дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    „AntifaschiZmus“ – Früher linker Straßenkampf, heute Kriegsfront

    Zur Geschichte der linken Subkulturen im postsowjetischen Russland gehört viel Gewalt: von Straßenschlachten gegen brutale Neonazis bis zur zunehmenden Verfolgung durch den staatlichen Sicherheitsapparat. Der Krieg bietet den Antifa-Veteranen von damals nun eine Chance weiterzukämpfen. Viele nutzen sie und melden sich zur ukrainischen Armee, andere aber gehen für Russland an die Front. 

    Das russische Online-Portal no Future hat sich die Gewaltgeschichte der Antifa-Szene genauer angeschaut und mit einigen selbsterklärten Antifaschisten über ihre Motivation gesprochen, teils Seite an Seite mit russischen Neonazis in den Krieg gegen die Ukraine zu ziehen. 

    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future
    Collage mit Bildern von Antifaschisten und ihren rechtsextremen Gegnern in Straßenkämpfen in Russland seit dem Zerfall der Sowjetunion, Illustration © Pascha Barli/no Future

    Kaum jemand erinnert sich noch an die Antifa-Ära der 2000er und 2010er Jahre. Die Antifa selbst ist gealtert, hat sich Kredite und Bauchspeck zugelegt oder sitzt immer noch im Knast. Die mit Mutters billigem Haarspray aufgestellten Irokesen, der Straight-Edge-Lifestyle, die Nebelgranaten, die in die Stadtverwaltung von Chimki flogen, weil man den örtlichen Park abholzen wollte, die Demos im Moskauer Zentrum unter Antifa-Parolen wie „Nein zu Faschismus aller Art, vom Hinterhof bis zur Regierungsmacht“ – all das existiert nur noch in ihrer Erinnerung. Genau wie die Straßenkämpfe und bewaffneten Zusammenstöße mit Neonazis, die eingeschlagenen Schädel und toten Genossen, die wildesten Hardcore-Konzerte und die Bullen, die am Ende doch sämtliche Subkulturen plattgemacht haben.  

    Noch vor ein paar Jahren hörte man die Alt-Antifa sagen, das alles würde der Vergangenheit und einer fernen Jugend angehören, als alles noch einfacher, klarer, eindeutiger war: Die Einen schlachten Nicht-Russen ab und schüren Fremdenhass, die Anderen setzen sich zur Wehr und helfen den Schwachen. Manchmal unter Einsatz ihres Lebens. Doch der Krieg in der Ukraine hat nicht nur entlang der „Kontaktlinie“ für ein Aufflammen von Mord und Gewalt gesorgt, sondern auch auf Russlands Straßen. Wobei heute nicht mehr alles so klar und eindeutig ist. So manche, die vor 15 Jahren noch für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und gegen Faschismus protestiert haben, ziehen heute in den Krieg, um Ukrainer zu töten.  

    Anna Worobjewa hat für no Future mit selbsterklärten Antifaschisten – im Text sind alle Namen geändert – darüber gesprochen, warum sie Seite an Seite mit Neonazis in Schützengräben gegen sogenannte „Ukronazis“ kämpfen und darin nichts Schlechtes sehen.

    Irokesen, Hakenkreuze und Blut auf dem Asphalt 

    Eine kleine Kreisstadt an der Wolga. Eine verlassene Bauruine. Anfang der 2010er Jahre. Die Wände vollgeschmiert mit Hakenkreuzen, ein ebenso geformtes Lagerfeuer. Jeden Abend versammeln sich hier um die 30 Leute in schwarzen Bomberjacken mit orangefarbenem Innenfutter (so erkennt man im Kampf schneller die eigenen Leute) und Hosen mit heruntergelassenen Hosenträgern (ein Zeichen für Kampfbereitschaft), in DocMartens, Springerstiefeln oder Billigtretern vom Markt mit weißen Schnürsenkeln (heißt: Ich habe Nicht-Russen auf dem Gewissen). 

    Hier werden Attacken geplant: Wer ist als nächstes dran? Das „Schlitzauge“ vom Gemüsestand oder der obdachlose Usbeke, der auf der Bank am Bahnhof schläft? Jeden Tag konnte man zusammengeschlagene „Nichtarier“ auf den Straßen finden. Hier kloppte man sich mit den hiesigen Informellen, Alternativen, einer Handvoll Jugendlicher mit Irokesenschnitt, die bei den Zusammenstößen unweigerlich unterlegen waren und danach blutüberströmt nach Hause krochen. 

    Die Alternativen nannten sich Antifaschisten, oder kurz: Antifa. Eines Tages, nach einer weiteren Niederlage, baten die jungen Antifas die älteren und stärkeren um Unterstützung. Am Tag darauf fuhr im Morgengrauen ein nicht mehr ganz neuer Neuner [Lada – dek] an der Bauruine vor. Ein paar Typen mit Schlagstöcken und Leuchtpistolen stiegen aus. Ein Skinhead im „Ich bin Russe“-Shirt kam auf sie zu. Die Männer aus dem Neuner umzingelten ihn, zogen ihm das Shirt aus, verdrehten seine Arme, zerrten ihn unter Schlägen ins Auto und fuhren los. 

    Der Lada hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt.  
    „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. 

    Der erste Halt ist ein normaler Innenhof. An einem Hauseingang rauchen drei. Allesamt kahlrasiert. Der Neuner hält an, die Antifas springen raus, die Schlacht beginnt. „Ich-bin-Russe“ muss vom Auto aus zuschauen und die nächsten Adressen verraten. Den ganzen Tag kreuzen sie so durch die Wohnviertel. Als es dunkel wird, bringen sie den „Führer“ zur Baustelle zurück. Bei der großen Versammlung, die dort geplant war, tauchen nach dem Streifzug nur wenige Leute auf, die die Antifa sogleich mit Schüssen aus den Leuchtpistolen und Schlagstöcken begrüßt. Der „Führer“ bettelt inzwischen um Gnade. Die Antifas lassen ihn erst gehen, nachdem er sich vor der Kamera entschuldigt und versprochen hat, dass er „nie wieder andere Leute belästigen und die Antifa beleidigen wird“. 

    Antifa schlägt zurück, bis Silowiki kommen 

    Einer jener jungen Antifas damals war Denis Chromow. Er ist in der Kreisstadt aufgewachsen und schon als Teenie zu der Clique gestoßen. Die nach außen hin so gefährlich wirkenden Punks verbrachten ihre Zeit meist mit harmlosen Dingen, besprühten Wände mit Antifa-Slogans, kochten und verteilten vegane warme Mahlzeiten an Obdachlose. Diese Aktion hieß Essen statt Bomben. So protestierten Antifaschisten in aller Welt gegen Krieg und Autoritarismus. Außerdem gingen sie viel auf Konzerte. Kein Gig lief ohne Angriffe bewaffneter Neonazis ab. Die wurden auch „Bones“ genannt, vom englischen „Bonehead“, das als „Glatze“ oder auch „Volltrottel“ übersetzt werden kann. 

    Die Bones bewarfen die Antifa mit Steinen und Flaschen, verdroschen sie mit allem, was sie finden konnten, sprühten ihnen Pfefferspray in die Augen. Sie machten weder vor Messern noch vor selbstgebauten Bomben halt. 

    Ende der 2000er Jahre verübten Neonazis bis zu 500 Morde im Jahr. Die Subkultur der Pazifisten begann sich zu organisieren und zu wehren, bis sie selbst gefährliche Straßenbanden hervorbrachte. Genau die wurden schließlich mit dem Begriff Antifa assoziiert. Die Bewegung entstand also als Reaktion auf die Aggression der Rechtsradikalen, die in den 2000er Jahren unkontrolliert im ganzen Land wütete.  

    Irgendwann übernahmen die Antifaschisten selbst die Initiative; mindestens ein Neonazi wurde dabei getötet. Innerhalb der Bewegung wurde die Gewalt verurteilt, aber Iwan Chutorskoi, genannt Kostolom (Knochenbrecher) – ein bekannter Antifa, der seinen Spitznamen dem erfolgreichen Einsatz in Straßenkämpfen verdankte – befand, es sei besser „jetzt als Unmensch zu gelten, als später vor der Tür zur Gaskammer über die richtige Taktik zu diskutieren“. 2009 wurde Chutorskoi am Eingang seines Hauses durch einen Genickschuss getötet. 

    Anfang der 2010er hörten die Schlägereien praktisch auf.  
    Es gab niemanden mehr, der sich hätte prügeln können. 

    Denis Chromow dagegen machte sich zu seinen Antifa-Zeiten keine Gedanken über Humanismus. Er ging regelmäßig „Glatzen klatschen“ und hielt das für den einzig richtigen Weg. Parallel schloss er die Berufsschule ab, verlobte sich, nahm in Moskau einen Schicht-Job auf dem Bau an.  

    Anfang der 2010er Jahre dann hörten die Schlägereien praktisch auf. Es gab schlichtweg niemanden mehr, der sich hätte prügeln können: Die Silowiki hatten in dem Straßenkrieg zwischen Neonazis und Antifa bald eine handfeste Bedrohung erkannt und waren dazu übergegangen, die Einen wie die Anderen konsequent einzubuchten

    Wohin mit dem Hass der Antifa-Veteranen? 

    Die Frage war nun: Wohin mit der ganzen Energie und all den Überzeugungen? Die Einen verfielen dem Alkohol, die Anderen – so wie Denis – gingen in die politische Opposition. „Ich bin nach Moskau zu den ‚Märschen der Millionen‘ gefahren, lernte dort Anarchisten und Antifas kennen“, erzählt Chromow. „Ich hab schon als Kind die ganze Ungerechtigkeit der herrschenden Klasse, der Sicherheitsorgane usw. kapiert. Ich hatte Hass auf die jetzige Regierung, das ganze Regime. Wirklichen Hass.“ 

    Den Krieg im Donbas [ab 2014 – dek] hat Chromow dann so ähnlich verstanden wie die Straßenschlachten mit den Neonazis: Mutige, knallharte Jungs organisieren sich und kämpfen gegen „Glatzen“, die sie allein deshalb vernichten wollen, weil es sie gibt. „Ich hatte dann im Fernsehen gesehen, dass Neonazis die Zivilbevölkerung angreifen und dass die Leute sich zu Bürgerwehren zusammenschließen und dagegenhalten. Also habe ich mich auch dazu entschlossen … Na, wegen der Faschos, Nationalisten halt, weiß nicht …“, erinnert sich Denis. Er fuhr im Herbst 2014 als Freiwilliger in den Donbas – ohne Vertrag, ohne Wehrpass, ohne ärztliches Attest, ohne Geld. Er war 20 Jahre alt. 

    Denis wurde der Drohnenaufklärung zugeteilt. Er soll feindliche Stellungen aufspüren und deren Koordinaten an die Artillerie übermitteln.  

    „Männer wie wir“ und „Vögel des Todes“ 

    Auf dem Laptop erscheint ein Bild: rechteckige Felder mit grünen Waldflächen. Über den Wäldern blinken blaue Symbole, dort sind Handys aktiv. Wenn es drei oder mehr sind, ist das eine „Anhäufung“. Eine Anhäufung im Wald bedeutet Schützengräben und Unterstände: Erdbunker, in denen die Soldaten an forderster Front leben. Um einen Treffer zu landen, muss man nun möglichst nah ran, dorthin, wo man vom Artilleriedonner fast taub wird. Dann einen guten Startplatz suchen, eine Wiese vom Gestrüpp befreien, eine möglichst ebene Fläche für besseren Halt schaffen. Dann bastelt man den „Vogel“ zusammen, schraubt die drei Meter langen Flügel an und den Schweif, legt einen Fallschirm hinein, um ihn später sicher zu landen, wenn das Ziel erledigt ist. Außen, vorne oder unten trägt der „Vogel“ eine Kamera, ein Wärmesichtgerät und einen Fotoapparat. Die Koordinaten der Handy-Signale werden an die Artillerie übermittelt. Die beschießt dann die Bunker mit Grad (Hagel, Mehrfachraketenwerfer – dek] oder Haubitzen wie der D-30er. Aus der Vogelperspektive sieht man, wie dicker Rauch aus den Schützengräben quillt, Bretter in die Luft fliegen, eine Hose sich in einem Baum verfängt. Man hört wildes Geschrei, einer ist bis zum Hals mit Erde verschüttet, aus einem anderen pulsiert eine Blutfontäne. Einem drittem hat es den halben Körper weggerissen.  

    „Wir wurden ganz nah bei den Ukropy abgesetzt, und dann ging die Arbeit los. Wir ließen den Vogel fliegen, holten ihn zurück, gaben die Koordinaten an die Artillerie weiter. Die machen ihren Job, wir schicken den Vogel wieder los und bestätigen“, berichtet Denis. 

    Ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht.

    „Und waren dort Nazis?“ 

    „Ich persönlich habe eigentlich keine gesehen … So eingefleischte wie die in Mariupol bei Asowstahl gab es da nicht [Die Rede ist hier von der Brigade Asow, die die russische Propaganda als „Nazis“ bezeichnet, für die ukrainische Seite sind sie die „Verteidiger Mariupols“ – No Future]. Dort kämpfen Männer wie wir, die wurden dorthin abkommandiert. Der Staat hat gesagt, die Donezker Volksrepublik will sich illegal abspalten usw. Die sind genauso kämpfen gegangen wie die Jungs, die nicht mehr zur Ukraine gehören wollten.“ 

    „Hast du den Sinn verstanden? Warum bist du dahin gegangen?“ 

    „Das kann ich nicht beantworten, ich weiß es bis heute nicht. Aber ich glaube, ich hab das Richtige gemacht. Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich wieder als Freiwilliger hinfahren. Mit denselben Jungs.“ 

    Solche wie Denis werden von vielen Antifas als „Z-niki“ „Watniki“ und „Raschisten“ bezeichnet. Der Großteil der Bewegung unterstützt im Krieg die Ukraine, einige haben sich sogar den Ukrainischen Streitkräften angeschlossen. 

    „Ich will Action“ 

    Igor Schmelew, der früher auch bei Straßenschlachten gegen Skinheads mitmischte, erklärt das damit, dass die meisten Beteiligten jung und auf Action aus gewesen seien. „Viele sind zur Antifa gekommen, weil sie den Kick suchten. Später hing die Position davon ab, welche Vorlieben man hatte. Die Einen sympathisierten mit der Ästhetik der Republiken [gemeint sind die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk und ihre von Russland unterstützten und ausgerüsteten „Volksmilizen“ – dek], die gegen die ‚neonazistische Bandera-Junta‘ [Ausdruck der russischen Propaganda für die legitime ukrainische Regierung – dek] aufbegehrten. Anderen war die Ästhetik des Volksaufstands näher, der die Regierung gestürzt hatte und nun sein Land gegen das imperialistische Russland verteidigt“, sagt Schmelew. „Manche finden im Krieg einfach sich selbst, einen Lebenssinn. Manche glauben aufrichtig an dieses ganze Zeug. Welchen Sinn hat es da, sie vom Gegenteil überzeugen zu wollen?“ 

    Für die Antifaschisten, die für Russland kämpfen, gehört auch die proukrainische Antifa an die Front – vom Sofa aus könne ja jeder klug daherreden. Einer von ihnen ist Wadim Krasnow. Er nimmt in Kauf, dass er an der Front seine ehemaligen Kumpels erwischen könnte. 

    „Man kann viel erzählen, wenn der Tag lang ist. Sollen sie doch zur ukrainischen Armee gehen, wenn sie sich trauen.“ 

    „Das tun sie doch. Du könntest also auch Antifa aus Wolgograd oder Kaliningrad treffen …“ 

    „Tja, dann haben sie Pech gehabt.“ 

    Propaganda trifft Mitleid 

    Wadim hat im Herbst 2023 einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterschrieben. In den wilden 2000ern war er zur Antifa gegangen, weil er „die Nazis nicht hinnehmen“ wollte. Als die Silowiki später für Ordnung gesorgt hatten, distanzierte er sich von der Subkultur und wurde Elektriker in einer kleinen russischen Provinzstadt. 

    Die Ereignisse von 2014 im Donbas betrachtet Wadim als „Säuberungsaktionen durch ukrainische Nationalisten“ [ein beliebtes und weltweit verbreitetes Narrativ der (pro-)russländischen Propaganda – dek]. „Das war quasi der Anfang. Wir müssen jetzt die russischsprachige Bevölkerung mit der Waffe beschützen. Wir haben nur auf die Situation reagiert. Acht Jahre haben wir gewartet, und dann ist endlich was passiert“, sagt Krasnow. Als seine Heimatstadt 2022 beschossen wurde, zog er in den Krieg. „Ich habe begriffen, dass ich selbst 700 Kilometer von der Front entfernt nicht mehr sicher wäre. Es war ein spontaner Impuls“, erklärt er. 

    Zunächst diente Wadim als stellvertretender Stabschef eines Panzerbataillons bei Kreminna. „Fünf Kilometer von uns stand Asow. Aber ich habe keine ‚Asowzy‘ gesehen. Die ukrainische Armee besteht nicht nur aus Nazis. Leider haben sie dort Leute mobilisiert, die nicht freiwillig dort sind, die genauso wenig auf diesen Krieg vorbereitet waren, irgendwelche Pazifisten, also Leute, die nicht kämpfen können und wollen. Die wurden eingezogen und hatten keine Wahl. Ich habe solche Leute gesehen. Sie waren verängstigt, weinten. Das ist ein schrecklicher Anblick. Für solche Menschen empfinde ich keinen Hass, nur Mitleid“, sagt Krasnow. 

    „Was ist das Schlimmste am Krieg?“ 

    „Die Toten.“ 

    „Auf unserer Seite?“ 

    „Ganz egal, auf welcher Seite. Auf unserer, auf der ukrainischen. Ich weiß, dass man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern muss, aber ich kann mich nicht freuen. Ich könnte ihm nicht die Ohren abschneiden oder irgendwas in dieser Richtung, oder seinen Anblick genießen.“  

    „Warum muss man jeden toten ukrainischen Soldaten feiern?“ 

    „Weil er mich nicht mehr umbringen kann. In diesem Sinne. Ist doch klar, dass ich das gut finde.“ 

    Langeweile in der Kriegsbürokratie 

    In den ersten Monaten war Wadim nicht im Kampfeinsatz, sondern kümmerte sich in der dritten Verteidigungslinie im Hauptquartier um Papierkram. Er sagt, er habe sich den Krieg wie einen Blockbuster vorgestellt, aber in Wirklichkeit war es nur ein Hin- und Herschieben von Dokumenten. 

    Der bürokratische Aufwand ist enorm: Auszahlung von Militärgehältern, Transport von Lebensmitteln und Granaten zu den Stellungen. Und von den Stellungen kommen die Toten zurück. Sie werden von der Front in Säcken geliefert, manchmal direkt in die Einheit, wo sie identifiziert werden müssen. Aus den zerbombten Panzern werden die Leichen an Seilen herausgezogen. Mit geschwollenen, dunkelvioletten Beinen, die in grotesken Winkeln verdreht sind, die Uniformen zerfetzt. Die schwarzen Nasenlöcher, Ohren und Münder mit einer dicken Blutkruste verklebt. Manchmal gibt es nur noch Asche und Knochen, manchmal auch gar nichts: Ein Panzer brennt wie eine Fackel, und wenn die Munition explodiert, werden die Menschen aus dem Fahrzeug geschleudert und bleiben auf Stromleitungen oder Dächern der benachbarten Häuser hängen. 

    Zwei Monate nach unserem Gespräch schrieb mir Wadim, er habe einen Antrag auf Versetzung in eine Sturmkompanie gestellt. 

    „Warum willst du da hin?“ 

    „Ich will Action.“ 

    „Hast du keine Angst?“ 

    „Ein bisschen vielleicht. Aber ich langweile mich hier zu Tode.“ 

    „Und wenn du ohne Beine im Krankenhaus liegst, und der mobilisierte Ukrainer, mit dem du, wie du sagst, Mitleid hast, im Sarg? Macht das dann Spaß?“ 

    „Vielleicht bin ich frustriert oder so. Ich weiß nicht. Mein Leben war echt ziemlich langweilig. Ich will irgendwie nützlich sein. Von jemandem gebraucht werden.“ 

    Wadim ist jetzt seit Monaten verschwunden. Er antwortet nicht auf Nachrichten, auf Telegram war er „zuletzt vor langer Zeit online“. Drei Monate vor Erscheinen dieses Texts habe ich zum letzten Mal von ihm gehört: 

    „Haben sie deinen Antrag genehmigt?“ 

    „Ja, ich bin versetzt worden.“ 

    „Und, Schluss mit Langeweile?“ 

    „Das kannste laut sagen …“ 

    Von „No Putin, No War“ zur Söldnertruppe Wagner 

    „Wir leben einfach in einer anderen Welt als die Zivilbevölkerung. Vor allem die, die lange an der Front sind. Das verändert das Denken. Und manchmal verstehen wir euch nicht mehr richtig. Wir sind froh, wenn wir noch leben. Und wenn wir von einem Einsatz lebendig wiederkommen, wenn sogar niemand verletzt wurde – weder man selbst, noch ein Kamerad – dann ist das das Größte. Und ihr sitzt einfach rum und beschwert euch“, sagt der Antifaschist Sergej Sashin.  

    In seiner „Straßenkampfzeit“ war Sergej oft aktiv auf Neonazis losgegangen, hatte in einer Punk-Band gespielt. 2014 sprach er sich noch öffentlich für den Maidan und die ukrainische Antiterroroperation aus, demonstrierte mit „No Putin, no War“-Plakaten. „Ich habe Leute unterstützt, die für die Freiheit und für Veränderungen zum Besseren waren. Die Fortschritt wollten. Ist doch super, oder? Nur, was bringt’s im Endeffekt? Das ging vom Regen in die Traufe. Nur, dass die Traufe noch schlimmer war“, sagt Sashin. „Warum haben die Donezker überhaupt rebelliert? Na, fahrt doch mal hin und seht euch an, was sich da seit dem Ende der Sowjetunion getan hat. Gar nichts nämlich! Ich bin vor 2014 in Kyjiw gewesen – da war alles superschick renoviert. Die anderen Städte auch: Tipptopp saniert! Nur Donezk, Luhansk, der ganze Osten, der das Land ja ernährt hat, der hat die Riesenarschkarte gezogen.“  

    Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, die tagsüber soffen und sich abends prügelten. 

    2015 ist Sergej als Freiwilliger in den Donbas gefahren. Er war in eine „krasse Gang“ diverser Antifas geraten, die an die Front wollten, und ist einfach mitgezogen. Gefechte erlebte er aber keine: Anstelle einer Armee erwartete sie ein Trüppchen Kosaken und Offiziere, erzählt Sashin, die tagsüber zusammen soffen und sich abends prügelten. Sashin blieb zwei Wochen. Anfangs wartete er noch darauf, dass Waffen verteilt würden, dann reichte es ihm. Er packte seine Sachen und fuhr nach Hause.  

    2022 zog er wieder in den Krieg: Zuerst schloss er einen Vertrag mit der Gruppe Wagner, dann mit einer anderen Söldnertruppe, deren Namen er nicht nennen will. Auf die Frage, ob er Menschen getötet habe, antwortet Sergej: „Wahrscheinlich schon.“ 

    Im August 2022 kämpfte Sergej bei Saizewe, 20 Kilometer südöstlich von Bachmut. Die Russen bereiteten ihren Vormarsch vor, es gab schwere Grabenkämpfe, die Wagner-Truppe stürmte Positionen der ukrainischen Streitkräfte. Am 22. September wurde Sergej bei einem solchen Sturm schwer verwundet, musste lange behandelt werden, zog dann aber wieder an die Front.

    „Ich war eigentlich immer gegen Krieg gewesen, aber wenn er, wie man so sagt, nun schon mal da ist – sorry, da gibt es kein ‚Aaaa, ich will keinen Krieg!‘ mehr. Die Fahne schwenken, das ist für’n Arsch. Das machen nur Debile.“  

    „Aber wenn Krieg ist, heißt das doch nicht, dass man unbedingt daran teilnehmen muss?“ 

    „Wie soll man ihn sonst beenden?“ 

    „Darüber könnten wir uns stundenlang unterhalten. Wie hast du dich für die russische Seite entschieden? Du hast sicher keine Münze geworfen?“ 

    „Sorry, aber ich bin in Russland geboren, das ist mein Land … Das war sozusagen nicht meine Entscheidung.“  

    Der Gute, der Böse und der Nazbol 

    Sergej ist Anarcho-Nationalist. Er ist gegen den Staat, aber für die Nation. Mitte der 2010er Jahre war er bei der nationalistischen Bewegung Narodnaja wolja (dt. Volkswille). Dort herrschte die Auffassung, dass zur Nation nur die Arbeiterschaft, die Werktätigen gehören. Die Parasiten an der Spitze, die sich auf deren Kosten bereichern, seien Volksverräter. Die Anarcho-Nationalisten unterstützten lokale Proteste, positionierten sich öffentlich gegen die Staatsmacht, wollten sie stürzen. Manche Antifas waren der Meinung, dass in ihrer Bewegung für solche Leute kein Platz sein sollte – sie seien zwar anarchistisch eingestellt, aber doch zu sehr rechts. 

    Die Antifa war allerdings nie eine politische Bewegung, sondern eher eine Plattform, auf der sich Leute ganz unterschiedlicher Anschauungen versammelten: Kommunisten, Sozialisten, Marxisten, Anarchisten und sogar Nationalisten. Alle waren auf die eine oder andere Weise gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Herrschaft, gegen Ungleichheit und Diskriminierung. Für manche von ihnen war die Unterstützung für Russland im Krieg eine Frage der Ideologie.  

    „Für mich ist Nationalismus die Liebe zur Heimat, zum eigenen Land. Das ist gut und richtig. Ich lebe in diesem Land, ich liebe die Menschen hier. Alle meine Mitbürger. Ich wünsche mir für alle Wohlergehen. Gleichzeitig will ich aber auch nicht, dass es anderen schlecht geht. Ich finde nicht, dass Russen, Weiße oder wer auch immer besser sind als Mexikaner, Amerikaner oder sonst jemand – das wäre dann schon Nazismus, wenn du nämlich deine Nation über alle anderen stellst. Das ist bescheuert, totaler Blödsinn“, sagt ein anderer Antifa namens Oleg Kotow, der sich selbst als Nationalbolschewik bezeichnet. Kurz: Nazbol.

    Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum

    Deren Losung ist: „Russland ist alles! Der Rest ist nichts!“ Sie finden, dass alle Territorien mit russischsprachiger Bevölkerung an Russland angegliedert werden sollen. Oleg fährt öfter mit den Interbrigady 2022 in den Donbas, einem militanten Flügel der nationalbolschewistischen Partei Das andere Russland E. W. Limonows. Er sieht keinen Widerspruch darin, gleichzeitig Antifa und Nationalist zu sein. Er hat sich schon mit Bones geprügelt und für Tierschutz eingesetzt. Szeneinternes Geplänkel zum Thema „Wer ist die echte Antifa“ interessiert ihn nicht. Seit fast anderthalb Jahren bringt er humanitäre Hilfe in das Dorf Toschkowka in der Oblast Luhansk, das von der russischen Armee kontrolliert wird. „Ich bin lieber ein Watnik als so ein doppelzüngiger Abschaum“, meint Kotow. „Die Leute haben nichts zu essen, sie frieren in ihren zerstörten Häusern, weil sie keinen Strom, kein Gas und kein Wasser haben. Manchen muss man eben helfen, wo man kann, die müssen einem leidtun, auf die anderen können wir alle scheißen.“  

    In Toschkowka ist kein Stein auf dem anderen geblieben. Das Dorf wurde schon ab 2014 beschossen, und seit Juni 2022 hält es die russische Armee besetzt. Im Herbst brachte Oleg zum ersten Mal Kissen und Decken hin, Taschenlampen und Generatoren zur Stromerzeugung, damit die Menschen in ihren Häusern ohne Dach den Winter überleben konnten.  

    „Wir helfen auch den freiwilligen Kämpfern. Aber vor allem den Mobilisierten – ihr wisst ja, wie das bei uns läuft mit der Ausstattung der Mobiki. Die werden ohne Schutzwesten gleich in den Sturm geschickt, gehen dort allesamt drauf. Das sind doch meine Nachbarn, auch ein entfernter Verwandter von mir wurde eingezogen“, sagt Oleg. „Zu denen kannst du doch nicht sagen: ‚Pech gehabt, du bist kein Freund, keiner von uns, du bist nur ein Raschist, ein Faschist.‘ Nach Kasachstan flüchten wollte er nicht, das würde seiner Erziehung widersprechen. Ihm muss man doch helfen, ihn unterstützen, den kann man doch nicht im Stich lassen.“ 

    V wie ReVolution 

    „Wie sieht es bei uns überhaupt mit Nazis aus? Gibt es noch welche?“, frage ich Oleg. 

    „Natürlich gibt es noch welche. Rennen doch genügend Sieg-Heil-schreiende Kids voller Aufnäher rum, so als Straßen- und Subkultur.“ 

    „Aber finden Sie nicht, dass auch der Kreml einen Rechtsdrall hat? Wir haben ja den Sänger Shaman, der da singt: ‚Ich bin Russe, ich gebe nicht auf. Ich bin Russe, mit dem Blut meines Vaters‘ …“ 

    „Das ist widerlich. Mein Sohn kommt jetzt in die zweite Klasse, die hatten da auch schon diese ‚Gespräche über Wichtiges‘ und so, müssen irgendwelche Lieder lernen. Wie eine Parodie auf die Oktjabrjata, also so Brigaden, bei denen sie mitmachen sollen, aber das ist pure Idiotie. Die Pioniere waren stolz, Pioniere zu sein. Heute gibt es leider absolut keinen Grund, stolz zu sein.“  

    „Wie soll man damit umgehen?“ 

    „Keine Ahnung, ich bin ja kein Politiker. Hab noch nicht mal drüber nachgedacht. Zuerst muss der Krieg vorbei sein, erst danach kann man bei uns was Ordentliches aufbauen.“ 

    Ein Antifaschist mit dem Spitznamen „Communist Sam“ sagt: „Im Fall einer Niederlage wird es in Russland keine Revolution geben, findet euch damit ab! Wenn Russland verliert und schwächer wird, oder schlimmer – wenn es auseinanderfällt, dann entsteht auf unserem Gebiet, auf dem aktuellen Territorium des russischen Staates, ein ‚weißes Afrika‘. Im Vergleich zu dem, was dann passiert, werden uns die Neunziger wie ein Muster an Ordnung und Rechtsstaatlichkeit vorkommen. Ich will Russland rot sehen, weil Russland stark genug sein muss, um die Revolution zu erleben, sie zu verteidigen und ihr Bollwerk zu werden. Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Ich diene der Sowjetunion.“ 

    Schützengräben sind der beste Ort für Gespräche über Politik, der Krieg ist ein unbestelltes Feld für revolutionäre Agitation.

    Sam ist der Meinung, momentan könne von einer Revolution keine Rede sein, weil die Arbeiter mit ihrer Situation zufrieden seien. Solange genug Brot da sei, würden sich die Massen nicht zum Aufstand erheben. Er sagt, die Schützengräben seien der beste Ort für Gespräche über Politik, und nennt den Krieg ein „unbestelltes Feld“ für revolutionäre Agitation: „Da bist du in einem Kollektiv, in dem du dich beweisen kannst. Und dann bedeutet deine Meinung auf einmal etwas für Leute, die gestern noch über nichts anderes als ihr täglich Brot nachgedacht haben. Dann ist es auch an der Zeit zu fragen, wozu und warum wir überhaupt da sind. Man darf sich für seine Kraft nicht schämen, man darf keine Angst haben, sie einzusetzen.“ 

    Fraglich bleibt, ob diejenigen, in die Sam den Keim der Revolution säen möchte, diese dann noch erleben werden. 

    Am Ende das Blut im Schützengraben 

    Denis Chromow ist nicht mehr erreichbar. Beim letzten Gespräch Mitte Februar 2024 sagte er, dieser Bericht sei „vielleicht das Letzte, was je über mich erscheinen wird“. Denn Chromow ist krank. 

    Er hat sich 2014 an der Front mit Tuberkulose angesteckt. Das erfuhr er vom Arzt in der Musterungsbehörde. Drei Jahre später zog er wieder in den Krieg. Er sagt, im Zivilleben konnte er nicht zu sich finden. „Es hat mich da hingezogen, und Punkt. Wahrscheinlich ist das wie eine Droge. Wenn du mit den Jungs zusammen im Schützengraben sitzt, wenn du unter Beschuss handeln musst, wenn alle mit demselben Löffel essen, keine Ahnung … Man hilft einander. Und zwar nicht aus irgendeinem Eigeninteresse, sondern aus reiner Kameradschaft. Hier draußen musst du dich ständig mit Arbeit und wegen der Kohle rumplagen, mit den sauren Visagen der Chefs, den ätzenden Kollegen. Na ja, hab ich gedacht, was soll ich machen? Ich musste wieder hin“, erzählte Denis. Er nahm Medikamente, die wirkten aber nicht: Das Röntgenbild war unverändert. Um wieder an die Front zu kommen, besorgte er sich ein fremdes, gesundes Bild.  

    Beim zweiten Einsatz kämpfte Denis acht Monate lang für die Donezker Volksrepublik. Dann kehrte er nach Hause zurück, weil es ihm nicht gefallen habe: „Da ist nichts mehr wie früher. Lauter hirnrissige Befehle, die Waffen waren der reinste Schrott, und dieses ‚das [die Waffen – dek] könnt ihr euch im Gefecht besorgen’, fickt euch. Die Stabsoffiziere tun nichts anderes als sich den Wanst vollzufressen und zu ficken, was ihnen über den Weg läuft. Du kommst fix und fertig zurück, hast zwei Tage nicht geschlafen, aber meinst du, dann ist Ruhe? Denkste, sie brummen dir irgendeine Kacke auf. Sagt mal, habt ihr sie noch alle?“, sagt Chromow. 

    Danach schlug sich Denis irgendwie durch: Er verlegte Stromleitungen und Parkettböden, bekam mit seiner Freundin einen Sohn. Er fühlte sich gesund, bis auf einen schleimigen Auswurf: Kaum hatte er den abgehustet, setzte sich der nächste Klumpen in der Kehle fest. Als er zum dritten Mal an die Front wollte, wusste er bereits, wo er ein manipuliertes Röntgenbild bekommen würde.  

    Seinen ersten offiziellen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium unterzeichnete Denis am 10. August 2023, doch er blieb nicht bis zum Schluss. Eines Tages wurde er „gestrichen“ und bei Luhansk direkt aus dem Schützengraben geholt. Davor hatte er einen Monat lang mit seinem Zug im Wald Gräben geschaufelt und auf Befehle von oben gewartet. Sein Tagesablauf sah so aus: Nachts im Schlafsack auf gefrorener Erde liegen, von früh bis spät mit der Schaufel hacken. „Wie ein verfickter Maulwurf“, schimpft Denis, „und für wen, wozu? Einfach, um die Soldaten zu schikanieren.“  

    Als er zum ersten Mal Blut auf dem Boden sah, dachte er, es käme von einem Zahn. Dann stieg das Fieber, er stützte sich schweißgebadet auf die Schaufel, konnte nicht mehr. Er sagte allen, er sei einfach völlig fertig. Kein Wort von der Tuberkulose. Mit jedem Tag wurde der Husten stärker, das Blut immer mehr. Ein Röntgenbild, das Denis im Krankenhaus in Rostow am Don machen ließ, zeigte riesige Entzündungsherde in der Lunge. Er wurde in seine Heimatstadt geschickt und musste Bedaquilin nehmen, ein Tuberkulosepräparat neuerer Art. Denis sagt, es sei das stärkste Medikament, das es gibt.  

     Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt?

    In den Krieg wird er nie wieder ziehen. Selbst wenn er wollte, würde er mit seiner Diagnose nicht genommen. Denis will aber auch gar nicht: „Ich hatte einfach eine Überdosis Zombieglotze und wollte dieses Abenteuer. Und dann war ich da ganz in diesen Zusammenhalt der Männer eingetaucht. Aber das war einmal, jetzt ist alles ganz anders.“  

    Am meisten ärgert sich Denis über den Staat. Und er findet, dass es für die Russen keinen Ausweg gibt. „Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Erinnerst du dich an den Bolotnaja-Platz? An die ‚Märsche der Millionen‘. Ich war selber dabei, als so wahnsinnig viele Leute in Moskau demonstriert haben. Und dann auf einmal der Maidan. Und im Fernsehen immer nur: Krieg! ‚Da seht ihr, was ihr habt von euren Umstürzen!‘ Und dann kamen heimlich, still und leise die Demonstrationsgesetze, wo es verboten ist, was verboten ist … Weil ihnen klar war, diesen Arschlöchern, dass das Volk sich echt zusammentut und sie so langsam die Kontrolle verlieren. Und dann haben sie alles so eingefädelt: Ihr habt es nicht anders gewollt – dann kämpft eben und geht drauf dabei. Diese dummen Wichser – die Freiwilligen und Vertragssoldaten –, die kapieren nicht, dass das nichts als ein verdammter Fleischwolf ist. Um solche wie uns loszuwerden, die bei den ‚Märschen der Millionen‘ mitmarschiert sind – damit wieder alles schön still ist. Wer soll denn noch auf die Straße gehen, wenn die Hälfte tot auf dem Schlachtfeld liegt? Ich bin enttäuscht, echt.“ 

    Zum Abschied bat uns Denis, seinen Namen nicht zu nennen, weil er für das, was er im Interview gesagt hat, eingebuchtet und als „Vaterlandsverräter“ gelten würde: „Sorgt bitte dafür, dass ich wenigstens zum Schluss noch meine Ruhe habe.“  

    Seitdem herrscht Funkstille. 

    Weitere Themen

    Bystro #13: Rassismus in Russland – kein Thema?

    Wie ich zum Nazi wurde

    Krieg im Kindergarten

    Revolution der Würde

    Shamans Kampf

    Z-Pop

    Die falsche Welt

    Volksmilizen (Opoltschenzy)

    Donezker Volksrepublik

    Debattenschau № 79: Delo Seti – Aktivismus vs. Journalismus?

  • Reise in das grausige Russland der Zukunft

    Reise in das grausige Russland der Zukunft

    Seit dem Jahr 2020, als die belarussischen Machthaber begannen, die Proteste niederzuschlagen, wurden mehr als 1400 NGOs liquidiert, berichtet das Online-Medium Pozirk. Auch die Festnahmen gehen weiter, längst werden auch Angehörige von bekannten Dissidenten, die sich im Ausland befinden, festgenommen. Kürzlich der Vater des Schriftstellers Sasha Filipenko. 

    Die Repressionen in Belarus haben mittlerweile ein Maß erreicht, über das sich selbst russische Journalisten und Dissidenten wundern. Sie befürchten, dass das System Putin die Maßnahmen aus dem Nachbarland in voller Gänze übernehmen könnte. Die russische Journalistin Katja Janschina hat am eigenen Leib erfahren, wie die belarussischen Machthaber gegen unliebsame Personen vorgehen. Sie wurde bei einer Recherchereise verhaftet und musste für 15 Tage ins Gefängnis. Was sie dort gesehen und erlebt hat, beschreibt sie in einem Beitrag für das russische Online-Portal no Future.

    Wie weit sind wir vom belarussischen Regime entfernt?

    Anfang des Jahres 2023 verschwand die russische Journalistin Katja Janschina. Sie war nach Belarus geflogen, um über den Gerichtsprozess der Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Wjasna zu schreiben. Sie standen vor Gericht, weil sie Menschen halfen. Nach der Verhandlung forderte man Janschina auf mitzukommen. Der Kontakt zu Katja brach ab und ihre Kolleg:innen von Memorial, Adwokatskaja uliza und das Team von no Future begannen, ihr einen Anwalt zu organisieren. Es stellte sich heraus, dass es in Belarus noch schwieriger ist, einen Anwalt zu finden, als in Russland – es gibt nahezu keine mehr. Zudem hat ihre Arbeit im Polizeistaat kaum Aussicht auf Erfolg. Nach 15 Tagen in einer überfüllten Zelle für politische Häftlinge wurde Katja nach Russland deportiert. Im Gespräch mit no Future bittet sie darum, ihre Erlebnisse nicht zu heroisieren und bezeichnet sie als „touristischen Ausflug“ – in eine Zukunft, in der man dafür verurteilt wird, dass man einen Telegram-Kanal abonniert hat, in der grundlos Wohnungen durchsucht, alte Menschen geschlagen und beleidigt werden und Polizisten voller Stolz die Bezeichnung „Oberfaschist“ tragen. 

    ***

    Zuerst sprach ein merkwürdiger Mann mit mir, er trug keine Uniform, aber seine Visage sagte ganz klar Staatssicherheit. Man merkte sofort, dass dieser Typ es gewohnt war, mit anderen Menschen auf eine ganz bestimmte Art zu sprechen. Er setzt sich hin, spricht dich sofort mit „du“ an und sagt dann mit so einer fordernden Stimme: „Vorstellen, Pass her“. Also völlig überzeugt davon, dass man ihm sofort alles gibt, alles aushändigt. Weil er es so gewohnt ist, er muss sich überhaupt nicht anstrengen. Als ich ihn im Gegenzug bat, sich vorzustellen, sagte er: „Da ich im Gericht war, sollte ja wohl klar sein, wer ich bin?“ Er muss sich also nicht vorstellen. Er fragte: „Kennst du überhaupt die belarussischen Gesetze, die Gesetze des Landes, in das du eingereist bist?“ Ich verstand, worauf er hinauswollte, aber mich ärgerte furchtbar, was gerade ablief. „Ich werde mit Ihnen nicht über Gesetze diskutieren, ich habe Jura studiert“, antwortete ich. Er fragte mich nach extremistischen Telegram-Kanälen aus. Ob ich wüsste, dass es in Belarus solche gibt. Ich erinnere mich noch, wie mich das auf die Palme brachte. Was sollte diese Frage überhaupt? Ich antwortete also: „Wenn Sie wirklich für die Rechtsschutzorgane arbeiten, dann stellen Sie normale Fragen, nicht so seltsame.“ Dann wollte er an mein Handy: „Gib mir dein Telefon und das Passwort, wir schauen mal rein.“ Ich sagte: „Auf keinen Fall.“ Er schaute mich an, als sei ich verrückt, winkte ab und sagte: „Bringt sie weg.“

    Illustration © no Future
    Illustration © no Future

    Man brachte mich auf eine typische Moskauer Polizeistation. Hätte ich nicht gewusst, dass ich in Belarus bin, hätte ich gedacht, ich sitze auf einer russischen Wache. Dieselben Typen, dieselben Gespräche, dasselbe Gefluche nach jedem Wort … Ihre Bullen sind wie unsere. Mit dem einzigen Unterschied, dass es viele junge Männer gibt, die mit politischen Fällen befasst sind. In Russland sind es meiner Erfahrung nach nur wenige junge Leute, die meisten sind Männer über 30. 

    Als ich im Protokoll las, ich hätte die Milizionäre beleidigt, angeschrien, sie provoziert und ihre Verwarnungen ignoriert, konnte ich mich nicht beherrschen. Ich wollte ihnen einfach zu verstehen geben, dass ich sehe, dass sie mir etwas anhängen wollen. Ich sagte: „Verstehen Sie eigentlich, woran Sie sich da beteiligen?“ Und die sagten nur: „Katja, du verstehst das doch alles, du bist doch ein erwachsener Mensch.“ Ich erwiderte: „Nichtsdestotrotz fabrizieren Sie hier gerade einen Fall. Auch wenn ihr nicht die Initiatoren seid, heißt das nicht, dass ihr unschuldig seid.“ Ich konnte deutlich sehen, dass es ihnen unangenehm war und sie auch alles verstehen. Sie wollten das ja gar nicht … „Du verstehst das doch“, „du bist doch erwachsen“, „wenn es nach uns ginge …“ – dieselben Reaktionen wie bei den russischen Bullen.

    Nach der Gerichtsverhandlung schickten sie mich für 15 Tage in den Strafisolator auf der Akreszina-Straße. Dort gibt es zwei Arten von Mitarbeitern: Die einen kommen, arbeiten und gehen wieder, und einige von ihnen haben sogar Mitleid mit dir. Die anderen finden es einfach geil, dass sie hier das Sagen haben. Als Masse sind sie gesichtslos in ihren Uniformen, aber einen konnte ich mir wegen seiner markanten Augenbrauen und besonderen Grausamkeit merken. „Sieh dir das an, die Smahary sehen schon genauso aus wie die Obdachlosen, genauso dreckig und verwahrlost, kein Unterschied“, sagte er zu einem Gehilfen. Smahar ist das belarussische Wort für Kämpfer – so werden die  Protestteilnehmer abfällig genannt. Später erfuhr ich, dass sein Name Jewgeni Wrublewski und er tatsächlich als einer der grausamsten Mitarbeiter bekannt war. Er selbst nannte sich den „Oberfaschisten“ von Akreszina. 

    Als die Zellentür aufging, waren da Menschen über Menschen. Sie saßen auf dem Bett, auf dem Tisch, auf der Bank, auf dem Boden … Es waren Frauen verschiedenen Alters, von 20 bis über 60 Jahre alt. Es gab eine Architektin, eine Buchhalterin, eine Klavierlehrerin, eine IT-Frau, eine Wirtschaftsanalytikerin, eine Projektleiterin, eine Mikrobiologin … Es waren keine herausstechenden Aktivistinnen – die sitzen schon alle im Gefängnis oder haben das Land verlassen. Es waren einfach Frauen, die ihr normales Leben lebten, zur Arbeit gingen und sich nicht vorstellen konnten, dass eines Tages jemand kommen und sie verhaften würde. 

    Viele werden für Reposts verhaftet. Das ist oft nicht einmal ein Post in den sozialen Netzwerken, sondern eine private Nachricht. Wenn du zum Beispiel einem Freund etwas aus einem verbotenen Telegram-Kanal weiterleitest. Und das muss nicht einmal etwas Politisches sein. Eine Frau saß in der Zelle, weil sie ihrem Freund den aktuellen Wechselkurs aus einem „extremistischen“ Kanal geschickt hatte. Aber es reicht auch schon, einfach in einer Chatgruppe zu sein, um eine Wohnungsdurchsuchung zu bekommen. Manchmal finden sie überhaupt nichts, aber dann wären sie ja umsonst da gewesen! Also schreiben sie 15 Tage Haft für Widerstand gegen die Polizei auf, holen sich dein Telefon und Passwort und suchen weiter. 

    In Belarus läuft das wie am Förderband – sie holen sich einen, dadurch finden sie die nächsten. Diese Arbeit ist dermaßen systematisiert, dass alle schon wissen: Die Razzien gegen Politische laufen am Donnerstag, also kommt immer freitags ein neuer Schwung Menschen in die Zelle …

    Illustration © no Future
    Illustration © no Future

    Die Toilette in der Zelle war zum Glück mit einer Metallwand mit Tür abgetrennt, aber alle Gerüche gingen in die Zelle, vor allem, wenn die Lüftungsanlage abgestellt war. Um sich zu waschen, gibt es in der Toilette eine Flasche, du füllst sie mit Wasser und kannst dich dann hinter der Wand der Körperpflege widmen. Man wäscht sich also am Waschbecken, dafür geben sie Haushaltsseife aus, aber man muss tagelang darum betteln. Zum Zähneputzen muss man bei der Krankenschwester um Aktivkohle bitten, und die Zähne dann alle paar Tage mit dem Finger schrubben. Damenhygiene … du fragst die Krankenschwester nach Binden, und sie gibt dir zwei ganz dünne pro Tag. Wenn die anderen Frauen nicht ihre eigene kleine Reserve hätten, wäre es kaum zu ertragen. Haarewaschen kann man dort eigentlich gar nicht, womit auch, deshalb flochten sich alle in der Zelle gegenseitig Zöpfe. Wir trugen alle diese Zöpfe. 

    In der Zelle gibt es drei sehr grelle Lampen, die ständig an sind. Wenn sich alle in eine Reihe auf den Boden schlafen legen, du deinen Kopf unter das Bett schiebst und oben jemand liegt, dann ist das Licht verdeckt … Oder man legt sich eine Socke auf die Augen. Aber, ehrlich gesagt, das Licht war noch das geringste Übel im Vergleich zu allem anderen, vor allem der stickigen Luft.

    Sie steckten immer wieder „asoziale“ Frauen in unsere Zelle. Sie brachten Läuse mit, und alle anderen bekamen sie dann auch. Manche Verwandten kamen auf die Idee, Läusemittel mitzuschicken, und so wuschen wir diesen Frauen die Haare, und uns selbst auch. Sie wurden wahrscheinlich in unsere Zelle gesteckt, um es uns noch unangenehmer zu machen und Streit zu schüren, aber das gelang nicht. Es waren ganz normale Frauen, nur eben mit gebrochenem Schicksal. Letztlich waren sie die Gestraften, denn in den anderen Zellen hätten sie ein eigenes Bett gehabt, ausgeschaltetes Licht und eine funktionierende Lüftung.
     
    Die Zelle für die Politischen ist immer voll. Aber das Schlimmste sind weder der unerträgliche Alltag noch die fünfzehn Menschen auf engstem Raum, nicht einmal die Läuse und Wanzen oder die stickige Luft. Das Schlimmste ist, dass du 15 Tage bekommen hast und bis zuletzt nicht weißt, ob du danach rauskommst oder ein Strafverfahren auf dich wartet … vielleicht bekommst du auch noch mal 15 Tage, oder sie finden in deinem Handy etwas gegen jemand anderen … Ich werde mir nie vorstellen können, was diese Frauen fühlten, die in dieser Zelle saßen und nicht wussten, ob sie am Ende rauskommen würden oder nicht. Und selbst wenn sie rauskommen, werden sie ständig in der Erwartung leben, wieder verhaftet zu werden.

    Ich hörte mir die Geschichten dieser Frauen an und dachte: „Was für ein Mist, das sind wunderbare Menschen, sie haben nicht verdient, dass das mit ihnen passiert, sie haben diesen Staat nicht verdient.“ Ich dachte darüber nach, warum so wenig darüber gesprochen wird, wo all das doch genau jetzt passiert. In dieser Zelle sitzen auch heute noch 15 Menschen, und manche werden da nicht mehr rauskommen, weil im Anschluss das Strafverfahren wartet.

    Illustration © no Future
    Illustration © no Future

    Warum erzähle ich das alles? Natürlich wird es nichts an der Regierung in Belarus ändern, es wird auch die Haftbedingungen der Politischen in Akreszina nicht menschlicher machen, aber wenigstens schaltet und waltet das Böse nicht in aller Stille und bei ausgeschaltetem Licht. Wir haben nicht viele Instrumente, um den Belarussen, besonders von Russland aus, zu helfen, aber wir sind verpflichtet, darüber zu sprechen. Und wenn es nur dazu führt, dass dieser Jewgeni Wrublewski, der Möchtegern-„Oberfaschist“, sich später seiner Verantwortung nicht entziehen kann, dass alles, was passiert, dokumentiert wird und es wenigstens später Gerechtigkeit geben kann. Damit die Menschen, die jetzt in diesem Moment das alles durchmachen müssen, das nicht umsonst tun. 

    Weitere Themen

    „Die zwei slawischen Autokratien leugnen den Lauf der Zeit“

    Brief an die Ukraine

    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

    Diktatoren unter sich

    „Putin und Lukaschenko sehen sich als Sieger“

    „Hau ab! Die Belarussen wollen es so!“