Im Verlag der Russisch-Orthodoxen Kirche sind in diesem Jahr zwei Bücher aus der Feder des Patriarchen Kirill erschienen. Eines davon ist dem Patriotismus gewidmet, das andere der Pädagogik. Der Redakteur der Novaya Gazeta für Religionsthemen, Alexander Soldatow, hat sich die beiden opulent aufgemachten Bände angesehen – und seinem Entsetzen in einer spöttischen Sammelrezension Luft gemacht.
Der Verlag der Russisch-Orthodoxen Kirche hat in diesem Herbst zwei „programmatische“ Bücher des Patriarchen Kirill veröffentlicht: Der Titel des einen lautet Für die Heilige Rus, das andere heißt Kirche und Schule: Bildung + Erziehung = Persönlichkeit.
Das erste Buch sei der „Russischen Welt“, dem Glauben und dem Patriotismus gewidmet, die von der Kirche ausgehen. So erklärt es der Verlag. Ohne die Russisch-Orthodoxe Kirche wären die Siege Russlands „über die fremdländischen Kräfte“ nicht möglich gewesen, weil nur sie [die Kirche – dek] „die Krieger zu historischen Schlachten inspirieren“ konnte. Ungeachtet des Umstands, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche diese Mission in den vergangenen 1035 Jahren erfolgreich erfüllt habe, versuchten „die Feinde Russlands heute erneut, es mit aller Kraft zu zerstören und zu unterwerfen“. Und das Volk müsse sich erneut „zur Verteidigung der Heimat“ erheben. Das Buch enthält zahlreiche Widersprüche, die die dialektischen Prozesse deutlich machen, die sich im Kopf des Patriarchen vollziehen. Einerseits sei die Geschichte Russlands eine „Geschichte der Siege“; andererseits könne „das Volk sein Land wie auch die eigene Seele verraten“.
Das Buch hat den Anspruch, als neues Programm des Patriarchen zu sozialen und politischen Fragen angesichts der aktuellen Realitäten der „militärischen Spezialoperation“ zu gelten.
Die vielzähligen Paradoxa und sogar leicht absurden Anflüge in diesem Buch sind nichts anderes als ein Ausdruck der allumfassenden Absurdität, von der der Geist unserer Mitbürger erfasst wurde.
Putin als Urquell
Das Buch ist aufwändig aufgemacht und erinnert an einen Kunstband: Farbdruck, Hochglanzpapier, sehr hochwertige Fotografien, Reproduktionen von Ikonen und moderner „patriotischer Malerei“ mit den vielsagenden Symbolen Z und V zwischen orthodoxen Kreuzen. Das Programm des Patriarchen wird nicht nur in Worten dargelegt, sondern auch mit einer ganzen Bilderfolge, die die „militärische Spezialoperation“ preist und die gesamte bisherige Geschichte Russlands als eine Vorbereitung auf dieses äußerst wichtige existenzielle Ereignis darstellt.
Stilistisch erinnert das Buch an Kirills Predigten der vergangenen drei Jahre. Sie sind allerdings nach Themen geordnet und in einer fast schon plakativen Sprache verfasst. Die Kapitel haben im Grunde ein Thema, schaffen aber gleichzeitig eine gewisse Wertehierarchie: „Russische Welt“, „Christentum“, „Dem folgen, zu dem uns Gott vorbestimmt hat“, „Patriotismus“, „Russland wünscht niemandem Böses“. Den Abschluss des Buchs bildet das kunstvoll ausgestaltete „Gebet des Patriarchen über die Heilige Rus“. Einer ganzen Reihe Geistlicher der Orthodoxen Kirche wurde die Priesterwürde entzogen, weil sie beim vorgeschriebenen Beten dieses Textes das Wort „Sieg“ eigenmächtig durch „Frieden“ ersetzt hatten.
Jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat. Nicht etwa mit einem Zitat aus der Bibel oder von den Heiligen Kirchenvätern. Keines aus der Liturgie oder den asketischen Schriften. Die Zitate stammen von Wladimir Putin. Insgesamt gibt es im Buch 22 davon. Sie sind farblich und durch die Schriftgröße hervorgehoben, gleichsam eine Quelle der Glaubenslehre und ein moralischer Kammerton. Putin verkündet, und Kirill kommentiert und legt aus.
Der Patriarch hat das Schicksal seiner religiösen Organisation mit einem Sieg Putins bei der Spezialoperation verknüpft, als er 2023 auf dem Weltkonzil des russischen Volkes sprach. Dieser Zusammenhang war übrigens schon früher in seinen Predigten und Reden angeklungen. Die bekannte Formel Wjatscheslaw Wolodins: „Ohne Putin gibt es heute kein Russland“ ergänzt Gundjajew gleichsam mit: „…und auch die Orthodoxe Kirche nicht“. Aber warum eigentlich nur Russland und die Russisch-Orthodoxe Kirche?! Folgt man dem Patriarchen, wäre die gesamte Schöpfung ohne Putin nichts wert: In seinem Geleitwort zur neuen Amtszeit des Präsidenten formulierte Kirill den Wunsch, dass Putins Herrschaft erst am Ende aller Zeiten zu Ende gehen möge.
„Für die Heilige Rus. Der Patriotismus und der Glaube“ – Aufschlagbild des kürzlich erschienenen Buches aus der Feder des Moskauer Patriarchen / Vorschaubild des Verlages rop.ru
In seiner Predigt zum Tag der Einheit des Volkes äußerte Kirill in der Erlöserkathedrale im Moskauer Kreml erneut „die Überzeugung von der Unbesiegbarkeit unseres Landes […] unter der Führung unseres orthodoxen Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin.“ Eines der Kapitel im Buch beginnt mit dem entsprechenden Putin-Zitat: „Orthodoxie und Russland sind nicht voneinander zu trennen.“ In der Verfassung der Russischen Föderation findet sich auf diese Frage eine entgegengesetzte Antwort: „Religiöse Vereinigungen sind vom Staat getrennt.“
Auch wenn man davon ausgeht, dass die Verfassung mit der aktuellen Realität in Russland nichts zu tun hat, drängt sich die Frage auf: Was ist mit jenen Regionen der Russischen Föderation, in denen überwiegend Muslime oder Buddhisten leben? So gibt es etwa in Inguschetien nur zwei orthodoxe Gemeinden, in Tschetschenien sieben, in Kalmückien zehn. In diesen Regionen gibt es zig Mal mehr Gebetshäuser anderer Religionsgemeinschaften. Studien über religiöse Einstellungen in der Republik Tschetschenien – nur als Beispiel – berücksichtigen nicht einmal die Frage, ob es dort orthodoxe Christen gibt, es sind statistisch schlichtweg zu wenige.
Wenn „Orthodoxie und Russland nicht zu trennen sind“, gehören dann die Regionen, in denen keinerlei Orthodoxie zu sehen ist, etwa nicht zu Russland?
Kosmische Ziele
„Es findet ein Kampf des Guten mit dem kosmischen Bösen statt“, schreibt Kirill, und führt damit das Thema der „metaphysischen Natur der militärischen Spezialoperation“ aus, wie er bereits im März 2022 formuliert hatte. Zwei Jahre später, im Jahr 2024, verabschiedete das Weltkonzil des Russischen Volkes unter Kirills Leitung eine Resolution, in der die „Metaphysik“ ganz konkrete geografische Konturen annimmt: „Das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine muss zur alleinigen Einflusszone Russlands gehören.“ Und die Grenzen der „Russischen Welt“ erstrecken sich nicht nur jenseits der Russischen Föderation, sondern auch jenseits „des großen historischen Russland“.
Der Appetit kommt beim Essen – und bereits im Oktober dieses Jahres postulierte ein prominenter Priester der orthodoxen Kirche bei einem Kongress der Gesellschaft zur Förderung der russischen historischen Entwicklung „Zargrad“, der unter dem Segen des Patriarchen in der Christ-Erlöser-Kathedrale stattfand: „Wir werden keine Ruhe finden, bis Russland nicht sein Protektorat über den gesamten Planeten errichtet hat. Diese Mission hat uns der Herrgott selbst aufgetragen.“
Eine Synode unter dem Vorsitz des Patriarchen hat den Sinn des Lebens für russisch-orthodoxe Menschen kürzlich neu formuliert: „Die russische Tradition, die Heiligtümer der russischen Zivilisation und die große russische Kultur sind der höchste Wert und der höchste Sinn des Lebens.“ Auf dieser Grundlage formuliert der Patriarch „die wichtigste Aufgabe“. Die besteht selbstredend nicht in der Seelenrettung, nicht im Sieg über Sünde und Tod oder in der Vereinigung mit Gott. Sie besteht darin, dass Russland „als Sieger hervorgehen“ soll. Die Lösung, die der Patriarch vorschlägt, ist durchaus pastoral: „Mobilisierung aller: der Kriegerschaft, der politischen Kräfte. Und natürlich muss die Kirche mobilisiert werden.“ Kirill verurteilt Pazifismus und wendet sich gegen einen „Frieden ohne Gerechtigkeit“ und prognostiziert, dass „die Kriege niemals aufhören“. Etwas Ähnliches sagte er auch bei seiner Predigt am letzten Sonntag vor der Fastenzeit: „Vergebung ohne Gerechtigkeit bedeutet Kapitulation und Schwäche.“ Wenn genau darin die Lehre Jesu Christi besteht, werde ich mich wohl ins entlegenste aller Einsiedlerklöster zurückziehen müssen.
„Die Russische Welt – das ist vor allem die Gesamtheit ihrer Heiligtümer / Vorschaubild des Verlages rop.ru
Der orthodox-islamische Glaube der Heiligen Rus
Unter den Widersprüchen in den Büchern des Patriarchen nimmt das Verhältnis zum Islam einen besonderen Platz ein. Als Illustration zum Kapitel Die Russische Welt ist vor allem die Gesamtheit ihrer Heiligtümer dient natürlich eine Darstellung des Patriarchen, der (mit Gefolge) an einer von einem Halbmond gekrönten Moschee vorbeizieht. Inhaltlich haben die Heiligtümer für die Russische Welt anscheinend keine Bedeutung, Hauptsache, sie sind „traditionell“. In diesem Sinne steht die ominöse Tradition, die von der politischen Führung definiert wird, höher als das Christentum, der Islam, das Judentum und der Buddhismus mit all ihren theologischen und ethischen Unvereinbarkeiten. Den Platz der klassischen Religionen hat in Russland eine sogenannte „Zivilreligion“ eingenommen, deren Prototyp der sowjetische Staatsatheismus war.
Gemäß der akademischen Definition ist eine Zivilreligion ein Kult von „Basiswerten, die der Entwicklung der Gesellschaft zugrunde liegen. Diese Werte sind nicht göttlich, sondern menschlich, werden aber als etwas Sakrales wahrgenommen. Historisch ist das handelnde Subjekt einer Zivilreligion die Nation.“
Durch dieses Prisma lassen sich die auf den ersten Blick recht überraschenden Äußerungen des Patriarchen verstehen, dass der Islam der Russisch-Orthodoxen Kirche näherstehe als das Christentum des Westens. „Sowohl der Islam als auch die Orthodoxie“, sagt er, „gehören zu ein und derselben östlichen Gruppe. Der Osten ist weniger empfänglich für Neuerungen.“ Kirill wäre aber nicht „Dialektiker“, wenn er das in seinem Buch nicht sofort wieder einschränken würde: „Der russischen Welt liegt der orthodoxe Glaube zugrunde, den wir am Kyjiwer Taufstein empfingen.“ Wie kriegt man das alles logisch zusammen?
Kyjiw muss zerstört werden (so wird es im russischen Staatsfernsehen gefordert), weil es uns zu sehr am Herzen liegt: Es ist der Ursprung des orthodoxen Glaubens, der die Russische Welt schuf, zu der wiederum auch jene gehören, die den orthodoxen Glauben nicht annahmen und zu dessen Ursprung sie keinerlei Verbindung haben.
Die konfessionelle Zugehörigkeit (und überhaupt ein Glaube an Gott) spielt nunmehr – folgt man dem Patriarchen – nicht die entscheidende Rolle für die Seelenrettung, um ins Himmelreich einzuziehen. Am 22. September 2022, als die Teilmobilmachung begann, versprach er automatisch allen das Paradies, die in der „militärischen Spezialoperation“ fallen. In seinem Buch jedoch versucht er – das Evangelium leicht redigierend – das Wesen des ewigen Lebens so zu entschlüsseln: „Das ist das ewige Leben: Du begehst Heldentaten, gibst dein physisches Leben. Doch wisse: Du wirst nicht fallen, wirst nicht sterben.“ (Ursprünglich hieß es: „Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. – Joh 17,3).
Kirill protestiert gegen die „Entideologisierung“ der russischen Schulen und bezeichnet in seinem Buch Kirche und Schule wiederum die Orthodoxie und den Islam als „unsere geistige Tradition“. „Wie könnten wir unsere Kinder überhaupt außerhalb dieses Systems moralischer und geistiger Koordinaten erziehen?“ fragt er entrüstet. Leider begnügt sich Kirill mit diesen abgedroschenen Verlautbarungen; dabei wäre es tatsächlich interessant, ein einheitliches Koordinatensystem zu sehen, das er aus Orthodoxie und Islam zusammenstellt.
So hält die Orthodoxie alle für gottlos, die die Dreifaltigkeit (die Einheit von Vater, Sohn und Heiliger Geist) leugnen, während der Islam eben jene Trinitätslehre als Vielgötterei bezeichnet. Die Orthodoxie predigt strenge Monogamie, und der Islam erlaubt mehrere Frauen. Für die Orthodoxie ist die Ikonenverehrung äußerst wichtig. Sie wurde zum Dogma erhoben. Für den Islam ist dies Götzendienerei. Und so weiter, und so fort.
Natürlich sollte ein zivilisierter Mensch politisch korrekt und tolerant sein und alle Religionen respektieren. Objektive und grundlegende Unterschiede einzuebnen, ist jedoch unwissenschaftlich und verantwortungslos. Zudem sei erwähnt, dass der Patriarch diese Unterschiede nicht aus Politkorrektheit oder Toleranz wegwischt, sondern in der Absicht, eine „besonderen Zivilisation“ Russlands zu konstruieren, eine Heilige Rus, in der ein Tandem aus Orthodoxie und Islam dominiert, das sich dem sündigen und häretischen Westen entgegenstellt.
Der Sinn des Lebens in der Interpretation des Patriarchen Kirill: Kampf und Opfer / Abbildung: Verlagsvorschau rop.ru
Häresie der „Eugenik“
In Bezug auf Pädagogik selbst klingt die originelle Idee des Patriarchen so: Man muss Bildung mit Erziehung verbinden, von der Kita bis hin zur Doktorandenzeit. Etwas Ähnliches gab es in der UdSSR und gibt es noch in Nordkorea, wo es Politkurse und Gruppenrituale in allen Stadien der schulischen und wissenschaftlichen Laufbahn gibt. Diese Kombination ist ein Merkmal totalitärer Systeme. „Bildung ist an sich moralisch gleichgültig“, und somit in Kirills Augen sinnentleert.
Diakon Andrej Kurajew, ein hervorragender Theologe, der auf Betreiben von Kirill aus der Moskauer Geistlichen Akademie und der Moskauer Staatlichen Universität ausgeschlossen und letztlich aus Russland vertrieben wurde, erkennt bereits in dem Titel des patriarchalen Werkes Erziehung + Bildung = Persönlichkeit eindeutig theologische Häresie. Eine solche Lehre rechtfertigt in den Augen des Theologen, verschiedene Arten von „Eugenik“ und andere unmenschliche Praktiken in Bezug auf „falsch“ erzogene und „nicht ausreichend“ gebildete Menschen. „Jeder spezifische Inhalt menschlichen Lebens [also eben jene Erziehung und Bildung] kann sich wandeln oder zerstört werden, nicht aber die Persönlichkeit“, betont Kurajew. „Die qualitativen Merkmale, der qualitative Inhalt des persönlichen Alltags können sich ändern, reicher werden oder ärmer. Aber die Hypostase, also die Persönlichkeit als Wesenskern des Menschen kann nicht verschwinden […] Wenn man allen Ernstes die Definition des Menschen als ‚vernünftiges‘ Wesen zum Maßstab nähme, gäbe es für psychisch kranke Menschen keinen Platz in diesem Leben.“
Die Bebilderung opulent, die Sprache bürokratisch / Abbildung: Verlagsvorschau rop.ru
Die Auflagenhöhe der neuen Bücher des Patriarchen wird vom Herausgeber aus Bescheidenheit nicht angegeben. Der pädagogische Sammelband wird stückweise verkauft, für 700 Rubel [etwa 7 Euro], das militärisch-patriotische Buch nur in Paketen von fünf Exemplaren für insgesamt 1800 Rubel [16,50 Euro]. Die Zwischenhändlerregelung deutet auf die gewünschten potenziellen (genötigt-freiwilligen) Käufer hin: Bistümer, Gemeinden, Bildungseinrichtungen und Garnisonen. Auf ein breites Publikum werden die Bücher wohl nicht hoffen können, weniger wegen ihrer ideologischen Ausrichtung als vielmehr wegen ihres schwerfälligen bürokratischen Stils. Und das ist irgendwie tröstlich.
Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland eine imaginäre „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Nun arbeitet die russische Führung an einem Verbot einer „Childfree-Bewegung“, die es ebenfalls nicht gibt. „Propaganda des freiwilligen Verzichts auf das Kinderkriegen“ wird damit unter Strafe gestellt. Darunter fallen nach Vorstellung der Initiatoren des Gesetzes Werbung für Verhütungsmittel oder Beratung vor dem Schwangerschaftsabbruch. Das Gesetz ist so schwammig formuliert, dass alle möglichen Informationen zu bewusster Kinderlosigkeit bestraft werden können. Zudem muss man befürchten, dass die Verabschiedung des neuen Verbots ebenso zu Diskriminierung und Stigmatisierung bestimmter Menschengruppen führen wird wie das bestehende russische Gesetz über die sogenannte „homosexuelle Propaganda“.
Laut der Vorsitzenden des russischen Föderationsrats, Valentina Matwijenko, ist die „Childfree-Ideologie“ als eine „Entartung des Feminismus“ im Westen entstanden. Sie sei gegen Männer und gegen die „traditionellen Werte“ gerichtet. Andere Politiker wollen mit dem Gesetz die demografischen Probleme des Landes angehen. Für den Journalisten Anton Orech von der Novaya Gazeta ist das Gesetz krude Biopolitik: „Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.“
In einer Schule in Ocha auf der Insel Sachalin mussten sich die Schüler in der Aula einfinden und sich einen Vortrag darüber anhören, wie schlecht Abtreibungen sind. Zwecks Veranschaulichung, damit die Jugendlichen es auch wirklich kapieren, zeigte man ihnen auf einer großen Leinwand den ganzen ungeschönten Vorgang. Videos von dieser Aktion gingen durch Kanäle und Accounts – verpixelt und mit der Warnung versehen, es handle sich um verstörende Bilder. Für die Kinder in der Sachaliner Schule wurden sie weder verpixelt noch beschönigt. Die Sache blieb zwar nicht ohne Folgen, es wurde ermittelt, wer das überhaupt erlaubt hatte und wer der Vortragende war – doch da war es bereits zu spät, der Schaden war bereits angerichtet.
Werbeverbot für Kondome?
Mir stellt sich vor allem eine Frage: Was die Kinder da gesehen haben – ist das nun Propaganda fürs Kinderkriegen oder für Childfree? Will man nach so einem Anblick überhaupt noch Kinder bekommen? Oder erreicht man mit solch entsetzlichen Bildern nicht vielmehr das Gegenteil von Fortpflanzungsfreudigkeit? Sodass das demografische Problem erst recht nicht gelöst wird?
Eine Abtreibung ist immer schlimm. Keine Frau würde so etwas aus Jux und unter normalen Umständen machen lassen. Und wer kein Baby kriegen will, kann ja verhüten – würde man meinen. Doch in der Duma wird bereits ein Werbeverbot für Kondome diskutiert, zur Bekämpfung von „Childfree“. Die Verbreitung von Syphilis und anderen Geschlechtskrankheiten wird die Gesellschaft natürlich viel weiter bringen. Wenn Frauen und Männer mit den Folgen von ungeschütztem Sex die Arztpraxen stürmen, wird es uns viel besser gehen. Es ist ja nicht nur der Tripper, der auf diesem Weg übertragen wird, da gibt es ja auch diverse andere Krankheiten.
In einem Land, in dem Hunderttausende Menschen das HI-Virus in sich tragen, ist es natürlich oberste Priorität, Kondome abzuschaffen!
Tja, und schwangere Teenager sind natürlich genau das, was uns allen noch gefehlt hat. Genau das scheint Senator Kutepow in Angriff zu nehmen: Er schlägt vor, Abiturientinnen bei der Aufnahmeprüfung zur Universität zusätzlich zu den üblichen Bonuspunkten für allerlei Olympiaden noch zehn weitere Punkte zu schenken, wenn sie im Jahr vor der Prüfung ein Kind gebären. In welcher Klasse muss man dann damit anfangen? Elfte, oder besser schon zehnte? Das sind völlig absurde Hirngespinste, doch eine einfache Wahrheit hat uns das Leben ja schon gelehrt: Es gibt kein Hirngespinst auf dieser Welt, das nicht irgendwann ein Gesetz in Russland werden könnte.
Die auf die Nachwuchsproduktion fixierte Regierung hat das Thema Childfree entschlossen im Visier. Worauf man sich verlassen kann: Bald wird diese „Bewegung“ verboten, ihre Anhänger mit Strafen belegt. Dass es gar keine entsprechenden Strukturen gibt, macht überhaupt nichts. Das hat ja auch keinen daran gehindert, die „internationale LGBT-Bewegung“, die angeblich seit 1984 aktiv ist, zu verbieten.
Bestrafung der Unterlassung
Was „Childfree“ betrifft, könnte es sogar noch absurder werden. Während das LGBT-Verbot eine Handlung bestraft, würde ein „Childfree“-Verbot eine Unterlassung bestrafen. In Russland kann man ohnehin bald jeden von der Straße weg vor Gericht schleppen, aber um wegen gleichgeschlechtlicher Liebe belangt zu werden, muss man diese immerhin entweder praktizieren oder Solidarität mit solchen Menschen zum Ausdruck bringen. Das heißt, wenn man absolut nichts über LGBT sagt und „es nicht macht“, dann hat man seine Ruhe. Aber soll jetzt jede kinderlose Person unter Generalverdacht stehen, einer imaginären Childfree-Bewegung anzugehören?
Sie sind verheiratet, aber haben keine Kinder? Soso, erklären Sie sich mal! Sie strengen sich an, aber es wird nichts? Wie können Sie Ihre Bemühungen beweisen? Sie haben gesundheitliche Probleme? Dann lassen Sie mal ein Attest sehen! Sie sind noch nicht bereit? Haben kein Geld? Keine Wohnung? Wollen erst Ihren Abschluss/Karriere machen? Das ist doch wohl alles kein Grund, sich nicht zu vermehren!
In der Sowjetunion wurde eine Steuer auf Kinderlosigkeit erhoben. Eine absolute Demütigung. Aber damals kam man auch wegen homosexueller Kontakte und antisowjetischer Propaganda und Agitation ins Gefängnis, und die Rolle der Partei als „unserem Steuermann“ war in einer Verfassung verankert, die insgesamt vor Kuriositäten strotzte. Können wir wiederholen? Zudem werden andauernd neue Steuern eingeführt, und trotzdem hat der Staat komischerweise kein Geld.
Der Staat macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt
Die strafrechtliche Verfolgung von „Childfree-Propaganda“ eröffnet ein weites Feld für Improvisationen. Allein der Begriff der „Propaganda“ ist abstrakt und der Paragraf absichtlich schwammig formuliert. Klar, dann kann man jeden belangen, den man will. Jeden beliebigen Aktivisten zum Beispiel, wenn sich sonst gar nichts anderes gegen ihn finden lässt.
Aber noch viel wichtiger ist: Der Staat dringt buchstäblich in die Privatsphäre seiner Bürger und Bürgerinnen ein. Er legt sich zu ihnen ins Bett und macht selbst vor der Gebärmutter nicht halt. Der Staat bestimmt, welcher Sex richtig ist und welcher nicht. Er legt fest, wer Kinder bekommen soll und wie viele. Er verbietet der Bevölkerung, nach eigenem Ermessen über den eigenen Körper zu verfügen.
Aber der Russe ist ganz einfach gestrickt. Geht es um irgendwelche abstrakten Begriffe, um Freiheiten oder „allgemeinmenschliche Werte“, dann winkt er ab, als ginge es um Sachen, die niemand so richtig versteht oder braucht und die ihn nicht wirklich was angehen. Aber kaum ist er von etwas direkt betroffen, spürt es am eigenen Leib, da fängt er plötzlich an, ganz anders zu empfinden.
Lebensmittelpreise und steigende Wohnnebenkosten regen ihn viel mehr auf als jede Einschränkung von Freiheit. Die Frage nach Sex und Kinderkriegen ist allerdings maximal einfach zu verstehen, und die persönliche Betroffenheit könnte unmittelbarer nicht sein. Es ist äußerst schwierig, einen Menschen zum Kinderkriegen zu zwingen, wenn er nicht will. Und wenn ihm klar ist, dass er zwar von allen Seiten zur Fortpflanzung aufgefordert wird, es aber kaum Unterstützung für Familien mit Kindern gibt. Was hat er für Aussichten? Vermehrung in Armut? Fortpflanzung in der Schulzeit? Aber Wladimir Medinski hat die Lösung: Verkürzen wir doch einfach die Schulbildung, damit man nicht so viel Zeit mit Lernen verbringt, sondern schneller einen Beruf ergreift. Die Jungs in die Fabriken, die Mädels ins Geburtshaus. Und immer so weiter. Damit an „Childfree“ gar nicht mehr zu denken ist.
Mitte März haben Ermittler von Polizei und Geheimdienst in ganz Russland Wohnungen von Künstlern und Künstlerinnen durchsucht. Sie kamen im Morgengrauen, brachen Türen auf und beschlagnahmten Computer und Handys. Die Durchsuchungswelle erfasste Moskau, Sankt Petersburg, Nishni Nowgorod, Samara, Jekaterinburg, Perm, Uljanowsk. Viktoria Artjomjewa beleuchtet für die Novaya Gazeta, was das Besondere an diesen Künstlern ist und warum ihr Schaffen der Staatsmacht ein Dorn im Auge ist.
Vielen Künstlern, deren Wohnungen durchsucht wurden, blieb es ein Rätsel, warum gerade sie ins Visier der Behörden geraten waren. Eine zentrale Vermutung ist, dass es mit den Ermittlungen gegen Pjotr Wersilow zu tun hat, der als „ausländischer Agent” eingestuft ist. Wersilow wurde in Abwesenheit zu 8,5 Jahren Strafkolonie verurteilt, weil er „Falschnachrichten über die russischen Streitkräfte“ verbreitet haben soll. Anlass waren seine Postings in sozialen Netzwerken und eine Aussage in einem Interview, dass er die ukrainischen Streitkräfte unterstütze. Allerdings kennen viele Künstler, bei denen der FSB angeklopft hat, Wersilow gar nicht persönlich. Es kann natürlich sein, dass freischaffende zeitgenössische Künstler in den Augen der Geheimdienste wie eine einzige große mafiöse Gruppe aussehen. Trotzdem erscheint hier eine andere Version wahrscheinlicher – nämlich, dass es sich um eine Einschüchterungsmaßnahme vor den „Wahlen“ handelte. Zumal es für keines der Opfer der erste Kontakt mit den Men in Black war.
Katrin Nenaschewa zum Beispiel, die als eine der Ersten durchsucht wurde, hat bereits zwei Wochen wegen Organisation eines friedlichen Abendessens gesessen — das war eine Aktion kurz nach dem 24. Februar 2022, und der erste Versuch, eine Selbsthilfegruppe für Menschen zu gründen, die noch in Russland sind. Als Nenaschewa freikam, nahm das Projekt Schwung auf und wurde um die Initiative Ja ostajus! (dt. Ich bleibe hier!) erweitert. Sie bringt Menschen zusammen, die aus diversen Gründen nicht emigrieren können oder wollen, aber gegen Putins Regime sind. Sie treffen sich, veranstalten Performances, inszenieren Theaterstücke, organisieren Exkursionen und andere Aktivitäten. Außerdem organisierte Nenaschewa im Herbst 2023 in Sankt Petersburg das Projekt KOTelnja, in dem regelmäßig Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche stattfinden: Selbsthilfegruppen sowie kreative und informative Workshops zu mentaler Gesundheit und Kinderrechten. Im Rahmen dieses Projekts gab es auch das Programm Prodljonka (dt. Hort) für Kinder ukrainischer Flüchtlinge.
Ermittler durchsuchten die Wohnung seiner Bekannten, nahmen technische Geräte und Bilder mit und verhörten sie über Wersilow und Philippenzo
Noch schlimmer hat es den Street-Artisten Philippenzo erwischt. Letztes Jahr musste er das Land verlassen, weil er wegen politisch motiviertem Vandalismus angeklagt wurde. Die Anklage hatte mit seinem Graffiti Isrossilowanije (eine Kombination der Wörter Vergewaltigung und Russland) zu tun. Er hatte es vor dem Nationalfeiertag auf eine Mauer unter der Elektrosawodksi-Brücke in Moskau gesprayt und kommentiert: „Was dieses Land heute treibt, kann man nicht anders nennen.“ Schon vorher hatte Philippenzo Konflikte mit den Behörden: 2021 nahm er an einer Aktion zur Unterstützung des Mediums Meduza teil (in Russland als „unerwünschte Organisation“ eingestuft), und im Juli 2023 wurde er wegen angeblichen Widerstands gegen die Polizei festgenommen. Doch erst die Anklage wegen Vandalismus veranlasste ihn zur Ausreise. Allerdings war es, wie sich am 12. März zeigte, mit dieser Ausreise nicht getan: Ermittler durchsuchten die Wohnung seiner Bekannten, nahmen technische Geräte und Bilder mit und verhörten sie über Wersilow und Philippenzo.
Pussy-Riot-Aktivistinnen im Visier
Im Zusammenhang mit Wersilow kamen die Ermittler auch auf Pussy Riot zurück (zwei der Mitglieder sind als „ausländische Agentinnen“ eingestuft), deren Manager und Mitglied er war. Abgesehen vom Punk-Gebet, das am meisten Aufsehen erregte, ist die Band für viele Protestaktionen gegen Wahlfälschungen und Genderdiskriminierung bekannt. Wobei Pussy Riot keine feste Besetzung und Hierarchie hat, so dass jemand, der mitmacht, nicht zwangsläufig alle früheren Bandmitglieder kennen muss. Mehr noch: Als Wersilow, Marija Aljochina und Nadeshda Tolokonnikowa 2012 bei Pussy Riot aktiv waren, stritten sie sogar darüber, wer das Recht habe, im Namen der Band zu sprechen. Die Frauen saßen damals im Gefängnis und beschwerten sich, dass Wersilow hinter ihrem Rücken ohne jede Befugnis PR für Pussy Riot betreibe). Bei so undurchsichtigen Beziehungen innerhalb der Gruppe wirkt es seltsam, dass die Silowiki so viele Jahre später Wersilow auf diesem Weg belangen wollen. Jedenfalls klingelten sie am 12. März bei den Pussy-Riot-Aktivistinnen Olga Kuratschjowa und Olga Pachtussowa. Ihre letzte gemeinsame Aktion mit Wersilow war 2018 die Performance Der Polizist kommt ins Spiel: Als Polizisten verkleidet rannten sie beim Finale der Fußball-WM über das Spielfeld, um damit gegen politische Verfolgung zu protestieren.
Anti-Kriegs-Botschaften in Sankt Petersburg
Auch Sankt Petersburger Künstler blieben nicht verschont: Die Ermittler suchten Kristina Bubenzowa vom Projekt Partija mjortwych (dt. Partei der Toten) und Sascha Bort von der Gruppe Jaw (dt. Wachsein) heim. Die Partija mjortwych ist ein Projekt mit langer, wirrer Geschichte, die bis zu Eduard Limonow zurückreicht. Die zentrale Idee ist, die allgemeine Aufmerksamkeit auf „die größte soziale Gruppe“ zu lenken, nämlich die Toten, die, wie wir wissen, kein Recht und keine Möglichkeit zur Äußerung haben, in deren Namen die Regierung jedoch zahlreiche Entscheidungen trifft – von Veranstaltungen wie dem Unsterblichen Regiment bis zur Unterstützung der militärischen Spezialoperation. Ab dem 24. Februar 2022 konzentrierte sich die Partei auf Anti-Kriegs-Botschaften, und im September wurde sie dann wegen Verletzung religiöser Gefühle angeklagt: Nach dem orthodoxen Osterfest hatten sie ein Foto gepostet, auf dem einer von ihnen in schwarzer Kutte mit entsprechenden Plakaten auf dem Friedhof stand. Letzten Dienstag war das den Silowiki just wieder eingefallen, und sie nahmen es zum Anlass, gleich bei der Partei vorbeizuschauen. Natürlich auch, um nach Wersilow zu fragen.
Die Sankt Petersburger Künstlergruppe Jaw ist für politische und sozialkritische Streetart bekannt. 2021 entstand zum Beispiel It’s ok: ein Graffiti im Innenhof eines Hauses auf der Wassiljewski-Insel, das einen Mann mit einer Zeitung im Lehnsessel darstellt, umgeben von Artikeln aus Strafgesetz und Verwaltungskodex. Ein Regenbogen steht für LGBT-Propaganda (in Russland als extremistisch verboten), die Zeitung für die Verbreitung extremistischer Inhalte und eine Mangafigur auf einem Plakat für Suizidalität. Doch der Mann sitzt ruhig da und ignoriert die Verbote. Das Graffiti bezog sich auf Cancel Culture im Sinne einer generellen Absage der Kultur als solcher.
Prophylaktische Hausdurchsuchungen vor der Wahl
Kurz darauf machte der FSB auch bei Najila Allachwerdijewa, der Direktorin von PERMM, dem größten Provinz-Museum für zeitgenössische Kunst, eine Hausdurchsuchung. Die Geschichte des PERMM in Bezug auf Zensur ist überhaupt symptomatisch: Gründer und langjähriger Leiter des Museums war Marat Gelman („ausländischer Agent”), der 2014 aus Gründen der Zensur entlassen wurde. Die Kunstgalerie war Teil der so genannten Permer Kulturrevolution: Der damalige Gouverneur Oleg Tschirkunow verfolgte konsequent einen Plan, der Perm zur Kulturhauptstadt zuerst von Russland und dann von ganz Europa machen sollte. Und Gelman hatte entschieden hier ein Pendant zum Guggenheim-Museum in Bilbao zu schaffen.
Lange Zeit war das Permer Museum ein Beispiel für das, was gelingen kann, wenn ein talentierter Kulturträger im Tandem mit einem talentierten Gouverneur agiert: Von hier gingen Initiativen wie die Ausstellung Russkoje bednoje (dt. etwa Russisches Armes) aus, die den Anstoß zur „Revolution“ gab; Festivals wie Shiwaja Perm (dt. Lebendiges Perm) und Belyje notschi (dt. Weiße Nächte) sowie Partnerschaften mit Sankt Petersburg und Kooperationen mit mehreren Regionen der Peripherie und schließlich die Einleitung eines kulturellen Dialogs der russischen Provinz mit Europa; und Ausstellungen in Mailand, Venedig, Paris, aber auch Präsentationen westlicher Künstler in Perm und die Erweiterung der Sammlung vor Ort.
2014 wurde das PERMM geschlossen und die Permer „Revolution“ eingestellt. Der Gouverneur wurde abgelöst, und seinem Nachfolger missfiel eine solche Verwendung des Regionalbudgets.
Najila Allachwerdijewa, die nach mehreren Wechseln schließlich Direktorin des Museums wurde, musste einigen Aufwand treiben, um es am Leben zu erhalten. Das PERMM ist heute das einzige Provinzmuseum für moderne Kunst – und das Traurige ist, dass es kein zweites gibt und dass es wirklich provinziell ist. Trotzdem erreichten die prophylaktischen Hausdurchsuchungen vor den Wahlen auch Allachwerdijewa: Ihre Wohnung wurde am 13. März durchsucht.
Wozu das ganze?
In all diesen Durchsuchungen lässt sich kaum eine Logik erkennen: Wenn es um Wersilow geht, dann stellt sich die Frage, wieso man Leute durchsucht, die er gar nicht kennt. Wenn aber das Ziel ist, Künstler einzuschüchtern, warum ist dann zum Beispiel Kristina Gorlanowa betroffen, die ehemalige Leiterin des Uraler Puschkin-Museums? Sucht man trotzdem wenigstens irgendeine (wenn auch noch so spekulative) Logik, so könnte sie so aussehen: Zeitgenössisiche Kunst ist in all ihren Formen per definitionem die schnellste und schärfste Reaktion auf alles, was rundherum passiert. Streetart, Performance, Ausstellungen und Festivals, die aus den hermetischen Museen auf die Straße, unter die Leute, ins Publikum drängen, sind Protest in seiner reinsten Form.
Wie wir wissen, ist mittlerweile alles Unverständliche und Nicht-Traditionelle illegal
Am schlimmsten ist für das heutige Regime, dass die künstlerische Botschaft dieses Protests oft unverständlich, unlogisch und unerklärlich ist. Wie wir wissen, ist mittlerweile alles Unverständliche und Nicht-Traditionelle illegal.
Daher ist die Performance, die die Staatsmacht letzte Woche in ganz Russland aufführte, natürlich weder die erste noch die letzte ihrer Art, und die einzig mögliche Logik dahinter ist, dass jeder freie, informelle Ausdruck verhindert werden soll. Weil es im heutigen Russland nur eine Performance geben darf – die Festnahme, und nur eine Kultur – die Cancel Culture.
Die Ideologie des Russki Mir beschreibt Russlands Konfrontation mit dem Westen als apokalyptischen Kampf zwischen Gut und Böse. Ein einstmals international gefeierter Regisseur deutet ein eingeritztes Zeichen im Boden einer Moskauer Kirche als Beleg dafür, dass der Angriffskrieg gegen die Ukraine auf göttlicher Vorsehung beruhe. Die orthodoxe Kirche übernimmt Formulierungen von Ideologen, die sie früher wegen Okkultismus und Satanismus bekämpft hat. Wladimir Putin argumentiert mit „Erkenntnissen“, die sein Geheimdienst mit Hilfe von Gedankenlesern errungen haben will. Der Präsident und sein Verteidigungsminister besuchen gemeinsam „Kraftorte“ in der Taiga. Woher dieser Trend zum Magischen in der russischen Führung kommt, schildert der Religionsexperte Alexander Soldatow in der Novaya Gazeta.
Im Zuge der wachsenden Sinnkrise der „militärischen Spezialoperation“ tauchen immer öfter Begriffe wie „Magie des heiligen Krieges“ oder „Blut- und Opferkult“ auf. Die Bemühungen des Patriarchen Kirill, das Geschehen in ein christliches Gewand zu hüllen, klingen wenig überzeugend. Besser funktioniert da schon das Verschwörungskonstrukt von Alexander Dugin oder die heidnisch-manichäische Doktrin des Russki Mir.
Das lateinische Wort occultus bedeutet so viel wie „geheim“, „verborgen“. Und während die großen klassischen Religionen offen predigen, liegt der Reiz des Okkulten im Verborgenen, in seinem esoterischen Charakter. Träumen Sie von geheimen Instrumenten der Weltpolitik, und möchten Sie ewig in Ihrem physischen Leib leben? Dann ist Okkultismus genau das Richtige für Sie. Besonders hilfreich beim Eintauchen in esoterische Tiefen sind Verschwörungserzählungen.
Die Doktrin des Russki Mir, die der Russischen Föderation heute als Ideologie dient, ist durch und durch konspirologisch. Im vergangenen Jahr haben orthodoxe Theologen aus mehreren Ländern diese Doktrin in einer gemeinsamen Erklärung kritisiert. Sie verglichen sie mit dem Manichäismus – dem Glauben an einen ewigen Kampf zwischen Gut (Russland) und Böse (der Westen). Wenn es sich bei der „Spezialoperation“ um eine metaphysische Schlacht handelt, wie Patriarch Kirill behauptet, dann reichen weltliche – militärische und politische – Mittel allein nicht aus, um sie zu gewinnen. Dann braucht man „Hilfe von oben“.
Die Facetten der neuen russischen Konspirologie
„Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht verlangt ein Zeichen“, sprach Jesus (Matthäus-Evangelium 12:39). Wenn man eines braucht, dann findet man auch ein Zeichen – und den Einen oder Anderen vermag es sogar zu überzeugen. So entdeckte Nikita Michalkow in der Großen Christi-Himmelfahrt-Kirche in Moskau ein „Z“ (welches man übrigens auch als „N“ lesen kann), das jemand im 19. Jahrhundert in den Steinboden geritzt haben soll. Daraus schlussfolgerte der Großmeister des Kinos: „Also ist das [was in der Ukraine geschieht] von Gott gewollt“.
Einer gründlicheren Suche nach einer orthodoxen Rechtfertigung für die „Spezialoperation“ widmete sich im vergangenen Oktober das Weltkonzil des Russischen Volkes in der Christ-Erlöser-Kathedrale. Einer der Ideologen des Konzils war Alexander Dugin, dem die Russisch-Orthodoxe Kirche einst mit Misstrauen begegnete, weil seine Schriften eine Fülle von okkulten Verschwörungsmythen enthielten. Nun finden sich Dugins Gedanken in den Abschlussdokumenten des Konzils wieder: „Der Westen ist eine Idee. Die Einpflanzung dieser Idee begann mit der Säkularisierung, die das Göttliche vom Menschlichen trennte … Die Spezialoperation ist ein Krieg zwischen Himmel und Hölle.“
Vordenker des Nationalsozialismus als Inspiration
Auf Dugins Lehren, die von russischen Intellektuellen bisher belächelt wurden, muss man nun genauer schauen – der ideologische Überbau der „Spezialoperation“ ist unübersehbar von seinen Postulaten beeinflusst. Dugins Ansichten gediehen im mystischen Nebel des Jushinski-Zirkels, der in den 1960er Jahren von dem Schriftsteller Juri Mamlejew gegründet wurde. Die Teilnehmer – überwiegend Studenten – probierten sich durch sämtliche ihnen zugängliche esoterische und magische Praktiken, psychedelische eingeschlossen. Nach Radikalität strebend, entdeckten die Mamlejew-Anhänger die Ideologie der europäischen Rechtsextremen für sich. Dugin verbreitete im Folgenden die Ideen des französischen Traditionalisten René Guénon und des italienischen Esoterikers Julius Evola. In seinem Buch Heidnischer Imperialismus schreibt Evola: „Der Mensch besitzt keinen Wert an sich. Sein Leben wird durch und durch vom Kastensystem bestimmt und entfaltet sich erst im Imperium … Der Humanismus ist das Böse. Der Imperator steht über der Religion … Die wahre Freiheit ist die Freiheit zu dienen.“ Auf der Suche nach einem Ort, an dem er seinen rechtsextremen Ideen nachgehen konnte, trat Dugin der [National-patriotischen Front] Pamjat bei, wo man ihn jedoch wegen seines „okkulten Satanismus“ rauswarf. Bald darauf gründete er seine Eurasische Bewegung.
Der heutige Kriegsphilosoph begeisterte sich für die Mystik des Dritten Reiches. In Archiven studierte er die Schriften der okkulten SS-Abteilung Ahnenerbe, und sein Buch Hyperboreische Theorie gibt die Anschauungen eines ihrer Köpfe wieder – Herman Wirth.
In seinem Almanach Das Ende der Welt publiziert Dugin Werke des englischen Schwarzmagiers und Begründers des Ordo Templi Orientis Aleister Crowley, der dem Satanismus nahe stand. Dugins Kernidee, die der Kreml und das Weltkonzil des Russischen Volkes übernommen haben, ist der „okkulte geopolitische Dualismus“. Für die Anhänger dieser Idee ist die Weltgeschichte einzig ein Kampf zwischen dem Atlantischen Orden des Todes und dem Eurasischen Orden des Lebens. Diese Theorie gipfelt in einer grotesken Rassenlehre: Laut Dugin stammen die reinrassigen Arier von Cro-Magnon-Menschen ab, während die westlichen „Dämonen-Menschen“ von den Neandertalern abstammen. Seine Überzeugungen betrachtet der Chefdenker der Eurasier als durchaus orthodox, genauer noch: als altgläubig – und bezieht sich dabei auf die Starowerzy (dt. Altgläubige), wurzelnd in einer volkstümlichen esoterischen Strömung, die von der offiziellen Kirchen vergessen worden sei.
Moskau als Nachfolgerin von Byzanz
Eine andere Figur, die einen religiösen Einfluss auf das aktuelle Geschehen hat, ist Metropolit Tichon (Schewkunow), ehemals Archimandrit des Sretenski-Klosters auf der Lubjanka, jetzt Metropolit von Pskow. Tichon und Putin verbindet eher Freundschaft, wobei dem Lubjanka-Archimandrit einst die Rolle des persönlichen Geistlichen des Präsidenten zugeschrieben wurde. Ihre Freundschaft reicht lange zurück: Bereits 2001 begleitete Tichon Putin zum Starzen Johann Krestjankin, und vor kurzem besuchten sie gemeinsam das Freilichtmuseum Chersonesos von Tauria auf der Krim. Tichons Ideologie ist zwar orthodoxer und weit entfernt von Dugins kruden Theorien, aber in der Praxis führt sie zu denselben Schlüssen.
Tichons Lehre zufolge ist Russland von Gott als Nachfolger von Byzanz auserwählt und dazu berufen, ein Abbild des Reiches Gottes auf Erden zu sein. Doch eine Vielzahl an äußeren, vom Teufel inspirierten Feinden sorge dafür, dass es ständigen Prüfungen ausgesetzt sei.
Die „Geschichtsparks“, die unter Tichons Patronage eröffnet wurden und in die Milliarden aus Staatsunternehmen fließen, vermitteln den Besuchern mit interaktiven Mitteln einen einfachen Gedanken: Russland hat immer wieder seine Feinde besiegt, ist dann auf seinen vorbestimmten Weg zurückgekehrt und hat andere Völker mitgezogen.
Der russische Präsident und Tichon haben sich über den heute im Exil lebenden Oligarchen Sergej Pugatschow kennengelernt, und der ist folgender Ansicht: „[Tichon] verehrt Putin wirklich, er glaubt an sein gottgleiches Charisma.“ Tichon seinerseits sagte unlängst dem Staatssender Rossija 24: „Ich kenne den russischen Präsidenten persönlich. Er hätte die Spezialoperation unter anderen Bedingungen und Umständen für Russland nicht begonnen. Also musste es sein.“
Populärer Okkultismus bietet einfache Lösungen
Der populäre, kommerzielle Okkultismus unterscheidet sich von traditioneller Religiosität und geopolitischen Verschwörungsmythen dadurch, dass er einfache Lösungen anbietet. In den vergangenen Jahren (und im letzten ganz besonders) ist oft davon die Rede, dass die Machthaber aktiv auf archaische schamanische Praktiken, Magie, Zauberei und andere esoterische Methoden zurückgreifen würden. Einer der ersten „Schamanismus-süchtigen“ russischen Politiker war der Vorsitzende der gesetzgebenden Versammlung in Sankt Petersburg Wadim Tjulpanow. Bereits als Senator brachte er den nenzischen Schamanen Kolja Talejew mit in den Föderationsrat. „Er bekommt Botschaften vom Universum und kann dir alles über dich erzählen, über deine Vergangenheit und deine Zukunft. Die Vergangenheit kennt er so gut, dass ich Gänsehaut bekomme“, schwärmte der Senator. Bei der gläubigen Orthodoxen [und Vorsitzenden des Föderationsrats] Valentina Matwijenko zeigte das Schwärmen Wirkung: „Dann zaubern Sie uns doch was herbei, damit die Wirtschaft wächst“, bat sie Kolja.
Davon, dass das Schamanismus-Thema nicht nur Spaß ist, zeugt das tragische Schicksal von Alexander Gabyschew, einem jakutischen Schamanen, der sich zu Fuß nach Moskau aufgemacht hatte, um „den Präsidenten zu vertreiben“. Jetzt wird er seit drei Jahren von unterschiedlichen Gerichten von einer Nervenheilanstalt in die nächste geschickt. Gleichzeitig werden die „richtigen“ Schamanen von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zitiert: „Der oberste Schamane der Russischen Föderalen Kara-ool Doptschun-ool dankte den Schamanen in Russland für das gemeinsam durchgeführte Ritual zur Unterstützung der russischen Streitkräfte und wünschte ihnen viel Erfolg für die weitere Stärkung unserer Heimat.“
Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu, der aus einer Region stammt, in der der Schamanismus zur Tradition gehört, ist der einzige russische Minister, der unter allen Präsidenten und Premierministern in der Regierung verblieb. Er war schon als Kind mit den Traditionen seines Volkes vertraut – er führte Archäologen aus Leningrad zu tuwinischen Grabhügeln. Der junge Schoigu begeisterte sich außerdem für die Geschichte des „schwarzen Barons“ Roman von Ungern-Sternberg, der während des Bürgerkriegs im russisch-mongolischen Grenzgebiet kämpfte. Als einer der ersten eurasischen Mystiker träumte von Ungern-Sternberg von der Wiedererrichtung des Reiches von Dschingis Khan und einem neuen „Feldzug nach Westen“, an dem die Völker Asiens beteiligt sein sollten. Der Vater des Ministers, Kushuget Schoigu, war als Volksheiler und „wahrer Hüter der Volkstraditionen“ bekannt, was ihm zu einer Parteikarriere unter dem alternden Breshnew verhalf. Offenbar haben auch Putins und Schoigus berühmte gemeinsame Reisen zu sibirischen „Kraftorten“ eine spirituelle Erklärung.
Streben nach ewigem Leben
Unter der Leitung von Michail Kowaltschuk wird derweil am Kurtschatow-Institut an der Verlängerung des Lebens geforscht. Das Wissenschaftsverständnis von Kowaltschuk, der als Freund Putins gilt, ist dabei durchaus ungewöhnlich. So schlug er 2016 bei einem Treffen mit dem Präsidenten vor, „nach Organisationen zu suchen, die den Gedankenfluss in bestimmte Richtungen lenken können“, und in jüngster Zeit machte er auf die Gefahr von „ethnischen Waffen“ aufmerksam („Kampftauben“ oder „Moskitos“, die „nur Russen“ angreifen würden).
Auf dieser Ebene bewegt sich auch das Interesse an künstlicher Intelligenz, die es ermöglichen soll, nach dem physischen Tod in ein Meta-Universum umzusiedeln. Die Ablehnung des wissenschaftlichen Weltbildes auf Staatsebene zieht auch die Weltanschauung der einfachen Bürger in Mitleidenschaft, die zunehmend in Aberglaube und magisches Denken abgleitet. Eine Umfrage des Lewada-Zentrums im vergangenen Jahr ergab, dass nur ein Viertel der Russen an das Reich Gottes nach dem Tod glaubt, aber fast ein Drittel an den bösen Blick und Verwünschung (das sind doppelt so viele wie noch vor sieben Jahren). Als wäre das nicht genug, hat das Präsidium der Russischen Akademie der Wissenschaften ohne viel Aufhebens die Kommission zur Bekämpfung von Pseudowissenschaft und Verfälschung wissenschaftlicher Erkenntnisse abgeschafft. Der Verschwörungs-Ideologe Dugin argumentiert: „Echte Forschung und echte Wissenschaftler gibt es schon lange nicht mehr … Durchdrungen von der starren Diktatur des Liberalismus, sehen sie in allem nur noch die in sie selbst eingeimpften Codes.“
Atmosphäre des kollektiven Rasputinismus
Esoterik und Okkultismus gab es im Kreml schon lange vor Putin. Gleich zu Beginn von Boris Jelzins Amtszeit ernannte der Leiter des Sicherheitsdienstes, Alexander Korshakow, den General Boris Ratnikow zu seinem Chefberater und General Georgi Rogosin zu seinem ersten Stellvertreter: In den 1980er Jahren hatten diese beiden in geheimen KGB-Labors auf dem Gebiet der „Psychotechnik“ und „extrasensorischen Wahrnehmung“ geforscht. Rogosin erstellte astrologische Karten für Jelzin und förderte die Psychotronik, auf deren Grundlage der Generalstab „psychotronische Waffen“ entwickelte. Laut Eduard Krugljakow, dem ehemaligen Vorsitzenden der Kommission der Russischen Akademie der Wissenschaften zur Bekämpfung von Pseudowissenschaften, brachte Rogosin „alle möglichen Hellseher, Heiler, Okkultisten, Astrologen und andere Scharlatane“ mit in den Sicherheitsdienst, was zu einer Atmosphäre des „kollektiven Rasputinismus“ geführt habe.
General Boris Ratnikow ging obendrein in die Geschichte ein, weil er das Gehirn von Madeleine Albright „auf Entfernung scannte“ und „pathologischen Slawen-Hass“ darin vorfand. Ratnikow sah seine Mission im Sicherheitsdienst des Präsidenten darin, das Bewusstsein des Staatsoberhaupts vor Manipulationen zu schützen, so erklärte er es in einem Interview mit dem Staatsblatt Rossijskaja Gaseta. Die Manipulationen des parapsychologischen Generals selbst haben jedoch eine deutliche Spur in der Geschichte hinterlassen. Vergleichen wir zwei Aussagen: „Wir haben eine Seance durchgeführt, um uns mit dem Unterbewusstsein von US-Außenministerin Albright zu verbinden … Sie war empört darüber, dass Russland über die größten Rohstoffreserven der Welt verfügt. Ihrer Meinung nach sollten die russischen Reserven in Zukunft nicht von einem Land allein verwaltet werden“ (General Ratnikow, 2006). „Jemand wagt es ungerecht zu finden, dass Russland allein die Reichtümer einer Region wie Sibirien besitzt – ein einzelnes Land“ (Wladimir Putin, 2021). Im Jahr 2015 erklärte Albright, in Russland gebe es „Leute, die glauben, ihre Gedanken lesen zu können“, und fügte hinzu, dass sie „nie so etwas über Sibirien oder Russland gedacht oder gesagt“ habe.
Hoffen auf Botschaften aus dem All
Bis 2003 existierte innerhalb der russischen Streitkräfte die sogenannte Dienststelle Nr. 10003 – eine Experten-Abteilung des Generalstabs der Streitkräfte der Russischen Föderation für außergewöhnliche menschliche Fähigkeiten und besondere Waffentypen. Ihrem ehemaligen Chef Generalleutnant Alexej Sawin zufolge, sei es die Aufgabe der Abteilung gewesen, „das Gehirn für Botschaften aus dem Universum empfänglich zu machen“. Er erläuterte: „Wir nannten uns ‚Spezialoperatoren‘ – Menschen mit erweiterten Hirnfähigkeiten … Die Amerikaner erreichten nicht annähernd unsere Ergebnisse.“ Mir, dem Autor dieses Textes, war es vergönnt, an Konferenzen teilzunehmen, auf denen Militärwissenschaftler, viele von ihnen im Generalsrang, allen Ernstes ihre mit Hilfe von „psychotronischen Techniken aufgedeckten“ konspirologischen Erkenntnisse präsentierten. Das sowjetische New Age, das von Science Fiction das in den 1960er bis 1980er Jahren von Science Fiction, Ufologie und dem Glauben an das Übersinnliche geprägt war, wächst und gedeiht in der Armee-„Elite“ fröhlich weiter.
Angesichts der extremen Auswüchse der russischen Propaganda fragt man sich häufig: „Sind diese Menschen verrückt geworden oder täuschen sie einfach nur sehr professionell eine Paranoia vor?“ Tatsächlich erleben wir gerade eine interessante Verschiebung des Massenbewusstseins weg von einer objektiven und hin zu einer esoterischen Sicht auf die Welt. Einerseits erinnert das an Massenhysterie und eine extreme Archaisierung des Denkens. Wenn wir uns jedoch das ganze technologische Arsenal ansehen, das zur Volksverdummung eingesetzt wird, wirkt es eher wie eine komplexe Manipulation. Wer braucht noch systematische Bildung, nüchterne Religiosität oder die Fähigkeit zum kritischen Denken, wenn der große Leader alles mit Hilfe von Schamanen und künstlicher Intelligenz entscheidet?
In Wirklichkeit ist das Erstarken des Okkultismus in den Regierungskreisen ein klares Zeichen für ihre Schwäche und Unfähigkeit. Wenn ein Politiker oder ein militärischer Führer nicht in der Lage ist, seine Handlungen rational zu planen und seine Macht lieber an unbekannte und unsichtbare Kräfte „delegiert“, offenbart er damit seine Unfähigkeit, die Situation zu kontrollieren.
„Auch wenn es schrecklich klingt: Mir macht nicht so sehr der Krieg selbst Angst, sondern vielmehr wie er in Russland wahrgenommen wird.“ Auf diese Formel bringt der Politologe Wladimir Pastuchow den Rückhalt des Präsidenten Putin in der russischen Gesellschaft. Dieser liegt laut aktuellen Umfragen bei über 80 Prozent. Obwohl der Wert von Meinungsumfragen in autoritären Regimen strittig ist, ist für den Politologen damit implizit klar, dass dieser Rückhalt grundlegend ist für das System Putin – dass der Krieg erst dadurch möglich wurde.
Zahlreiche Analysten haben den Kitt dieses Rückhalts in vergangenen Jahren als einen (höllischen) Brei beschrieben: als ein Durcheinander von sich größtenteils widersprechenden Ideologien, die die russische Propaganda in jahrzehntelanger Arbeit amalgamiert und zu einem großen Ganzen stilisiert hatte. Kommunismus, Orthodoxie, (biologistischer) Nationalismus, Stalinismus, Imperialismus, Mystizismus – das versatzstückweise Bedienen aus diesen Ideologien und Denkweisen bildet demnach die Grundlage des heutigen Putinismus.
Das dadurch entstandene Weltbild gelte als unumstößlich, meint Pastuchow. Aus diesem Grund müsse das Übel an der Wurzel gepackt werden: Jede Verbreitung von Gedanken, die irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen, müsse zum absoluten Tabu werden. Die ideologische Aufarbeitung müsse total sein.
Systematische Einschränkung des Pluralismus zwecks Aufbau eines liberal-demokratischen Staates? Heiligt der Zweck die Mittel? Pastuchows Analyse sorgt in liberalen Kreisen Russlands für hitzige Diskussionen. Sein Text ist am 23. März in der Novaya Gazeta erschienen. Fünf Tage bevor die Zeitung bekannt gab, ihre Arbeit bis Ende des Kriegs einzustellen.
Es liegt mir fern, dem Präsidenten Plagiat vorzuwerfen. Aber neu ist an dem, was Putin heute sagt, nur die Tatsache, dass es Putin sagt. All diese Ideen sind Zersetzungsprodukte der kommunistischen Ideologie, die erst jahrzehntelang im Untergrund der sowjetischen Stagnation vor sich hin gerottet und dann nutzlos in den Hinterhöfen der „wilden 1990er“ herumgelegen haben.
Nichts fällt einfach so vom Himmel. Die neue Paranormalität ist nicht das Resultat von Putins Fantasie. Die Mythologie der „Spezialoperation“ ist weder eine kreative Schöpfung Putins noch seiner Administration. Sie kam von außen in den Kreml hinein, wurde vom Zerrspiegel der russischen postkommunistischen Macht reflektiert und dann wieder in die Außenwelt zurückgeworfen – nämlich als das Konzept der Russischen Welt, die einem Stör ähnelt – und zwar nicht zweiten, sondern nur dritten Frischegrades.
Die drei Quellen bzw. drei Bausteine des Putinismus
Diese ziemlich flache Erdscheibe ruht – wie auf alten russischen Stichen – auf drei Walen: dem orthodoxen Fundamentalismus, der Slawophilie und dem Stalinismus (einer radikalen Version des russischen Bolschewismus). Schon die Aufzählung dieser „geistigen Wurzeln“ zeigt, dass man diese Ideologie nicht auf der Müllkippe gefunden hat (obwohl das vielen genau so vorkommt), sondern als Rutenbündel, dessen Wurzeln ganz tief, bis in die dunkelsten Keller der russischen Geisteskultur zurückreichen. Und ich glaube, genau aus diesem Grund hat die Propaganda dermaßen eingeschlagen.
Aus dem Untergrund ins Lushniki-Stadion
Die Perestroika war die Benefizgala einer „Neuauflage“ der russischen Westler. Alle anderen Geistesströmungen wurden zunächst in den Hintergrund geschoben und nach 1993 ganz in den Untergrund gedrängt. Dort degenerierten sie und zersplitterten zu Sekten: Gumiljow-Anhänger, Stalinisten, radikale Orthodoxe und andere. Sie hatten eigene Propheten wie Kurginjan, Dugin oder Prochanow (und noch viele, viele mehr), die sie als Heilige verehrten. Unter Druck geraten, begannen sich diese Geistesströmungen aktiv zu vermischen, und heraus kamen die bizarrsten, abwegigsten Kombinationen, zum Beispiel orthodoxe Stalinisten oder linke Eurasisten.
Sie hätten noch jahrzehntelang so vor sich hinrotten können, aber Anfang des 21. Jahrhunderts fand sich ein Großabnehmer für diesen ganzen Sondermüll – in Person der neuen Macht.
Parallel dazu war nämlich in der Politik ein anderer Prozess vonstatten gegangen: Eine kleine, aber eingeschworene Gruppe von „Petersburgern“ hatte kraft nur teilweise zufälliger Umstände fest die Zügel der Macht an sich gerissen und brauchte für ihre politischen Ambitionen dringend einen ideologischen Überbau. Da sie selbst alle Merkmale einer esoterischen politischen Sekte aufwies, tendierte sie naturgemäß zu einer sektiererischen Weltanschauung. Aus diesem Grund gab es von Anfang an eine gegenseitige Anziehung zwischen den „Petersburgern“ und dem „orthodoxen Untergrund“. Die Frucht dieser Liebe ist das Oxymoron der Putin-Ära: die „orthodoxen Tschekisten“ – und ihr Manifest, das zwischen 2005 und 2010 anonym herausgegebene mehrbändige Werk Projekt Russland.
Bis 2012 blieb der „Geheimbund der Schwerter und Pflugscharen“ allerdings weitgehend unbekannt. Die Kontakte fanden hinter verschlossenen Türen statt, und die außerehelichen Ideen, die aus ihnen geboren wurden, versuchte der Kreml nicht an die große Glocke zu hängen. Erst nach der gescheiterten Revolution von 2011 bis 2013 wurde der Schleier gelüftet. Den russischen Machthabern, die seit Anfang der 1990er Jahre nach einer Massenideologie gesucht hatten, wurde plötzlich klar, dass sie die ganze Zeit durch goldenen Sand gelaufen waren. Sie mussten nichts erfinden, es stand quasi alles schon bereit. Also hat der Kreml die „russischen Eurasier“ behutsam aus dem Dreck gefischt, sie gewaschen, gestriegelt und ihnen eine Krone aufgesetzt.
Der Effekt übertraf die kühnsten Erwartungen. Das orthodox-slawophile Mantra, das in der russischen Geisteskultur tatsächlich nicht weniger tief verwurzelt ist als das Westlertum, schlug wie eine Granate ein beim Volk, das durch jahrzehntelanges Chaos zermürbt und durch Gewalt korrumpiert war und den Schock des plötzlichen Zusammenbruchs des Imperiums noch nicht überwunden hatte. In seiner dekadentesten, bis ins Absurde getriebenen Form trat der russische Eurasianismus aus dem Untergrund empor und geradewegs auf die Bühne von Lushniki.
Das Symbol der Kreml-Religion
Wenn man zum ersten Mal mit der neuen Kremlideologie konfrontiert wird, verspürt man ein intellektuelles Unbehagen, so sehr wirkt dieses Produkt wie eine krude Ansammlung von Alogismen. Aber sobald sich das Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat, erkennt man langsam durchaus vertraute und keineswegs neue Gestaltungselemente, die das Konzept als eine latente Spielart der Rassentheorie entlarven.
Die Überlegenheit der russischen Nation
Wie die meisten anderen Theorien dieser Art basiert sie auf einer hypertrophierten Vorstellung von der Rolle und Bedeutung der russischen Nation, der man Züge eines einzigartigen und unvergleichlichen historischen Subjekts verleiht. Diese These hat zwei Vektoren: einen äußeren und einen inneren. Der innere Vektor impliziert die Anerkennung des bedingungslosen Vorrangs der Nation vor dem Individuum. Der äußere – die Anerkennung einer absoluten Überlegenheit der russischen Nation gegenüber allen anderen Nationen und Völkern. In ihrer tragikomischsten Form kommt diese These in den Worten eines der wichtigsten Hofideologen [des ehemaligen Kulturministers Wladimir] Medinski zum Ausdruck, der behauptete, die Russen hätten ein zusätzliches Chromosom.
Minderwertigkeit der anderen Nationen
Einer der Eckpfeiler der neuen Ideologie ist die These, dass nur die russische Nation in der Lage sei, einen vollwertigen souveränen Staat zu bilden. Den meisten anderen Nationen spricht der Kreml diese Fähigkeit ab und betrachtet sie lediglich als „Stellvertreter“ der USA, die nur über eine eingeschränkte Souveränität verfügten. Besonders minderwertig sei in dieser Hinsicht die Ukraine, deren Staatlichkeit nach Meinung des Kreml künstlich sei und ausschließlich dank der Unterstützung von außen bestehe.
Die Existenz eines natürlichen Feinds
In der Vorstellung der Kremlideologien hat die russische Nation einen Blutfeind: die Angelsachsen. Wie es sich für einen mythischen Feind gehört, bilden auch die Angelsachsen eine mythische Kategorie. Wenn es sich dabei um die modernen Briten und, von ihnen abgeleitet, die Amerikaner handeln soll, dann sind das wohl eher Normannen, die seinerzeit die Angelsachsen auseinandergetrieben und assimiliert haben, aber wen kümmern schon die Details. Je weniger real die Angelsachsen sind, desto besser eignen sie sich als natürliche Feinde.
Ihre Projektion innerhalb des Landes ist die „fünfte Kolonne“, die sich von einer politischen Kategorie nun zu einer ethnisch-kulturellen gewandelt hat: Das sind alle, die den Angelsachsen geistig nahestehen. Die Haupt-Handlanger der Angelsachsen sind jetzt den Umständen entsprechend die Ukrainer, aber das ist eine rein funktionale Entscheidung, an ihrer Stelle könnte jeder andere stehen.
Die Ukraine als Heiliger Gral
In der Tradition von Solschenizyn und anderen Eurasiern misst der Kreml der Kontrolle über die Ukraine besondere, mythische Bedeutung zu. Die von niemandem rational begründete These, dass das Russische Reich nicht existieren kann, wenn nicht die Ukraine dazugehört, wird als unbedingtes Axiom akzeptiert und ist grundlegend für alle geopolitischen Konstruktionen des Kreml. Die Ukraine ist nach seinem Verständnis sowohl heilige Messen wert als auch eine „Spezialoperation“, die man im Zentrum Europas als letzte und entscheidende Schlacht inszenieren kann.
Das Recht auf Krieg
Allein die Existenz eines heiligen Ziels rechtfertigt den Krieg als Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Beigemischt wird Nietzsche mit einer Prise Dostojewski: „Bin ich nur eine zitternde Kreatur, oder habe ich das Recht?“. In der Vorstellung des Kreml bedeutet „können“ sowohl „das Recht dazu haben“, als auch „müssen/sollen“. Die neue Ideologie ist in dieser Hinsicht eine Apotheose jenes Kults der Stärke, der jahrelang die esoterische Religion des Petersburger Clans war. Der Militarismus der neuen Ideologie ist keine Notwendigkeit, sondern ihr innerster Kern.
Die Idee von der Normalität des Krieges
Die Rehabilitation des Krieges nicht nur als mögliches, sondern als das wirksamste Mittel zur Durchsetzung außenpolitischer Ziele ist die natürliche Fortsetzung der Philosophie der Gewalt. Die apokalyptisch-mythische Vorstellung, dass der Krieg ohnehin unvermeidlich ist, weil die USA ihn entfesseln würden, um ihren unabwendbaren finanziellen und moralischen Bankrott zu verhindern, verstärkt den eigenen Militarismus, und sogar den Willen, als Erster anzufangen, weil man sich davon irgendwelche illusorischen Vorteile ausrechnet.
Die Macht der Ideologie
Der ohrenbetäubende Erfolg der militaristischen Propaganda, den wir heute von Moskau bis in die entlegensten Winkel des Landes beobachten können, ist keineswegs zufällig oder spontan. Er wurde nur möglich, weil der Kreml tatsächlich im Besitz einer umfassenden und perfekten „ideologischen Massenvernichtungswaffe“ ist. Die Ideologie des russischen Hypernationalismus hat es geschafft, die Eliten im Kreml zu vereinen, und zwar nicht von außen, sondern von innen heraus, nicht durch Furcht, sondern durch den Glauben. Ich vermute, dass die erdrückende Mehrheit der Umgebung des Präsidenten tatsächlich mit diesem Virus infiziert ist und das, was wir beobachten, keine Verstellung, kein Zynismus ist, sondern eine Art kollektive Ekstase der Mitglieder eines semireligiösen Ordens.
Dabei ist nicht gesagt, dass alle auf dieselbe primitive Weise glauben, in jener karikierten Form, in der die Solowjows und Kisseljows uns diese Irrlehre darbringen. Es kann auch eine ausgefeilte Philosophie sein. Diese neue Ideologie wird künftig bei politischen Entscheidungen eine immer größere Rolle spielen, die individuellen Unterschiede und Interessen der einzelnen Führer dagegen eine immer kleinere. Entsprechend werden der Militarismus und die Aggressivität des Regimes nur zunehmen. Es wird versuchen, sämtliche verfügbaren Räume auszufüllen, die man ihm lässt, solange, bis es auf eine andere Kraft stößt, die es nicht imstande ist zu bezwingen.
Wie holen wir Russland zurück?
Mitte der 1990er Jahre veranstalteten die legendären [Wissenschafts-]Urgesteine, Saslawskaja und Schanin in Moskau die unter Intellektuellen sehr beliebte Reihe Wohin steuert Russland?. Bei diesen Treffen warnte ich mit hartnäckiger Regelmäßigkeit davor, dass Russland absolut nicht dorthin steuere, wo die Anwesenden es haben wollten, und dass alles mit einer neuen UdSSR enden würde. Heute, da Russland schließlich genau dort angelangt ist, stellt sich eine neue Frage, und zwar, ob man es von dort zurückholen kann. Offen gesagt, Beispiele für eine erfolgreiche Rückkehr von diesem Ort mit drei oder sechs Buchstaben gibt es in der überschaubaren historischen Vergangenheit nur wenige, und wenn, dann kehrten die Betreffenden im Schlepptau eines fremden Panzers zurück.
Aber es gibt auch gute Neuigkeiten: Der Zustand nämlich, in dem sich die russische Gesellschaft heute befindet. Wir beobachten einen emotionalen Flächenbrand, der nicht ewig andauern kann.
Es gibt zwei Szenarien, wie man diese Fackel zu einem Ewigen Licht machen könnte, doch beide sind im heutigen Russland nur schwer vorstellbar.
Im ersten Szenario wird die Flamme mit fremden Ressourcen genährt – so wie Nordkorea von China. Aber so viel kann China gar nicht schultern.
Im zweiten Szenario kann man sich wärmen, indem man selbst Stück für Stück abbrennt – die Variante der stalinistischen Modernisierung, die ein halbes Jahrhundert auf Kosten der ausgebeuteten russischen Bauernschaft betrieben wurde. Das Problem ist allerdings, dass alle Bauern schon vor hundert Jahren enteignet wurden und es in Russland niemanden mehr gibt, den man massenhaft ausrauben könnte.
Bleibt also nur die Option, relativ schnell (wenige Monate bis Jahre) auf diesem Scheiterhaufen des „kalten“ Bürgerkriegs zu verbrennen. Übrig bleibt: ein Aschehäuflein mit Resten schwelender ziviler Apathie. Ich kann nicht vorhersagen, wie genau das Regime unter dieser Asche begraben werden wird, aber genau dieses Szenario halte ich mittelfristig für das wahrscheinlichste. Wobei ich den nuklearen Staub, der aus dem Kremlfernsehen rieselt, jetzt mal ausklammere. Könnte natürlich auch sein, dass da jemand kollektiven Selbstmord begehen will, dann kann man ihn schlecht davon abhalten, aber Selbstmörder bauen keine Paläste.
Auf praktischer Ebene stellt sich bereits heute die Frage, wie wir Russland weniger anziehend machen, entmagnetisieren werden, wenn erstmal die Sektierer vom Kreml abgelassen haben. Der wichtigste Schluss, den die noch heißen Spuren nahelegen, ist folgender: So abstoßend die „russischen Typen“ auch sein mögen, die „russischen Ideen“ sind noch grauenerregender. Das russische Volk lebt innerhalb einer totalitären Matrix, die sich von Epoche zu Epoche reproduziert. Diese Matrix wird von den russischen Ideen erzeugt. Wie viele Zähne hat man sich an der nie erfolgten Aufarbeitung in den 1990er Jahren ausgebissen, und noch mehr werden es bei der noch bevorstehenden Aufarbeitung der 2030er (oder vielleicht schon 2020er) Jahre sein. Die ideologische Aufarbeitung muss total sein. Nachdem die russische Mentalität nach holistischen, mystischen und totalitären Gesinnungen regelrecht süchtig ist, wird man in Russland die Verbreitung von allen Ideen verbieten müssen, die sich ähnlich, symmetrisch oder identisch zu jenen verhalten, die in ihrer Steigerung zu einer Rechtfertigung der „Spezialoperation“ geführt haben. Jede Verbreitung von Gedanken, die direkt oder indirekt, unmittelbar oder mittelbar irgendeine Art von Terror im Namen einer Ideologie rechtfertigen – egal ob Orthodoxie, Kommunismus, Stalinismus, Nationalismus oder sonst irgendetwas –, jeder Versuch, solches Geistesgut in staatlichen oder außerstaatlichen Sphären zu verbreiten, muss ein absolutes Tabu werden. Angesichts der Komplexität des Problems sind zuallererst zwei Maßnahmen zu ergreifen:
Entkirchlichung
In Russland muss eine strikte Antiklerikalisierung durchgeführt werden, in erster Linie – aber nicht nur – durch eine umfassende und reale Trennung der Kirche als solcher und speziell der orthodoxen Kirche von Schule und Staat. Die russisch-orthodoxe Kirche muss als Institution, die sich mit ihrer Unterstützung und Rechtfertigung des Terrors endgültig diskreditiert hat, organisatorisch und ideologisch entstaatlicht werden. Sie muss sämtliche staatlichen Subventionen verlieren und ihrer Gemeinde überantwortet werden, die ihr Stimmrecht in kirchlichen Fragen zurückerhalten muss. Vielleicht entsteht dann anstelle der pyramidenförmigen Hierarchie der Russisch Orthodoxen Kirche ein echter demokratischer Kirchenverband, ein Zusammenschluss von freien Pfarreien, die sich selbst verwalten und ausschließlich über ihre Mitglieder finanzieren.
Entkommunisierung
Im Land muss endlich eine vollständige und konsequente Entkommunisierung (und nicht nur Entstalinisierung) stattfinden. Die Propaganda kommunistischen Gedankenguts muss verboten, die Ideen selbst müssen als menschenverachtend entlarvt werden. Alle politischen Organisationen, die den Kommunismus offiziell predigen und irgendeine Form von Terror rechtfertigen, müssen verboten werden. Das gilt auch für alle zeitgenössischen Derivate des Kommunismus, einschließlich der eurasischen Utopien von Alexander Dugin und Alexander Prochanow, der neurussischen Passionen von Wladislaw Surkow, der Reenactments von Strelkow und alles, was auf dem Grabhügel des russischen Kommunismus sonst noch so blüht.
Kommt Ihnen das unrealistisch vor? Heute – ja. Morgen wird es Realität sein. Das Pendel der russischen Geschichte hat zu weit ausgeschlagen. Um es aus seiner gottverlassenen Lage wieder herauszuholen, braucht es harte, vielleicht sogar grausame Entscheidungen, die uns gestern noch unnötig und undenkbar erschienen. Die Zeit der halben Sachen ist vorbei. Wenn wir diese Entscheidungen treffen, müssen wir daran denken, dass es nicht so sehr die bösen Menschen, sondern böse Ideen waren, die Russland in diese historische Sackgasse getrieben haben.
Nicht in Brüssel, sondern in Riga – also deutlich näher an Moskau und Minsk gelegen – kommen heute die NATO-Außenminister für ein zweitägiges Treffen zusammen. Seit Wochen berichtet das Bündnis über einen verstärkten russischen Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine. Auch der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wird als Gast bei dem Treffen dabei sein.
Die Beziehungen zwischen Russland und der NATO liegen auf Eis, Russland hat im November die Arbeit seiner Vertretung in Brüssel komplett eingestellt. Damit gibt es keine Gesprächskanäle mehr. So beschäftigt die russische Truppenkonzentration nahe der Ukraine auch internationale Beobachter: Alles nur Säbelrasseln? Oder droht ein Szenario wie 2014, als „grüne Männchen“ auf die Krim einmarschierten und Russland die Halbinsel schließlich angliederte?
Es gebe allen Grund zur Sorge, meint etwa die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja auf Telegram. Die Ukraine sei für Russland ein wichtiger Schauplatz in der Auseinandersetzung mit dem Westen. Auch ohne „Provokationen“ von ukrainischer Seite gebe es die Bereitschaft, „die Welt zu erschüttern“, und damit über den Status quo zu siegen, der seit den Minsker Protokollen von 2015 vorherrscht. Dimitri Trenin sieht auf Carnegie.ru im Vorgehen Russlands dagegen eine Art Abschreckung nach (gegenseitigen) Provokationen. Deren Erfolg hänge davon ab, „wie plausibel die Bedrohung wahrgenommen wird“.
Ähnlich argumentiert Julia Latynina in der Novaya Gazeta: Es werde keinen Krieg gegen die Ukraine geben – weil es dem Kreml dabei vor allem um die Aufmerksamkeit der USA gehe.
Die Nachrichtenplattform Bloombergveröffentlichte letzte Woche einen Plan Russlands über eine mögliche Invasion in der Ukraine. Der US-Geheimdienst hatte ihn seinen europäischen Bündnispartnern übermittelt. An der Invasion sollen 100 Bataillons- und Kampfgruppen mit 100.000 Mann teilnehmen, von denen die Hälfte „bereits Stellung bezogen“ habe. Der Schlag solle von drei Seiten aus geführt werden: vom russischen Festland, von der Krim und von Belarus. Als voraussichtlicher Zeitpunkt der Invasion wird Anfang nächsten Jahres genannt. „Amerika sagt damit nicht, ein Krieg sei unvermeidlich, oder auch nur, man wisse mit Sicherheit, dass Putin wirklich angreifen wolle. Vielmehr heißt es, er sei wahrscheinlich noch unentschlossen, was er tun werde“, schreibt Bloomberg.
Die aktuelle militärische Aufrüstung an der ukrainischen Grenze ist schon die zweite Geschichte dieser Art innerhalb kurzer Zeit. Die erste, im Sommer 2021, handelte ebenfalls von Truppenverschiebungen und endete mit einem Treffen zwischen Biden und Putin. Die jetzige steht im Kontext bedenklich sinkender Umfragewerte der russischen Regierung, der totalen Vernichtung der Opposition sowie einer Krise an der polnisch-belarussischen Grenze, im Zuge derer Lukaschenko Warschau mit einer Unterbrechung der Gaslieferungen drohte und seine Propagandisten russische Kampfflugzeuge in Aussicht stellten. Und jetzt folgt mein Erklärungsversuch, warum eine solche Invasion gar nicht möglich ist.
Erstens: Der Kreml hat bisher nie richtige Kriege geführt, sondern nur hybride
Erstens: Der Kreml hat bisher nie richtige Kriege geführt, sondern nur hybride. Ein richtiger Krieg wird geführt, um zu siegen. In einem solchen Krieg ist der Abgleich mit der Realität sehr wichtig, und wenn man da zu lügen beginnt, kann man, wie der japanische Admiral Yamamoto einmal sagte, „den Krieg schon als verloren betrachten“.
Ein hybrider Krieg wird nicht geführt, um zu siegen, sondern um ein Bild zu erzeugen. Dabei ist die Lüge eines der wichtigsten Werkzeuge. In einem richtigen Krieg wird alles daran gesetzt, die Verluste des Feindes zu maximieren. Bei einem hybriden Krieg geht es zum Teil auch darum, Informationen über angebliche Verluste in den eigenen Reihen zu maximieren. Manchmal wird ein hybrider Krieg nur geführt, um zu erzählen, wie die israelische Kriegsmaschinerie ein Kind getötet oder ukrainische Faschisten einen Jungen gekreuzigt haben.
Zweitens: Der Kreml hat bisher bei allen Kriegen auf die Möglichkeit der Verleugnung gebaut
Zweitens: Der Kreml hat bisher bei allen Kriegen auf die Möglichkeit der Verleugnung gebaut. „Das ist nicht Russland. Das sind Privatleute.“ So kann man jede Verantwortung für bewaffnete Gar-nicht-Dorts von sich weisen und im Fall militärischer Verluste das Risiko minimieren. Wäre es Marschall Haftar in Libyen gelungen, Tripolis zu erobern, hätten unsere Skabejewas den Sieg auf allen Kanälen in die Welt hinausposaunt. Nachdem aber türkische Bayraktar-Drohnen Haftar und seinen russischen Söldnern den Garaus gemacht hatten, konnte man genauso gut schweigen.
Und schließlich drittens: Alle Kriege des Kreml haben dem Westen immer die Option gelassen, neutral zu bleiben
Und schließlich drittens: Alle Kriege des Kreml haben dem Westen immer die Option gelassen, neutral zu bleiben und keine unumkehrbaren Entscheidungen zu treffen. „Das ist alles kompliziert dort. Ein innerukrainischer Konflikt. Das sind Freiwillige“, und so weiter. Solche Spielräume, die dem Westen erlauben, sein Gesicht zu wahren und dabei untätig zu bleiben, waren immer fixer Bestandteil der Kriegsstrategie des Kreml. Eigentlich gehört alles Obengenannte zu den Merkmalen eines hybriden Kriegs – eines Kriegs, in dem es nicht um den Sieg geht, sondern ums Lügen und Schädigen – der Feind soll geschädigt und das eigene Volk belogen werden. Der ideale Krieg war für den Kreml immer ein computergeneriertes Bild, auf dem Russland Raketen auf Florida feuert.
Trotz solcher Bilder und des Versprechens, die USA „zu Atomstaub“ zu pulverisieren, hat der Kreml jeden echten Krieg immer tunlichst vermieden.
Als die USA im Februar 2018 bei Deir ez-Zor eine Kolonne mit russischen Söldnern bombardierten, hat der Kreml nicht nur nicht reagiert, sondern einfach so getan, als wäre das gar nicht passiert.
Als die Amerikaner im selben Jahr die syrische Infrastruktur in die Luft sprengten, verkündete Russland zwar lautstark, es werde keine US-Aggressionen dulden, verhielt sich aber dann fein artig hybrid: Man präsentierte im Fernsehen einen Haufen erdichteter Vergeltungsschläge und versuchte, diesen unangenehmen Zwischenfall, der die absolute Überlegenheit der US-Raketen vor Augen führte, alsbald zu vergessen. Anders gesagt, jedes Mal, wenn das Gespenst eines richtigen Kriegs durch den Kreml spukt, in dem man nicht mehr mit Fernsehbildern von gekreuzigten Kindern und abgeschossenen Raketen auskommen würde, tut Moskau so, als würde es das alles nichts angehen.
Wahrscheinlich, weil sich der Kreml im Grunde des tatsächlichen Zustands der russischen Kriegstechnik bewusst ist. Er weiß nur zu gut, in welchen Situationen schon von einem „kleinen, siegreichen Krieg“ die Rede war, der dann weder klein noch siegreich war.
Es liegt auf der Hand, dass eine Invasion in der Ukraine von drei Seiten mit Luftstreitkräften und 100.000 Mann starken Truppen, wie in dem Plan formuliert, nicht unter die Definition eines hybriden Kriegs fällt. Und sich gegen eine solche Invasion zu verteidigen, wäre für die Ukraine nicht schwerer, sondern leichter.
Die Verteidigung gegen eine solche Invasion wäre für die Ukraine nicht schwerer, sondern leichter
Die ganze Stärke von Noworossija bestand darin, dass prorussische Kämpfer sich als „unterdrückte Lokalbevölkerung“ ausgaben und hinter Zivilisten verschanzten. Unter solchen Bedingungen traf jeder Schuss auf einen Kämpfer wirklich die Zivilbevölkerung, und der Westen konnte vor diesem komplexen Problem erleichtert die Augen verschließen. Die Invasion einer 100.000 Mann starken Armee böte diese Chance nicht. Eine solche Invasion zu legitimieren, nachdem man auf russischem Territorium eine „rechtmäßige Regierung Janukowitsch“ eingesetzt und in deren Namen um Hilfe gebeten hat, wird unmöglich sein. Auf diese Weise eroberte Gebiete könnte man nicht legal an Russland angliedern. Die Auswirkungen eines solchen Krieges auf die Gesellschaft wären katastrophal. Krim nasch war ja genau deshalb so populär, weil es keine Toten gab. 100.000 Rekruten, die man Bayraktar-Drohnen und unbemannten US-Kampfflugzeugen zum Fraß vorwirft, blieben wohl kaum vollzählig unversehrt.
„Das tiefe Volk“ würde wie im Afghanistan-Krieg vor den Todesnachrichten und die Elite vor den Sanktionen des Westens erschaudern, die den Wert ihrer Beute mindern.
Aber das zentrale, das fundamentale Problem ist: Dies wäre ein echter Krieg und das heißt, man kann ihn verlieren. Einen hybriden Krieg kann man prinzipiell nicht verlieren. Wenn es mit Noworossija klappt – wunderbar. Werden es nur die Volksrepubliken Donezk und Luhansk – was soll’s, stopfen wir dieses Krebsgeschwür eben zurück in den Leib der Ukraine, auch gut. Mit anderen Worten, alles, was passiert, ist ein Bluffen. Es ist immer noch derselbe hybride Krieg. Eine Nötigung zum Dialog. Eine Reaktion auf die Sanktionen. Eine Reaktion auf das Vorhaben, künftig auf russisches Öl und Gas zu verzichten. Auf den Vertrag zwischen den USA und der Ukraine. Auf die Weigerung der Ukraine, die Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu den Bedingungen des Kreml zu akzeptieren. Und es ist eine Reaktion auf die sinkenden Umfragewerte und auf den gescheiterten Versuch, Europa mithilfe Lukaschenkos zu erpressen.
Die USA und Europa haben zwei Möglichkeiten, auf diesen Bluff zu reagieren. Sie können sich einschüchtern lassen und „einen Dialog beginnen“. Oder sie können klarmachen, dass die Ukraine im Fall eines vom Kreml begonnenen Krieges so viel militärische Unterstützung erhält wie nötig, um einen Sieg Russlands zu verhindern.
Ein Mädchen kniet vor einem Mann, er blickt in die Kamera, sie kehrt dem Betrachter den Rücken zu, gut sichtbar auf ihrer Jacke die Aufschrift „Polizija“. Das Bild soll Oralsex imitieren. Nachdem es im Internet veröffentlicht worden war, wurden beide festgenommen: Der Blogger Ruslan Bobijew und seine Freundin Anastasia Tschistowa. Gegen beide wurde schließlich ein Strafverfahren wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ eingeleitet. Denn links im Hintergrund des Bildes gut sichtbar ist die Kathedrale auf dem Moskauer Roten Platz (die inzwischen übrigens hauptsächlich als Museum dient, nur ab und zu finden Gottesdienste statt). Ein Moskauer Bezirksgericht verurteilte den Blogger Ruslan Bobijew und seine Freundin Anastasia Tschistowa schließlich zu 10 Monaten Haft. Zudem, so berichtet die NGO OWD-Info, soll Bobijew nach Verbüßung der Haftstrafe nach Tadshikistan abgeschoben werden.
Nur kurz darauf musste das Instagram-Model Irina Wolkowa in Sankt Petersburg in einer Anhörung vor Gericht aussagen – sie hatte auf einem inzwischen gelöschten Post im Stringtanga vor der Petersburger Isaakskathedrale posiert, sie kniete am Boden, rechts neben ihr blickte ein Mann in die Kamera, der der Kirche den Rücken zukehrte. Wolkowa wurde ebenfalls wegen „Verletzung religiöser Gefühle“ angeklagt, ihr droht eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr.
Nun kann man darüber streiten, wie geschmackvoll solche Fotos sind, meint Kirill Martynow in der Novaya Gazeta – aber inwiefern verletzen sie tatsächlich religiöse Gefühle? Und was steckt eigentlich hinter einer solchen Anklage?
Mit dem Fall Bobijew-Tschistowa wird ein Exempel statuiert. Er steht für die Tendenz der willkürlichen Sakralisierung des öffentlichen Raums – und zwar da, wo dies der Staatsmacht nützt.
Im städtischen Alltag entstehen so etwas wie „Zonen“ und „Radien“ des Göttlichen, die in keinem Gesetz erfasst sind, aber nach den unausgesprochenen Regeln der Russischen Föderation ihre Rechte einfordern. Religiöse Gefühle überlagern sich mit dem „Stolz der Uniform“, sakrale Bauten mit der Präsenz eines polizeilichen Geistes, der Schlagstock mit dem Kreuz. Sie unterstützen einander bei der Urteilsfindung und schaffen Präzedenzfälle für die Sakralisierung der Macht.
Zeitgleich posiert TV-Moderatorin Olga Busowa auf dem Balkon ihres Hotels in Wolgograd im Badeanzug. Im Bildhintergrund zu sehen ist die Alexander-Newski-Kathedrale, doch Anklage gegen Busowa wurde bisher Gott sei Dank keine erhoben. In diesem Fall gilt die Regel, dass die Kirche einfach nur eine städtische Kulisse ist, dass das Heiligtum nicht in das Foto eingedrungen ist und keiner der Gläubigen Schaden genommen hat, zumindest nicht von strafrechtlicher Relevanz.
Wer diese Gläubigen eigentlich genau sind, bleibt ein Rätsel. Ohne Bastrykin Tipps geben zu wollen, wie er die Aufklärungsquote systematisch verbessern und zugleich auch die Bravheit der Bevölkerung erhöhen kann – aber: Fotos von halbnackten Menschen vor Russlands historischen Sehenswürdigkeiten, einschließlich Kathedralen, gibt es im Internet zu Tausenden.
Das Hauptproblem an der Sache ist, dass es keine klare Auflistung gibt, was jetzt neben Kirchen beziehungsweise mit Kirchen im Hintergrund verboten ist. Genauso wie es keine Antwort auf die Frage gibt, was für Formen der Verletzung religiöser Gefühle den Strafverfolgungsbehörden noch einfallen werden. Soll der öffentliche Verzehr eines Schaschliks während der Fastenzeit strafbar sein? Intuitiv würde man sagen, das wäre absurd, aber kann uns ein Experte erklären, worin sich ein Schaschlik in der Fastenzeit von einem Stringtanga vor einer Kathedrale unterscheidet? Und ob sich etwas ändert, wenn man vor einer Kathedrale während der Fastenzeit einen Schaschlik isst und sich dabei fotografieren lässt? Schreckliche, verdammte Fragen.
Die offizielle Haltung der Russisch-Orthodoxen Kirche scheint in diesem Kontext zu sein, dass das alles sehr notwendige, richtige und aktuelle Themen sind, die die Position der Kirche als geistliches Machtorgan stärken. Die biblische Geschichte von Jesus und der Ehebrecherin hat keine Gültigkeit: Die anonymen Gläubigen haben genug Steine, und schmeißen sie auf jedes Ziel entlang der schwankenden Linie des Ermittlungskomitees.
Es bleibt aber nicht bei den Kathedralen. Vor einem Monat wurde in der Oblast Tscheljabinsk ein Obdachloser festgenommen, weil er am Ewigen Feuer seine Kleidung trocknen wollte. Allem Anschein nach befindet er sich nach wie vor in U-Haft – offenbar das einzige Dach über dem Kopf, das der Staat ihm anzubieten hat. Oder auch das Beispiel des RGGU-Studenten Gleb Marjassow. Er hatte bei einer Protestaktion am 23. Januar im Alleingang „die Fahrbahn blockiert“ und dafür die berühmten zehn Monate Straflager aufgebrummt bekommen.
Es zeichnet sich grundsätzlich eine Tendenz ab, Angeklagte in minderschweren, pseudopolitischen Fällen zu Freiheitsstrafen zu verurteilen. Auch wenige Monate Straflager sind besser als nichts – das ist die Devise der Gerichte.
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Die offiziellen Hochrechnungen nach der Dumawahl 2021 sind wenig überraschend: Demnach erhielt die Regierungspartei Einiges Russland rund 50 Prozent der Stimmen bei der Listenwahl und 88 Prozent der Direktmandate, die kommunistische KPRF liegt mit rund 20 und vier Prozent auf Platz 2 dahinter.
Der Wahl ging eine massive Unterdrückung der Opposition voraus – vor allem seit den Solidaritätsprotesten für den inhaftierten Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr 2021. Im Vorfeld der Wahl hatten etwa die internationalen IT-Unternehmen Apple und Google Nawalnys App für das „kluge Wählen“ für User des Runet gelöscht – dem war unter anderem vorausgegangen, dass Strafverfahren gegen das Personal der beiden Techgiganten in Russland angedroht wurden.
Allein aufgrund der Tatsache, dass die Wahl über drei Tage abgehalten wurde und in sieben Regionen auch online abgestimmt werden konnte, war die Beobachtung sehr schwierig (s. dazu unser FAQ zur Dumawahl). Die unabhängige Wahlbeobachtungs-NGO Golos (die als sogenannter „ausländischer Agent“ gelistet ist) berichtet von knapp 2000 Beschwerden allein am Sonntag, dem dritten Wahltag. Zudem seien viele der Wählerinnen und Wähler sogenannte Bjudshetniki, also Mitarbeiter staatlicher oder staatsnaher Institutionen und Unternehmen, die vom Arbeitgeber zur Wahl gedrängt werden. Ähnliche Berichte finden sich in zahlreichen unabhängigen russischen, aber auch deutschen Medien (ausführlich zur Wahl etwa Spiegel Online).
Nach der Wahl ist vor der Wahl? Vor allem habe die Dumawahl 2021 gezeigt, welch große Rolle das Internet inzwischen spielt – und wie massiv die Überwachung und Zensur inzwischen sind, meint Kirill Martynow in der Novaya Gazeta. Er sieht die Dumawahl 2021 als massiven Einschnitt – nämlich als Beginn eines „chinesischen Szenarios“ in Russland.
(Eine Fußnote: Die Novaya Gazeta selbst wurde am Sonntag Opfer heftiger DDoS-Attacken, die Seite war lange Zeit nicht aufrufbar.)
In der Nacht auf den 16. September geschah etwas Historisches im russischen Internet (Runet): Große Provider fingen mit einem Mal an, GoogleDocs zu blockieren, eines der in Russland meistgenutzten Werkzeuge für die Arbeit mit Dokumenten. Millionen von Menschen in modernen Tätigkeitsfeldern – vom Marketing bis zur Bildungsbranche – nutzen es. Das Vergehen von Google bestand darin, dass Nawalnys Anhänger auf eben dieser Plattform die Liste zum „klugen Wählen“ veröffentlicht hatten: Empfehlungen zur Protestwahl.
Ein Gesetz, das der Staatsmacht die Grundlage einer solchen Sperrung liefern würde, gibt es nicht, doch das beunruhigt unterdessen niemanden mehr: Im Land wurde de-facto der Ausnahmezustand ausgerufen, der darauf abzielt, im Netz sämtliche Hinweise auf die politische Tätigkeit Nawalnys zu zensieren.
Zusammen mit Empfehlungen der Regierung an russische Internetanbieter, große DNS-Dienste nicht mehr zu nutzen, wirkt der Zuwachs an „Souveränität” im Runet wahrlich beeindruckend: Das Sperren von GoogleDocs war einerseits Angstmache und gleichzeitig eine Demonstration der neuen [Filter-]Fähigkeiten mittels Deep Traffic Inspection (DPI) der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor.
Im Land wurde de-facto der Ausnahmezustand ausgerufen, der darauf abzielt, im Netz sämtliche Hinweise auf die politische Tätigkeit Nawalnys zu zensieren
Den gesamten GoogleDocs-Content wegen eines einzigen Dokuments zu sperren – das ist eindeutig konträr zur Ideologie des modernen Internet, wo Unternehmen ihren Nutzern ermöglichen, von verschiedenen Orten aus gemeinsam an Projekten zu arbeiten. Dieses besondere Feature der Plattform, Materialien einer unbegrenzten Menge von Nutzern zur Verfügung zu stellen, mussten die Anhänger Nawalnys nutzen, nachdem Roskomnadsor auf Googles Web-App-Plattform appspot.com den Zugang zu ihrer Seite gesperrt hatte.
Über die Sperrungen des Roskomnadsor wurde eigentlich immer gelacht, aber was die Politik für die Massen angeht, sind sie wirkungsvoll: Der Durchschnittsnutzer versteht vielleicht einfach nicht, wo er trotz des Sperrens ganzer Sektoren wichtige Informationen finden und wie der das Internet so nutzen kann, dass er diese Sperren umschifft.
Der massive Funktionsausfall von GoogleDocs hat durchaus für Unmut gesorgt. Wie auch immer, noch am selben Tag wurde der Versuch, GoogleDocs stillzulegen, abgebrochen – der Dienst ist momentan ohne VPN verfügbar.
Parallel zu diesen Ereignissen fand eine Sitzung der Kommission des Föderationsrates zum Schutz der staatlichen Souveränität statt, an der auch Vertreter von Google und Apple teilnahmen. Die Veröffentlichung russischer Wahlinformationen auf internationalen Websites wurde von Parlamentariern rund um den berüchtigten Andrej Klimow als „ausländische Wahleinmischung” bezeichnet, und die US-Unternehmen wurden aufgefordert, für den Kreml sensible Informationen über das „kluge Wählen” für Nutzer zu sperren.
Wenn Sie darauf gewartet haben, wann das chinesische Szenario im Runet eintritt: Es hat begonnen
Die US-amerikanischen IT-Giganten waren und blieben während der letzten Jahre die wichtigsten Institutionen der freien Meinungsäußerung in Russland – es entsprach einfach ihren kommerziellen Interessen. Diesmal jedoch verliefen die Verhandlungen der Kommission erfolgreich: Google löschte die Nawalny-App aus seinem Store, Apple tat das gleiche und entfernte in Russland außerdem sein eigenes VPN-Pendant Private Relay, eine Funktion, mit der sich Roskomnadsor-Sperren umgehen lassen. Letzteres ist symbolisch bedeutsam: Zuvor hatte der Konzern Private Relay bereits für Nutzer in China entfernt.
Wenn Sie darauf gewartet haben, wann das chinesische Szenario im Runet eintritt: Es hat begonnen. Für die Großkonzerne ist es in totalitären Ländern zu gefährlich, auf Seiten der Nutzer zu sein, darum schränken sie dort die Funktionalität ihrer Produkte ein.
Laut der New York Times hat Google die Nawalny-App unter direkter Androhung von strafrechtlichen Verfahren gegen Google-Mitarbeiter in Russland aus seinem Play Store gelöscht. In dem Fall hat der Staat faktisch Vertreter des Unternehmens als Geiseln genommen – was dazu führen könnte, dass Google in Zukunft seine Präsenz in Russland auf ein Minimum reduziert.
„Etwas Größeres retten“ – nämlich den russischen Markt
Google ist auch noch in ganz anderer Hinsicht von der russischen Staatsmacht abhängig: Über ganz Russland sind Server der Infrastruktur Google Global Cache verteilt, welche unter anderem dafür sorgen, dass YouTube-Nutzer Videos ohne Verzögerung und in bester Qualität schauen können.
Der Versuch, mit der Regierung einen Kompromiss zu schließen, könnte für Google und Apple bedeuten, „dadurch etwas Größeres zu retten” – nämlich den russischen Markt (wir erinnern uns, dass Google den chinesischen Markt verlassen musste, jedoch eine Rückkehr versuchte). In diesem Sinne ist der Verlust einer konkreten App nicht so schlimm, denn die Nutzer hatten ja andere Möglichkeiten, um an die sie interessierenden Informationen zu kommen.
Doch der Präzedenzfall ist geschaffen. Indem die amerikanischen Konzerne begonnen haben, das Krokodil aus der Hand zu füttern, werfen sie sich ihm allmählich in Gänze zum Fraß vor, wie es scheint. Am 18. September, dem zweiten Wahltag, veröffentlichte Nawalnys Team ein Schreiben von Google, in dem das Unternehmen fordert, Dokumente [mit Wahlempfehlungen – dek] zum „klugen Wählen“ zu löschen, wegen einer offiziellen Anfrage des Roskomnadsor. Unser lustiges Runet, in dem man die Obrigkeit beschimpfen konnte (weil sie dort nicht unterwegs ist), steht vor dem Aus.
Et tu, Telegram?
Dass die amerikanischen Konzerne mit dem Kreml kooperieren, war für viele wohl keine große Überraschung (schließlich gilt: Business ist Business). Doch was viele russische Nutzer mitten ins Herz traf, war Pawel Durows Entscheidung, in der Nacht auf den 18. September den Telegram-Bot zum „klugen Wählen“ zu sperren. Seit 2018 wahrte sich Telegram den Ruf, eine Art libertäres U-Boot zu sein, das tapfer den Angriffen der Staatszensur ausweicht in den neutralen Gewässern der Netzprotokolle.
Das blinde Vertrauen gegenüber Durow ist ein interessantes Forschungsobjekt für Psychologen. Telegram ist ein höchst verschlossenes Business mit Investoren aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und aus Russland. Die Server des Projektes laufen auf proprietärem Code, der potentiell beliebige Backdoors und Sicherheitslücken beinhalten könnte. Institutionell sind das sehr schlechte Ausgangsbedingungen, um Telegram überhaupt irgendeine sensible Information anzuvertrauen.
Außerdem sind die Pläne zur Monetarisierung von Durows Unternehmen gescheitert. Also wird es möglicherweise nicht nur durch die Peitsche des Kreml eingeschüchtert (es besteht kein Zweifel daran, dass die neuen Möglichkeiten von Roskomnadsor Telegram das Leben schwer machen könnten), sondern es wird vielleicht auch durch das Zuckerbrot des Kreml gelockt: Durow hat bereits Erfahrung mit dem Verkauf von VKontakte an Staatsoligarchen, nun hat er gezeigt, dass er wieder in Kontakt mit den russischen Behörden steht und bereit ist, deren Forderungen zu erfüllen.
Fairerweise muss man erwähnen, dass es bisher keine anderen Hinweise auf eine Zusammenarbeit zwischen Durow und dem Kreml oder den russischen Geheimdiensten gab. Sollten letztere tatsächlich direkten Zugriff auf die Messenger-Kommunikation von Telegram erhalten, würde dies sofort publik, weil sie als Beweismittel in Strafprozessen verwertet würde. Dies würde zum Niedergang von Durows Unternehmen auf den internationalen Märkten führen.
Vielleicht hat sich Durow noch nicht festgelegt, auf welcher Seite er steht, wenn er herzzerreißende Texte darüber schreibt, dass er den Bot für das „kluge Wählen“ gesperrt hat, weil in Russland vor der Wahl angeblich Tage der „Stille“ anbrechen (tatsächlich war das in diesem Jahr nicht der Fall) und dass für ihn „dieses Vorgehen legitim“ und „die Zukunft nebelig“ ist. Telegram legt seinen Status als Kämpfer für Meinungsfreiheit in Russland ab, und man kann mit den Menschen nur mitfühlen, die so an die „libertären Kräfte des Guten“ geglaubt hatten.
Zerstörung ganzer Ökosysteme von Apps
Tatsächlich ist die Zukunft klar und sie ist bereits angebrochen. Das souveräne Runet ist mit der Dumawahl Wirklichkeit geworden und wir müssen nun damit leben. Hier sind alle Arten willkürlicher Sperren möglich, die sofortige Zerstörung ganzer Ökosysteme von Apps auf Geheiß von Behörden, – und die US-Konzerne liefern ein Rückzugsgefecht zum Schutz ihrer Geschäftsinteressen. Die westliche Presse wird Google unter Druck setzen, die Börsen werden die Bereitschaft des Unternehmens, den russischen Behörden zu helfen, wahrscheinlich auch nicht zu schätzen wissen.
Der Schlüssel zur Zukunft liegt jedoch bei den russischen Bürgern, die dem Staat einen Schritt voraus sein und sich vor der Zensur schützen müssen. Junge Menschen posten dieser Tage die Listen des „klugen Wählens“ als Rezension des Videospiels Civilization V auf Steam oder als Fan-Fiction auf Ficbook.
Der aktuelle Slogan lautet: Proletarier, hier ist dein VPN, nächster Halt ist das dezentralisierte Web.
Rund 177.000 Menschen in Russland leben in geschlossenen psycho-neurologischen Einrichtungen, im psichonewrologitscheski internat (психоневрологический интернат), kurz PNI, oder einfach: Internat. Die meisten von ihnen werden dort sterben. Jelena Kostjutschenko verbrachte mehrere Wochen in einem dieser Internate, dekoder bringt Auszüge aus ihrer Reportage in der Novaya Gazeta.
„Verrecken sollst du! Hauptsache, du verreckst! Verreck, du Sau!“ Das kommt aus dem Zimmer gegenüber von meinem. Aglaja – eine Alte mit einer Rabennase und dunklen Glubschaugen – wünscht allen den Tod. Das sind alle gewohnt. Meine Station ist Station 1. Sie ist riesig und zweigeteilt, in einen Frauen- und einen Männerflügel. In meinem leben 41 Frauen. Die Lichtschalter sind draußen vor dem Zimmer. Es gibt weder Türklinken noch Fenstergriffe. Und keine Steckdosen, nicht in diesem und nicht in anderen Zimmern. Es gibt nur die Steckdose für den Fernsehapparat, unter Aufsicht der Krankenschwester. Ohnehin hat niemand etwas aufzuladen: Auf 41 Frauen kommen lediglich drei Handys, und die bewahrt der Sozialarbeiter auf. Sie werden dienstags und freitags ausgegeben, nach dem Kaffeetrinken, für eine halbe Stunde. Es wird früh aufgestanden – um sieben sind schon alle auf den Beinen. Ich würde gern rauchen. An der Wand hängt der Rauchplan: 9:30, 13:30, 16:30. Pro Tag kriegt man fünf Zigaretten. Die Männer kriegen zehn, dafür haben die keine „Ausgabestelle“ – ein Zimmer mit Teewasser. Ich nähere mich dem vergitterten Balkon. Draußen steht schon Olessja, eine ehemalige Lehrerin für Russisch und Literatur. Sie hat Schizophrenie. Sie redet in Sprichwörtern und Redensarten. Ich ziehe mir eine Jacke an und trete hinaus. Es ist kalt. Die Frauen rauchen in ihren Hausmänteln. Zwickmühle-22: Rauchen ohne Oberbekleidung ist untersagt, die Oberbekleidung befindet sich jedoch hinter Schloss und Riegel und wird nur nach Plan ausgehändigt. Oberbekleidung darf nicht im eigenen Zimmer aufbewahrt werden. Rauchen außerhalb des Rauchplans wird bestraft. Man riskiert einen ganzen Tag ohne Zigaretten, und das gilt nicht nur für die Übeltäterin, sondern für die ganze Station.
Ich stecke mir eine von meinen Zigaretten an. Alle anderen rauchen LD – stinkende Kippen aus einer roten Packung. Nicht alle haben Zigaretten, ein paar Omas zappeln in der Hoffnung, dass sie mal ziehen dürfen. Sie haben ihre schon aufgeraucht, und einen Vorrat anzulegen, schafft hier keine. Die Omas werden ignoriert. Die Asche wird nicht abgeklopft, sondern mit den Fingern abgestreift. „Wir sind wie politische Häftlinge“, sagt Olessja. „Denn unsere Haftzeit ist lebenslänglich.“ Eine halbe Stunde vor dem Frühstück stellen sich alle vor die versperrte Tür. Warten. Eine kahlgeschorene Frau mit einem einzigen Zahn im Mund hockt sich hin und sieht zu Boden. Dann schaue ich mir die Leute endlich genau an. Nur Olessja hat lange Haare. Weil Olessja manchmal auf der Bühne steht und lange Haare schön sind und den Gästen des Heims gefallen. Ein paar kinnlange, ein paar Kurzhaarschnitte, der Rest, auch die Omas, kahlgeschoren.
Die Frauen sehen mich genau an. ‚Was du für schöne Zähne hast. Was für schöne Zähne es gibt‘, sagt schließlich eine.
Nicht alle gehen in die Kantine. Acht Personen frühstücken auf der Station. Die Bettlägerigen, die Blinde und jene, die wegen Rabiatheit das Recht darauf, in die Kantine zu gehen, eingebüßt haben. Die Türen gehen auf, und alles strömt die Treppe hinunter. Drei Frauen bleiben an der Wand stehen, um auf Männer aus dem Trakt gegenüber zu warten. Auch deren Türen öffnen sich, und die Männer strömen heraus. Die Paare küssen sich rasch und gehen gemeinsam bis zur Kantine. Eine kurze Zeit des Zusammenseins. So wie bei den Spaziergängen im Garten (wenn sie Glück haben und die Männer gleichzeitig mit den Frauen hinaus dürfen) und in der Diskothek – jeden Mittwoch.
Beziehungen nennt man hier „befreundet sein“.
Die Männer und Frauen schicken einander Tütchen und Briefchen. In den Tütchen ist Kaffee (eine absolute Kostbarkeit) oder Tee (die zweite Währung hier, wird zu einem Kurs von fünf Säckchen Tee für eine Zigarette gewechselt) und kleine Mitteilungen. Wer „befreundet“ ist, macht einander Essensgeschenke. Ich versuche, die Butter zu streichen, aber die Butter ist keine Butter. Ich esse die andere Brotscheibe und trinke etwas Braunes – ohne Aroma, aber warm und süß.
Der Brei riecht eindeutig nach Chlor. ‚So riechen Hygiene und Gesundheit‘, sagt der Oberarzt im Vorbeigehen. Offenbar nimmt er es mir übel, dass ich den Brei nicht esse.
Dieses PNI (Psychoneurologisches Internat) ist stolz auf seine Küche. Ich bekomme eine kleine Birne und beiße hinein.
Als ich zurückkehre, kommen die Frauen der Reihe nach in mein Zimmer und legen mir Birnen auf den Tisch. Das ist eine Art, Freundschaft zu schließen. Sie wollen mit mir befreundet sein. Ich gehöre zur Außenwelt, ich habe Zigaretten und ein Handy.
Die Krankenschwester teilt die Tabletten aus. Die Frauen bilden eine Schlange. Sperren die Münder auf wie junge Krähen. Wenn man dabei erwischt wird, dass man die Tablette nicht schluckt, bekommt man sie das nächste Mal in Wasser aufgelöst. Weigert man sich, die Lösung zu trinken, kriegt man Spritzen. Wenn man sich dagegen wehrt, kommt man auf die K. oder I. – in die Klapse.
Eine beleibte Frau geht an der Schlange vorbei und stellt sich ganz vorne hin. Sie heißt Nastja. Sie ist fröhlich und stark – die Chefin der Station. Sie hat die Fernbedienung vom Fernsehapparat. Den Sender wechseln kann nur sie und der, dem sie die Erlaubnis erteilt.
Sie verwendet nie ihr eigenes Shampoo, sondern nimmt es einfach von einer anderen, wie es ihr gerade gefällt. Vor der Neujahrsfeier hat sie den Schwächsten die Bonbons weggenommen und bei allen, die wollten, gegen Zigaretten eingetauscht. Dafür ist sie der Verwaltung gegenüber loyal, und wenn jemand überwältigt und festgehalten werden muss, macht das Nastja, Nastja ist stark. Während meiner Anwesenheit müssen die Pflegerinnen selber die Böden wischen, statt, wie üblich, einer Bewohnerin eine Zigarette dafür zu zahlen. Eine Zigarette für einen geschrubbten Flur und saubere Klos. Alleinsein gibt es nicht. In jedem Zimmer schlafen drei oder vier Personen. In der Toilette sind zwei Kabinen, wo immer irgendjemand sitzt. Die Klotüren haben Riegel, aber niemand schließt ab. „Wir sind es gewohnt.“
Die Frauen warten nervös auf ihre Zigaretten. „Die haben uns vergessen, einfach vergessen.“ Endlich kommt die Krankenschwester, die die Pflegedienstleitung innehat. Die Frauen umringen sie. Sie gibt jeder zwei Zigaretten in die zitternden ausgestreckten Hände.
Endlich dürfen wir aus dem Haus hinaus. Ob wir spazieren gehen? Das entscheidet die Oberschwester. Die Oberschwester mag keinen Niederschlag, kann nasse Schuhe und Jacken nicht leiden. Am Morgen hat es geregnet, aber auch schon wieder aufgehört, nur, was ist mit den Pfützen? Was sagt die Oberschwester zu den Pfützen? Wir gehen spazieren! Mit den Männern!
In der Garderobe wird gedrängelt. Jacken gibt es genauso viele wie Frauen, nur sind nicht alle gleich gut: Hier ist der Reißverschluss kaputt, da fehlen die Knöpfe. In großer Größe gibt es nur eine Jacke, aber groß sind drei der Frauen. Schließlich reißt eine die Jacke an sich und geht weg, die anderen werfen sich Regenhäute über und hoffen, dass die Krankenschwester das nicht merkt und sie hinauslässt. Auch Mützen gibt es nicht genug, und manche wickeln sich Kopftücher um.
Ein verschließbarer Knauf öffnet die Tür zur Treppe. Die Treppe führt in den „Garten“, einen kleinen Auslaufplatz zwischen den einzelnen Gebäuden und einer Mauer. Der Ausgang aus dem Hof ist vergittert und abgesperrt. Zwei Lauben, eine davon zum Rauchen, und acht Birken. 124 Schritte im Umfang.
Manche beginnen, im Kreis zu gehen.
Wir setzen uns in die Raucherlaube – wir sind reich. Aus dem anderen Trakt kommen die Männer heraus. Shenja ist dringeblieben, und Olessja schäumt vor Wut. Sie wendet sich an Jura: „Sag ihm, ich verlasse ihn. Kaffee hab ich ihm gegeben! Und den trinkt er jetzt mit seinen Kumpels, oder was? Will er mich auf die Palme bringen? Er könnte doch mal raus und Luft schnappen. Ich persönlich hab die Nase voll davon, die Welt durch ein Gitter hindurch zu sehen. Was glaubt er denn – dass ich ihn um Kippen anschnorre? Hab ich doch selber! Bei Zigaretten denkt er nur an sich selbst, die sind ihm mehr wert als ich.“
Jura nickt und küsst Marina. Marina hat bleigraue Haare bis zu den Schultern und rote Wangen. Stimmen haben ihr gesagt, dass sie gefüttert wird und Kinder über Kinder kriegen wird. Die Stimmen sagten, anstelle von Milch würden Joghurt und gezuckerte Kondensmilch aus ihren Brüsten fließen.
Jura schiebt ihr die Hand zwischen die Beine. Marina sagt: „Lass uns lieber rauchen.“ Jura nickt und holt zwei Zigaretten heraus – eine für sie, eine für sich. Ich denke, dass die Männer hier genauso wie draußen mehr finanzielle Möglichkeiten haben. Jura fasst Marina an den Busen, Marina seufzt verlegen. „Gerade, dass er dich nicht ***“, sagt Olessja. „Im Sommer wird er dich ausziehen und ***.“ Daneben versucht eine Alte, sich von einer anderen eine Zigarette zu leihen: „Ich geb sie dir zurück. Ich schwöre bei Jesus Christus, ich geb sie dir beim Abendessen, lass mich nicht hängen.“
Auf jeder Bank sitzt ein Pärchen. Wer keinen Platz hat, spaziert im Kreis herum. Man hat die Wahl: im Uhrzeigersinn spazieren oder gegen den Uhrzeigersinn.
„Na gut, sag ihm doch nicht, dass ich ihn verlasse. Jur, hörst du? Sag ihm: Olessja ist beleidigt, weil du nicht herausgekommen bist.“ Von der Tür ein lautes Rufen – der Auslauf ist beendet. 50 Minuten Außenwelt sind vorüber. Wir steigen die Treppe hoch. Ein Mann küsst eine Frau, schon auf der Station, eine Sanitäterin stößt ihn weg, und er macht sich schnell davon.
Im Fernsehen sieht man einen Verrückten, der einer Frau ein Messer an den Hals setzt, die Omas wiehern. Werbepause. Kaffeemaschinen, schöne Menschen, Schmuck. Nachrichten.
Die hinkende Katja (Ingenieurin in einem Radiowerk, Schizophrenie, seit 26 Jahren im Heim, Selbstmordversuch, aber nur die Beine gebrochen und für unmündig erklärt worden) fragt: „Lena, wenn Putin spricht, sieht er dann alle an? Mir kommt es vor, er sieht nur mich an. Ist das meine Krankheit? Oder ist das wirklich so?“
Mittagessen. Es gibt warme Suppe, Leber, Salat und Nudeln. Die Leute essen schnell, stopfen das Essen regelrecht in sich hinein. Dann verstehe ich den Grund für diese Eile: Unten gibt es ein gratis Telefon, davor eine kurze nervöse Schlange. Von hier aus kann man nur innerhalb der Stadt auf Festnetz anrufen. Sanitäter treiben die Insassen zurück auf die Station, bevor sie telefonieren können – es ist Zeit, die Türen abzusperren.
Wieder werden die Böden gewischt, die Pflegerin schwingt wütend ihren Schrubber. Auch das dritte Mal Wischen wird ihr Job sein, spätabends.
Ljuba beeilt sich, Rosa zu füttern, aber aus einem anderen Zimmer ertönt ein klägliches „Ljubotschka“. Eine bettlägerige Greisin bittet sie, ihr die Pampers zu wechseln.
‚Na warte, du Miststück, ich lass dich die Scheiße fressen‘, sagt Ljuba, während sie der Alten zwischen die Beine fasst. ‚Wo ist die nass? Da geht nicht mal was durch.‘
Für die Bettlägerigen sind drei Pampers pro Tag vorgesehen. „Wenn sie sehr nass sind, wechsle ich sie, oder wenn sie angeschissen sind. Und einmal abends, nach dem Essen. Sie sind stumpf, meistens sagen sie nichts. Man muss kontrollieren – morgens, mittags, abends. Aber die ist trocken, wieso lügt sie? Auch wenn sie eingepinkelt hat, kann sie ja noch mal reinmachen.“ „Tablettenausgabe!“, schreit eine auf dem Flur. Die Frauen stehen sofort auf und gehen hin.
Nach den Tabletten bekommen die Frauen noch zwei Zigaretten und gehen auf den Balkon hinaus. Die morgendliche Nervosität ist weg, und sie überlassen den Alten ein paar Züge.
Sie reden über Selbstmorde und Selbstmordarten. Sich unter den Bedingungen des Heims auf Nummer sicher umzubringen, ist keine leichte Aufgabe. Aus der Toilette hört man Schreie. Eine Krankenschwester läuft hin, aber noch bevor sie da ist, kommt Nastja mit zufriedener Miene heraus, hinter ihr entwischt eine dünne Frau, die am Morgen von einer Pflegerin gejagt wurde. „Das war ja Paramonowa“, seufzt die Schwester. „Paramonowa! Ich werde dich gleich dem Arzt zeigen!“
„Hat geschrien wie am Spieß“, lachen die Alten.
Nastja wird von Mädchen umringt und lacht. „Ich habe auf dem Klo gesessen. Und die hat angefangen, mit ihren Händen vor meiner Nase rumzufuchteln. Da hab ich sie eben ***! Sie ist mir schon am Nachmittag auf die Pelle gerückt. Irgendwann bring ich dich um ey!“, sagt Nastja.
‚Sie hat mir ins Gesicht geschlagen!‘, sagt Paramonowa zur Krankenschwester und weint.
„Du provozierst aber auch alle! Und kein Mensch schlägt dich“, sagt die Schwester, obwohl Nastja durch den ganzen Flur posaunt. „Die schwarzen Raben haben den weißen zerhackt!“, sagt Paramonowa und flattert mit den Armen. „Na, geh auf dein Zimmer!“, sagt die Schwester und geht weg.
Sie kehrt mit einer anderen Schwester zurück, die eine Spritze in der Hand hält. Paramonowa soll eine Spritze bekommen, weil sie „aufgeregt“ ist. Jede hat in ihrem Behandlungsblatt stehen, dass sie bei Aufregung eine Spritze bekommt. Bei Paramonowa ist es Aminasin//Chlorpromazin.
„Das sind Vitamine“, sagt die Krankenschwester. „Ich will keine Spritze, ich gehe!“ „Auf ärztliche Anordnung“, sagt die Schwester. „Gegen deine Grunderkrankung.“ „Ich bin nicht krank!“, ruft Paramonowa und schlüpft aus dem Zimmer auf die Toilette.
„Ruf einen Sanitäter“, sagt die Schwester zur Pflegerin. Diese nickt. Der Sanitäter, ein kräftiger Kerl, stellt sich vor die Toilettentür und schielt zu mir rüber. „Ich kann ihr doch nicht auf die Toilette nach.“ „Sie wird ja nicht ewig drin bleiben. Warten wir“, sagt die Schwester mit der Spritze und stellt sich ebenfalls an die Wand. „Sie hat sich auch in der Kantine schlecht benommen. Und Nastja geschlagen“, sagt die zweite. Paramonowa kommt aus der Toilette heraus. Beäugt den Sanitäter und die Krankenschwestern.
„Ich komm schon von selber. Ich komme schon“, sagt sie. Sie kommt. Hinter ihr die Frau mit der Spritze. Der Sanitäter bleibt in der Tür stehen. Als ich einen Blick in das Zimmer werfe, liegt Paramonowa zugedeckt da, das Gesicht zur Wand. Sie rührt sich nicht.
Was ist Unmündigkeit
Unmündigkeit ist die Unfähigkeit eines Staatsbürgers, durch seine Handlungen staatsbürgerliche Rechte zu erlangen und auszuüben, sowie staatsbürgerliche Pflichten auf sich zu nehmen und sie zu erfüllen. So steht es im Gesetz. Kinder sind unmündig. Ein erwachsener Mensch, der aufgrund einer psychischen Störung seine Handlungen nicht versteht oder nicht steuern kann, kann per Gericht entmündigt werden. Das Gericht gibt ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag und stimmt meist mit dessen Ergebnissen überein.
Die Anwesenheit der betreffenden Person bei Gericht ist obligatorisch. Es reicht jedoch ein ärztliches Attest, dass die Person „aufgrund ihrer psychischen Verfassung nicht in der Lage ist, an der Verhandlung teilzunehmen“, und ihr Schicksal wird ohne ihr Beisein besiegelt.
Für die entmündigte Person wird ein Vormund bestimmt. Sie verliert einige Rechte: ihr Recht, über Eigentum zu verfügen, ihr Wahlrecht, ihr Recht auf Eheschließung und die Erziehung von Kindern, ihr Recht, Anträge an Behörden zu stellen, Eigentum zu vererben, Geschäfte abzuschließen oder Kinder zu adoptieren. Ohne ihre Zustimmung kann ihre Ehe geschieden, können ihre Kinder zur Adoption freigegeben werden und ihre persönlichen Daten verarbeitet werden. Alle anderen Rechte bleiben bestehen. Was passiert mit einer entmündigten Person in einem PNI?
Das Heim ist zugleich Vormund und Dienstleister. Es ist sowohl Auftraggeber als auch Ausführender. Das eröffnet unglaubliche Möglichkeiten.
Beginnen wir beim Geld. Auf den persönlichen Konten der 404 Entmündigten, die hier im Heim leben, liegen 98.956.665 Rubel [etwa 1,13 Mio. Euro – dek]. Das sind ungefähr 245.000 [rund 2800 Euro – dek] pro Person. Entmündigte bekommen in der Regel eine Behindertenrente, und diese Summe wächst. 75 Prozent der Rente behält das Heim – für den „Kundenservice“. Die restlichen 25 Prozent darf das Heim zum Wohle ihres Mündels verwenden – mit Erlaubnis der Pflegschaftsbehörde.
Warum hat Ljuba dann keine Batterien im Player? Warum müssen die Bewohnerinnen dann für eine Extrazigarette den Boden wischen? Ganz einfach: Die tatsächlichen Bedürfnisse des Mündels bestimmt ja ebenso das Heim. Natürlich hieß es mir gegenüber, die Insassen müssten nur darum bitten, und der Sozialarbeiter stellt einen Antrag, woraufhin das Gewünschte innerhalb maximal eines Monats bei der jeweiligen Person eintreffe. Praktisch ist das unmöglich. Auf 436 Bewohner und Bewohnerinnen kommen sieben Sozialarbeiter. Auf manchen Stationen wurden sie seit Jahren nicht gesehen. Einen direkten Draht zu den Sozialarbeitern haben die Bewohner nicht. Die Bitte muss über eine Krankenschwester erfolgen, alles Weitere liegt in deren Ermessen.
Tatsächlich sind die Sozialarbeiter damit beschäftigt, sogenannte Lebensmittelpakete einzukaufen und zu verteilen. Mit Tee, Keksen, Zucker, Sprudel und Dauerwurst. Für privilegierte Bewohnerinnen – jene, die dem Personal helfen, auf den Stationen „Ordnung zu halten“ – darf es auch etwas anderes sein, etwa Schinken oder Käse. Etwas einfacher ist das alles in der Rehabilitationsabteilung. Dort sind die Sozialarbeiter physisch vor Ort, und mit Genehmigung der Stationsleitung kann man sie zum Beispiel darum bitten, einen Player zu kaufen.
Wie viel kosten diese Lebensmittelpakete? Kein Bewohner weiß das. Wie viel bleibt jedem von seiner Rente? Auch das weiß keiner. Wer nach seiner Rente fragt (wen soll man auf einer geschlossenen Station überhaupt fragen?), kann zu hören kriegen, „wir verlegen dich“. Es gibt immer einen Ort, an dem es schlimmer ist, es gibt die 3-A [die Station mit der höchsten Stufe der Sicherheitsverwahrung], es gibt die psychiatrischen Anstalten, das wissen alle. Aus demselben Grund haben die Leute auch keine Mobiltelefone. Die Juristen des Heims sehen keine Notwendigkeit, das Risiko einzugehen, mit einer entmündigten Person einen Handyvertrag abzuschließen. Ein Handy kann nur von Angehörigen geschenkt werden.
Dasselbe gilt für Bargeld. Die Entmündigten bekommen nie welches zu Gesicht und geben nie welches aus. Auch das eine Zwickmühle: Möchte man seine Entmündigung aufheben, wird man vor Gericht auf jeden Fall gefragt, wie man Geld abhebt, wie man die Miete bezahlt, was ein Busticket kostet und wie viel der Milchpreis im Laden beträgt. Der Weg in die Außenwelt bleibt den Entmündigten verwehrt. Ich habe eine Frau getroffen, deren größter Traum es war, zum nächsten Markt zu fahren (drei Häuserblocks vom Heim entfernt), um Schuhe anzuprobieren und zu kaufen.
Wer entmündigt ist, darf das Heim nicht mehr verlassen. Außer, es findet sich draußen ein anderer Vormund.
Nach Meinung des Oberarztes (er ist neu und gilt als progressiv) ist das Heim berechtigt, für seine Bewohner buchstäblich alles zu bestimmen. Weil ein Entmündigter seine Handlungen nicht lückenlos verantworten kann – der Vormund weiß es besser.
In den Krankenakten aller hier Wohnenden gibt es ein wunderbares Beispiel für diesen Ansatz – eine Zustimmung zur Behandlung, unterschrieben von der Heimleitung. Die Direktion ist „informiert über die Art der psychiatrischen Störung, über die Ziele, Methoden und Dauer der Behandlung sowie über das Schmerzempfinden, mögliche Risiken, Nebenwirkungen und die zu erwartenden Ergebnisse“ und ist mit absolut allem einverstanden. Das ist gegen das Gesetz, das vorschreibt, dass die betreffende Person informiert werden muss – doch das passiert nicht. Die Leute brauchen nicht zu wissen, welche Tabletten sie kriegen und was ihnen gespritzt wird. Die Frauen werden nicht gefragt, ob sie eine Abtreibung wollen, und erfahren es nicht einmal, wenn eine Sterilisation vorgenommen wird. Viele kennen ihre Diagnosen nicht (und trauen sich nicht, danach zu fragen). Ich habe eine junge Frau getroffen, die mit 26 Jahren zu menstruieren aufgehört hat. Sie wurde untersucht, und etwas wurde in ihre Krankenakte eingetragen, aber erklärt wurde ihr nichts, und sie hatte Angst nachzufragen. Warum traut man sich nicht zu fragen? Eine Frage kann einem als Unzufriedenheit ausgelegt werden. Und jede Unzufriedenheit kann bzw. wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Verschlimmerung gewertet – und das heißt Spritze oder 3-A oder Psychiatrie, je nach Schweregrad der Handlung.
Auch das ist eine Spielart der Hölle: die Unmöglichkeit, sich nicht wohl zu fühlen, die Unmöglichkeit, zornig zu werden oder zu weinen, die Unmöglichkeit, Gemeinheiten und Grausamkeiten beim Namen zu nennen. Will man sich selbst schützen, muss man lächeln oder zumindest „ausgeglichen“ bleiben – gleichgültig und ruhig, egal, was sie einem antun oder mit anderen machen.
In ihren Interpretationen von Unmündigkeit nutzen die Mitarbeiter sämtliche Spielräume aus. Entmündigte können die Länge ihrer Haare nicht selbst bestimmen – so die Meinung der Heimfriseurin, einer netten Dame mit freundlichem Lächeln, die Frauen wie Männern fraglos die Köpfe rasiert.
Entmündigte können nicht entscheiden, was sie in ihren Nachtkästchen aufbewahren – so die Meinung der Pflegerinnen. Entmündigte können den Boden wischen oder Waren abladen, können dafür aber kein Gehalt beziehen – so die Meinung der Heimjuristen. Entmündigte haben kein Recht, sich an den Direktor, ihren unmittelbaren Vormund, zu wenden – so die Meinung der Sozialarbeiter, die den Querulanten mit „Verlegung“ drohen. Nina Bashenowa wurde während eines Krankenhausaufenthalts entmündigt. Sie sagt: „Ein Mann hat mir erklärt, was Unmündigkeit ist. Mir wurde klar, dass ich alles verloren habe. Das Leben hat überhaupt keinen Sinn mehr. Ich habe keinerlei menschliche Rechte mehr.“
‚Das war ein Schlag. Angst stieg in mir hoch. Angst, nicht mehr als Mensch zu gelten. Dass jeder sagen kann: ‚Wer bist du denn? Niemand bist du.‘ So hab ich das verstanden. Und im Grunde stimmt das auch.‘
Rehabilitationsabteilung
Hier wohnen 49 Menschen, die großes Glück hatten. Das ist die freieste Abteilung des Heims. Die Tür wird nur nachts zugesperrt. Daher kann man die Heimbibliothek aufsuchen (eigenständig, ohne Begleitung, inklusive Computer), den Fitnessraum nutzen oder Tennis spielen. In der Abteilung gibt es eine Dusche, die allen offensteht, eine Küche, und man kann sich Geschirr zum Kochen ausleihen. Zigaretten bekommt man alle zwei Tage eine ganze Packung. In einem Aquarium leben drei lebendige Rotwangen-Schildkröten – die sind zwar bissig, aber egal. Der Abteilungsleiter ist kein Psychiater, sondern eine Psychologin, mit der man reden kann. Die Rehabilitation hat ihren Auslauf nicht in einem geschlossenen Hof mit 124 Schritten Umfang, sondern vor dem Haus. Das Gebäude ist lang. Man kann da richtig spazieren gehen. Die Abteilung ist gemischt, wenn auch Männer und Frauen getrennt schlafen. Man kann auf dem Sofa sitzen und kuscheln, man kann schmusen – bloß nicht vor den Augen der Krankenschwester –, man kann sogar „die Gelegenheit nutzen“.
Die Kehrseite des Glücks: permanente, unbezahlte Arbeit. Die Mädels schrubben die Böden im ganzen Gebäude, arbeiten in der Wäscherei, die Jungs laden Kisten mit Lebensmitteln ab und schieben und waschen Rollstuhlfahrer. In der Rehabilitation können Mitarbeiter aller Stationen „Leute ausborgen“. Ein paar wenige mündige Arbeitsfähige sind zu einem Viertel angestellt, alle anderen arbeiten – besser gesagt: „durchlaufen eine Arbeitsrehabilitation“ – für das Recht, im Paradies zu sein.
Die Rehabilitationsabteilung wurde auf Erlass des Gouverneurs 2001 erschaffen. Sie soll die Heimbewohner auf ihre Entlassung vorbereiten. Seitdem (also in den letzten 20 Jahren) sind vier Personen „in die Freiheit“ gegangen. Eine begann zu trinken und starb, mit einem riss der Kontakt ab, die anderen beiden sind verheiratet und gehen arbeiten. Wanja lebt seit zwei Jahren im Heim. Er ist 26 Jahre alt. „In Freiheit“ hat er eine Lehre als Schweißer abgeschlossen und gearbeitet.
Ich gebe seine Geschichte detailgetreu wieder. Die Grenze zwischen Freiheit und Heim ist extrem dünn.
Als Wanja 15 war, starb seine Mama. Zwei Jahre später starb auch sein Vater – er hatte nach dem Tod seiner Frau zu trinken begonnen. Dann starb auch noch die Großmutter. So blieb Wanja allein zurück. Er besaß einen Anteil an der Wohnung, in der er wohnte, die Einzimmerwohnung seines Vaters und die Dreizimmerwohnung seiner Oma. Aber nicht lange. Denn Mamas Schwester trat auf den Plan – eine Maklerin.
Die Tante bat ihn, seinen Anteil an der Wohnung ihr zu überschreiben – ihre Tochter wollte eine Hypothek aufnehmen: „familiäre Unterstützung“ war gefragt. Wanja willigte ein. Dann musste die Dreizimmerwohnung verkauft werden, um eine Sanierung der Einzimmerwohnung zu finanzieren. Auch da stimmte Wanja zu. Es folgte eine komplizierte Geschichte mit dem Kauf einer Datscha, dem Verkauf der Datscha, dem Verkauf der Einzimmerwohnung und dem Übergang der neuen Wohnung in den Besitz der Tante.
Wanja bekam von diesem Immobilienhandel kaum etwas mit. Nach dem Tod seiner ganzen Familie war er „entgleist – rauchte Spice, nahm Drogen“. Er erinnert sich, dass er zugedröhnt getanzt und ein fremdes Auto zu Schrott gefahren hat. „Dann hab ich Harry Potter und die Kammer des Schreckens gesehen. Und dachte – womöglich gibt es den Basilisken wirklich? Ich hatte einen richtigen Horrortrip. Und landete auf der Psychiatrie. Von da an wurde ich immer wieder eingeliefert. Mal sah ich Vampire, mal sonst was. Mir wurde Schizophrenie diagnostiziert. In dem Krankenhaus gab es einen Arzt, mit dem sich die Tante unterhielt. Er riet ihr: ‚Entmündige ihn und steck ihn ins Heim.‘ Genau das machte sie. Am Anfang kam ich auf 2-D. Gleich auf den ersten Blick hatte ich genug gesehen. Ich sagte: ‚Was soll das, hol mich raus.‘ Aber sie so: ‚Ich kann das nicht verantworten. Womöglich stellst du was an, dann geh ich wegen dir in den Knast.‘ Manchmal besucht sie mich. Die Wohnung? Ist glaub ich vermietet. Wieso fragen Sie nach der Wohnung?“
Seit Wanja keine Drogen mehr nimmt, sind die Halluzinationen weg. Trotzdem nimmt er weiter Medikamente: Cyclodol, eine halbe Haloperidol und abends zwei Sonopax. Von den Präparaten blinzelt er oft, aber das ist er „schon gewohnt“. Die Stationsärzte zweifeln an Wanjas Diagnose. Haben es aber nicht eilig, die Schizophrenie zu revidieren und seine Mündigkeit wiederherzustellen – mit der Maklertante prozessiert es sich leichter, wenn Wanja entmündigt ist.
Wanja geht mit Nina – das ist die, die im Prinzessinnenkleid gesungen hat, die durch ihre Entmündigung „alles verloren hat“. Sie ist schon ewig im Heim: 15 Jahre. In dieser Zeit hat sie ein Kind verloren, durch eine Abtreibung, zum Glück ohne Sterilisation, Ausschabung in einem frühen Stadium, „sie haben mich nicht aufgeschnitten“. Nina träumt davon, eines Tages mit Wanja in einem eigenen Haus zu wohnen. „In meinen Garten zu fahren und einfach da zu leben. An der frischen Luft, mit einem traditionellen Ofen im Haus. Sechs Ar Grund, eine eigene Banja. Seit 15 Jahren weiß ich nicht, wie es da draußen aussieht. Natürlich werde ich Männerhände brauchen. Wanja ist noch jung, der kann das noch nicht. Oder schaffst du das, Wanja?“ Auch hier träumt man von ganz normalen Dingen, denke ich bei mir.
Was verbindet die Menschen, die im PNI wohnen? Was verbindet Tjoma und Sweta, Wanja und Dima, die Frauen aus der Station Nr. 1, die Frauen, die keine Kinder mehr bekommen können? Nicht die Diagnosen sind es – die sind ganz verschieden, und offenbar stimmen nicht alle. Was sie verbindet, ist, dass ihre Angehörigen sich von ihnen abgewandt haben. Ihre sozialen Verbindungen sind abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Wenn die Menschlichkeit verschwindet, bleibt nur mehr der Staat.
Mein Staat ist das PNI. Nicht die Impfung mit Sputnik-V, nicht die Olympiade, nicht die Raumfahrt. Mein Staat ist hier, ich sehe sein Gesicht.
Was denke ich nach zwei Wochen PNI?
Dass ich nur an der Oberfläche der Hölle gekratzt habe.
Wir befanden uns unter speziellen Bedingungen im Heim. Hinter dem Zaun, dessen Vorderseite mit lustigen Rhomben verziert ist, galten für uns besondere Regeln. Gemäß den Vereinbarungen, die die Novaya Gazeta mit der Heimleitung getroffen hat, darf ich weder die Anstalt noch die Region nennen. Die Namen der Personen, die dort eingesperrt sind oder arbeiten, musste ich ändern.
Dieses Heim wurde kürzlich 50 Jahre alt. Nach Meinung von Freiwilligen und des hiesigen Sozialministeriums ist dieses Internat weder schlecht noch gut. Es ist Durchschnitt. Normal.
In den Psychoneurologischen Internaten Russlands leben derzeit 155.878 Menschen. In speziellen Kinderheimen wohnen 21.000 Kinder, denen das PNI blüht. Jeder 826. Russe verbringt und beendet sein Leben im Heim.
Am 1. September beginnt in Belarus wie in vielen anderen ehemaligen Sowjetrepubliken traditionell die Schule. „Der Tag des Wissen“ (russ. Den Snanii), an dem die Schulanfänger feierlich eingeschult werden und an dem die Hochschulen wieder ihre Arbeit aufnehmen, war im vergangenen Jahr auch der Beginn der Studenten-Proteste in Belarus, die sich mit den landesweiten Demonstrationen gegen Wahlfälschungen und Gewalt solidarisierten. Seit vielen Jahren wird das Schulsystem sowie auch die Lehrpläne den autoritären Vorstellungen der Machthaber um Alexander Lukaschenko angepasst. In ihrem Beitrag für die Novaya Gazeta erklärt die belarussische Journalistin Irina Chalip, wie das genau geschieht und welche Folgen die Umerziehung für die belarussische Gesellschaft hat.
Gehirnwäsche ist an belarussischen Schulen schon lange Teil des Lehrplans. Ab kommendem Schuljahr wird es auch eigens dafür zuständige Bereichsleiter geben: Mit dem 1. September 2021 wird das Amt des Leiters des Lehrbetriebs für militärisch-patriotische Erziehung eingeführt. Einfacher gesagt: ein Politoffizier. Oder ein Politruk. Oder – ganz altmodisch gesagt – ein Kommissar. Speziell für die Schul-Politruks stellt der Staat Geld für 2000 Gehälter bereit. Wobei kein zusätzlicher Unterricht geplant ist. Mit dem Zeigestab an der Tafel stehen, Hefte kontrollieren oder die Klassenleitung übernehmen werden die neuen Chefs nämlich nicht (was auch offen gestanden besser ist). Sie haben eine kniffligere Aufgabe: „Die Implementierung der Ideologie militärischer Sicherheit in Bezug auf die staatsbürgerliche und patriotische Erziehung von Kindern und Jugendlichen“. Außerdem die „Entwicklung der für die Verteidigung des Vaterlandes notwendigen moralisch-psychologischen Qualitäten bei Jungen und Mädchen“. So steht es zumindest im Allgemeinen Qualifikationshandbuch für Staatsbedienstete. Die akute Notwendigkeit für solche Kommissare entstand offenbar im vergangenen Schuljahr, dessen Beginn mit dem Höhepunkt der Protestaktivität in Belarus zusammenfiel. Absolventen verschiedener Jahrgänge hängten ihre Goldmedaillen und Zeugnisse an die Zäune der Schulen, um durch nichts mehr mit jenen Mauern verbunden zu sein, hinter denen am 9. August die Wahlergebnisse so schamlos gefälscht wurden. Eltern unternahmen Protestaktionen auf Schulhöfen. Lehrer drehten Videos, in denen sie an ihre Kollegen appellierten, Fälschungen zu verweigern und die Wahrheit zu erzählen. Diese Lehrer verloren dann ihre Jobs. Die Eltern von Grundschülern nahmen ihre Kinder massenweise aus den staatlichen Schulen und schlossen sich zu sogenannten Elternkooperativen zusammen: Mehrere Familien mieten zusammen einen Raum und suchen selbst Lehrer für ihre Kinder, die sie ohne jegliche Schulideologie unterrichten. Dieser Trick ist allerdings nur für die Grundschule erlaubt: Will man sein Kind von der Schule befreien, muss man es zum individuellen Unterricht anmelden. Ob dies genehmigt wird oder nicht, entscheidet die jeweilige Schulleitung. Und während man in den ersten Schulstufen diese Genehmigung noch kriegen kann, wird dies später praktisch unmöglich. Heranwachsende Belarussen müssen zumindest einem qualifizierten Leiter des Lehrbetriebs unterstehen. Im Idealfall ist es einer für militärisch-patriotische Erziehung.
Belarussische Geschichte im Schnelldurchlauf
Diese Erziehung beginnt für jeden Schulanfänger sofort, gleich am 1. September. Seit vielen Jahren bekommen alle Erstklässler an allen belarussischen Schulen feierlich das Buch Belarus – unsere Heimat überreicht. Auf dem Umschlag steht unter dem Buchtitel: „Geschenk des Präsidenten der Republik Belarus A. G. Lukaschenko zum Schulanfang“. In dem Buch kommt A. G. Lukaschenko selbst reichlich vor, fast auf jeder Doppelseite. Zudem sind darin wie auf Schautafeln die historischen Meilensteine des unabhängigen Belarus angeführt:
1991: Ausrufung der unabhängigen Republik Belarus 1994: Beschluss einer neuen Verfassung der Republik Belarus 1994: Wahl Alexander Grigorjewitsch Lukaschenkos zum Präsidenten der Republik Belarus
Damit ist die Geschichte der Republik Belarus in diesem Buch auch schon zu Ende, und für die Kinder beginnt das Schuljahr. Einmal wöchentlich gibt es in allen Klassen, von der ersten bis zur elften, Politinformationen. Offiziell heißt das „Informationsstunde“ – an diesem Tag beginnt der Unterricht eine halbe Stunde früher. Alles Weitere hängt von den Lehrenden ab. Die einen nehmen den Auftrag wörtlich und erzählen den Kindern jedes Mal, was für ein märchenhaftes Glück sie haben, in Belarus mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen und seiner politischen Stabilität zu leben. Andere sabotieren die Sache unauffällig, indem sie den Kindern erlauben, in dieser Zeit ihre Hausaufgaben zu machen. Doch im Klassenbuch wird bei allen Schülern klar und deutlich abgehakt: Informationsstunde erfolgt, Patriotismus gefördert. In den höheren Schulstufen gibt es außerdem Unterricht in vormilitärischer Ausbildung. Dort hören die Schüler der oberen Klassen nichts mehr von Stabilität, sondern im Gegenteil – man erklärt ihnen, dass Belarus von Feinden umzingelt sei, und zwar auch von inneren.
Nach dem Unterricht beginnen außerschulische Veranstaltungen. Ältere Kinder werden im Winter scharenweise in die Eispaläste getrieben, wo Lukaschenkos Jüngster, Nikolaj, Eishockey spielt, und im Sommer stellen alle, die nicht das Glück hatten, die Stadt zu verlassen, auf der Parade zum 3. Juli ihre glückliche Kindheit zur Schau. Die Jüngeren werden auf „patriotische“ Exkursionen geschleppt. Zum Beispiel hat es die Klasse meines Sohnes innerhalb eines Schuljahres geschafft, sowohl die OMON als auch die Sondertruppeneinheit 3214 zu besuchen, die landläufig längst Todesschwadron genannt wird. In der Polizei-Zeitung stand danach, die Kinder hätten „viel Spaß dabei gehabt, kugelsichere Westen, Helme und Schlagstöcke auszuprobieren“.
Ein weiteres beliebtes Exkursionsziel für Minsker Schüler ist die KGB-Schule, die mittlerweile Institut für nationale Sicherheit heißt. Dort dürfen sie schießen üben, und sie hören die Heldengeschichte der Bildungsanstalt, die viele herausragende Persönlichkeiten absolviert haben. Namen werden allerdings keine genannt – wahrscheinlich ein Militärgeheimnis. Und sie bekommen das Tschekistendenkmal zu sehen, das irgendwo in einer Nische steht, verborgen vor fremden Blicken. Anscheinend gehen die Offiziersschüler dahin, um zu beten und still zu trauern. Auch schon in der ersten Klasse kommen die belarussischen Kinder zu den Oktjabrjata, der Vorstufe der Pioniere. Bei einer Feier in der Aula sprechen sie dem Sozialpädagogen den Schwur nach. Wer in der Sowjetunion Pionier war, kennt den Text. Er wurde, dem Willen des großen Lenin folgend, nie verändert. In der vierten Klasse werden aus Oktjabrjata Pioniere. Nur tragen sie keine roten Halstücher mehr, sondern rot-grüne. Sonst bleibt alles beim Alten. In der Oberstufe kommen sie dann zur BRSM – der Belarussischen Republikanischen Jungen Union, im Volksmund „Lukamol“. Zum Lukamol wird man sowohl mit der Peitsche getrieben als auch mit Zuckerbrot gelockt. Die Peitsche – das ist die Androhung eines schlechten Abschlusszeugnisses und die Warnung, ohne Mitgliedschaft in der BRSM nicht an der Universität aufgenommen zu werden. Das Zuckerbrot sind Rabatte bei Diskotheken und Konzerten und erleichterter Zugang zu Sommerjobs. Eine Bekannte erzählte mir, wie ihre jüngere Schwester sich um ein Haar hätte verführen lassen. Sie kam von der Schule nach Hause und sagte zum Vater, sie werde wohl der BRSM beitreten, weil die ihr einen Sommerjob versprochen hätten. Der Vater sagte: „Das hast du dir ganz richtig überlegt, Tochter. Eine Arbeit wirst du nämlich brauchen, wenn du zum BRSM gehst, weil ein Dach über dem Kopf wirst du keines mehr haben.“
Ein Aufseher für militärisch-patriotische Erziehung
Früher waren die Eltern, die ihren Kindern alles richtig und wie Erwachsenen erklärten, in der Minderheit. Die Mehrheit schluckte angeekelt den Beitritt ihrer Sprösslinge zu all diesen Vereinen, um ihnen bloß nicht den Abschluss zu versauen. Nicht einmal den Jungen OMON-ler redeten sie ihnen aus – auch den gibt es in Belarus. Doch das letzte Schuljahr hat Kinder wie Eltern verändert. Jetzt verbringen die Kinder ihre Zeit nicht mehr beim Jungen OMON-ler, sondern schreiben „Es lebe Belarus!“ auf den Asphalt. Oder sie sitzen auf der Polizeistation, weil sie wegen eines rot-weißen Regenschirms festgenommen wurden. Oder sie warten, dass ihre Eltern aus dem Gefängnis zurückkommen. Oder sie flüchten mit ihnen nachts über die Grenze. Sie werden jedenfalls schnell erwachsen – wie immer im Krieg.
Um dieses Erwachsenwerden und das Denken zu stoppen, um die Kinder wieder auf Linie zu bringen, verordnet ihnen der Staat nun einen Schulpolitruk für militärisch-patriotische Erziehung. Als Mutter eines Schülers, die sich mit seinen Klassenkameraden und Freunden sowie deren Eltern unterhält, sage ich felsenfest überzeugt: Da kann man das Geld gleich zum Fenster hinauswerfen. Was für ein erbärmliches und sinnloses Projekt, zum Scheitern verurteilt. Die Kinder stellen sich nicht mehr in Reih und Glied, und die Eltern werden nicht mehr den Mund halten, nur weil sie ein schlechtes Zeugnis fürchten. Nur Witze über diese Schulpolitruks werden in Belarus wie Pilze aus dem Boden schießen, sodass sich der Turn- und der Werklehrer von blöden Sprüchen endlich mal erholen können.