ist die Abstimmung auch für ältere Leute unglücklich organisiert – für Leute, denen total langweilig ist und für die der Urnengang mitunter das wichtigste Ereignis im Jahr ist, ein Ritual, das sie an die eigene Jugend erinnert. Für große Teile jener Wählerschaft ist die Datschensaison noch nicht abgeschlossen. Die Ernte vom Feld zu holen ist wichtiger, als Urnen mit Wahlzetteln zu bepflanzen. Außerdem zählt genau diese ältere Wählerschaft zur Corona-Risikogruppe. Da die Infektionszahlen wieder steigen, versuchen die Menschen, unnötige Gefahren zu vermeiden. Der Gang zum Wahllokal oder gar die vorzeitige Rückkehr von der abgelegenen Datscha in die von Menschen überfüllten Städte – das ist definitiv ein überflüssiges Risiko.
Abgesehen von den Wählern, braucht diese Abstimmung eigentlich auch niemand von denen, die sich beruflich mit politischen Ereignissen befassen:
Journalisten brauchen diese Abstimmung nicht, da sie Nachrichten bringen sollen, aber das Zetteleinwerfen mit vorher feststehendem Ergebnis ist keine Nachricht. Soziologen brauchen diese Abstimmung nicht, weil sie nichts darüber aussagt, wer wählt, sondern nur darüber, wer zählt. Politologen brauchen diese Abstimmung nicht, denn sie finden zwar interessant, wer da zählt, doch das erfährst du nur, wenn du den Kampf der Bulldoggen unter dem Teppich im Kreml analysiert und nicht den Gang der angeleinten Schoßhündchen zur Wahlurne Wirtschaftsexperten brauchen diese Abstimmung nicht, denn allein die Annahme, die Ergebnisse könnten irgendeinen Einfluss haben auf die Wirtschaftspolitik, ruft einzig einen Lacher hervor.
Doch die Abstimmung darf nicht abgeschafft werden. Die amtierenden Autokraten tun so etwas nicht. So wird sie uns so lange begleiten, bis das System zusammenbricht. Und danach werden wir auf seinen Ruinen die gesamte Institution der Wahlen neu errichten müssten.
Treffen sich zwei intellektuelle Schwergewichte und treten in den Ring, die Schriftsteller Boris Akunin und Dimitri Bykow: Wie das denn nun sei mit dem heutigen Russland und der Sowjetunion und ob man beide Staaten vergleichen könne. Wie aus einem Interview für die Novaya Gazeta fast ein Streitgespräch wird, in dem für Sowjetnostalgie nicht viel Platz bleibt …
Im Gespräch mit Ihnen möchte ich etwas für mich Wichtiges aussprechen. Ich will nicht sagen, dass ich die UdSSR liebe, vieles an ihr hasse ich, aber jetzt ist es hier schlimmer. Und ich versuche zu verstehen, warum es schlimmer ist. Stimmen Sie mir zu? Und falls es jetzt besser ist, dann inwiefern?
Ich verstehe ja, warum andere Leute nostalgisch sind, wenn sie sich an die Sowjetunion oder einzelne ihrer Aspekte erinnern: Sie waren damals jünger, gesünder, glücklicher, der Himmel war blauer oder sie lebten damals besser als die anderen, und jetzt leben sie schlechter als die anderen, oder sie haben (ich spreche von den ganz jungen Menschen) irgendwelche Filme gesehen und so weiter. Aber für Sie, als freiheitsliebenden Dichter, der damals in der Sowjetzeit gelebt hat und zu dem wurde, der er ist, was ist daran für Sie verlockend? Was vermissen Sie?
Drei Dinge. Erstens, dass Nationalismus verpönt war und Internationalismus zumindest proklamiert wurde, auch wenn er niemals irgendwo ideal umgesetzt wird, auch nicht in den USA, doch man hatte ihn sich immerhin auf die Fahnen geschrieben. Zweitens, die Religion stand an der ihr gebührenden Stelle. Und drittens der Kult der Aufklärung, des Intellekts, der in der UdSSR herrschte. Das heißt, die Sowjetunion orientierte sich mehr oder weniger an Werten des späten 18. Jahrhunderts, an Werten der Aufklärung, und nicht plump an Werten angeborener Gegebenheiten wie Geburtsort, Alter, Geschlecht, Nation et cetera.
Mit einer Blutsaugerin kann man immerhin diskutieren. Aber der [heutige – dek] Räuber wird erstens auch leicht zum Blutsauger, und zweitens hat er überhaupt keine Prinzipien, er bringt dich für seinen eigenen Vorteil einfach um, und Schluss. Die Sowjetunion war kein Monolith, sie bestand aus mindestens vier Teilen: Es gab die Sowjetunion der 1930er, der 1940er, der 1960er und der 1970er Jahre – das sind absolut verschiedene Länder. Mir gefällt die Sowjetunion vom Anfang der 1970er Jahre.
Ich teile die ganze 70-jährige Sowjetzeit in zwei Hälften: die erste, in der der Staat den Menschen fraß, und die zweite, in der er nur auf ihm herumkaute. Ich hatte schon die Befürchtung, Sie sehnen sich in die Zeit zurück, „als das ans Ufer schlagende Wasser klirrte und rauchte“ …
Nein, den Zeiten der Bolschewiki trauert keiner nach.
Gott sei Dank. Das heißt, versuchen wir mal, die zweite Hälfte, die – nennen wir sie, „vegetarischen“ – zweiten 35 Jahre mit dem heutigen Russland zu vergleichen. Ich habe dafür ein Stufensystem, weil ich gern alles in Würfelchen, Quadrate und Skalen einteile, damit fällt es mir leichter, die anders nicht messbare Realität zu begreifen.
Ich teile die ganze 70-jährige Sowjetzeit in zwei Hälften: die erste, in der der Staat den Menschen fraß, und die zweite, in der er nur auf ihm herumkaute
So habe ich ein fixes Kriterium, an dem ich die Qualität einer Gesellschaft oder eines Staates festmache. Es gibt zwei Parameter: Parameter Nummer eins ist die Freiheit, mit der die Menschen, die hier leben, ihren Lebensweg wählen können. Die Freiheit, ein Leben zu leben, das man sich selbst ausgesucht hat und das einem nicht von außen aufgedrückt wurde. Je höher der Grad dieser Freiheit für den Einzelnen in einer Gesellschaft, desto besser ist meiner Ansicht nach die Qualität dieser Gesellschaft. Der zweite Parameter ist auch sehr wichtig, das ist das Niveau der staatlichen Fürsorge für jene, die es im Leben aus welchen Gründen auch immer schwer haben.
Menschen mit Behinderung, alte Menschen …
Es ist klar, dass ein vernünftig organisierter kapitalistischer Staat besser fertig wird mit der Erfüllung der ersten Aufgabe – mit der zweiten müsste ein sozialistischer Staat besser fertig werden. Doch die Sowjetunion hat, wie wir wissen, dabei ziemlich versagt. Ich kann mich sehr gut an diese sowjetischen Polikliniken erinnern, die sowjetischen Medikamente, die berühmten Kindergärten, in die ich ging wie zur Zwangsarbeit, das Essen, das die armen Kinderchen dort vorgesetzt bekamen. Und da sehe ich keinen besonderen Unterschied: Die Polikliniken waren damals reinster Horror und sind heute reinster Horror. Sehen wir uns den ersten Parameter an, die freie Wahl des Lebenswegs: Wenn ich an mich selbst zurückdenke als Kind, als Teenager, der in der Sowjetunion lebte. Wie hoch war da der Grad an Freiheit? Bei jeder Bewegung stieß man zuerst auf sein persönliches Datenblatt, in dem es zig Stolpersteine gab: Man hatte entweder die falsche Nationalität oder die falschen Verwandten: Solche, die seinerzeit [während des Zweiten Weltkriegs] in okkupierten Gebieten gewohnt hatten, oder solche, die im Ausland lebten …
Ich habe nicht gegen das Regime gekämpft, aber ich hatte immer so ein inneres Ekelgefühl
Und es gab noch eine sehr schwerwiegende und für viele Leute (auch für mich) absolut unüberwindbare Hürde, die in Michail Schischkins Roman Venushaar heißt: „Bekenne dich dazu, ein Härchen in des Teufels Pelz zu sein.“ Die Wahl vieler Berufe, jede Art von Karriere hing grob gesagt davon ab, ob man Mitglied der KPdSU wurde oder nicht. Das hatte einen zutiefst rituellen, widerwärtigen Sinn, man musste in diesen Versammlungen sitzen, musste für irgendeinen Blödsinn stimmen oder für Sauereien wie den Einmarsch in die Tschechoslowakei, oder für die Verurteilung eines weiteren Ausreißers und Dissidenten. Für mich zum Beispiel war das absolut unmöglich. Ich habe nicht gegen das Regime gekämpft, aber ich hatte immer so ein inneres Ekelgefühl. Daher trat ich mit 23 Jahren [nach Ende des Studiums – dek] hinaus ins große Leben, schmiedete keine Pläne, dachte überhaupt nicht an morgen, das war zwecklos.
Was ist das für ein Land, wo ein 23-Jähriger mit Hochschulabschluss keine Pläne hat und nichts werden will, weil er weiß, dass er in diesem Land nichts wird, wenn er nicht etwas tut, was ihm zutiefst zuwider ist?
Wie Sie bestimmt schon erraten haben, gefällt mir Putins Regime nicht, und zwar so sehr nicht, dass ich einfach nicht in dem Land leben will, über das er bestimmt. Und doch, wenn Sie sich das Bündel von Lebensentscheidungen ansehen, vor dem der Mensch jetzt steht, der junge Mensch genauso wie der nicht mehr junge, dann ist das etwas völlig anderes.
Das ist aber deswegen etwas völlig anderes, weil es bei Ihnen in der Sowjetunion, besser gesagt bei uns in der Sowjetunion, noch Berufe gab, aber der heutige Mensch kann seinen Beruf gar nicht mehr wählen. Es gibt noch genau zwei Berufe: Ölförderer und Ölwächter. Außer Ölraffern und Silowiki gibt es nichts mehr im heutigen Russland. Die Perspektive, nach der Universität arbeitslos zu werden, ist viel hundertprozentiger, drängt sich viel stärker auf als in der Sowjetzeit. Niemand wurde zum Parteibeitritt gezwungen, im Gegenteil, für manche Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel für Beamte, war der Eintritt in die Partei gar nicht so einfach: Da gab es äußerst strenge Filter. Um Chef zu werden, musste man der Partei beitreten, aber um ein rechtschaffener Journalist zu sein, war das vollkommen unnötig, und in der Literaturnaja Gaseta gab es solche massenhaft.
Ich habe selbst in einer Redaktion gearbeitet. Der rechtschaffene Journalist von 1982 war einer, der keinen Plunder schrieb. Aber auch keiner, der die Wahrheit schrieb und das, was er wirklich dachte, nicht wahr? Dazu, dass es heute keine Berufe mehr gibt außer zwei: Sie werden sich wahrscheinlich wundern, aber von den Landsleuten, die ich persönlich kenne, gehört da kein einziger dazu. Und alle haben Berufe und arbeiten in den verschiedensten Bereichen.
In welchen denn zum Beispiel?
Der eine schreibt, die andere programmiert Software, der Nächste verfolgt sonst irgendeine ordentliche Tätigkeit.
Grigori Schalwowitsch, wer zahlt denn diese Informatiker, für wen programmieren sie denn? Zu 90 Prozent sind das staatliche Behörden. Was gibt es denn in Russland sonst? Waffen und Rohstoffe.
Ich finde mich in der seltsamen Rolle wieder, die heutige Russische Föderation zu verteidigen … Eines der positivsten Phänomene, die sich im heutigen Russland beobachten lassen, ist, dass in diesem Land trotz allem der Kapitalismus funktioniert. Die Gesetze von Privateigentum und privater Unternehmerschaft. Enorm viele Leute sind selbständig. Das ist ein Land, in dem sich auf unglaubliche, fantastische Art und Weise ein Dienstleistungssektor entwickelt hat, in dem eine Menge Leute beschäftigt sind.
Ich finde mich in der seltsamen Rolle wieder, die heutige Russische Föderation zu verteidigen …
Und viele schreiben nicht auf Befehl von oben … Zum Beispiel äußern Sie sich abfällig über Internet-Journalismus, damit bin ich überhaupt nicht einverstanden. Das ist eine Szene, aus der regelmäßig sehr starke, talentierte Leute hervortreten, die keine Redaktion reinlassen würde.
Grigori Schalwowitsch, ich habe größten Respekt für den YouTuber Juri Dud, aber Dud ist ein Abklatsch von Parfjonow, und Parfjonow ist, so schlimm das auch sein mag, ein Produkt der Sowjetunion. So wie auch Sie ein Produkt der Sowjetunion sind. Denn, wissen Sie, man muss ein Imperium nach seinem Output beurteilen. Der Output dieses Imperiums waren zwei Generationen sowjetischer Intelligenzija der Extraklasse.
Erstens sind Sie selbst ein Produkt der Sowjetzeit. Zweitens hat sie mich in professioneller und kreativer Hinsicht überhaupt nicht beeinflusst. Im Gegenteil, während ich in der Sowjetunion lebte, dachte ich mit Befremden daran, dass es, sowas aber auch, Leute gibt, die Schriftsteller werden, in meinen Augen war das damals fast ein ehrloser Beruf. Ich wurde erst ungefähr zehn Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion Schriftsteller, zu einer Zeit, in der ich schon zu vergessen begann, was das gewesen ist. Dazu brauchte es eine sehr gründliche innerliche Befreiung. Weil, wie Sie wissen, ein Schriftsteller, der innerlich unfrei ist, wird niemals etwas Brauchbares zustandebringen. Nicht wahr?
Da bin ich mir nicht so sicher. Wer ist schon innerlich frei? Für mich ist innere Freiheit ein zu abstrakter Begriff. Erinnern Sie sich, Pasternak sagte: Unfrei ist der Apfelbaum, der Früchte trägt, unfrei ist der Verliebte … Ja, was soll innere Freiheit sein? Ein abstrakter, absoluter Begriff. Natürlich war ich, als ich im sowjetischen Russland lebte, unfrei, aber in Putins Russland hab ich viel mehr Angst. Weil, wie Maria Rosanowa ganz richtig sagte: Im sowjetischen Russland gab es Ufer, wir wussten, was sie mit uns machen können. Aber was die heute mit uns machen können, wissen wir nicht, das kann alles sein. Wissen Sie, die Sowjetunion war ein Gewächshaus, ein entsetzliches, aber immerhin ein Gewächshaus, eng und schwül, aber ein Gewächshaus. Wissen Sie, woran mich die Sowjetunion erinnert? An eine alte, dumme, unfähige Lehrerin, der es aber immer noch gelang, den einen oder anderen in der Klasse von der Kriminalität abzuhalten. Doch dann haben Banditen die Macht ergriffen, freie und fortschrittliche, bewaffnet bis an die Zähne.
Seltsam. Ich habe gegen die Sowjetunion, gegen dieses ganze System, abgesehen von den rationalen Einwänden, die ich Ihnen schon genannt habe, auch noch Einwände emotionaler Natur, und wenn ich anfange, darüber nachzudenken, dann … Ich kann der Sowjetunion nicht verzeihen, wie sie mit dem Leben meiner Eltern umgegangen ist.
Diese ganze Armseligkeit, die Erniedrigung, in der ihr Leben verlief, ist absolut unverzeihlich und unerträglich. Dieses System, das in den Menschen das Gefühl der eigenen Würde zertrampelte – das Wertvollste, was die Evolution hervorgebracht hat –, und noch dazu völlig absichtlich, das scheut für mich jeden Vergleich.
Ich kann der Sowjetunion nicht verzeihen, wie sie mit dem Leben meiner Eltern umgegangen ist. Diese ganze Armseligkeit, die Erniedrigung
Schauen Sie … Gut, im heutigen Russland, wenn du da deine eigene Weltanschauung hast und dich darüber äußern möchtest, dann hast du es schwer im Leben, ja? Aber es ist eine Frage des persönlichen Mutes und der persönlichen Entscheidung, und in Wahrheit wird dir wahrscheinlich gar nichts so wahnsinnig Schlimmes …
Nein, Grigori Schalwowitsch, dann haben sie keine Ahnung von dem Delo Seti. Wenn Sie Ahnung hätten, wüssten Sie, dass es schlimmer ist als in den 1970ern.
Ich habe Ahnung von Delo Seti. Ich verstehe und sehe diese Tendenz sehr wohl, wie die Spezialeinheiten die ganze Zeit versuchen, ihre Möglichkeiten auszuweiten, sie versuchen es die ganze Zeit: Können wir dies schon machen, können wir jenes schon machen? Und das autoritäre System gesteht ihnen permanent zu: Ja, jetzt könnt ihr auch dies, und jetzt auch jenes. Diesen Prozess sehe ich genau, das ist ein grauenhafter und sehr gefährlicher Prozess. Aber ich möchte Sie daran erinnern, dass sich diese Frage den Tschekisten in der Sowjetzeit nicht einmal gestellt hat, weil sie sowieso alles tun konnten, und niemand auch nur einen Mucks machte.
Ich sage jetzt etwas ganz Trauriges. Natürlich gab es in der Sowjetunion zwei Lebenssphären: Es gab die Hölle für alle und die Scharaschki, eine Art Fegefeuer, für einige wenige. Scharaschki gab es in der UdSSR mitunter als so kleine Inselchen intellektueller Aktivität.
Na ja, ich weiß nicht, ich kann das schwer beurteilen, immerhin lebe ich schon ziemlich lange [seit 2014 – dek] nicht mehr in Russland und bin nicht auf dem Laufenden. Aber weiß der Teufel, also, die Behauptung, dass es jetzt in Russland schlimmer ist als in der Sowjetunion der 1980er Jahre, hm … Meinen Sie das ernst?
Ich habe den Eindruck, die heutige junge Generation ist viel besser als wir damals. Ich erinnere mich an mich selbst, ab dem Moment, wo ich eine eigene Meinung hatte, da war ich wahrscheinlich 14 oder so, weil bis zu diesem Alter glaubt man ja irgendwie alles. Man wächst auf in einem Kindergarten, wo ein Porträt von Opa Lenin hängt, dann ist man Pionier, man marschiert durch die Straße und denkt: „Wenn uns Wladimir Iljitsch jetzt nur sehen könnte, wie wir herrlich und fein leben, und wie schlecht es die armen Kinder in Amerika haben.“ Dann kommt die Pubertät, und im Kopf beginnt sich etwas zu rühren. Ich kann mich sehr gut an den Moment erinnern, wo das bei mir passiert ist, aus einem nichtigen Anlass. Im Englischunterricht mussten wir Hamlets Monolog auswendig lernen: To be or not to be — that is the question. Whether it is nobler in the mind to suffer … und so weiter. Und plötzlich begriff ich den Sinn dessen, was Shakespeare schrieb: dass nämlich die philosophische Hauptfrage des Seins nicht die Frage ist, was zuerst da war: die Materie oder das Bewusstsein, sondern die Frage, ob dieses Leben mit all seinen Hässlichkeiten es wert ist, sich diesen Film zu Ende anzusehen.
Ja, stimmt absolut.
Das war mein erster eigenständiger Gedanke im Leben, und ich war so dermaßen stolz darauf, dass ich begann, alles rundherum einer Bewusstmachung und Neubewertung zu unterziehen. Und sofort in der ersten Schulstunde zog ich in Zweifel, was unsere Lehrerin sagte, da ging es gerade um Leninismus oder Ähnliches.
Dass es jetzt in Russland schlimmer ist als in der Sowjetunion der 1980er-Jahre, hm … Meinen Sie das ernst?
Zu der Zeit, nach der zehnten Klasse, war ich schon ein absolut zynischer Junge, der das Eine sagte, das Andere dachte und wusste: Das, was man denkt, darf man nicht laut sagen. Und als ich mein Studium begann, war ich nur von solchen jungen Leuten umgeben, das waren die Studierenden der 1970er Jahre. Das war ein unglaublich abgebrühter, berechnender Zynismus. Ich habe manchmal Online-Gesprächsrunden mit Studierenden oder Schülern, ich lese in sozialen Netzwerken und ich sehe: Die sind viel besser als wir damals, mein lieber Herr Gesangsverein.
Nach der zehnten Klasse war ich schon ein absolut zynischer Junge, der das Eine sagte, das Andere dachte
Grigori Schalwowitsch, eine Frage, die mir sehr wichtig ist. Ich habe sehr auf Ihr Buch gewartet, auf Ihren Band über die Petrinische Epoche, und habe mit Schrecken festgestellt, dass Ihre Meinung über Peter den Großen generell vorwiegend negativ ist. Mir schien, dass das mit Ihrer Einstellung zur Sowjetunion zusammenhängt. War denn nicht das ganze russische 19. Jahrhundert, das goldene Zeitalter, ein Produkt Peters des Großen?
Wissen Sie, ich habe auch immer gedacht, Peter hat ein Fenster nach Europa aufgestoßen und Russland in Richtung irgendwelcher vor-aufklärerischer Werte gerückt. In der näheren Auseinandersetzung sah ich, dass das gar nicht wahr ist. Also, er hat natürlich ein Fenster aufgestoßen, aber die Tür hat er zugelassen. Das war ein vergittertes Fenster, durch das jene hinaussehen durften, denen das gestattet war. Was hat Peter gemacht? Er hat das zermürbte Moskauer Zarenreich des 17. Jahrhunderts übernommen, in dem es eigentlich keine richtige Vertikale gab und das nach der Zeit der Wirren völlig am Ende war. Tatsächlich hat Peter eine überaus harte Staatsstruktur aufgebaut, ähnlich wie in der Goldenen Horde, eine absolute Vertikale, in der alle Entscheidungen ausschließlich an einer Stelle getroffen wurden, die sich im Kopf des Herrschers befand, und alle Entscheidungen kamen nur von dort. Das ist keine Europäisierung, das ist eine absolute Asiatisierung, getarnt mit Perücken, Miedern und Spangenschuhen. Was das 19. Jahrhundert betrifft und damit die russische Literatur, also jene Kultur, aus der wir alle hervorgegangen sind, so verdanken wir sie, wie mir jetzt klar ist, nicht Peter, sondern Katharina, sie entstand also wesentlich später.
Na ja, Katharina ist ja auch eine etwas blassere Variante von Peter, sein Spiegelbild.
Aber nein, gar nicht, überhaupt nicht. An Katharina ist, wie mir scheint, in historischer Hinsicht das Interessanteste, dass sie erstmals in der russischen Geschichte Soft Power effektiv eingesetzt hat.
Peter der Große hat eine überaus harte Staatsstruktur aufgebaut, eine absolute Vertikale
Katharina hat ein unglaublich produktives und faszinierendes Know-how entdeckt: Sie hat demonstriert, dass man die besten Ergebnisse erzielen kann, nicht indem man mit Enthauptung oder Pfählen droht, sondern indem man Belohnungen verspricht, und dass der Zarenthron kein Horrording ist wie unter Iwan dem Schrecklichen, sondern eine Art Sonne, zu der man hinstreben soll, um sich an ihren Strahlen zu wärmen. Und wie sich herausstellte, funktionierte das wunderbar.
Wissen Sie, es geht doch immer um dieses Verhältnis zwischen dem Russischen und dem Sowjetischen. Für manche ist das Sowjetische die Fortsetzung des Russischen, doch für mich sind das zwei verschiedene Paar Schuhe, und man weiß nicht, ob besser oder schlechter. Wie sehen Sie das?
Für mich geht es da um das Verhältnis vertikal oder horizontal. Der russische Staat wurde als superzentralisiertes vertikales Modell errichtet, von oben nach unten wie bei Dschingis Khan, wo alle Entscheidungen oben getroffen und wie ein Staffelstab nach unten weitergegeben wurden.
Wenn der Abstand zwischen Staatsmacht und Volk geringer wird, dann werden sich auch die Mentalität und die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt verändern
Ich sehe nichts Nationales und Fatales in diesem Schema, jedes Volk, das man in dieses Schema presst, wird so. Ich bin überzeugt, wenn Russland in ein paar Jahren aufhört, ein superzentralisierter Staat zu sein, und zu einer normalen Föderation wird, wo alle oder 90 Prozent der Entscheidungen, die das Leben der Menschen betreffen, vor Ort gefällt werden und der Abstand zwischen Staatsmacht und Volk geringer wird, dann werden sich auch die Mentalität und die gesellschaftliche Atmosphäre insgesamt verändern.
Was ich noch gern verstehen würde: Derzeit entwickelt sich in Russland, wie bei uns geschrieben wurde, ja eine Art Föderalismus, und zwar aus einer Richtung, wo man es nicht erwartet hat. Putin erlaubt den Regionen, autonom zu entscheiden. Daraus wird nichts werden, weil sie so oder so auf die Signale von oben hören. Glauben Sie denn, dass die Pandemie in Russland eine Horizontalisierung bringt?
Ich glaube, für Putin ist das ein gefährliches Experiment, das davon zeugt, dass er die Natur des Staates, den er errichtet hat, nicht wirklich durchschaut. Jede Schwächung der Vertikale und Delegierung realer Macht in die Regionen ist ein Risiko. Weil in vielen Regionen unfähige Gouverneure sitzen, die nichts erreichen. Aber es kann durchaus die eine oder andere aktive Person auf den Plan treten, die ihre Verantwortung spürt, etwas in Angriff nimmt und sich als besser erweist als die Zentralmacht – und sich damit eine gewisse Beliebtheit, ein gewisses Vertrauen der Bevölkerung verdient.
Und sofort eins auf die Mütze kriegt.
Alle kriegen eins auf die Mütze, aber wenn sich die Spielregeln ändern, tauchen diese Mützen oft wieder auf. So ist der Mensch beschaffen. In der Sowjetunion bekamen es alle so dermaßen auf die Mütze, wie man es sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Aber sobald dieses System in die Binsen ging, ins Schlingern geriet, waren sofort unglaublich viele eindrucksvolle, ehrenhafte, mutige Leute da, erinnern Sie sich.
Der sowjetische Patriotismus basierte auf Überzeugungen, darauf, dass wir ein Land sind, das anders tickt. Der Patriotismus in Putins Epoche basiert zur Gänze auf Ressentiments: Ja, wir sind so und so, und wir sind stolz und glücklich, dass wir nicht anders sein können, und die ganze Welt wird uns, sorry, in den Arsch kriechen. So ungefähr. Finden Sie nicht auch, dass der sowjetische Patriotismus weniger militarisiert war, nicht so großspurig, so unverfroren, dass er anders war?
Reden wir jetzt vom offiziellen Patriotismus oder vom Patriotismus im Massenbewusstsein? „Wir zogen durch die halbe Welt, wenn‘s sein muss, gerne wieder“ – soll das eine friedliche Rhetorik sein? Dass bei uns in der Schule im Wehrkundeunterricht an der einen Wand eine Atombomben- und an der anderen eine Wasserstoffbombenexplosion hing und unsere Mädchen brav dasaßen und Kalaschnikows zerlegten – war das friedliche Rhetorik?
Ich glaube, ein anständiger Mensch soll das tun, was seinem Anstand nicht zuwiderläuft. Wir sind alle verschieden, jeder von uns hat erstens andere Lebensumstände und zweitens ein anderes öffentliches Auftreten. Aber ich glaube, jeder hat, wenn er nicht gerade moralamputiert ist, eine innere Stimme, die einem immer sagt, was man tun kann und was nicht, und auf die soll man hören.
Erwartet Russland das Schicksal der UdSSR, und wann?
Sie meinen offenbar den Zerfall? Ich halte das für absolut nicht ausgeschlossen, weil das aktuelle Regime, auch wenn es glaubt, die Einheit des Staates mit allen Kräften zusammenzuhalten, diese meiner Meinung nach untergräbt. Weil ein Staat, der sich nur an einer Schraube hält, ein sehr schwaches Modell ist: Wenn diese Schraube abbricht, zerfällt alles in Stücke.
Jeder hat, wenn er nicht gerade moralamputiert ist, eine innere Stimme, die einem immer sagt, was man tun kann und was nicht, und auf die soll man hören
Wie realisierbar ist Ihrer Einschätzung nach die Utopie der Föderalisierung, die Sie in Glückliches Russland beschreiben?
Durchaus realisierbar. Ich glaube, das eigentliche Hauptproblem, die Hauptkrankheit der russischen Staatlichkeit, wird sich auflösen, wenn Russland zu den Vereinigten Staaten von Russland wird. Zu einer echten Föderation mit mehreren profilierten Hauptstädten, mit Möglichkeiten für die Menschen vor Ort, die eigenen Behörden besser zu kontrollieren, sodass im Zentrum nur die vereinigenden Vorrechte verbleiben, internationale Beziehungen, Verteidigung, einige große, landesweite Projekte. Und das genügt vollauf. In jedem Volk kann sich Verantwortungsgefühl herausbilden. Behandle einen Menschen wie einen Erwachsenen, und er wird anfangen, sich zu benehmen wie ein Erwachsener.
Wenn diese wichtigste Schraube abbricht, wird es dann besser?
Nach den Grauen kommen normalerweise die Schwarzen. Lang werden sie sich natürlich nicht halten können, weil sie unfähig sind, irgendwas zu verwalten oder auf den Weg zu bringen.
Aber eine gewisse Zeit halten sie sich?
Ja, das ist möglich und sehr bedrückend.
Hätte die Sowjetunion alternative Entwicklungsmöglichkeiten gehabt? Ich meine, hätte die Katastrophe der 1990er Jahre verhindert werden können?
Ich glaube, eine große verpasste Chance war die nicht erfolgte Unterzeichnung des Vertrags von Nowo-Ogarjowo über die Union Souveräner Staaten, das, was der eigentliche Grund für den Putsch war. Weil die Leute, die den Putsch unternahmen, richtige Horden-Etatisten waren, denen klar geworden war, dass dieses System am Ende war.
In jedem Volk kann sich Verantwortungsgefühl herausbilden
Wenn die Sowjetunion im August 1991 anstatt zu zerfallen zu einer solchen Konföderation geworden wäre, ähnlich der Europäischen Union, nur eben im eurasischen Raum, dann hätte, glaube ich, alles anders kommen können.
Viele fragen: Haben Sie nicht das Gefühl, dass es höchste Zeit ist, dem heutigen Russland den Rücken zu kehren und ein eigenständiges Leben zu beginnen?
Na ja, also, ich sage das jetzt ohne Schmeichelei. Ich glaube, Russland ist ein enorm interessantes und großes Land, nicht im imperialen Sinn, sondern im Hinblick auf sein energetisches und kulturelles Potenzial, das über unzählige Generationen angesammelt wurde. Es ist ein Land mit unglaublichem Potenzial und unglaublichen Möglichkeiten. Es macht schwere Zeiten durch, wird vielleicht noch schwerere durchmachen, aber mir scheint, Russland hat gute Chancen, irgendwann endlich ein glückliches Russland zu werden.
2014 brachte der britische Fernsehproduzent und Journalist Peter Pomerantsev sein Buch Nothing Is True and Everything Is Possible (Nichts ist wahr und alles ist möglich, 2015) heraus. Darin beschreibt er, wie russische Staatspropaganda funktioniert. Das ist keine Propaganda (Originaltitel: This is not Propaganda)heißt sein neues Buch, das nun auch in Deutschland und Russland erschienen ist, und in dem er den Fokus öffnet: Er nimmt nicht mehr nur Russland, sondern mehrere Länder unter die Lupe, wie etwa auch die Philippinen und Syrien.
Warum Pomerantsev dabei das Wort Propaganda vermeidet, wie Desinformation unsere Welt verändert und was man dagegen tun kann, falls man überhaupt was tun kann, das erzählt er im Interview mit der Novaya Gazeta.
Ilja Asar/Novaya Gazeta:Der Titel Ihres Buches lautet Das ist keine Propaganda, wobei das Wort „keine“ unterstrichen ist. Was ist es denn dann?
Peter Pomerantsev: Der Titel bezieht sich auf das berühmte Gemälde von Magritte, das eine Pfeife zeigt, und darunter steht geschrieben: „Dies ist keine Pfeife“. Für mich hat das Bild immer bedeutet, dass man die Verbindung zwischen Wort und Sinn durchtrennen kann. Vielleicht waren die 1920er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ebenfalls eine Zeit der Wirren. Das ist ein Thema, das in meinem Buch immer wieder auftaucht: Dass wir in einer ähnlichen Zeit leben, einer Zeit, in der alle Begriffe, die früher eine klare Bedeutung hatten – Demokratie, Europa, der Westen und so weiter –, ihre Bedeutung verloren haben, weil verschiedene Kräfte versuchen, sie umzudeuten. Am raffiniertesten machen das vielleicht gerade die neuen Rechtsextremen.
Und was ist mit der Propaganda?
Das Wort Propaganda verwende ich im Buch nicht. Es wird so unterschiedlich interpretiert, dass es gar nicht mehr möglich ist, damit etwas zu erzählen.
Begriffe, die früher eine klare Bedeutung hatten – Demokratie, Europa, der Westen –, haben ihre Bedeutung verloren, weil verschiedene Kräfte versuchen, sie umzudeuten
Was sich ganz real verändert hat, das sind – abstrakt gesprochen – die Formeln und Axiome, die für uns das Konzentrat des demokratischen Informationsraumes waren, das, was ihn von einem diktatorischen unterschied. Das sind einfache Dinge: Dass der Pluralismus etwas Gutes ist, dass die Meinungsfreiheit etwas Gutes ist, dass sich auf dem Markt der Ideen die besten Ideen durchsetzen werden. Zum Beispiel die vom freien Bürger, der Gedichte liest, Jazz hört und sagen kann, was er denkt.
Das Wort Propaganda verwende ich nicht. Es wird so unterschiedlich interpretiert, dass es gar nicht mehr möglich ist, damit etwas zu erzählen
Jetzt beobachten wir, dass der Pluralismus zu einer extremen Polarisierung geführt hat und die Chancen für echte Diskussion dahinschwinden. In den USA wie in anderen Ländern. Im Buch sehen wir am Beispiel der Philippinen, dass die Kräfte, die früher den Informationsraum durch Zensur beschneiden wollten, sich jetzt [bei ihrer Desinformation] ausgerechnet auf die Meinungsfreiheit berufen. Es ist schwierig, dem etwas entgegenzusetzen, vor allem juristisch.
Wenn das Ideal verschwindet, dass alle miteinander reden und einander respektieren und dass in Debatten die besten Ideen gewinnen, dann ist unklar, wie unsere Zukunft aussieht. Das ist ein strukturelles Problem und der Westen (und besonders der angelsächsische Westen) hat noch nicht geschafft, es neu zu denken.
Russland hat ja seit der Sowjetzeit Probleme mit den Begriffen Demokratie und Freiheit. Heißt das, der Westen nähert sich Russland an?
Ja, in gewisser Weise erleben wir jetzt Prozesse, die Russland in den 1990er Jahren durchgemacht hat. Zumindest auf sprachlicher, kultureller, politischer Ebene, nicht auf Regierungsebene natürlich.
Gleb Pawlowski spricht in Ihrem Buch von einem „Proto-Putinismus“ im Westen.
Ja, aber ich glaube, er will auch provozieren. Er spielt damit. In dem Interview [im Buch – dek] geht es um etwas ganz Konkretes: Wenn es keine eindeutig linken oder rechten Ideen mehr gibt, keine ideologischen Debatten über die Zukunft, wenn einstige soziale Identitäten verschwinden, kommt den Polittechnologen die Aufgabe zu, neue Identitäten, neue Ideen für die Mehrheit zu erschaffen.
Wenn das Ideal verschwindet, dass alle miteinander reden und einander respektieren, dann ist unklar, wie unsere Zukunft aussieht
Ich wollte in meinem Buch ganz verschiedene Länder und auf den ersten Blick verschiedene Situationen nebeneinanderstellen – wie bei einer Montage –, um aufzuzeigen, welchen Rhythmus sie zusammen bilden; dass es im Chaos des Informationsraums zwar keine Logik, aber doch eine Art ZEITGEIST (im Orig. deutsch – dek) gibt.
Wenn das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Nostalgie war, dann sind das in Russland vor allem nostalgische Gefühle für die Sowjetunion, für Breschnew oder für Stalin, jedenfalls die Sehnsucht nach einer starken Hand. Aber was ist es in Europa? Doch nicht die starke Hand?
Das Imperium. In dieser Hinsicht harmonieren England und Russland im Rhythmus. Beide waren Kolonialreiche, sie betrachteten sich seit jeher als Imperien am Rande Europas und nicht als Länder. So wie bei euch im Jean-Jacques früher diskutiert wurde, ob die Russen Europäer sind oder nicht. Das Gleiche gilt für England. Das ist eine ewige Streitfrage. Zwei Kulturen, die versuchen, damit klarzukommen, dass sie nicht mehr der Nabel der Welt sind. Russland hat es da vermutlich schwerer.
Aber was ist eigentlich Nostalgie? Bei Nostalgie geht es nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern darum, dass es kein Gefühl für die Zukunft gibt und die Gegenwart unbequem ist. Die Vergangenheit ist dabei immer irgendwie mythisch. Interessanterweise sind in Westeuropa die größten Nostalgiker die jungen Leute.
Bei Nostalgie geht es nicht so sehr um die Vergangenheit, sondern darum, dass es kein Gefühl für die Zukunft gibt
In Frankreich ist das eine Nostalgie nach einem ethnisch reinen Frankreich – das es nie gegeben hat. Das hat eine aggressive und rassistische Komponente. In Deutschland ist das etwas anders, dort geht man vorsichtiger mit der Vergangenheit um, aber auch da gibt es das. In England hängt das eher mit dem Empire zusammen, aber auch mit einem Gefühl von Einzigartigkeit, Exzentrik. Es muss nicht sein, dass das [in Westeuropa] in Aggression mündet, es könnte auch zu etwas Selbstzerstörerischem werden.
In Russland ist diese Nostalgie in die Krim und den Donbass gemündet, und die Menschen haben die Rückkehr der Gebiete ins Imperium begrüßt. Aber es ist ja kaum davon auszugehen, dass sich England Indien zurückholt?
Das sind unterschiedliche Systeme. Und selbst wenn jemand das wollte, [in England] spielen viele andere Faktoren noch mit rein. Aber in gewisser Weise – ich mache hier keinen qualitativen Vergleich –, wenn wir uns die britischen Abenteuer im Irak genauer ansehen, hat da natürlich das Gefühl eine große Rolle gespielt, dass wir noch wichtig sind, dass das einmal unser Territorium war. Vielleicht auch moralische Erwägungen: dass wir dort Anfang des 20. Jahrhunderts Chaos angerichtet haben und jetzt wieder dorthin müssen. Und Frankreich kämpft nicht umsonst ständig in Nordafrika.
Nostalgie ist nicht per se etwas Schlechtes
Aber wichtig ist etwas anderes. Svetlana Boym spricht von Nostalgie als dem Verlust der Gegenwart und als einer mythischen Vergangenheit. Sie nennt dabei zwei Formen der Nostalgie: Die erste ist aggressiv und versucht ihre mythische Vergangenheit in der neuen Welt zu errichten. Die zweite ist ironischer, weicher; sie blickt auf die Vergangenheit und versteht, was sich seither verändert hat. Nostalgie ist also nicht per se etwas Schlechtes. Ich habe gerade die US-Wahlwerbung gesehen, und, siehe da, sowohl die Demokraten als auch die Republikaner spielen mit der Nostalgie. Bei Trump ist es dieser unglaublich aggressive Slogan – „Make America great again“ –, mit russischem Beigeschmack, aber auch Biden sagt: „Erinnern wir uns daran, wer die Amerikaner sind, erinnern wir uns, wer wir sind.“ Hier geht es auch um Nostalgie, aber in einer softeren Form, als Sehnsucht nach einer Zeit, als es noch eine Zukunftsvision gab.
Russland benutzt die Nostalgie, damit die Menschen sich wohler fühlen
In Russland geht es im Grunde nicht um die Sehnsucht nach einem autoritären Regime – es gibt ja immer noch ein autoritäres Regime. Russland benutzt die Nostalgie, damit die Menschen sich wohler fühlen. Sogar für meine Eltern, die in der Sowjetunion aufgewachsen sind, ist die Krim das Paradies, die Kindheit, da gibt es eine tiefe Verbundenheit.
Zum Thema Donbass: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass man früher Kriege führte, um Gebiete zu erobern und seine Flagge zu hissen, wogegen es in diesem Krieg um Legendenbildung gehe: Moskau wolle zeigen, dass die Farbrevolutionen zum Krieg führen, und Kiew, dass Separatismus zu Leid führt. Wie universell ist das?
In dieser Hinsicht ist das Buch War in 140 Characters sehr interessant, in dem geht es darum, wie sich das Gleichgewicht verändert hat und die Informationskomponente immer wichtiger geworden ist. [Der Autor – dek] David Patrikarakos beginnt mit dem jüngsten Krieg in Gaza. Er schreibt, dass die israelische Armee in dem Konflikt zwar im Prinzip gesiegt hat, aber trotzdem habe sie verloren, weil die Palästinenser in Sachen Storytelling mehr Sympathien einfahren konnten. Und das, was vor Ort passierte, war gar nicht das Entscheidende.
Und was haben die Palästinenser davon? Gut, die Sympathien sind auf ihrer Seite, aber den Krieg haben sie trotzdem verloren, ihre Lebensbedingungen verschlechtern sich zunehmend.
Ich bin kein Nahost-Experte, aber was wir sehen ist, dass Israel sich von dem Mainstream im Westen entfernt. Niemand weiß, wie das alles ausgeht, aber während Israel früher Unterstützung aus dem ganzen politischen Spektrum bekam, ist das jetzt nicht mehr so.
Wenn im Donbass etwas passiert, bastelt sich jede Seite innerhalb von einer Sekunde ihre eigene Version zurecht
Der Krieg im Donbass ist natürlich echt, Menschen sterben. Das ist nicht einfach und nicht nur ein Informationskrieg, aber es war ein sehr merkwürdiger Konflikt. Wenn dort etwas passiert, bastelt sich jede Seite innerhalb von einer Sekunde ihre eigene Version zurecht. So war es schon immer, nur dass es jetzt sofort passiert.
In Ihrem Buch geht es auch um Syrien.
Das ist das schwierigste Kapitel für mich. Ich weiß noch, dass es während des Kosovokriegs öffentliche Proteste gab, als Bilder von Gefangenen in Lagern veröffentlicht wurden, die öffentliche Meinung nahm irgendwie Anteil. Derzeit gibt es massenhaft Aufnahmen von himmelschreienden Verstößen gegen das internationale Recht, aber es interessiert sich keiner mehr dafür.
Ich wollte zeigen, dass die Menschen Propaganda als Vorwand benutzen, nichts zu unternehmen. [Der ehemalige britische Außenminister] David Miliband, der die humanitäre Hilfsorganisation International Rescue Committee gegründet hat, bezeichnete unsere Epoche als „Age of Impunity“, ein Zeitalter, in dem alle straflos davonkommen. Früher beteuerten die Politiker, nichts über den Holocaust oder den Völkermord in Ruanda gewusst oder erst zu spät davon erfahren zu haben, jetzt passiert alles direkt vor aller Augen, doch niemand schert sich darum. Pawlowski erwähnt [den Historiker und Philosophen Michail] Gefter, der vorausgesehen hat, dass es in Zukunft „schwarze Löcher“ geben würde – Räume der totalen Gesetzlosigkeit.
Das heißt, wenn der Holocaust jetzt passieren würde, würde sich niemand darum scheren?
Für Gefter war der Holocaust bereits so ein Moment des Verlusts allgemeingültiger Regeln in der Weltgeschichte. Das geschieht in Zyklen, allgemeine Regeln entstehen und verschwinden wieder.
Wenn man das Kapitel über die Philippinen in Ihrem Buch liest, ist man entsetzt über das, was dort geschieht, all diese Morde … Da scheinen die ständigen Verweise auf Russland im Buch etwas ungerecht, es gibt immerhin schlimmere Regime als Putins.
Es gibt Kulturen, in denen die Tradition, dass man die Armen umbringen darf, nicht verschwunden ist. Auf den Philippinen ist der Wert eines Menschenlebens sehr gering – geringer als in Russland, wo er auch schon klein ist. Auf den Philippinen werden viele Menschen umgebracht, und jetzt hat sich die Situation verschärft, erlebt eine Art Crescendo. Auch in Lateinamerika ist die Sterblichkeit viel höher, in dieser Hinsicht ist Russland näher an den europäischen Ländern. Andererseits: Eine derartige Dominanz über die Medien [wie der Kreml] hat [der philippinische Präsident Rodrigo] Duterte nicht. Und es gibt auf den Philippinen ein echtes Parteiensystem.
Interessanter ist der Vergleich zwischen Russland und der Türkei. Es wird viel diskutiert, wer schlimmer ist: Putin oder Erdogan? Die Türkei ist immerhin noch in der NATO. Einerseits werden in der Türkei deutlich mehr Journalisten verhaftet, andererseits sind die Medien flexibler, was die Themen angeht, und es gibt ein echtes Mehrparteiensystem. Es gibt echte Wahlen, genauso wie auf den Philippinen. Das ist wie ein Spiel: Wer ist besser, wer schlechter? Doch ich weiß nicht, wie man es spielt, wofür man wie viele Punkte vergeben soll.
Schenken Sie Russland mehr Aufmerksamkeit, weil es auf der internationalen Bühne agiert?
Zum Einen geht es in meinem Buch auch um Geschichte, und es ist kein Zufall, dass Russland als Eckpfeiler des Kalten Krieges jetzt wieder auf den Plan tritt.
Das ist wie ein Spiel: Wer ist besser, wer schlechter? Doch ich weiß nicht, wie man es spielt, wofür man wie viele Punkte vergeben soll
Es gibt nicht viele Länder, die in der Lage sind, eine Idee vorzulegen, einen Ton oder Stil, die dann die ganze Welt beeinflussen. Russland ist eines der ganz wenigen Länder, die eine große Idee haben und sie in den globalen Diskurs werfen können. Früher war das der Kommunismus, jetzt ist es der Triumph des Zynismus.
Ich meine die Technologie dahinter. So zeigt Russland, dass es kampfbereit ist, auf Krawall gebürstet. Es gibt überall Trolle, nur dass Russland eine Außenpolitik daraus gemacht hat, beziehungsweise eine Finanzpolitik im Sinne der Beziehung zwischen Regierung und Oligarchen, aber in der einen oder anderen Form gibt es überall Trolle.
Die eigentliche Frage ist für mich, warum unsere Idee von Meinungsfreiheit nicht in der Lage ist, mit den Trollen fertig zu werden. Duterte und andere Trollfabrik-Dirigenten reden ständig von Meinungsfreiheit. Das Ziel der Trollfabriken ist es, den Menschen ihre Rechte zu nehmen. Das sind ja keine großen Demokraten, sie wollen zum Schweigen bringen und diskreditieren, mitunter sogar zu Gewalt verführen. Man hat lange darüber nachgedacht, wie man sie und dieses Verhalten regulieren soll, ohne dabei auf das Ideal der freien Meinungsäußerung zu verzichten, im Rahmen des internationalen Rechts.
Die eigentliche Frage ist für mich, warum unsere Idee von Meinungsfreiheit nicht in der Lage ist, mit den Trollen fertig zu werden
Von der brillanten Forscherin Camille François stammt der Gedanke, dass man abrücken müsse von der Idee eines Contents, den man regulieren will. Die Menschen müssen das Recht haben zu sagen, was sie wollen. Regulieren muss man den massenhaften Betrug, die Fabriken, weil genau sie dem Menschen das Recht nehmen zu verstehen, was gerade passiert. Denn niemand weiß mehr: Ist das ein einzelner Mensch oder eine ganze Armee?
Aber wie?
Massenhafter Betrug wird illegal. Facebook spricht bereits davon, doch bislang gibt es kein Gesetz, also tun sie es von sich aus. Man darf nicht tausend Avatare erstellen, die wie Menschen aussehen und wie Menschen reden. Alle NGOs sind sich einig, dass das das Wichtigste ist. Die Konzerne versuchen irgendwie dagegen vorzugehen. Wie effektiv das ist, weiß noch niemand. Außerdem sind die Strafen sehr gering. Wie soll man Trollfabriken bestrafen? Die USA werden wegen Prigoshin nicht Sankt Petersburg bombardieren, soviel steht fest. Doch was ist die angemessene diplomatische Konsequenz? Und was die juristische? Wir haben noch keine adäquate Antwort darauf gefunden.
Überall treten Verschwörungstheorien an die Stelle von Ideologien
Das Buch – das ist meine Reise weg aus Russland, dem Land meiner Vergangenheit. Ich versuche die große Welt zu verstehen, nicht Russland, England oder die USA, die ich alle gut kenne. Ich finde es spannend – und deswegen spreche ich nicht nur über Mord und Menschenrechte –, bis zu welchem Grad sich die Krisen des Informationsraumes überall ähneln. Überall treten Verschwörungstheorien an die Stelle von Ideologien. Überall wird versucht, die Menschen nicht mehr von einer höheren Idee zu überzeugen, sondern sie zu täuschen und in die Irre zu führen. Die große Entdeckung für mich war, dass sich auf den Philippinen wie in Mexiko, in Demokratien, Diktaturen und hybriden Regimen dieselben Muster wiederholen.
Wie könnte eine neue Idee aussehen? Im Moment ist es eher ein Zurückrudern. Brexit, die Grenzschließungen wegen des Coronavirus …
Mein Spezialgebiet ist eng gefasst: Information und Propaganda. Ich kann sagen, wie wir demokratische Medien neu denken können, wie wir versuchen können, im 21. Jahrhundert ein Forum zu schaffen, das eine solche Zukunftsvision hervorbringen könnte.
Die große Entdeckung für mich war, dass sich auf den Philippinen wie in Mexiko, in Demokratien, Diktaturen und hybriden Regimen dieselben Muster wiederholen
Für den Diskurs über die Zukunft der Medien gibt es viele Ansätze und es wird viel darüber geschrieben. Die Art, wie wir in Demokratien derzeit Medien gestalten, trägt nicht dazu bei, Ideen zu entwickeln oder konstruktive Debatten zu führen, aus denen eine Zukunft entstehen könnte. Der ganze Sinn von Debatten während der demokratischen Primaries in den USA läuft auf Angriff und Beleidigung hinaus.
Es gibt eine ganze Schule der konstruktiven Berichterstattung. Konstruktiver Journalismus ist ein Ansatz, bei dem das Ziel der Redaktionspolitik darin besteht, immer nach Auswegen und Lösungen zu suchen. Jeder Artikel ist nicht nur ein Breittreten von Konflikten und Schreckensnachrichten. Natürlich verbietet keiner investigativen Journalismus und das Graben nach wichtigen Staatsgeheimnissen, aber es muss immer auch einen Blick in die Zukunft geben, um das Gespräch anzuregen. Das funktioniert zwar [nur] theoretisch sehr gut, aber wenigstens wird darüber nachgedacht. Wir müssen versuchen, das, was wir tun, neu zu denken, damit diese Debatte in die Gänge kommt.