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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Zahnloses Raubtier

    Zahnloses Raubtier

    Stars sind immer auch Identifikationsfiguren. Die russische Gesellschaft beobachtet sehr genau, wie sich Musikerinnen und Musiker, Künstlerinnen und Künstler zum Krieg positionieren. Lassen sie sich vor den Karren der Propaganda spannen wie der Rockbarde Grigori Leps, die Sängerin Polina Gagarina oder der einstige Skandalrocker Sergej Schnurow? Ziehen sie sich zurück und schweigen, wie die Pop-Sängerin Olga Busowa? Oder sprechen sie sich klar gegen den Krieg aus und nehmen dafür auch Konsequenzen in Kauf, wie die Schlager-Ikone Alla Pugatschowa und ihr Mann, der Comedy-Star Maxim Galkin? Und was sind die Motive für die eine oder andere Haltung? Echte Überzeugung, Anbiederung oder Zwang vonseiten der Staatsmacht? 

    Wer sich öffentlich gegen den Krieg positioniert, dessen Karriere ist in Russland schnell beendet, Konzerte sind nicht mehr möglich. Ende August hat der Fall des Pop-Rockers Roman Bilyk für Aufsehen gesorgt, bekannt unter dem Künstlernamen Zver (dt. Raubtier). Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Bilyk wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen. Dann tauchte plötzlich ein Video auf, in dem Zver ein Konzert vor russischen Soldaten hinter der Front gibt und sich ansieht, wie die Artillerie ein paar Schüsse abfeuert. Für viele Fans eine schmerzhafte Enttäuschung. Wie auch für den Autor der Novaya Gazeta Europe, Wjatscheslaw Polowinko.

    Nach Beginn des vollumfänglichen Krieges gegen die Ukraine hatte sich Roman Bilyk, Frontmann der Band Zveri, wiederholt gegen den Krieg ausgesprochen, nun gab er ein Konzert für russische Soldaten an der Front / Foto © Sergei Bobylev/ITAR-Tass/imago images

    Am 21. August 2023 hat der Propangandist Semjon Pegow (auf Telegram bekannt unter dem Pseudonym War Gonzo) ein Video mit Roman Bilyk alias Roma Zver, dem Frontmann der Band Zveri verbreitet, auf dem zu sehen war, wie dieser seine Songs in der „Volksrepublik Donezk“ vor Soldaten hinter der Front spielte. Und Zver singt da nicht nur, sondern führt sich auf wie ein echter Kämpfer. Das rief heftige Reaktionen hervor, weil die Band Zveri bis dahin den umfassenden Krieg gegen die Ukraine scharf verurteilt hatte. 

    Um die Metamorphose von Roma Zver zu verstehen, werfen wir einen kurzen Blick in die Vergangenheit. Ende Mai machte der Zveri-Leadsänger in einer Bar in Samara heftig Randale, warf mit Stühlen und Sonnenblumenkernen (!), fluchte derb – mit einem Wort, er führte sich auf wie ein echter Punk. Wie steht es um die psychische Verfassung eines Menschen, der sich so verhält? Entweder ist ihm von Vornherein klar, dass das für ihn keine Folgen haben wird, oder er kann sich aufgrund von Stress (und einer nicht zu verachtenden Menge von hartem Alkohol) nicht mehr beherrschen. In Zvers Fall ist Zweiteres wahrscheinlicher: Der Musiker hatte nach Kriegsbeginn über ein Jahr lang im Netz antimilitaristische Statements veröffentlicht, und obwohl sich die Zahl seiner Konzerte nicht wirklich verringerte, standen die Zveri vonseiten der „patriotischen“ Öffentlichkeit doch ordentlich unter Druck. Ein paar Wochen nach dem Vorfall in Samara wurde ein geplantes Konzert auf dem Sankt Petersburger Wirtschaftsforum abgesagt und durch die eindeutig staatskonforme Band Tschish & Co ersetzt. Parallel dazu wurde gefordert, zu überprüfen, ob Roma Zver die ukrainischen Streitkräfte finanziell unterstützt hat. Die absolute Katastrophe für einen, der Russland nicht verlassen will.

    Und plötzlich taucht Bilyk vor ein paar Wochen in Anton Beljajews Projekt LAB mit einem Song von Jegor Letow auf: Pro duratschka – (dt. Über einen Dummkopf). LAB ist ein Großprojekt zur Produktion von Coverversionen, sozusagen von Neuinterpretationen. Wichtig ist jedoch: Zu Beginn werden diese Coverversionen auf VKontakte veröffentlicht, und Roma Zver ist der einzige Interpret mit explizit antimilitaristischer Haltung. 

    Sowohl Zvers Teilnahme an diesem Projekt als auch das Lied darüber, dass es „im Feuer des Schützengrabens keine Atheisten“ gebe, waren bereits ein Signal, dass sich etwas verändert hatte – aber was da genau passiert war, war nicht ganz klar. 

    Und jetzt ist Roma Zver in die „Volksrepublik Donezk“ gefahren und ist nicht nur vor Soldaten aus Russland aufgetreten, sondern hat auch in Helm und Panzerweste beim Kanonenbeschuss mitgemacht (nur die Munition hatte ihm schon jemand zurechtgelegt). „Sehr tiefe Frequenzen, und dann das ganze Spektrum“, kommentierte er den Sound. Und dann sang er:

    Genieße deine Siege, 
    rede, verdränge, dass du schwach bist. 
    Spar dir deine Ratschläge, Kleiner! 
    Erzähl, erzähl, wie toll du bist.

    Die ehemaligen Fans verbergen im Netz ihren Schock hinter Spott: „Der harte Alkohol zeigt Folgen“, „Alles, was mit dir zu tun hat, geht den Bach runter“, „Mädels und Jungs kämpfen – eins-zwei-drei“, „Iskander-Regen“ – und so weiter. Mit einer Zeile aus einem Zveri-Song lässt sich auch erklären, was mit Bilyk los ist: So ist es einfacher, so ist es leichter. Du löschst die Postings gegen den Krieg, singst für Russlands Soldaten, bekommst Anerkennung von Sachar Prilepin und hast mit deinen Konzerten von nun an keine Sorgen mehr. Zwei Konzerte in Moskau und Sankt Petersburg sind ausverkauft.

    Doch das Drama besteht bei Roman Bilyk nicht nur darin, dass er seine Instagram-Posts gelöscht hat und an der Front für die Russen singt. Vor dem Krieg trat Roma Zver zum Beispiel für Kirill Serebrennikow ein, als dieser mit seinem Theaterlab Sedmaja studija vor Gericht stand. Dort äußerte Roma Zver Folgendes:

    • „Dieser Prozess lässt erkennen, was die Staatsmacht von uns hält. Wir zählen für sie gar nicht.“
    • „Alle Massenmedien, alle staatlichen Kanäle verbreiten Propaganda.“
    • „Es fühlt sich an, als wären wir alle für sie nichts als Vieh, lauter ungebildete Leute: Ihr seid Vieh, haltet still und schweigt.“
    • „Peskows Märchen glaube ich nicht und will sie nicht hören, weil das auch wieder lauter Geschichten für Leute sind, die Lichtjahre entfernt sind von dem, was tatsächlich bei uns passiert.“

    Alles, was Zver da beschreibt, wurde nach dem 24. Februar 2022 nur noch schlimmer – und bis zu seiner Fahrt in die „Volksrepublik Donezk“ war ihm das auch völlig klar. Und trotzdem sagte er sich bewusst von seinen eigenen Ansichten los, knickte ein und verbog sich. Bedenkt man, dass Roman einen beträchtlichen Teil seiner Jugend in Mariupol und Kyjiw verbracht hat, wird sein Sinneswandel umso fataler. 

    Möglicherweise sitzt der Zveri-Frontmann dem Irrglauben auf, dass „es mein Land ist, auch wenn es Fehler begeht“. Vielleicht versucht Roman Bilyk, sich damit zu beruhigen, dass auch Russland offiziell gegen Kriege ist: Wie uns das staatliche Fernsehen erzählt, fängt Russland ja Kriege nicht an, sondern beendet sie nur.  

    Es ist nicht auszuschließen, dass Bilyk ein Strafverfahren angedroht und ein Angebot gemacht wurde, das er nicht ausschlagen konnte. Wir wissen es nicht, aber das ist jetzt auch egal.  

    Wie ein wucherndes Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs

    Der Kompromiss, zu dem viele Prominente gezwungen sind, die in Russland geblieben sind, ließ Roman in Schäbigkeit und Heuchelei abrutschen (was den „Patrioten“ nach wie vor missfallen könnte, aber mit ihrem Repertoire an Negativität werden sie sich Bilyks Meinungsumschwung mit der Phrase „Hat er’s endlich kapiert“ erklären). Was mit dem Frontmann von Zveri passiert, ist zudem insofern doppelt traurig, als hier vor unseren Augen ein Mensch bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Wie bei einem wuchernden Krebsgeschwür – nur ist es in diesem Fall ein Gewissenskrebs. Und es bleibt einem nichts anderes übrig als zuzusehen, wie das Ende naht. 

    Roma Zver ist natürlich nicht der Erste, der sich so verändert. Nicht nur durch psychologische Manipulation sagt man sich von seiner Meinung und seiner Vergangenheit los, sondern auch aus banaler Dummheit: Erinnern wir uns nur an Maria Schukschina, die ihr Gedenken des eigenen unter Stalin erschossenen Großvaters gegen eine Vergötterung Stalins für seine „Bewahrung der Kirche“ (!) eintauschte. Aber weder Schukschina noch Grigori Leps oder Dima Bilan, die in Videos über Kinder aus dem Donbass mitspielen, noch Valentina Talysina und Alexander Paschutin lösen eine so schwere Enttäuschung aus: Von denen war nichts anderes zu erwarten. Hier jedoch wird ein Jugendidol dekonstruiert – noch dazu ein Rocker (wenn auch ein sehr poppiger). Viele glauben – übrigens zu Unrecht –, dass einer, der Rock spielt, automatisch etwas vom Leben begriffen hat. Das ist eine absolute Illusion: Die Leute aus der Rock-Szene, die sich gegen den Krieg geäußert haben, kann man an einer Hand abzählen. Auf jeden Juri Schewtschuk kommt ein Dutzend Bands wie KnjaZz und Tschaif.    

    Das größte Unglück für Roma Zver aber ist, dass er mit dem Bewusstsein weiterleben muss, dass eine Kanone seiner ersten Heimat seine zweite Heimat beschossen und er mit Vergnügen dabei zugesehen hat. Schlimm ist nicht nur, dass Roma Zver den Krieg unterstützt, sondern dass er das auch noch geil findet. Kannibalismus ist ekelhaft – bis du den ersten Bissen Menschenfleisch kostest. Roman Bilyk scheint tief in sich drinnen einen tierischen Hunger verspürt zu haben. 

    Wessen Jugend beim Sound von Rajony-kwartaly (dt. Bezirke und Wohnblocks) blühte, der steht jetzt ebenfalls vor der Wahl. Die Musik der Zveri weiterhören, als ob nichts gewesen wäre, weil es „einfach eine so große Liebe“ ist? Oder „Sorry, Roma, ich hau ab“? Die Entscheidung scheint eindeutig – aber das scheint nur so, denn wir wissen nicht, wie viele Menschen, die eine ähnliche Verzweiflung durchgemacht haben wie der „echte Punk“ Roma Zver, genau solche Kompromisse eingehen wie ihr Idol. Nachdem auch „Helden bereit sind, für Geld zu sterben“, wieso sollen die anderen besser sein? Erst recht, wo doch die Menschen in der großen Masse gar keine Helden sind.  

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  • „Ich liebe mein Land und glaube an unsere Menschen“

    „Ich liebe mein Land und glaube an unsere Menschen“

    25 Jahre Strafkolonie – so lautet das Urteil gegen den russischen Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa: für angebliche „Falschinformationen“ über die russische Armee, für die Mitwirkung bei einer „unerwünschten Organisation“ und für angeblichen „Hochverrat“. 

    Kara-Mursa war ein langjähriger Weggefährte des ermordeten Politikers Boris Nemzow. Auf Kara-Mursa wurden 2015 und 2017 Giftanschläge verübt, bei denen es wie im Fall der Vergiftung von Alexej Nawalny 2020 eine mutmaßliche Verbindung zum russischen Inlandsgeheimdienst FSB gibt. Kara-Mursa selbst sprach von einem Racheakt für die Magnitski-Liste, an der er maßgeblich mitgewirkt hatte. Auf Grundlage dieser Liste sanktionierten die USA 2012 eine Reihe von russischen Beamten wegen des 2009 in Haft gestorbenen Juristen Sergej Magnitski.

    Vor diesem Hintergrund sehen viele Kritiker das heutige Urteil ähnlich wie etwa die kürzliche Verurteilung von Ilja Jaschin: als weiteren Versuch, einen Oppositionspolitiker mundtot zu machen. In seinem Schlusswort vor Gericht bestreitet der Kriegsgegner Kara-Mursa die Vorwürfe und ist überzeugt, dass in Russland einst „diejenigen zu Verbrechern erklärt werden, die den Krieg entzündet und angefacht haben – und nicht die, die versucht haben, ihn zu stoppen“.

    [bilingbox]Ich weiß: Der Tag wird kommen, da wird sich die Finsternis über unserem Land verziehen. Wenn das Schwarze wieder schwarz heißen wird, und das Weiße weiß, wenn man auf offizieller Ebene wieder zugibt, dass zwei mal zwei nun einmal vier ist, wenn Krieg wieder Krieg genannt werden wird und ein Usurpator Usurpator und wenn diejenigen zu Verbrechern erklärt werden, die den Krieg entzündet und angefacht haben – und nicht die, die versucht haben, ihn zu stoppen. Dieser Tag kommt so gewiss, wie der Frühling nach einem harten, frostigen Winter.

    In diesem Bewusstsein, mit dieser Erkenntnis wird ein langer, schwerer, aber ein so wichtiger Weg der Gesundung und des Wiederaufbaus Russlands beginnen, der Weg seiner Rückkehr in die Gemeinschaft zivilisierter Staaten.

    Sogar heute, sogar in der uns umgebenden Finsternis, sogar hier im Käfig sitzend – ich liebe mein Land und glaube an unsere Menschen. Ich glaube, dass wir diesen Weg gehen können.~~~Но я знаю и то, что настанет день, когда мрак над нашей страной рассеется. Когда черное назовут черным, а белое — белым; когда на официальном уровне будет признано, что дважды два — это все-таки четыре; когда войну назовут войной, а узурпатора — узурпатором, и когда преступниками признают тех, кто разжигал и развязывал эту войну — а не тех, кто пытался ее остановить. Этот день настанет так же неизбежно, как весна приходит на смену даже самой морозной зиме. 

    С этого осознания, с этого осмысления начнется долгий, трудный, но такой важный для всех нас путь выздоровления и восстановления России, ее возвращения в сообщество цивилизованных стран.

    Даже сегодня, даже в окружающей нас темноте, даже сидя в этой клетке, я люблю свою страну и верю в наших людей. Я верю, что мы сможем пройти этот путь.[/bilingbox]

    Original: Novaya Gazeta Europe
    Übersetzung: dekoder-Redaktion
    Veröffentlicht am 17.04.2023

     

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    „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    Der russische Krieg gegen die Ukraine gilt unter vielen Wissenschaftlern, Journalisten und Aktivisten als ein imperialer Krieg: Wladimir Putin spricht der Ukraine das Daseinsrecht ab, will das Land offensichtlich unterwerfen, in der russischen Propaganda wird von „Entukrainisierung“ der Ukraine fantasiert, manche fordern eine „Russifizierung“ – all das erinnert an das Imperiale des Russischen Reiches und/oder der Sowjetunion.

    Auch die russische Historikerin Tamara Eidelman sagt, dass die Idee eines russischen Imperiums bei Putin fortlebe, allerdings in einer „verqueren Weise“: „Ich glaube nicht, dass er von Moskau als dem Dritten Rom träumt – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber dass er das Imperium wiedererrichten will, das steht außer Frage.“

    Eidelman ist eine sehr bekannte Historikerin mit einem erfolgreichen YouTube-Kanal zur russischen Geschichte: Der 62-Jährigen, die inzwischen nicht mehr in Russland lebt, folgen dort eine Million Abonnenten. Mit der Novaya Gazeta Europe spricht sie über die Geschichte des russischen Imperiums seit den Anfängen im 16. Jahrhundert und darüber, was das mit der Gegenwart des Krieges unter Putin zu tun hat.

    Nikita Pegow: Was ist der russische Imperialismus, wo sind seine Wurzeln? Was hat Putins Russland vom ursprünglichen russischen Imperialismus geerbt?

    Tamara Eidelman: Ich denke, der Imperialismus war in Russland im Keim schon da, bevor es das Wort Imperium überhaupt gab. Peter der Große war der Erste, der offiziell zum Imperator ernannt wurde, aber eigentlich hat das Imperium schon vorher Gestalt angenommen: Als das Moskauer Zarenreich begann, sich auszudehnen und neue Gebiete einzunehmen – die Wolgaregion unter Iwan dem Schrecklichen im 16. Jahrhundert, Sibirien im 17. Jahrhundert –, war der Grundstein für das Russische Imperium bereits gelegt.

    Parallel dazu bildete sich die Ideologie heraus. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts verfasste der Mönch Filofej von Pskow sein berühmtes Schreiben an Wassili III., in dem er den Gedanken formulierte, Moskau sei das Dritte Rom. Filofej wäre wohl sehr überrascht gewesen, hätte er erfahren, wie viele Jahrhunderte seine Idee überdauern würde und wie sie transformiert wurde. Rom stellten sich die Menschen im 16. Jahrhundert als Zentrum eines Weltreichs vor – für Filofej war es ein orthodoxes. Diese Idee wurde unter Katharina der Großen wieder lebendig. Sie wollte Konstantinopel erobern und dort einen orthodoxen Staat errichten. Diese Idee lebte im 19. Jahrhundert weiter, als Russland in den Balkan vordrang und ebenfalls von Konstantinopel träumte. Auf die gleiche verquere Weise lebt die Idee auch bei Putin fort. Er träumt wohl nicht von Moskau als dem Dritten Rom – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber er will das Imperium wiedererrichten, das steht außer Frage.

    Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. […] Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus!

    Inwiefern stützt er sich auf die Erfahrung seiner Vorgänger? Lässt Putin sich von einem historischen Gedächtnis leiten, oder ist es etwas Impulsives, Irrationales?

    Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. Erstens weiß ich nicht, woher er die haben sollte – sicher nicht von der KGB-Schule und auch nicht aus Dresden, wo er als Außenagent im Einsatz war. Der Mann hat in Deutschland gelebt, aber macht Fehler, die jeder Schüler korrigieren kann. Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus! Er ist von Leuten umgeben, die für ihn vom Russki Mir inspirierte Reden schreiben. Diese Ideologie wurzelt tief in der imperialistischen Idee in ihrem übelsten Sinne – Imperialismus ist ja nicht gleich Imperialismus, genauso wie Imperien ganz unterschiedlich sein können.

    Meines Erachtens sind für Putin die letzten Regierungsjahre Stalins sehr wichtig, denn in der Nachkriegsepoche formierte sich auch bei Stalin eine imperiale Ideologie.

    Die Bolschewiki hatten in den ersten Jahrzehnten ihrer Herrschaft vom Internationalismus gesprochen, von der Weltrevolution, sie erschufen nationale Kader in den verschiedenen Republiken. Natürlich gab es damals keine Freiheit im eigentlichen Sinne, aber sie operierten jedenfalls mit diesen Begriffen; der Internationalismus war für viele Menschen sehr wichtig.

    Und dann erhebt Stalin 1945 auf einem Bankett zur Feier des Sieges sein Glas auf das russische Volk, das plötzlich die größten Opfer im Krieg davongetragen haben soll. Von diesem Moment an festigt sich der Gedanke, das russische Volk sei der große Bruder aller anderen Völker. Das lässt sich an der gesamten Politik des Spätstalinismus gut beobachten. Zum Beispiel an den Deportationen der nordkaukasischen Völker. Oder an der antisemitischen Kampagne, am Kampf gegen den Kosmopolitismus, an der sogenannten Ärzteverschwörung. Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form.

    Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form

    Es ist bezeichnend, dass sich dieser Chauvinismus unter Chruschtschow und Breshnew mäßigte. Natürlich war er auch da noch präsent, aber Breshnew wäre nie in den Sinn gekommen zu sagen, das russische Volk sei der große Bruder. Im Gegenteil, es wurde wieder von Internationalismus und Völkerfreundschaft gesprochen – vielleicht war es gelogen, aber immerhin.

    Eine andere Sache, die für Putin von großer Bedeutung ist: Ende der 1940er Jahre ließ Stalin das Russische Reich wiederauferstehen. Natürlich blieb es der Form nach der Kommunismus. Aber es ist kein Zufall, dass während des Krieges das Amt des Patriarchen wiedereingeführt wurde. Sämtliche Geistliche sitzen im Lager, doch plötzlich bandelt man wieder mit der Kirche an. Die Schulterklappen kehrten zurück, die Offiziersgrade – alles Symbole des Russischen Reichs. Es wurden Loblieder auf Peter I. und Iwan den Schrecklichen gesungen. So hatte das Reich zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts unter Alexander III. ausgesehen.

    Wie gesagt, Imperium ist nicht gleich Imperium. Im Russischen Reich war das Leben nicht für alle Völker gleich. Juden und Polen lebten schlechter, die Bewohner der Wolgaregion oder Zentralasiens besser: Sie wurden zwar de facto erobert, aber man ließ sie mehr oder weniger in Ruhe. Selbst die Khane und Emire ließ man in ihren Ämtern, sie durften sich um ihre Angelegenheiten kümmern – Hauptsache, sie gehorchten dem russischen Zaren.

    Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer. Es ist kein Zufall, dass man ihn auch jetzt überhöht – alle sollen sehen, wie toll er war. Das ist genau die chauvinistische Linie, die Putin gefällt.

    Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer

    Gibt es so etwas wie Alltagsimperialismus? Wie kann es sein, dass ein durchschnittlicher Moskauer gegen den Krieg und die Wiedererweckung des Imperiums ist und nach seiner Auswanderung in die baltischen Länder anfängt, sie aus eben dieser imperialistischen Perspektive zu kritisieren?

    Ich würde dieses Phänomen nicht überbewerten. Einerseits ja, es gibt diesen Alltagsimperialismus. Er besteht darin, dass wir uns noch nie wirklich Gedanken über die Geschichte und Kultur der Republiken gemacht haben, die Teil der Sowjetunion waren, oder der Regionen, die zu Russland gehören. Es gibt die Vorstellung, dass die russische Kultur die wahre ist, die russische Sprache die wichtigste – davon wird man sich befreien müssen.

    Wie tötet man das Imperium in sich selbst?

    Indem man sich mehr für andere Kulturen und Ethnien interessiert. Auf meinem YouTube-Kanal gibt es jetzt zum Beispiel eine neue Serie zur Geschichte der Ukraine, es folgt eine zur Geschichte der Wolgaregion, dann kommt Belarus. Ich glaube, das Problem sind hier nicht nur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern. Das Problem ist die allgemeine Aggressivität. 

    Ich sehe eine große Verantwortung bei den Historikern und dem Lehrplan, nach dem an den Schulen unterrichtet wird. Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs, und alles andere ist nur so da. Für den Bau von Sankt Petersburg darf man Tausende von Menschen vernichten, und für das Wohlergehen des Staates massenhaft Werte opfern. Das wird uns auf verschiedenen Ebenen eingehämmert, in der Schule, durch die Propaganda. Damit hängt auch zusammen, wie den Menschen der Zweite Weltkrieg präsentiert wird. 

    Ich glaube, die Überwindung des imperialistischen Denkens ist ein sehr komplexer Prozess. Er beschränkt sich nicht darauf, zu sagen: „Lasst uns alle die Ukraine liebhaben!“ Das ist zwar schön und gut, aber wir müssen anderen Ethnien mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Da muss eine Veränderung auf psychologischer Ebene passieren, in den Familien, in der Bildung und in internationalen Beziehungen. Es kann nämlich nicht sein, dass an einer Stelle alles gut ist, aber auf allen anderen Ebenen bleibt alles beim Alten. Alles muss sich verändern. 

    Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs

    Sie haben gesagt, die imperialistische Ideologie fordert im Namen von etwas Höherem das Opfer des einzelnen Menschen. Am 21. September hat Putin die Mobilmachung verkündet, doch die Reaktionen in der Bevölkerung, sogar von etlichen Z-Propagandisten, waren alles andere als hurrapatriotisch. Wie erklären Sie sich das? 

    Niemand will kämpfen. So mancher Propagandist wird natürlich sagen, er sei bereit, sein Leben zu geben, aber seine Kinder schickt dann doch keiner in den Krieg. Das ist logisch, weil das menschliche Leben mehr wert ist als diese idiotischen Klischees. 

    Es ist klar, dass Russland nach diesem Krieg nicht mehr sein wird wie früher. Bestehen Aussichten, dass der Imperialismus auf staatlicher Ebene entthront wird? Werden die Republiken wie Burjatien, Jakutien, Tschetschenien heftig danach streben, sich abzuspalten?

    Ich vermute, dass sie aktiv werden, aber genau kann ich das nicht sagen. Daran, dass Russland auseinanderfallen wird, glaube ich nicht so recht, rein geografisch ist das unrealistisch. Höchstens, dass sich irgendwelche Gebiete im Kaukasus abtrennen.

    Ich sehe innerhalb Russlands kein Streben nach einem Auseinanderfallen. Eher nach neuen Beziehungen. In welchem Maße es Russland gelingen wird, die Beziehungen innerhalb der Föderation umzugestalten, wird davon abhängen, wer an der Macht ist, aber auch der politische Wille ist hier nicht alles. Natürlich kann man die Verfassung ändern, den Republiken mehr Rechte geben. Die Frage ist, wer sich um den Alltagsrassismus kümmern wird, wie man den wegkriegt. Dafür braucht es eine Umstrukturierung des Bildungssystems und freie Medien. Das kann nicht nur von oben kommen. Entscheidend ist, ob vor Ort Menschen gefunden werden, die damit arbeiten. Dann könnte es gelingen, aber wenn nicht, dann geht wieder alles schief.

    Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist 

    Noch einmal zum Baltikum: Flächendeckend haben die Regierungen der drei baltischen Republiken seit Beginn des Krieges eine massive Entsowjetisierung betrieben, die den Sturz von Denkmälern und Monumenten zum Thema der sowjetischen Besatzung umfasst. Wie schätzen Sie diese Prozesse ein?

    Ich verstehe schon, warum diese Denkmäler entfernt werden, ganz abgesehen von ihrer Hässlichkeit. Es steht mir auch nicht zu, über die Regierungen anderer Länder zu urteilen. Aber vielleicht wäre es richtiger gewesen, neben dem Denkmal für die Sowjetarmee ein Denkmal für die Opfer des kommunistischen Regimes aufzustellen. Das hätte die ganze Komplexität dieser Situation zum Ausdruck gebracht. Unter den gegenwärtigen schrecklichen Umständen kann man eine solche Ausgewogenheit und Mäßigung aber kaum erwarten.

    Inwiefern kann man die Erfahrung anderer kolonialer Imperien überhaupt mit der Erfahrung des heutigen Russland vergleichen?

    Jeder Vergleich hinkt natürlich. Die Geschichte des British Empire beispielsweise ist ganz anders als die des Russischen Reiches. Die Besonderheit der kontinentalen Imperien bestand immer darin, dass eine große Vermischung der Völker stattfand. Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist. Bis zu einem bestimmten Grad können wir die Erfahrung anderer Imperien wiederholen. Aber sogar zwischen dem sowjetischen und dem russischen Imperium gibt es gravierende Unterschiede. 

    Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat

    Wie imperialistisch ist die russische Kultur? Muss sie sich verändern, und was kann man ihr vorwerfen?

    Die Kultur ist niemandem etwas schuldig. Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat. Die englische Kultur ist ebenfalls imperialistisch. Eine Erhebung der eigenen Macht und Nation über andere Völker hat es zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern gegeben. Gerade bei Dostojewski finden wir eine gewaltige humanistische Botschaft, die niemand außer Kraft setzen kann. Wie weit die russische Kultur den jetzigen Krieg aufgreifen wird, ist eine interessante Frage. Wird sie ganz bestimmt, tut sie ja jetzt schon. Momentan herrscht eine fürchterliche Krise. Sie ist eine Herausforderung für den gesamten Humanismus, und die Kultur wird sich damit befassen müssen.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    Die Suworow-Militärschulen waren in der Sowjetunion zentrale Ausbildungseinrichtungen für künftige Soldaten und Offiziere der sowjetischen Armee. Sie existierten in zahlreichen Sowjetrepubliken, wo Schüler zwischen 14 und 18 Jahren aus wiederum verschiedenen Sowjetrepubliken zusammenkamen, zusammen lernten und lebten. Diese Internatsschulen haben auch in zahlreichen Ländern das Ende der Sowjetunion wie beispielsweise in Belarus oder Russland überlebt, wo sie bis heute für die militärische Ausbildung eine zentrale Rolle spielen.

    Auch im Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, dürften zahlreiche Absolventen der Suworow-Schulen kämpfen – auf beiden Seiten der Front. Auf diesem Weg vermengt sich sowjetische Geschichte mit der Geschichte der Unabhängigkeitsbestrebung der Ukraine und der revanchistischen Politik in Russland unter Wladimir Putin. Die belarussische Journalistin Irina Chalip hat solch eine Geschichte für das russische Exil-Medium Novaya Gazeta Europe detailliert recherchiert und aufgeschrieben – es ist die tragische Geschichte von Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk, die in einem Jahrgang an der Suworow-Militärschule in Minsk zur Zeit der späten Sowjetunion ausgebildet wurden. Jahrzehnte später sind sie nun als Oberste im aktuellen Angriffskrieg gefallen – einer auf Seiten der russischen Angreifer und Besatzer, der andere, weil er seine ukrainische Heimat verteidigt hat.  

    „Das Arschloch ist auf unser Land gekommen, um die Suworowzy [die Absolventen der Suworow-Schule – dek] und ihre Familien zu töten. Mich, meine Familie, Walera Shutschko, der gerade kämpft. Und Oleg Makartschuk haben sie schon umgebracht.“

    Das sagt Witali Tschalow über seinen gefallenen Kommilitonen von der Minsker Suworow-Militärschule, den Oberst der russischen Armee Alexej Gorobez. Die dritte Kompanie aus dem 34. Abschlussjahr an der Suworow-Militärschule – zwei aus dieser Kompanie sind im Juli in diesem Krieg ums Leben gekommen. Beide waren Oberst. Oleg Makartschuk, Chef des Waffen- und Logistikdienstes der ukrainischen Streitkräfte, starb am 14. Juli beim Raketenangriff auf Winnyzja. Alexej Gorobez, Kommandeur der 20. motorisierten Schützendivision der russischen Streitkräfte, starb am 12. Juli bei Cherson infolge eines HIMARS-Einschlags in einem Militärstützpunkt. Makartschuk starb auf eigenem Boden, Gorobez auf fremdem.

    Gleich nach ihrem Tod fanden Journalisten heraus, dass beide ein und derselben Suworow-Kompanie angehört hatten, nur verschiedenen Truppen, und zogen daraus den Schluss, dass die beiden Bekannte gewesen sein müssten. Nein, liebe Leute. Die waren keine Bekannten. Das nennt man ganz anders. Wenn zwei Heranwachsende in einer Kaserne leben, in der sich hundert Mann (die ganze Kompanie) 150 Quadratmeter teilen, wenn sie zusammen für den Dienst eingeteilt werden, wenn sie jeden Tag im selben Hörsaal sitzen, wenn sie im Trockenraum nachts zusammen Gitarre üben, wenn sie in Kolonne zum Frühsport und in die Kantine marschieren, wenn sie vor den Sommerferien die Kaserne schrubben und die Böden wachsen – dann sind sie alles, nur keine Bekannten.

    Meistens nennt man das Bruderschaft. Aber die ist nicht mit Makartschuks und Gorobez’ Tod im Juli gestorben. Sie wurde von der ersten Rakete am 24. Februar zerstört.

    „Wir waren als Kompanie immer zusammen“, sagt Witali Tschalow. „Die Kaserne misst 30 mal 40 Meter, und wir waren hundert Mann. Wir sind bis heute in Kontakt. Lesen Sie mal den Brief von Alexej Gorobez’ Mutter. Sie schreibt, dass er auf der Akademie des Generalstabs war, dass man ihm aber 13 Jahre lang den Dienstgrad eines Generals nicht zuerkannt hat. Also haben viele von uns Kommilitonen den Eindruck, dass Gorobez – um sich die Schulterklappen zu verdienen – in die Ukraine gekommen ist, um die Familien der Suworowzy zu töten. Einfach nur, um General zu werden, verstehen Sie? Ich weiß, dass er in Syrien und Tschetschenien gekämpft hat. Aber in die Ukraine ist er gekommen, um mich und meine Familie zu töten und die Familien der anderen Suworowzy. Viele von uns waren nicht mehr aktiv beim Militär und sind trotzdem in den Krieg gezogen, obwohl wir über 50 sind. Gorobez hat als Kommandeur der Division gewusst – muss es gewusst haben –, dass der Einmarsch in die Ukraine bevorsteht. Er ist bewusst auf uns losgegangen. Obwohl es einen einfachen Ausweg gegeben hätte. Er hätte ein Entlassungsgesuch einreichen und als Oberst in Pension gehen können. Seine Rente war gut. Aber er wollte General werden, indem er uns tötet. Da haben Sie die Kadetten-Bruderschaft.“

    Oleg Makartschuk über der Ziffer 9, Alexej Gorobez als Sechster von links oben / Foto © Archiv von Oleg Roshkow
    Oleg Makartschuk über der Ziffer 9, Alexej Gorobez als Sechster von links oben / Foto © Archiv von Oleg Roshkow

    Der 34. Abschlussjahrgang der Suworow-Militärschule ist einer der tragischsten, und nicht nur, weil zwei aus einer Kompanie auf verschiedenen Seiten der Frontlinie gefallen sind – der eine als Okkupant, der andere als Verteidiger seines Heimatlandes. Die 17-jährigen Absolventen waren nach ihrem Abschluss den verschiedenen Militärhochschulen der UdSSR zugeteilt worden. Die einen gingen nach Taschkent, die anderen nach Omsk oder nach Charkiw. Ein Jahr später gab es auf der Weltkarte gar keine UdSSR mehr, und die frisch ausgebildeten Offiziere wurden zu einer verlorenen Generation.

    Die Suworowzy Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk gingen beide zum Studium nach Charkiw. Makartschuk auf die technische Hochschule der Luftstreitkräfte, Gorobez auf die Panzerakademie. Beide bekamen ihre Rangabzeichen als Oberst im Jahr 1994.

    „1994 hatten die Absolventen in der Ukraine noch die Wahl“, sagt Witali Tschalow. „Ich selbst war auf der Hochschule in Poltawa, meine Kommilitonen gingen [nach dem Abschluss – dek] nach Belarus, Tadschikistan, Russland oder Aserbaidshan. Viele blieben natürlich auch in der Ukraine. Auf der Abschlussfeier gab es noch den Trinkspruch: Auf dass wir niemals aufeinander schießen. 2014 hat diese Bruderschaft einen Riss bekommen, und am 24. Februar ist sie endgültig gestorben. 

    Gorobez ist nur ein Fall. Da gibt es zum Beispiel noch einen anderen Suworow-Abgänger, Sergej Rudskoi. Er ist bei den russischen Streitkräften Chef der Haupteinsatzverwaltung, der erste Stellvertretende des Generalstabschefs. Er ist Ukrainer, geboren in Mykolajiw. Sein Vater war ein Held der Sowjetunion, er war der Leiter unserer Suworow-Militärschule. Und sein Sohn organisiert jetzt die Spezialoperation in der Ukraine.“

    „Würden Sie Ihre ehemaligen Kameraden, die in der russischen Armee dienen, nicht gerne einmal treffen?“
    „Doch. Um ihnen eins in die Fresse zu geben.“

    Witali Tschalow ist direkt und geradezu grob. Aber er hat jedes Recht dazu. Er ist wieder im Dienst, genau wie Waleri Shutschko aus derselben Kompanie. Für sie war Alexej Gorobez seit dem 24. Februar nicht mehr der alte Kumpel, mit dem sie in der Kaserne Seite an Seite geschlafen haben, sondern ein Feind, ein Besatzer, ein Mistkerl. Genau wie ihre anderen ehemaligen Kadetten-Brüder, die jetzt die täglichen Militärschläge aus dem Generalstab leiten, die aus ihren Büros heraus Befehle an die Korps und Divisionen verteilen. Der Tod des Feindes ändert nichts an seinen Taten.

    „Im Jahr unseres Abschlusses ging der damalige Leiter der Akademie General Saizew gerade in den Ruhestand. Er ging mit den Worten: ‚Ich werde dafür sorgen, dass alle Jungs, die bei mir gelernt haben, gehen können, wohin sie wollen.‘“

    Alexej Gorobez erhielt sein Offiziersdiplom in der Ukraine. Warum er sich schließlich für die russische Armee entschied, weiß niemand. Oleg Roshkow, Absolvent der Akademie für Chiffrierwesen in Krasnodar, erzählt: „Ich weiß nicht, wie es an der Panzerschule war, aber bei uns lief es so: Als die Sowjetunion zerfiel, entstand in jedem unabhängigen Staat eine eigene Armee. Krasnodar liegt in Russland, also wurde uns gesagt: Wer in der russischen Armee bleiben will, muss einen Eid ablegen, ohne Eid wird man nicht zugelassen. Wer den Eid ablegte, bekam sofort ein viel höheres Stipendium. Ich weiß noch, wie die russischen Kadetten von diesem Geld Kühlschränke und Fernseher kauften. Und aus denen, die keinen Eid abgelegt hatten, wurde eine eigene Kompanie gebildet – die Nazmen-Kompanie, die Kompanie der nationalen Minderheiten. Sie bestand aus Ukrainern, Belarussen und zwei Usbeken. Unser Stipendium reichte gerade für Knöpfe und Nadeln zum Nähen. Also gingen wir, die Nazmeny, in unsere Länder zurück. Damals hatten die Kadetten, die eine andere Staatsangehörigkeit hatten, also die Wahl: In dem Land, in dem man studiert hat, einen Eid abzulegen und in dessen Armee zu bleiben oder in sein Herkunftsland zurückzugehen.“

    Aus jener 3. Suworow-Kompanie sind nicht viele beim Militär geblieben, nach Schätzungen der Absolventen selbst nur 20 bis 30 Prozent. Das letzte Treffen der Kompanie fand 2018 statt, anlässlich des Militärschul-Jubiläums. Makartschuk und Gorobez waren bei diesem Treffen nicht dabei. Bei den Minsker Suworowzy ist es nicht üblich, sich zu den runden Jubiläen des eigenen Abschlussjahres zu treffen, dafür kommen bei den Jubiläumsfeiern der Akademie alle Jahrgänge zusammen. Die in Minsk lebenden Absolventen bereiten den „Stützpunkt“ vor – mieten Wohnungen an, reservieren Restaurants und empfangen die Gäste. Aber gerade jene Absolventen, die beim Militär geblieben sind, kommen in der Regel nicht. Sie sind im Dienst, können nicht nach Belieben mehrere Tage verreisen, und auch die finanziellen Möglichkeiten sind geringer als bei denen, die in die Wirtschaft gegangen sind. Also saßen Makartschuk und Gorobez 2018 nicht an einem Tisch und tauschten in der Heimatkaserne keine Erinnerungen aus.

    Wir sind wirklich eine Generation des Zusammenbruchs

    Die Dritte Kompanie des 34. Jahrgangs der Minsker Suworow-Militärschule hatte wohl eine eigene, geschlossene Gruppe auf Social Media und beide – Alexej Gorobez und Oleg Makartschuk – waren Mitglieder. Meistens gratulierten sie sich nur zum Geburtstag. Zu Ereignissen, die die Welt oder zumindest den Kontinent erschütterten, äußerten sie sich nicht. Dann verstummten sie komplett. Überhaupt war die erste Erschütterung für die Kompanie, die in dieser Gruppe kommunizierte, das Jahr 2020 und nicht erst 2022.

    „Als auf der Website der Absolventen unserer Schule Gorobez’ Tod gemeldet wurde, kamen in der Gruppe sehr viele emotionale Reaktionen von Ukrainern, die kein Blatt vor den Mund nahmen. Und zwei Tage darauf erschien auf derselben Website die Nachricht von Oleg Makartschuks Tod. Alle waren schockiert. Wir bemühen uns um Zurückhaltung, aber nicht immer erfolgreich. 
    Die ersten Emotionen kochten 2020 hoch, zu Beginn der Proteste in Belarus. Seltsamerweise gab es 2014, als der Krieg im Donbass begann, keine großen Gefühlsausbrüche in unserer Gruppe. Hier und da kam mal was auf, aber nicht nennenswert. Und zum Jubiläum unserer Schule 2018 kamen die Ukrainer noch. Im August 2020 verließen dann erst mal jene die Gruppe, die die Proteste nicht unterstützten. Die Ukrainer sind emotional nicht so leicht aus der Bahn zu werfen, die haben sich das angesehen, ohne sich groß einzumischen. Und so ging es schlecht und recht dahin, bis zum Februar 2022. Im Februar sind dann komischerweise die Russen aus der Gruppe ausgestiegen, die ihre Regierung unterstützt haben. Da gab es von den Ukrainern, die aus Prinzip in der Gruppe blieben, einen Schwall von Emotionen. Sie versuchten, ihre russischen Kommilitonen zur Vernunft zu bringen, versuchten, die Wahrheit zu erzählen. Irgendwann gaben sie natürlich auf. Aber circa ein Drittel der Kompanie hat die Gruppe verlassen. Und jetzt haben wir in der Gruppe keine Russen mehr dabei, die für den Krieg sind. Wissen Sie, wir hatten einen Burschen aus der Kompanie in der Gruppe, der mit Gorobez befreundet war – Walera Shutschko, der jetzt auf der Seite der Ukraine kämpft.   
    Die haben nach der Suworow-Militärschule gemeinsam die Panzerausbildung in Charkiw gemacht. Walera hat gesagt, er hat mit ihm gesprochen und versucht, ihm die Augen zu öffnen. Wir sind wirklich eine Generation des Zusammenbruchs. Das ruiniert natürlich jeglichen Verstand. Wie kann man von Bruderschaft sprechen, wenn man gegeneinander Krieg führt? Gorobez hatte übrigens ukrainische Wurzeln – er war, glaube ich, einmal auf der Beerdigung seines Großvaters in Shytomyr. Vielleicht wollte er deshalb seine Ausbildung in Charkiw machen. Und seine Eltern leben überhaupt in Transnistrien. Er hat in Tschetschenien und in Syrien gekämpft. Womöglich wurde er einfach eingesetzt, wo Personalmangel war.“ 
     
    Alexej Gorobez’ Eltern wohnen in Tiraspol. Der Vater Nikolaj Gorobez ist Gemeinderatsvorsitzender der Stadt. Die Mutter Nina Gorobez veröffentlichte nach dem Tod ihres Sohnes auf der Website der Absolventen der Minsker Suworow-Militärschule einen Brief:

    „Danke an alle, die unseres Sohnes gedenken und ihm die letzte Ehre erweisen. Ein ehrlicher, anständiger, gerechter, unbestechlicher, kluger und zielstrebiger Mensch wie er, der seine Heimat und seinen Beruf so aufrichtig liebt, ist in der heutigen Zeit nicht leicht zu finden. Sein ganzes nicht immer leichtes Schicksal liegt in diesen Zeilen:

    Minsker Suworow-Militärschule; Hochschule für Panzer Charkiw; Dienst in Tiraspol nach dem Krieg; Dienst in Fernost; Juristische Hochschule Blagoweschtschensk; Allgemeine Frunse-Militärakademie; Dienst als Regimentskommandeur auf Stützpunkt 201 in Tadschikistan; Dienst in Dagestan und Tschetschenien; drei Einsätze in Syrien; Studium an der Generalstabsakademie, Abschluss mit Silbermedaille im Juni 2021.
    Seitdem bei der Division in Wolgograd.

    Sie sehen ja: Dieser Mann war an allen Brennpunkten im Einsatz. Dreimal wurde ihm von den Streitkräften die Ernennung zum General (Dienstgrad) versprochen, aber wie es so schön heißt: Es blieb alles beim Alten.
    Gorobez A. N. erhielt den Dienstgrad des Oberst mit 36 Jahren. Gibt es in der Führungsriege der Streitkräfte jemanden, der 13 Jahre lang denselben Dienstgrad führt? Weil wir in unserer Familie und Verwandtschaft kein Vitamin B, kein Geld im Überfluss und keine hohen Tiere haben. Und mein Sohn seine Erfolge aus eigener Kraft und mit dem eigenen Kopf erreicht hat. Verzeiht, das ist mein mütterlicher Schmerz und meine Verzweiflung über den Verlust eines echten Menschen, meines geliebten und liebenden Sohnes. Gott habe ihn selig, in ewiger Erinnerung. Und viele Herzen werden ihn in Erinnerung behalten – so viel Gutes hat er den Menschen getan!“ 

    So eine Bruderschaft kann man sich sonstwohin stecken – sie existiert nicht

    Zur Beerdigung von Oleg Makartschuk kamen seine Kommilitonen von der Suworow-Militärschule, die in der Ukraine leben und dienen. Sie sammelten Geld für seine Familie. Gorobez wurde ganz leise auf dem Soldatenfriedhof von Mytischtschi bei Moskau bestattet. Jetzt verbindet Makartschuk und Gorobez nur mehr die Rubrik Dritter Trinkspruch auf der Website der Absolventen der Minsker Suworow-Militärschule. (Da findet man übrigens auch Pawel Piwowarenko aus dem 36. Jahrgang, Held der Ukraine, der vor acht Jahren bei der Einkesselung von Ilowajsk umgekommen ist.) Im Leben hätte sie nichts mehr verbinden können – nicht die gemeinsame Kindheit, nicht die Kaserne, nicht die Schulzeit in derselben Stadt, nicht die Offiziers-Schulterklappen, die sie in Charkiw bekommen haben. Seit dem 24. Februar ist von der Bruderschaft der Kadetten nichts mehr übrig als der Dritte Trinkspruch. 

    Sogar der Beirat der Belarussischen Union der Suworow-Absolventen und Kadetten hat – obwohl außerhalb des Kriegsgebiets angesiedelt – zu bröckeln begonnen. Dem Beirat gehören Absolventen verschiedener Jahrgänge an, die Bälle, Sportfeste und Absolvententreffen organisieren und Beiträge und Spenden sammeln. „Ich war viele Jahre im Beirat“, sagt Alexander aus Minsk, Abschlussjahrgang 1995 (er bat uns um Anonymität), „aber im Februar bin ich ausgetreten. Ein paarmal habe ich mich nach dem 24. noch mit Kollegen ausgetauscht. Aber wissen Sie, denen, die den Krieg rechtfertigen, gebe ich nicht mehr die Hand. Mit Menschen, die diese Aggression unterstützen, habe ich nichts zu besprechen. Ein paar andere sind derselben Meinung wie ich. Aber die Beiratsleitung und ein Großteil der Mitglieder unterstützen diese Aggression. Und nicht nur zum Beirat habe ich den Kontakt abgebrochen – auch zu vielen meiner Kommilitonen, mit denen ich jahrelang befreundet war. So eine Bruderschaft kann man sich sonstwohin stecken. Sie existiert nicht.“ 

    Die Kadettenbruderschaft, an die viele dieser Jungen einmal geglaubt haben, war offenbar nichts weiter als ein sowjetisches Ideologem wie so vieles andere. Nach der UdSSR hielten sie die Absolventen noch aufrecht. Sie unterhielten Gruppen in sozialen Netzwerken, halfen einander, gratulierten einander zum Geburtstag. Am 24. Februar war das alles vorbei. Ja, sogar von der Alten Oper, in die sie kolonnenweise geführt wurden, ist längst nichts mehr übrig – seit dem Umbau sieht sie aus wie ein türkisches Hotel.

    Verblichen sind die Erinnerungen; was bleibt, ist die Rubrik Dritter Trinkspruch auf der Absolventenseite. Da ist leider Platz für alle. Für viele Kriege im Voraus.

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    Wie hoch sind die menschlichen Verluste auf Seiten Russlands? Offizielle Zahlen zu Gefallenen in der „Spezialoperation“, die in Russland von Gesetz wegen nicht als Krieg bezeichnet werden darf, werden seit März nicht mehr veröffentlicht. Doch Schätzungen zufolge sind etwa 80.000 russische Soldaten im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verwundet oder getötet worden. In den Straßen größerer russischer Städte wirbt derweil das private Militärunternehmen TschWK Wagner mit Plakaten um neue Söldner. Einige Söldnertruppen bestehen laut Recherche der Novaya Gazeta Europe zu etwa einem Drittel aus verurteilten Straftätern und Vorbestraften, manche Rekrutierer versprechen den Bewerbern Straferlass.

    Diese „verdeckte Mobilisierung“, so schreibt die Novaya Gazeta Europe, laufe auf vollen Touren. Die weiterhin im Land arbeitenden Korrespondenten der Zeitung haben dazu verdeckt recherchiert und auch mit Militärexperten gesprochen, um herauszufinden, wie die Rekrutierung funktioniert und welche Ausbildung die Söldner bekommen, bevor es an die Front geht. In ihrer umfangreichen Recherche gibt die Novaya detailliert Einblick in ein „zynisches und unmenschliches System“ der Söldneranwerbung in Russland.

    Achmat  

    Alexander (Name geändert) hat ein Drittel seines Lebens hinter Gittern verbracht – aufgrund „schwerer Vergehen“ und „besonders schwerer Straftaten“. Dieses Mal fand er sich jedoch ein paar Monate nach seiner Entlassung aus der Haft in der Nähe der Stadt Rubishne in der Oblast Luhansk wieder, in den Reihen des Freiwilligenbataillons Achmat – und unter Beschuss der ukrainischen Armee. Sein „Diensteinsatz“ fiel auf März und April, als bei Sewerodonezk eine der blutigsten Schlachten des Krieges ausgetragen wurde. 

     „Dass sie Freiwillige suchen, wusste ich von einem Bekannten beim FSB. Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Irgendwann haben sich unsere Wege getrennt, aber nach meiner Entlassung schickte er mir einen Link: Hier, da suchen sie Freiwillige“, erzählt Alexander.

    Nach seiner Entlassung aus der Strafkolonie wurde Alexander unter „administrative Kontrolle“ gestellt: Das ist ein System zur strengen Überwachung ehemaliger Häftlinge. Man kann ihnen zum Beispiel verbieten, nachts aus dem Haus zu gehen, die Region zu verlassen oder an Massenveranstaltungen teilzunehmen. Außerdem werden sie verpflichtet, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden, und die Silowiki können sie ganz legal beschatten. Laut Alexanders Aussage hinderten ihn diese Auflagen daran, Arbeit zu finden und sich um seine betagte Mutter zu kümmern. Er beschloss also, in die tschetschenische Stadt Gudermes zu fahren – es hieß, man könne dort seine Probleme mit dem Gesetz lösen, wenn man im Gegenzug dafür in den Krieg zieht.

    In Gudermes werden auf dem Gelände der Russischen Speznas-Universität die Freiwilligen des Achmat-Regiments für den Krieg in der Ukraine ausgebildet. Mit Kampferfahrung dauert die Express-Ausbildung ein bis drei Tage, ohne – sieben bis zehn. Die Anforderungen an die Kandidaten sind minimal: Sie müssen zwischen 20 und 49 Jahre alt sein und fit genug, um täglich mit Gepäck Fußmärsche von sieben Kilometern zu bewältigen.

    „Mein Hauptmotiv für den Kriegseinsatz war es, nicht mehr überwacht zu werden, damit ich in Ruhe in diesem Land leben kann. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht, indem sie mir verboten, nachts rauszugehen, mir ständig Tagesarrest verpassen wollten und es mir unmöglich machten zu arbeiten“, sagt Alexander. Beim Achmat versicherte man ihm, dass „jedes Problem mit dem Staat lösbar“ sei – die tschetschenischen Behörden können dein Strafregister in Absprache mit den Silowiki in anderen Regionen löschen.

    In Gudermes verbrachte unser Gesprächspartner zehn Tage. In der „Universität“ (eine private Organisation, die an den Achmat-Kadyrow-Fonds gekoppelt ist) lernt man, wie man ein Maschinengewehr hält und lädt, übt Schießpositionen sowie das schnelle Wechseln des Magazins und erfährt etwas über taktische Medizin und Kartografie. Außerdem werden die Rekruten auf ihr Aggressionspotential hin überprüft.

    „Die Aggressivität wurde ganz praktisch gemessen – sie haben geguckt, wie sich jemand im Team verhält, wenn man ihn provoziert. Wenn sich einer als Weichei entpuppte, also als nicht kampftauglich, wurde er einfach nach Hause geschickt“, berichtet Alexander. Der Gesundheitszustand interessierte die Anwerber dabei kaum – unser Gesprächspartner wurde trotz Hepatitis C aufgenommen.

    Zu den „Absolventen“ von Gudermes gehören Leute mit ganz unterschiedlichen Biografien: Söldner der Gruppe Wagner, OMON-Leute, ehemalige Häftlinge. Jeder Dritte war vorbestraft.

    „Nach zehn Tagen wurden wir über die Donezker Volksrepublik nach Sewerodonezk geflogen. Jeder bekam 300.000 Rubel [im März/April 2022 rund 3000 Euro] und Tarnkleidung. Kampfstiefel und Schutzwesten mussten wir uns selbst kaufen. Wer das Geld sparen wollte, zog sie direkt von den Ukropy ab, wenn wir ihre Stellungen einnahmen.“

    Laut unserem Interviewpartner hatten die Freiwilligentrupps während der Kämpfe um Sewerodonezk keine richtige Verbindung zu der regulären Armee. Dadurch sei es immer wieder zu „friendly fire“ und Unstimmigkeiten mit der Volksmiliz der DNR gekommen.

    Um den 20. Mai marschierten die Achmatowzy in Rubishne ein. Zu diesem Zeitpunkt war von dem Regiment nur noch ein Drittel übrig. „Fast alle wurden getötet, ich selbst habe es durch ein Wunder aus der Kampfzone herausgeschafft. Es war, als würden sie uns einfach als Kanonenfutter da reinwerfen, bis zum letzten Mann“, erzählt der Ex-Söldner.

    Alexander beschloss zu desertieren. Er nahm ein paar Granaten als Souvenir mit und tauchte in Russland unter. Um seine Geschichte zu erzählen, ruft uns Alexander nachts an, manchmal stark alkoholisiert – wegen der Folgen seiner Kriegsverletzungen kann er nicht schlafen, und weil er sich eigenmächtig vom Einsatzort entfernt hat, hat er Angst, zum Arzt zu gehen.

    Nach dem Vorbild in Tschetschenien haben auch andere Regionen Bataillone gebildet 

    Für das Achmat-Regiment, in dessen Reihen Alexander gekämpft hat, hatte Dimitri Kisseljow im Staatsfernsehen zur besten Sendezeit Werbung gemacht. Es hat in diesem Krieg berüchtigte Bekanntheit erlangt. Wegen der vielen inszenierten PR-Videos werden Kadyrows Kämpfer auch als „TikTok-Armee“ bezeichnet. Nach Aussage der ukrainischen Seite kämpfen ethnische Tschetschenen in der Regel in den hinteren Reihen der Angriffsbataillone. Nichtsdestotrotz soll vor allem das Achmat-Regiment an der brutalen Folterung ukrainischer Kriegsgefangener und dem Massaker an der Zivilbevölkerung in Butscha beteiligt gewesen sein.

    Nach dem Vorbild Tschetscheniens haben auch andere Regionen begonnen, Bataillone zu bilden, die Eigennamen tragen und zwischen 150 und 400 Mann stark sind. Insgesamt haben wir 52 Bataillone in 33 Regionen gezählt, die bereits an der Front sind oder gerade gebildet werden. Ausgehend von dieser Zahl könnten so insgesamt 9500 bis 20.000 Mann rekrutiert werden.

    „Diese Dinge entwickeln sich in Russland meist hybrid. Eine Region – in diesem Fall war es Tschetschenien unter Ramsan Kadyrow – bietet ein Modell an. Daraufhin, auch um sich vor dem Kreml verdient zu machen, fangen Gouverneure in anderen Regionen an, dem Beispiel zu folgen. Genauso war es diesmal“, sagt Politologe Iwan Preobrashenski.

    Der Kreml geht laut Preobrashenski davon aus, dass die Bataillone aus Häftlingen und sozialen Randgruppen bestehen, die als Kanonenfutter an der Frontlinie „utilisiert“ würden oder als „Hilfspolizisten“ auf den okkupierten Gebieten bleiben. Doch in Wirklichkeit berge die Situation das Risiko, dass es nach dem Krieg zu separatistischen Stimmungen kommt.

    Parallel zum Staat werden die Freiwilligen auch von anderen Strukturen angeworben, die offensichtlich oder verdeckt mit dem Verteidigungsministerium in Verbindung stehen. Wir haben über zehn verschiedene Organisationen gezählt, die miteinander um die Rekruten konkurrieren. Wir haben diese Einheiten nach formalen Merkmalen in verschiedene Gruppen unterteilt: Es gibt die, die direkt dem Verteidigungsministerium unterstellt sind und die, die einer privaten Militäreinheit oder gar den Strukturen der sogenannten LNR und DNR unterstehen. 

    „Verdeckte Mobilisierung“: Söldner statt Soldaten

    Die massenhafte Anwerbung von Söldnern und Freiwilligen ist Teil der sogenannten „verdeckten Mobilisierung“. Eine offizielle Zwangsmobilisierung kann der Staat aus politischen Gründen nicht ausrufen – das würde zu massenhafter Wehrdienstverweigerung, wachsender Korruption unter den Mitarbeitern der Musterungsbehörden und in der Folge zu massenhafter Unzufriedenheit unter den Bürgern führen, erklärt Militärexperte Juri Fjodorow.

    Fjodorow geht davon aus, dass in der Ukraine bis zu 10.000 Söldner kämpfen. Das wären rund zehn Prozent des Gesamtkontingents der russischen Streitkräfte. Militärexperte Pawel Lusin schätzt die Zahl der Söldner und Freiwilligen in den verschiedenen „nicht-regulären“ Einheiten auf etwa 15.000 bis 20.000 Mann.

    Der Staat verfolgt mit dem Anwerben von Söldnern drei Ziele, meint der Experte: „Kanonenfutter“ zu kumulieren, „überflüssige“ Personen loszuwerden, die theoretisch die Waffe gegen die Macht erheben könnten (wie z. B. die Primorskije Partisany, die 2010 Mitarbeiter des Innenministeriums angegriffen hatten), und ein Gegengewicht zu den Streitkräften zu bilden.

    Die strengsten Aufnahmekriterien herrschen bei zwei Privateinheiten (Private Military Company, PMC): Redut und Wagner (obwohl Wagner wegen des zunehmenden Mangels an potentiellen Bewerbern seine Ansprüche allmählich herunterschraubt: Das maximale Alter wurde von 45 auf 52 angehoben, Wehrdienst geleistet zu haben ist keine Voraussetzung mehr, Vorstrafen werden in Kauf genommen). Beide PMCs stehen implizit in Verbindung zum Staat. Die Gruppe Wagner wird von Putins Vertrautem, dem Unternehmer Jewgeni Prigoshin finanziert, Redut wird mit dem Verteidigungsministerium in Verbindung gebracht.

    Kämpfer mit weniger Kampferfahrung wenden sich an die Freiwilligenunion des Donbass unter der Führung des Duma-Abgeordneten Alexander Borodai oder die Russische Legion des Ex-Nationalbolschewisten Sergej Fomtschenkow. Die Freiwilligen dieser Einheiten werden offiziell als Reservisten der Armeereserve des Landes registriert, dem BARS, der dem Verteidigungsministerium untersteht. Eigentlich sollen die Barsiki, wie sie genannt werden, auf den Blockposten eingesetzt werden und Konvois bewachen, also im Hinterland dienen. Aber faktisch landen diese Bataillone oft direkt an der Front.

    Die Miliz-Einheiten der selbsternannten LNR und DNR schließlich nehmen so gut wie jeden „Bewerber“ auf. Allerdings verspricht man ihnen dort weder Geld noch Ausrüstung. Für den Dienst gibt es die russische Staatsbürgerschaft oder die der DNR.
    „Der Kreml hat Angst vor der Armee, davor, dass ein neuer Shukow, ein neuer Lebed, Rochlin oder meinetwegen Troschew kommen könnten (Аlso bekannte, populäre Generäle, die zu einer eigenständigen politischen Macht werden könnten – Anm. d. Novaya Gazeta Europe). Die Fragmentierung der militärischen Macht ist ein charakteristischer Zug aller autoritären Regime“, so Pawel Lusin.

    Die Freiwilligenunion des Donbass (SDD)

    „Begreifen Sie überhaupt, wohin Sie da gehen? Was dort passieren kann? Haben Sie alle Risiken gut abgewogen?“

    Wir rufen bei der Freiwilligenunion des Donbass (SDD) an. Unser „Freiwilliger“ ist 23 Jahre alt, er hat bereits gedient und will an die Front. Doch die Anwerberin Anastassija versucht überraschend, ihn davon abzuhalten.

    „Das Mindestalter ist 23, ja, aber eigentlich wollen wir keine Kinder im Bataillon sehen“, sagt Anastassija. „Denken Sie an Ihre Mutter …“
    „Ich denke immer an meine Mutter.“

    „Wie viele Kinder haben Sie?“, fragt die Anwerberin weiter.
    „Keine.“
    „Aber Russland braucht Kinder! Wir haben eine demografische Krise im Land! Vielleicht kümmern Sie sich lieber darum?“

    Schließlich gibt sie aber nach. Die Freiwilligenunion des Donbass schließt mit den Freiwilligen offizielle Verträge des Verteidigungsministeriums. Die Mindestlaufzeit beträgt zwei Monate. Als Gehalt winken einem einfachen Soldaten 205.000 Rubel [heute 3400 Euro]  pro Monat, außerdem staatliche Zahlungen im Fall von Verwundung oder Tod. Wenn der Staat einen „fallen lässt“, heißt es, werde man helfen, das Versprochene „rauszuboxen“.

    Militärexperte Pawel Lusin nimmt an, dass die Freiwilligenunion des Donbass an den FSB angegliedert ist. Aber faktisch werden die Freiwilligen in den Bataillonen der Reservearmee registriert. Das Verteidigungsministerium hatte bereits im Herbst 2021 angefangen, Reservisten zu rekrutieren.
    „[Die Freiwilligen] sind meistens Leute über 40“, berichtet der Kommandeur des Bataillons Grom (BARS 20) Alexej Naliwaiko mit dem Rufnamen Ratibor.

    Anforderungen an die Freiwilligen der BARS gibt es fast keine. In ihren Reihen kämpfen laut Ratibor auch Opas – ab 60 aufwärts. Für diese Infanterie-Bataillone sind weder Panzer, Kriegsgerät noch Artillerie vorgesehen, nur eine Mörsereinheit. Die Freiwilligen kämpfen nicht autonom wie 2014. In der Regel werden die Bataillone der BARS einer regulären Armeeeinheit angeschlossen und von professionellen Militärs kommandiert.

    Von den Anwerbern, aber auch von den Söldnern selbst, werden die Barsiki offen als Kanonenfutter bezeichnet. Vielleicht hat uns Anastassija deshalb so nachdrücklich davon abgeraten, in das Bataillon einzutreten.

    Einfacher kommt man nur noch in die Einheiten der selbsternannten Republiken – Sparta oder Pjatnaschka. Hier wird man mit ukrainischem, russischem Pass, den Pässen der LNR, DNR oder der ehemaligen Sowjetstaaten aufgenommen, unabhängig davon, welche Probleme oder Dokumente man hat. Dafür gibt es auch null Garantien.

    Freiwillige müssen auf eigene Faust bis Donezk kommen. Auch die Ausrüstung bezahlen sie selbst. „Die Versorgung ist schlecht, für Schutzwesten und Helme gibt es Wartelisten“, heißt es ganz offen bei der Organisation Drugaja Rossija von Eduard Limonow, die Söldner für den Pjatnaschka-Bataillon rekrutiert. Das Kommando über die Einheit hat Achra Awidsba, Rufname Abchas.

    „Offiziell läuft alles über die DNR. Das Geld kommt aus Donezk. Kann sein, dass es damit und mit den zugesicherten Garantien Probleme gibt, das will ich nicht leugnen. Besser, man klärt alle finanziellen Fragen selbst. Garantien bei Verwundung oder Tod gibt es keine.“

    Ausgebildet werden die Freiwilligen innerhalb von zehn Tagen direkt in Donezk – „es ist halt Krieg.“ Laut Aussage von Experten sind es vor allem die schlecht ausgerüsteten Truppen der LNR und DNR, die die größten Verluste davontragen.

    Söldner-Suche über soziale Netzwerke

    Wir beschließen, die Einheiten, die in sozialen Netzwerken Freiwillige anwerben, abzutelefonieren und die Vertragsbedingungen herauszufinden. Unsere Basisgeschichte ist die: junger Mann von 27 Jahren, militärische Ausbildung – Schütze, Erfahrung als Vertragssoldat – zwei Jahre. Manchmal erwähnen wir noch eine offene Vorstrafe, um zu erfahren, ob man sie durch den Kriegseinsatz in der Ukraine „löschen“ kann.

    In der Regel reicht diese Basisinformation aus, um unsere Fragen zu beantworten und eine Einladung zum Treffpunkt zu bekommen. Das kann ein Hotel, ein Truppenübungsplatz, ein Rathaus oder sogar ein Privathaus sein, wie beim Bataillon Weterany. Die Anwerber teilen uns mit, dass die Papiere der potentiellen Freiwilligen direkt vor Ort überprüft würden.

    Die Anforderungen an die Kandidaten unterscheiden sich je nach Einheit. Die Kriterien sind Alter, Staatsbürgerschaft, Kampferfahrung und Vorstrafen. Dabei stehen die Headhunter oft in Konkurrenz zueinander und werben sich die Kandidaten gegenseitig ab.

    Redut

    Redut ist eine der größten inoffiziellen Formationen in diesem Krieg. Laut Berichten von Meduza waren es vor allem Redut-Truppen, die als erste PMC an der Front waren und am 24. Februar aus der LNR, DNR und Belarus in die Ukraine einmarschiert sind.

    Unmittelbar hinter der PMC Redut stehen hochrangige Generäle des Verteidigungsministeriums. Darüber berichteten (damals hieß die PMC Redut noch Schtschit) die Novaya Gazeta, Meduza und Ura.ru. „Der Vertrag wird mit der PMC geschlossen. Aber wir unterstehen dem Verteidigungsministerium“, erklärt am Telefon Timofei Bormin, der Redut-Anwerber mit dem Rufnamen Kescha.

    Das Gehalt bekommen die Redut-Kämpfer einmal im Monat ausgezahlt – bar auf die Hand, in Dollar. Bei Bedarf kann man sie gleich vor Ort umtauschen oder auf sein Konto überweisen. „Es gibt auch Kompensationen: Bei Verwundung 5000 bis 20.000 Dollar. Bei Grus 200 bis 60.000 Dollar“, sagt Kescha.

    Zum Vergleich: Die offiziellen Zahlungen bei Verwundung oder Tod sind um ein Vielfaches höher. Armeeangehörige oder Kämpfer der Rosgwardija bekommen bis zu 6 Millionen Rubel [derzeit rund 100.000 Euro – dek], wenn sie verletzt sind, und die Angehörigen 12,5 Mio. Rubel [derzeit etwa 200.000 Euro – dek], wenn der Armeeangehörige stirbt.

    Ein Teil der Ausrüstung (Kleidung, Schlafsack, Rucksack, Geschirr) kommt von Redut. Aber alles andere – Einsatz-, Schutzwesten und so weiter – bezahlen die Söldner selbst. In der Regel kostet sie das um die 700 Dollar.

    Für den Staat ist es günstig, Söldner anzuheuern. Sie gehen nicht in die offizielle Verluststatistik ein (die seit Ende März nicht mehr aktualisiert wurde), viele von ihnen bekommen weder die staatlichen Auszahlungen im Todesfall noch eine kostenlose Reha, kostenlosen Wohnraum oder sonstige Vergünstigungen für Armeeangehörige.

    Russitsch und Russische Reichslegion

    Zuweilen kämpft man an der Front gegen die „Nazis“ paradoxerweise in rechtsextremen Einheiten. Freiwillige werden unter anderem auch von der Russischen Reichslegion und dem Bataillon Russitsch rekrutiert.

    „Ich bin ein Nazi. Reiße auch mal die Hand hoch“, sagt Alexej Miltschakow im Interview mit dem Nationalisten Jegor Proswirnin.

    Miltschakow, Kommandant von Russitsch, wurde 2011 für ein Video auf VKontakte bekannt, in dem er einen Welpen grausam tötet und dann isst. Im Grunde hat er nie einen Hehl aus seinen Ansichten gemacht. 

    „Wenn du einen Menschen umbringst, spürst du: a) Jagdeifer (wer noch nie auf der Jagd war – versucht es mal) und b), dass es jetzt ein Problem weniger gibt“, brüstet er sich im selben Interview.  

    Die Reichslegion wird faktisch von Denis Garijew angeführt. Das Motto der Bewegung ist: Gott. Zar. Nation. 

    „Die angekündigte Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine sehen wir skeptisch. Für uns ist das ein Glaubenskrieg. Wenn wir diesen Krieg verlieren, wird die russisch-orthodoxe Kirche von Malorossija ausgelöscht. Das passiert schon. Die Kirchen werden bereits zu Unionen zusammengeschlossen. Es heißt schon, dass im Fall eines Sieges der Ukraine die russisch-orthodoxe Kirche ausgemerzt wird“, erklärt Denis Garijew in einem Video zur Mobilisierung seiner Anhänger. Als wir die Rekrutierer der Legion nach der Bezahlung fragen, kommt zurück, bei ihnen „geht es nicht um Geld“, und dann folgt Stille. 

    Sowohl die Reichslegion als auch Russitsch waren von Anfang an am Krieg im Donbass beteiligt – seit 2014. In beiden Formationen ist Nationalität ein Aufnahmekriterium – es werden nur Russen genommen. Bei der Legion vor allem Orthodoxe und Kriegsveteranen. 

    Die Heimat lässt dich im Stich, mein Sohn

    Den Bedingungen der Freiwilligenrekrutierung nach zu urteilen, sieht der heutige Krieg nicht so aus, als hätten sich die Streitkräfte viele Jahre darauf vorbereitet. Situationen, in denen Grundwehrdiener, die gerade mal ein MG richtig halten können, ohne jede Vorbereitung an die Front geschickt werden, waren charakteristisch für die Verteidigung im Zweiten Weltkrieg und den im Chaos der 1990er beginnenden Ersten Tschetschenienkrieg. Die Freiwilligen sehen sich zudem häufig dazu gezwungen, sich auf eigene Kosten einzukleiden. Im Fall einer Verwundung bleiben die Entschädigungszahlungen oft aus, genauso wie das „Bestattungsgeld“ für die Familie. 

    Ja, freiwillige Soldaten kommen in Militärspitäler. Ihnen wird Erste Hilfe geleistet. Aber Anspruch auf hochwertige Prothesen oder Rehabilitation haben sie aus staatlicher Sicht keinen. 

    [Begünstigungen für Veteranen] sind Peanuts im Vergleich zu den sozialen Begünstigungen, die Berufsmilitärs zustehen. Diese müssen lange ausgebildet und mit Kleidung und Waffen ausgestattet werden. Sie gehen früh in Rente. Wenn sie fallen, beziehen ihre Familien eine Hinterbliebenenrente. Und die Kinder haben ohne Aufnahmeprüfung das Recht auf Hochschulbildung.

    „Das ist ein sehr zynisches und unmenschliches System. Die Söldner haben keine Garantie auf solche sozialen Begünstigungen“, sagt Militärexperte Pawel Lusin. „In der Armee müssen sie diese Soldaten einkleiden und ernähren, sie mit Funkgeräten und Drohnen ausstatten. Viele Truppen – viele Veteranen. Aber hier rekrutiert man tausende Söldner und überlässt sie ihrem Schicksal. Wenn sie sterben – umso besser.“

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