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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen“

    „Ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen“

    In der Nacht zum 11. Juli 2023 verstarb der belarussische Künstler und Aktivist Ales Puschkin auf der Intensivstation des Krankenhauses in der westbelarussischen Stadt Hrodna. Dorthin war er bewusstlos aus dem städtischen Gefängnis gebracht worden. Wie Medien später berichteten, soll ein Geschwür zum Durchbruch der Magenwand geführt haben. 

    Der Aufschrei nach Bekanntwerden seines Todes in der belarussischen Zivilgesellschaft und Kulturlandschaft war groß. In vielen europäischen Städten organisierte die belarussische Diaspora Gedenkveranstaltungen für den beliebten Künstler. 

    Warum Puschkin in Haft war, was ihn über die Jahrzehnte zu einem der prägendsten Künstler und Aktivisten in Belarus hat werden lassen – das erzählen die Journalisten Smizer Pankawez und Wassil Harbazjuk für das belarussische Online-Medium Nasha Niva.

    „Das Kreuz, das ich mir aufbürde, muss ich tragen, so schwer es auch sein mag. Was droht mir hier schon? Vielleicht sperren sie mich für fünf bis zwölf Jahre ein, aber ich werde leben, es wird mich doch niemand umbringen.“ Heute klingen diese Worte Ales Puschkins furchtbar. Er sagte sie 2021 in einem Interview mit Nasha Niva, nachdem er nach Belarus zurückgekehrt war, obwohl dort ein Strafverfahren auf ihn wartete. Er war aus Prinzip zurückgekehrt. Am nächsten Tag wurde er festgenommen. Ales Puschkin war einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler und Ikonenmaler in Belarus. Seine ereignisreiche Biografie umfasst sowohl den Afghanistan-Krieg als auch ein unkonventionelles Privatleben. Wir haben zusammengetragen, was über ihn bekannt ist.

    Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin
    Ales Puschkin im Selbstporträt / Bild © Privatarchiv Ales Puschkin

    Am 30. März 2021 wurde Puschkin an seinem Arbeitsort in Shylitschy im Kreis Kirau, wo er an der Restaurierung des Bulhakau-Palais arbeitete, abgeholt und ins Gefängnis von Hrodna gebracht. Genau ein Jahr später wurde er auf Grundlage von Artikel 130 Absatz 3 wegen „Anstiftung zu Rassen-, nationalem oder religiösem Hass“ verurteilt.

    Die Staatsmacht zog gegen ein von Puschkin gemaltes Porträt des Partisanen Auhen Shychar zu Felde, der in der Zwischenkriegszeit im Gebiet Wizebsk aktiv gewesen war. Man beschuldigte Puschkin, mit dem Gemälde den Nazismus zu rehabilitieren. Puschkin selbst bestritt das.

    Als das Strafverfahren angestrengt wurde, hielt Puschkin sich gerade in Kyjiw auf, das war noch lange vor Kriegsbeginn. Puschkin kehrte umgehend nach Belarus zurück, obwohl er wusste, dass ihm zu Hause eine Gefängnisstrafe drohte. Im Gespräch mit Nasha Niva sagte er damals, er sei bereit für einen echten Kampf, nicht für einen virtuellen. Das war nicht der erste Fall, in dem gegen den Künstler ermittelt wurde. Puschkin beteiligte sich erst am Kampf für die Unabhängigkeit von Belarus von der Sowjetunion, später ging er gegen das prorussische Regime Aljaxandr Lukaschenkas vor. 

    Sein Lebensweg endete am 11. Juli 2023 auf der Intensivstation der Notfallambulanz von Hrodna, wohin er aus unbekannten Gründen und in unbekanntem Zustand aus dem Hrodnaer Gefängnis überstellt worden war.

    Benannt nach seinem toten Bruder

    Puschkin wurde 1965 in der Kleinstadt Bobr im Kreis Krupki geboren. Sein Vater Mikalaj war Elektriker im örtlichen Sägewerk. Seine Mutter war aufgrund einer Behinderung kaum arbeitstätig.

    Der Vater wurde in der Sowjetzeit nach Tschita verbannt, später nach Sachalin. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde Mikalaj Iwanawitsch rehabilitiert. Puschkin war stolz darauf, dass seine Familie seit mindestens fünf Generationen in der Kleinstadt Bobr ansässig war und den Ort nie verlassen hatte. 

    Auch seine ältere Schwester Swjatlana lebt in Bobr. In der Familie hatte es bereits einen Aljaxandr Puschkin gegeben [Ales ist die belarussische Kurzform von Aljaxandr – dek], er war jedoch nur ein Jahr alt geworden. Vier Jahre später gaben die Eltern dem nächsten Sohn noch einmal denselben Namen. 

    Kriegsdienst in Afghanistan

    Im Alter von sechs Jahren begann Ales zu malen. Als er dreizehn Jahre alt war, kamen Talentsucher der Achremtschyk-Internatsschule für Musik und Bildende Kunst in den Ort. Die Schule nahm talentierte Kinder aus der ganzen BSSR auf. Der Vater beschloss, den Jungen zur Ausbildung nach Minsk zu schicken. Die Schule war ein geschlossener Ort, den die Schüler kaum verlassen durften. Ales lernte dort acht Jahre lang. 

    Anschließend begann er ein Studium am Belarussischen Staatlichen Institut für Theater und Kunst, das er für den Militärdienst unterbrechen musste. Das erste Diensthalbjahr leistete Ales in Kamyschyn, wo er gemeinsam mit Jaraslaw Ramantschuk diente; das darauffolgende halbe Jahr verbrachte er in Afghanistan, wo er als Mechaniker in einer Hubschrauberstaffel diente. Ales berichtete später, er habe in der Armee niemanden so gehorsam erlebt wie die Belarussen. 

    Er erzählte, dass der Vorsteher der Arrestzelle, Fähnrich Belski, sein in belarussischer Sprache verfasstes Tagebuch las und ihn daraufhin beim Vorgesetzten verpfiff. Der bestrafte Puschkin mit zehn Tagen Arrest. Insgesamt verbrachte Ales 28 Tage seines Kriegsdienstes unter Arrest.

    Einer der ersten politischen Gefangenen

    Zurück in Belarus schloss Ales sich der Talaka-Bewegung an, später der Belarussischen Volksfront. Im Vorfeld der legendären Aktion an Allerheiligen (Dsjady) 1988 verbreitete Puschkin Flugblätter mit dem Aufruf zur Teilnahme an der Veranstaltung. Er wurde noch vor der Aktion festgenommen und zu fünf Tagen Freiheitsentzug verurteilt, die er in Einzelhaft im Akreszina-Untersuchungsgefängnis verbrachte. 

    Am 25. März 1989 ging Ales Puschkin auf die Straße. Er hatte eine durchgestrichene Flagge der BSSR und ein Plakat mit der Aufschrift: „Nieder mit der sozialistischen Republik, lassen wir das unabhängige Belarus auferstehen!“ dabei. Damit wollte er den gesamten heutigen Prospekt der Unabhängigkeit entlanglaufen, bis zum Regierungsgebäude, doch schon bei der Akademie der Wissenschaften wurde er festgenommen. 

    Das Gericht verurteilte den Künstler zu zwei Jahren auf Bewährung und entzog ihm für fünf Jahre das Wahlrecht. Allerdings wurde er nicht vom Studium ausgeschlossen. Zur Verhandlung erschien der Künstler im traditionell bestickten Hemd (Wyschywanka) und antwortete auf Belarussisch, was damals einer Kampfansage an das sowjetische System gleichkam. 

    Noch im selben Jahr ging die Staatspresse zu einer Hetzjagd auf Ales Puschkin über. Die Zeitungen schrieben, er träume von „einem Belarus ohne Juden und Kommunisten“. Zehn Jahre später sagte Ales, er wolle ein Belarus sowohl mit Juden als auch mit Kommunisten, im Land solle Platz für alle sein. 

    Die Galerie U Puschkina

    Nach dem Studium ging Ales nach Wizebsk. Er sagte, er habe sich diese Stadt selbst ausgesucht, da seine Geschichte mit der Malerei, Chagall und Malewitsch, verbunden sei. Er arbeitete in einem Betrieb für Kunsthandwerk und hatte einen Wohnheimplatz. Doch das genügte Ales nicht, und so eröffnete er bald die seinerzeit erste private Kunstgalerie des Landes, die er ganz bescheiden U Puschkina [dt. Bei Puschkin] nannte. 

    An diesem Ort fand der erste Kongress der belarussischen Nationalisten statt, initiiert von Puschkin und Slawamir Adamowitsch. Die Veranstaltung wurde von der Polizei aufgelöst. 1997 musste die Galerie schließen. Im November 1994 führte Ales eine seiner schillerndsten Performances auf: Barfuß lief er durch die vom ersten Schnee bedeckten Straßen der Stadt Wizebsk, um den Leidensweg des unierten Metropoliten Josaphat Kunzewitsch nachzuvollziehen. Danach setzte er sich in ein Boot ohne Ruder und ließ sich die Dswina (Düna) hinuntertreiben. 

    Zwei außereheliche Töchter, zwei eheliche Kinder

    Politik stand für Puschkin jedoch nie im Vordergrund. Er lebte für die Kunst; um sein Privatleben ranken sich Legenden. In seiner Jugendzeit hatte Ales eine Romanze mit einer russischen Geschäftsfrau aus Tambow. Er war 24, sie 39 Jahre alt. Aus der Beziehung stammt seine Tochter Hanna.

    Später erregte Ales Aufmerksamkeit mit der Aussage, er würde nie eine Frau heiraten, die nicht Belarussisch spricht. In seiner Zeit in Wizebsk hatte er eine weitere Affäre, aus der seine Tochter Dascha hervorging. Lange Zeit wusste der Künstler nichts von ihrer Existenz; er lernte sie erst kennen, als sie schon 17 Jahre alt war. Beide Töchter sprechen Belarussisch. 

    1997 heiratete Puschkin schließlich. Seine Auserwählte war eine junge Frau, die weit von dem Leben der Bohème entfernt war – eine Lehrerin aus dem Kreis Staubzy namens Janina Demuch. Sie hatten sich in Mahiljou kennengelernt, wo Ales als Restaurator der Kathedrale des Heiligen Stanislaus arbeitete. Über die Jahre war aus dem provokanten Performance-Künstler Puschkin ein Restaurator und Ikonenmaler geworden. 

    Alles in allem war Puschkin ein Mensch, der eine gewaltige Transformation durchlebt hatte und nach wie vor durchlebte, sowohl in künstlerischer als auch in ideologischer Hinsicht. Janina war katholisch, Ales orthodox. Die Ehe brachte zwei Kinder hervor, Mikola und Marylja. Auf das erste Kind mussten die beiden sechs Jahre lang warten, in diese Zeit fielen zwei Fehlgeburten. Die Eltern setzten durch, dass ihr Sohn in der Schule auf Belarussisch unterrichtet wurde.

    Wandmalerei in der Kirche von Bobr

    Die Wandmalerei in der orthodoxen Kirche seiner Heimatstadt Bobr bezeichnete Ales als eine der wichtigsten Arbeiten seines Lebens. Das berühmteste Motiv zeigte Sünder vor dem Jüngsten Gericht, und in ihrer Mitte einen Mann, der Ähnlichkeit mit dem belarussischen Diktator hatte. Zudem waren auf dem Gemälde OMON-Leute und hohe orthodoxe Würdenträger abgebildet. 

    Dieses Bild musste Ales später übermalen, dennoch blieb seine Gesamtgestaltung der Kirche erhalten. Sonntags läutete Puschkin die Glocken in der Kirche. 2011 brannte die Kirche aus ungeklärten Gründen vollständig ab und musste von Grund auf neu erbaut werden. 

    Mist für Lukaschenka

    Die berühmteste Performance Puschkins ist zweifelsfrei der Mistkarren, den er im Juli 1999 vor Lukaschenkas Präsidialverwaltung schob. Ein roter Karren; weiße Handschuhe. Ales kippte den Mist aus, darüber warf er wertlose Rubelscheine und die Verfassung. Dann durchbohrte er diesen Haufen mit einer Mistgabel. Er wurde von Polizisten festgenommen, im Verhör weigerte er sich, seinen Namen zu nennen, und sagte, er sei „ein Mann aus dem Volk“. Man ließ ihn unter Auflagen laufen, aber einige Zeit später wurde er wegen Rowdytum zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.


    Ales Pushkin und seine berühmteste Performance „Ein Geschenk für den Präsidenten“ am 21. Juli 1999

    2015 sagte Puschkin, er würde im Jahr 2020 eine Schubkarre voll Rosen zur Präsidialverwaltung bringen, sollte Belarus dann noch ein unabhängiger Staat sein. Doch dann kam alles ganz anders. Ein weiteres Strafverfahren gegen Puschkin wäre beinahe im September 2007 eröffnet worden, als er nach dem Festival Schlacht bei Orscha gemeinsam mit Aktivisten der Malady Front [dt. Junge Front] aufs Polizeirevier gebracht wurde, wo er in einem unbeobachteten Moment die Staatsflagge nahm und sie aus dem Fenster des zweiten Stocks warf. Der Künstler sollte daraufhin wegen „geringfügigen Diebstahls“ angeklagt werden, aber vor Gericht sagte er, er wolle nicht mit solchen Formulierungen behelligt werden und lieber gleich ein ordentliches Strafverfahren bekommen. Letztlich blieb es dann bei zehn Tagen Untersuchungshaft. 

    Foto © AP/picture alliance
    Foto © AP/picture alliance

    Das sind bei Weitem noch nicht alle Abenteuer, die der Künstler erleben durfte. Er wurde dafür festgenommen, dass er sich in einem Telefongespräch negativ über den KGB-Chef Szjapan Sucharenka äußerte, und er sollte für eine Explosion zur Verantwortung gezogen werden, die am Kupalje-Fest 2013 auf seinem Grundstück passierte, als er Graupensuppe kochte. Mit den Geschichten, die sich um Puschkin ereigneten, könnte man wohl ein Buch füllen.

    Puschkin war dieser Typ Künstler, dessen Leben gern verfilmt oder in Romanen festgehalten wird. 

    2020 wurde Puschkin während der Proteste um die Wahlen verprügelt, und auch daraus machte er eine Performance, indem er die blauen Flecken an Bauch, Rücken und Hintern öffentlich zur Schau stellte. Der Künstler hatte zuvor drei Tage im Akreszina-Gefängnis verbracht. Er nahm an fast allen Sonntagsmärschen und auch anderen Aktionen teil, wobei er eine Ikone bei sich trug.

    Am 26. März 2021 eröffnete das Lukaschenka-Regime das Strafverfahren gegen ihn wegen des Auhen Shychar-Porträts. Am 30. März wurde Puschkin nach seiner Rückkehr aus dem Ausland festgenommen. Ein Jahr verbrachte der Künstler in Einzelzellen in Untersuchungshaft. Während einer Gerichtsverhandlung am 25. März 2022, die wie alle politisch motivierten Prozesse unter Lukaschenka einer Inszenierung glich, schnitt Puschkin sich zum Zeichen des Protestes den Bauch auf. Zudem weigerte er sich aufzustehen und verlangte, dass man ihm die Handschellen abnimmt. Am 30. März 2022 sprach Richterin Alena Schylko das Urteil: fünf Jahre Hochsicherheitslager. Ales Puschkin war einer von tausenden Belarussen, die aus politischen Gründen ihrer Freiheit beraubt wurden. 

    Die massenhaften politischen Repressionen in Belarus halten seit 2020 an, als Aljaxandr Lukaschenka – legt man die Ergebnisse der Wahllokale zugrunde, bei denen unabhängige Beobachter zugelassen waren – die Präsidentschaftswahl an Swjatlana Zichanouskaja verlor, sein Amt aber nicht abtrat. 

    Seit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 werden Belarussen auch für Meinungsäußerungen verfolgt, die sich gegen den Krieg richten und Sympathie mit der Ukraine bekunden. Seit 2020 gab es in Belarus mehr als 50.000 politisch motivierte Festnahmen; über 12.000 politische Strafverfahren wurden eröffnet. Zu manchen politischen Gefangenen besteht seit Monaten kein Kontakt mehr. 

    Ales Puschkin wurde im August 2022 von der Verwaltung des Lagers Nr. 22 mit fünf Monaten Isolationshaft bestraft. Im Frühjahr 2023 wurde er schließlich ins Gefängnis in Hrodna überstellt. In der Gefangenschaft malte Puschkin weiter, auf alles, was ihm in die Hände kam. Seine letzten Werke verbleiben bei den Lagerhäftlingen und Gefängnisinsassen, denen es gelang, sie zu bewahren. 

    Auf Anfrage teilte das Gefängnis in Hrodna Nasha Niva mit, dass Puschkin in die Notfallambulanz eingeliefert worden sei. Das Krankenhaus wiederum bestätigte, der inhaftierte Künstler sei mit Wachschutz in der Notaufnahme gewesen. Seine Familie wusste nichts davon. 

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  • Wer ist Ales Bjaljazki?

    Wer ist Ales Bjaljazki?

    Nasha Niva stellt den belarussischen Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki vor. Der Gründer der Menschenrechtsorganisation Wjasna hat sich bereits in den 1980er Jahren für Freiheit und Menschenrechte eingesetzt. Wjasna wurde 2003 die Registrierung entzogen, Bjaljazki selbst sitzt seit 2021 in Haft. Die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch mahnte an, „ein solcher Mensch darf nicht im Gefängnis sein, das ist eine Erniedrigung sowohl für das Volk als auch für die Staatsmacht selbst, falls sie das versteht“.

    Das Nobelkomitee aus Oslo hatte am Freitagmittag, 7. Oktober, seine Entscheidung verkündet: Der Friedensnobelpreis geht in diesem Jahr an den Belarussen Bjaljazki und an die Menschenrechtsorganisationen Center for Civil Liberties (Ukraine) und Memorial (Russland). 

    Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki / Foto © Nasha Niva
    Der belarussische Menschenrechtler Ales Bjaljazki / Foto © Nasha Niva

    Ales Bjaljazki ist 60 Jahre alt [geboren am 25. September 1962 – dek]. Sein Vater kam aus dem Rajon Rahatschou in der Oblast Homel, seine Mutter aus Naroulja im gleichen Gebiet. Ales Bjaljazki wurde jedoch in Karelien geboren. Wie kam es dazu? Die Familie war 1940 dort hingezogen, gleich nach dem sowjetisch-finnischen Krieg. In Belarus herrschte damals große Armut, und in Karelien gab es praktisch keine Kolchosen, rundum viel Wald und Verdienstmöglichkeiten, es war fast ein Paradies. Bjaljazkis Großvater hatte deshalb das Angebot, dorthin zu gehen, angenommen. Letztlich ist die Familie erst 1964 nach Belarus zurückgekehrt, als Ales zwei Jahre alt war.

    Seine Eltern konnten sich lange nicht zwischen zwei Städten entscheiden, die damals aufgebaut wurden, zwischen Swetlahorsk und Salihorsk. Die Wahl fiel schließlich auf erstere, in Swetlahorsk verbrachte der Menschenrechtler seine Kindheit.

    Schließlich studierte Ales Bjaljazki belarussische Philologie an der Universität Homel. Dort bildete sich eine belarussischsprachige Gruppe, zu der auch Anatol Sys und Sjarhej Sys (sie sind nicht verwandt), Eduard Akulin und Anatol Kaslou gehörten. In jener Zeit reiste Bjaljazki viel in Belarus umher. Und die größte Entdeckung bestand für ihn darin, dass „die belarussische Sprache weiterlebt“. 

    Bjaljazki und die Band Baski / Foto © Nasha Niva/privat
    Bjaljazki und die Band Baski / Foto © Nasha Niva/privat

    Während des Studiums spielte er als Gitarrist in der Band Baski und lernte schließlich auch seine spätere Frau Natalja kennen, 1981 in der Stadt Lojeu, als Verwandte von Natalja heirateten. Natalja und Ales Bjaljazki schlossen 1987 den Bund fürs Leben. Bis dahin hatte Bjaljazki schon als Lehrer im Rajon Leltschyzy gearbeitet und seinen Wehrdienst in Jekaterinburg (damals Swerdlowsk) abgeleistet.

    Bjaljazki in jungen Jahren / Foto © Nasha Niva/privat
    Bjaljazki in jungen Jahren / Foto © Nasha Niva/privat

    Ales Bjaljazki war unter denjenigen, die die ersten offiziellen Demonstrationen in der Belarussischen Sowjetrepublik organisierten, darunter die berühmte Demonstration in Minsk am 30. Oktober 1988. Als die Demonstration auseinandergejagt wurde, zerissen sie seine Jackenärmel, Bjaljazki wurde aber nicht festgenommen.

    Lange Zeit entwickelte sich Bjaljazkis Karriere in Richtung Schriftstellerei: Er veröffentlichte zahlreiche literaturwissenschaftliche Beiträge und war einer der Begründer von Tuteischyja, einer Vereinigung junger Literaten. 1988 wurde er Direktor des Maxim-Bahdanowitsch-Literaturmuseums.

    Ales Bjaljazki war außerdem Mitglied des Organisationskomitees der Belarussischen Volksfront (BNF). 1991 wurde er Abgeordneter im Minsker Stadtrat. Am Tag des Putsches des Staatskomitees für den Ausnahmezustand (GkTschP) im August 1991 veröffentlichte er zusammen mit 28 weiteren Abgeordneten eine mutige Erklärung mit dem Aufruf, „der rechtmäßig gewählten Regierung die Treue zu halten“.

    Die Menschenrechtsorganisation Wjasna

    1996 gründet Bjaljazki das Menschenrechtszentrum Wjasna-96. Bereits damals, vor 25 Jahren, brauchten immer mehr Menschen, die unter dem Vorgehen der Regierung gelitten haben, Unterstützung – juristische, psychologische und jedwede andere Hilfe. 

    Wjasna war sogar offiziell registriert, auch wenn das heute schwer zu glauben ist, 2003 wurde diese Registrierung per Gerichtsbeschluss entzogen. Die Wahlbeobachtung bei den Präsidentschaftswahlen 2001 hatte das Faß zum Überlaufen gebracht. 
    Das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen befand, dass die belarussische Regierung mit der Auflösung von Wjasna internationale Abkommen verletzt hat. Offizielle Stellen in Minsk erwiderten darauf aber, dass solche Ansichten lediglich „Empfehlungen“ seien.
    2006 überreichte Václav Havel den Homo-Homini-Preis an Ales Bjaljazki und würdigte damit dessen Menschenrechtsarbeit. Von 2007 bis 2016 war Bjaljazki auch Vizepräsident der Internationalen Föderation der Menschenrechtsorganisationen (FIDH).

    Strafverfahren und Haft

    Das erste Strafverfahren gegen Bjaljazki wurde 2011 eröffnet, wegen angeblicher Steuerhinterziehung in besonders großem Umfang. Die belarussischen Behörden hatten damals von den Bankkonten erfahren, die Wjasna in Litauen hatte. Diese Gelder waren jedoch nicht in Bjaljazkis Taschen gewandert, sondern wurden für die Arbeit der Organisation verwendet. Bjaljazki wurde zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Seine Aussagen während der Ermittlungen und vor Gericht machte Bjaljazki auf Belarussisch, für ihn eine Frage des Prinzips.

    Seine Strafe verbrachte Bjaljazki in einer Haftanstalt bei Babruisk, wo er in einer Nähwerkstatt arbeitete. Während seiner Inhaftierung wurde der belarussische Menschenrechtler mehrfach für den Friedensnobelpreis nominiert, und der norwegischen Presse zufolge galt Bjaljazki immer wieder als einer der Favoriten.

    Bjaljazkis Haft dauerte knapp drei Jahre. Im Juni 2014 kam er aufgrund einer Amnestie frei. Pawel Schabeka, ein Oberstleutnant des Strafermittlungskomitees, bekannte später seine Schuld bei der politische Verfolgung Bjaljazkis. 

    Ales Bjaljazki pflegte während seiner Haft einen aktiven Briefwechsel, sämtliche Briefe nahm er bei seiner Freilassung mit. Es gelang ihm auch, Manuskripte für mehrere Bücher zu verfassen, die er nach seiner Freilassung veröffentlichte. Und er setzte seine Menschenrechtsarbeit fort. Er hatte vielfach die Möglichkeit auszuwandern oder nach Auslandsreisen nicht nach Belarus zurückzukehren. Doch ein ums andere Mal kam er nach Minsk zurück, obwohl er sehr genau wusste, was ihn dort erwarten könnte.

    Ales Bjaljazki nennt als seine Hobbys Pilze suchen und Blumenzucht. Auf der Datscha baut er Kartoffeln, Gurken und anderes Gemüse an. Er hat einen Sohn namens Adam, der 2021 wegen eines Einzelpikets für die verurteilten Journalistinnen von Belsat festgenommen, verprügelt und für 15 Tage ins Okrestina-Gefängnis kam.

    Erneute Festnahme 2021

    Am 14. Juli 2021 wurde Ales Bjaljazki erneut festgenommen. Er befindet sich derzeit im Gefängnis, ihm wird „Schmuggel“ (§ 228 des belarussischen Strafgesetzbuches) und die „Finanzierung von gemeinschaftlichen Handlungen, die die öffentliche Ordnung in grober Weise verletzen“ (§ 342 Abs. 2) vorgeworfen.

    Zusammen mit Bjaljazki mussten auch andere Mitarbeiter von Wjasna hinter Gitter: der stellvertretende Leiter Waljanzin Stefanowitsch und der Koordinator der Kampagne Menschenrechtler für freie Wahlen Uladsimir Labkowitsch.

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    Brief an die Ukraine

    Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

    Bystro #38: Proteste in Belarus 2020. Was ist vom Widerstand geblieben?

    „Für alle, die in Gefangenschaft sind“

    Zitat #16: „Bjaljazki ist für mich eine mythologische Figur des belarussischen Kampfes“

    Memorial

  • „Als Staatsbürger fühlt man sich in Belarus schutzlos“

    „Als Staatsbürger fühlt man sich in Belarus schutzlos“

    Allein im ersten Jahr nach dem Beginn der historischen Proteste 2020 haben zwischen 100.000 und 150.000 Belarussen ihre Heimat verlassen – aus Angst vor Festnahme und Repression. Mittlerweile dürfte die Zahl um ein Vielfaches gestiegen sein. Vor allem in Polen und Litauen versuchen sie, sich ein neues Leben aufzubauen. Dorthin sind auch viele Belarussen in einer Art zweiten Flucht gegangen, nachdem sie zunächst in die Ukraine geflohen waren, dann aber aufgrund des Krieges auch diese kurzfristige Wahlheimat wieder verlassen mussten. Mittlerweile verweigert die Ukraine Belarussen in vielen Fällen auch offiziell die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung wegen der Unterstützung des Krieges durch das Lukaschenko-Regime. Machthaber Alexander Lukaschenko hat das belarussische Staatsgebiet der russischen Führung als Aufmarschgebiet für die Großinvasion gegen die Ukraine zur Verfügung gestellt, bis heute werden von Belarus aus Raketen geschossen. 

    Einer von denen, die unfreiwillig in der Diaspora gelandet sind, ist der belarussische Schriftsteller Sergej Kalenda, der auch Herausgeber der renommierten Literaturzeitschrift Minkult ist. Er hat Belarus zu Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 verlassen. 

    Im Interview mit dem belarussischen Online-Medium Nasha Niva erzählt Kalenda von seiner Flucht, von den Schwierigkeiten und Herausforderungen in der Fremde anzukommen, von der Zukunft der belarussischen Literatur und letztlich davon, wie schmerzvoll es ist, zuzusehen, wie seine Heimat immer tiefer in Repressionen versinkt.

    Sergej Kalenda / Foto © Nasha Niva
    Sergej Kalenda / Foto © Nasha Niva

    Warum haben Sie Belarus verlassen, was war der Auslöser für diese Entscheidung?

    Wir haben in Belarus viel gekämpft, um alles in der Welt. Zuerst hatten wir gar nicht vor, das Land zu verlassen, zu Beginn waren wir ja sehr euphorisch und wollten vieles verbessern. Als alles unterdrückt, alle der Reihe nach verhaftet wurden, stellte sich die Frage: „Was machen wir jetzt?“ Bis zuletzt haben wir nichts unternommen. Ich beschäftigte mich weiter mit der Zeitschrift Minkult, blieb Partisan und half anderen (so wie wahrscheinlich alle Belarussen, das ist ein unverzichtbarer Teil unseres Lebens, der immer bestehen bleiben wird).

    Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war ein Anruf meines Bruders am 24. Februar um sechs Uhr morgens. Er lebt in Russland an der Grenze zur Ukraine, in Brjansk. Er sagte, alles sei voller Soldaten, die Kampfjets seien unterwegs, ringsum Bomben – der Krieg hat begonnen. Ich sagte damals sofort, das reicht – wir sind weg. Weil es mich nicht interessiert, für das heutige Belarus in den Krieg zu ziehen. Und auch nicht, für meine Werke im Knast zu landen.

    Ich habe Freunde, die sagen, sie bleiben und sind bereit, für Belarus ins Gefängnis zu gehen. Sie finden, mit einem solchen Schritt würden sie in die Zukunft des Landes investieren. Ich sehe meinen Nutzen nicht darin, hinter Gittern zu sitzen, sondern vielmehr in den Zeitschriften und literarischen Texten, die ich produziere. Und in dem, was ich meinen Kindern bieten kann, natürlich.       

    In Minsk waren Sie als Friseur einen Monat im Voraus ausgebucht, haben Sie Ihre Kunden einfach hängen lassen?

    Ja, von heute auf morgen habe ich hingeschmissen und niemanden vorgewarnt. Nicht einmal mein Vater wusste, dass ich nach Vilnius gehe. Ich habe mich einfach zurückgezogen und alles so gemacht, wie ich es wollte. Meine Frau hat mich natürlich unterstützt. Sie war ohnehin nur noch mir zuliebe in Minsk. Für mich war das so: Als Corona begann, saßen wir zu Hause, und ich so – gleich wirst du sehen, wie wichtig es ist, seinen eigenen Grund und Boden zu haben, abseits von allen anderen (wir hatten nämlich Haus und Garten). Mein Plan war, selbst Gemüse anzubauen und uns von der Epidemie fernzuhalten. Dann begann die Revolution, und ich sagte: Jetzt verteidigen wir Belarus, und dann bauen wir ein großes Haus bei Rudensk. Ich gab sogar schon die Pläne in Auftrag, mit toller Architektur, die Vermessung. Ich wollte da nach dem Sommer Schreibwerkstätten für befreundete Schriftsteller veranstalten.  

    Aber dann beschlossen wir, dass wir weiter weg müssen – nach Europa.    
    Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie mein Sohn leben soll, wenn der Krieg auch über Belarus kommt. Und was er davon mitnimmt, was für Werte er haben wird. 

    Wir wollten immer Veränderungen, damit unser Leben weniger langweilig wird  

    Ich bin mein Leben lang mit freien Ideen aufgewachsen, meine Mutter hat mir von klein auf die Freiheit gelassen. Ich war am Gymnasium Nummer 29, da haben die Lehrer im Literaturunterricht Diskussionen gefördert (wenn ihr nicht diskutiert, habt ihr schlampig gelesen). Überhaupt war die ganze Klasse interessant: Mein Mitschüler Andrej zum Beispiel war der Enkel von Wladimir Gontscharik, der einmal bei den Präsidentenwahlen kandidiert hat. Schon in der elften Klasse haben wir überall patriotische Igel-Aufkleber verteilt. Und im Hof hatte ich überhaupt lauter Punks als Freunde. Wir wollten immer Veränderungen, damit unser Leben leichter und weniger langweilig wird.    

    Aber jetzt verstehe ich einfach nicht, wie das gehen soll – losgehen, um sich ein rotes Tuch umzubinden und den Schultag mit der Hymne anzufangen. Überhaupt ist es undenkbar, an einem Ort weiterzuleben, wo alle im Knast sind. Oder dass mein Sohn hier groß wird, mit 15 auf die Barrikaden steigt und eingesperrt wird. Ich will, dass er rausgeht und in dem Land, in dem er aufwächst, etwas bewirkt. Und dass er dafür, das auszuprobieren, nicht erschossen wird.  

    Was das Stichwort „weiter weg“ angeht, so sagen manche, Vilnius sei mit all den Drohungen in Richtung NATO und den Gesprächen über die Suwalki-Lücke nicht wirklich sicher … 

    Abgesehen von Minsk habe ich am längsten in Vilnius gelebt, hier ist mir alles mehr oder weniger vertraut und nahe, deswegen haben wir uns für diese Stadt entschieden. Aber im März, fast sofort, nachdem wir angekommen waren und ich in einem Friseursalon angefangen hatte, kamen meine litauischen Kollegen natürlich mit ihren Ängsten auf mich zu. Sie sagten ganz direkt, dass sie sich vor einem Krieg und einer Okkupation fürchten, und es hat einfach alles gezittert vor Angst.

    Ich erklärte meinen Kollegen aber, dass dieser ganze Horror absolut nicht vergleichbar ist mit einer Situation, in der du null Unterstützung hast, so wie in Belarus. In Litauen wird der Staat versuchen, dich zu schützen, die NATO, das eigene Militär. In Belarus kräht leider kein Hahn nach dir, was man schon am Beispiel des Coronavirus gesehen hat und jetzt an den militärischen Vorgängen, die sich auf unserem Territorium abspielen. 

    Als Staatsbürger fühlt man sich in Belarus schutzlos, und das lässt einem keine Ruhe und gesteht einem nicht zu, gut zu leben. Du sitzt nur da und machst dir Sorgen, entweder, dass sie dich einsperren oder dass du stirbst, weil ja der Krieg beginnt. 

    Wie schnell haben Sie sich eingelebt?

    Meine Freunde sagten, ich bin Weltmeister darin, auf schnellstem Wege Wohnung und Arbeit zu finden. Auf der Fahrt nach Vilnius, an der Grenze, sagte ich zu meiner Frau: Wenn wir in zwei Monaten nicht Wohnung und Arbeit haben, dann ist Vilnius nichts für uns, dann fahren wir weiter. 

    Foto © Nasha Niva
    Foto © Nasha Niva

    Nach drei Tagen bekam ich ein Jobangebot im Schönheitssalon Figaro. Wobei 60 Prozent meiner Kunden aus Minsk bereits hier sind, sodass ich nie ein Problem mit dem Kundenstamm hatte. Na ja, und Figaro ist ein Privatunternehmen, das seit Anfang der 1990er besteht und heute eine der größten Ketten ist. Ich wusste, dass sie viele Angestellte beschäftigen und ich bei ihnen als Marktführer anklopfen muss. Sie suchten gerade gute Stylisten, Allrounder, die auch als Ausbilder neuer Schnitttechniken eingesetzt werden können.

    In einem Interview haben Sie erzählt, dass Sie einmal einem Ex-KGB-Mitarbeiter die Haare geschnitten haben. Würden Sie das heute noch tun?

    Wenn so etwas in Vilnius vorkommen würde, dann hätte ich hier das Recht, den Auftrag abzulehnen: Hier gilt nicht, dass der Kunde immer recht hat. Ein Fachmann kann eine Leistung verweigern, wenn er ein Problem damit hat. In Minsk wäre ich in der Falle: Würde ich ablehnen, könnte es Konsequenzen geben. 

    Jedenfalls ist es mir an diesem neuen Ort sofort besser gegangen. Das wirkte sich positiv auf den Schwung in meinem literarischen Schaffen aus. Ich fing wieder an zu schreiben, kehrte zurück zu den Plänen, die ich anderthalb Jahre lang aufgeschoben hatte. Hier habe ich die Ressourcen, kreativ zu sein und nicht nur Geld zu verdienen, das ist wichtig.  
    Ich fand sofort die Kraft, um eine neue Ausgabe von Minkult zu machen.

    Erzählen Sie mal, in welcher Produktionsphase sich Ihre Literaturzeitschrift derzeit befindet?

    Wir hatten zwei neue Ausgaben geplant: eine zu Reisen und Emigration und eine zum Krieg in der Ukraine. Die zweite liegt noch auf Eis: Ich habe ukrainische Kollegen kontaktiert, aber sie wollen momentan keine Einschätzungen und Texte liefern, weil ja für sie (wie auch für uns) der Krieg weitergeht. Und irgendwelche Zwischendurch-Texte will niemand so recht schreiben. 

    Reisen und Emigration habe ich nicht einfach nur so zusammengemixt. Diese zwei Konzepte widersprechen einander und gehören gleichzeitig zusammen: Es gibt Leute, die gehen auf Reisen und daraus wird eine Emigration, und andere wieder wandern aus, aber betrachten das als Reise, sind nicht an einen festen Punkt gebunden.

    Die Belarussen sind nicht zum ersten Mal dazu gezwungen, ihr Land zu verlassen, aber wir wissen trotz allem, dass wir zurückkommen und wieder etwas Neues und Interessantes beginnen werden. Für mich ist die wichtigste Frage, wann das passieren wird: Ob ich noch die Mittel haben werde, mir an einem neuen Ort wieder ein Leben aufzubauen, oder schon nicht mehr.

    Ich wünsche mir, dass die Zeitschrift [Minkult – Anm. dek] in ihrer Form weiter besteht. Dass sich die 300 Menschen finden, die das brauchen. Eine engagierte Leserschaft, die die Zeitschrift erhält, an Bibliotheken verschickt, Bookcrossing betreibt. Auf diese Weise werden gedruckte Exemplare irgendwann auf Malaysia auftauchen, und das hat doch was.
    Zumal ich provokative Texte sammle, die meist nicht in anderen Zeitschriften unterkommen, weil diese auf ein bestimmtes Format, eine Etikette achten. Ich mag Punk in der Literatur, und es soll auch bei uns alternative Literatur geben. 

    Ist es für einen Schriftsteller ein Geschenk oder eine Heimsuchung, in so einer schwierigen historischen Zeit zu leben?

    Es gibt so einen Begriff wie Schaffenskrise, Schreibblockade. Der oft nicht von den Geschehnissen rundherum abhängt. Manche Schriftsteller leben in ihrem eigenen Universum, kapseln sich ab, für sie ist es unwesentlich, wo sie leben (werden), um ihre Literatur zu erschaffen.

    Aber ich muss da an ein Gespräch mit einem deutschen Schriftsteller in Berlin denken. Das war 2010, als unsere Proteste noch nicht so allgemein bekannt waren, es sie aber schon gab. Er sagte damals: ‚Ihr habt das Glück, in Krisenzeiten zu leben, in denen das Kunstschaffen brisanter wird.‘ Ich sah ihn an, er war teuer eingekleidet, trank teuren Sekt in einem Coworking-Space für Kreative. Und gab zurück: ‚Ich würde lieber leben wie du, ohne mich zu sorgen, ohne das Geld abzuzählen, und irgendwas schreiben wie Beckett.‘ Du erzählst mir was von ‚besseren Zeiten‘, und mir liegt nichts mehr am Herzen als die Rückkehr zu meiner kranken Mutter und zu neuen Protesten. Ich glaube, die Literatur wird in solchen Zeiten gehässiger. Aber ich habe Kinder, weswegen ich jetzt angefangen habe, mehr für Kinder zu schreiben. 

    Für Kinder erschaffe ich die Kindheit, die ich ihnen geben, zeichnen kann, Trash und Krieg können sie nicht gebrauchen 

    Obwohl – seit dem Beginn von Corona habe ich auch Material für ein Buch gesammelt. Von Februar 2020 bis Jahresende habe ich Nachrichten notiert, Gespräche, das, was ich durchlebe – mir war klar, dass das ein wichtiger historischer Moment ist. Ich habe die Ereignisse rundherum festgehalten und chaotisch noch etwas dazu erfunden. Und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich mir darin der Kunst wegen ausgedacht habe und was real war. Und was ich damit tun soll – da sind 180 Seiten A4. Jedes Mal, wenn ich die Datei aufmache – na, gute Nacht. Wie man das alles zu einem vollwertigen Buch verarbeiten soll, ohne an Depressionen zu sterben – keine Ahnung. Wir sind ja da jeden Tag einen kleinen Tod gestorben. Ich kann noch nicht darauf zurückkommen. Wann das soweit ist, weiß ich nicht. Es gibt ein paar Texte, die zehn oder fünfzehn Jahre bei mir herumliegen können.   

    Ist Kinderliteratur für Sie jetzt auch eine Art Rettung vor der Realität?

    Ja. Vor allem, weil mein Sohn erst drei ist. Da werde ich ihm nicht vom Krieg erzählen. In Belarus hab ich es mit ihm gemacht wie im Film „Das Leben ist schön“, wo der Vater dem Sohn auch im KZ die heile Welt vorgaukelt. Für Kinder erschaffe ich die Kindheit, die ich ihnen geben, zeichnen kann, Trash und Krieg können sie nicht gebrauchen.   

    Wenn Sie an die belarussischen Nachrichten aus der Welt der Literatur denken, was war da für Sie in letzter Zeit am bittersten?

    Am meisten hat mir die Sache mit Andrej Januschkewitsch und seinem Verlag zugesetzt. Zuerst muss er sein Büro räumen, wodurch er gezwungen ist, seine Auflagen zu verkaufen, weil er kein Lager hat. Neue Bestellungen lehnt er ab. Sie lassen ihm ein paar Monate „Ruhe“. In dieser Zeit findet Andrej neue Räume, investiert dort in eine Renovierung, den Umzug, die Miete, und einen Tag nach der Eröffnung wird er festgenommen. Das ist niederträchtig – zu warten, bis die Person wieder anfängt, ihr Unternehmen aufzubauen, um sie dann nicht nur mit ein paar Tagen Haft, sondern auch finanziell zu bestrafen. Damit du dich nicht wieder aufrappeln kannst. Das ist eine schreckliche Vorgehensweise, zusammen mit den Pogromen in den Wohnungen: Als Prokopjew nach dem ersten Pogrom gerade seine Wohnung wiederhergestellt hatte, haben sie sie ihm wieder auseinandergenommen. Das ist Rache auf dem Niveau eines dämlichen Rindviehs. 
    Ich hoffe, dass Andrej sein Unternehmen im Ausland wieder aufnehmen wird, wo es ihm möglich ist, gefahrlos zu arbeiten. 

    Was erwartet die belarussische Literatur im Land unter Bedingungen, in denen Buchläden geschlossen werden, der Verband belarussischer Schriftsteller aufgelöst, Tscherginez zum „Volksschriftsteller“ erklärt und Alhierd Bacharevič Roman Hunde Europas als extremistisch eingestuft wird?

    Unter solchen Bedingungen wird Literatur sterilisiert. Tscherginez wird Bücher machen und Lukaschenko das zeigen, was gewünscht ist. Es wird wieder Gedichte über Pusteblumen und irgend so einen Scheiß geben. Es wird keine konkurrenzfähigen Bücher mehr geben, nicht die Art von Literatur, die in der Schul-Lektüre überhaupt nur auftauchen könnte. Angesehene Schriftsteller werden sich erneut im Ausland wiederfinden – in Białystok und Vilnius.  

    Was lesen Sie selbst gerade, und was können Sie als „Must-Read“ empfehlen?

    Im Moment lese ich tatsächlich vor allem die Texte, die mir für Minkult zugeschickt werden. Was ich so nebenbei, beim Autofahren, höre ist derzeit das Hörbuch Beim Häuten der Zwiebel von Günter Grass und Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll. Das sind zwei deutsche Nachkriegsschriftsteller, die sehr gründlich, ehrlich und packend das moderne Deutschland nach dem Krieg beschreiben. Ich bin darauf gekommen, um mich damit zu beruhigen, dass sogar dieser schreckliche Krieg mit den Faschisten irgendwann einmal zu Ende ging. Darin geht es darum, wie die Deutschen das Land wiederaufgebaut und in Ordnung gebracht haben. Und letztlich besser lebten als vor dem Krieg, weil sie zu einer neuen politischen Ordnung übergingen, Sozialismus durch Kapitalismus ersetzt haben. 
    Ich kann aus der Nachkriegszeit vor allem die deutschen Schriftsteller empfehlen. Die sowjetischen schrieben vor allem über den Krieg, aber die deutschen schrieben darüber, was man danach bewahren muss und wie. 

    Es gibt jetzt viele Diskussionen über die Verantwortung der Belarussen für den Krieg, es gibt viele Vorwürfe gegen uns. Haben Sie diesbezüglich so etwas wie Schuldgefühle?

    Schuldgefühle habe ich keine. Ich bin einfach böse auf den Schnauzbärtigen, und aus. Auch ein wenig auf die Generation unserer Eltern – sie haben ihn ja wirklich gewählt. 
    Mein Papa hat erzählt, er war in der Minsker Autofabrik im Streikkomitee, sie gründeten eine Gewerkschaft – und 1991 schnappten sie sich die Brecheisen und zogen los. Sie rissen die Lagerfabrik mit, die Traktorenfabrik, erreichten das Zentrum und hielten an: Und wie weiter nun? Das ist die Frage seiner ganzen Generation. Sie haben eine Bewegung ins Rollen gebracht, aber ein Anführer, der gesagt hätte, was zu tun ist, fand sich nicht. Sie ließen sich gängeln, mein Vater verlor sein Recht auf eine Wohnung, weil die Daumenschrauben wieder angezogen wurden, und das war’s dann mit ihrer Bewegung. Dabei war das damals wirklich ein Aufstand der Arbeiterklasse. Meinem Vater machte es sehr zu schaffen, dass es keinen Anführer gegeben hatte, und mir, dass sie nichts zuwege gebracht hatten.  

    2020 war natürlich anders. Wir wussten einfach, wenn wir irgendwelche bewaffneten Aktionen starten, dann wird es einen Krieg mit Russland geben. Wir sind ja alle nicht blöd, wir konnten nicht unser ganzes Leben und das Leben unserer Kinder riskieren. Bei uns wurde schon zu oft die Bevölkerung gesäubert, ständig wurde jemand wegen solcher Dinge erschossen. In meiner Kindheit sagte meine Großmutter zu mir, das Schlimmste in ihrem ganzen Leben seien die schwarzen Raben gewesen: „Gott behüte, dass die nie wiederkommen.“ Und allen sagte sie immer nur: „Bloß nicht aufmucken!“ 

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    Wie der Krieg Belarus verändern wird

    Zum sechsten Mal seit Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine haben sich Alexander Lukaschenko und Kremlchef Wladimir Putin am vergangenen Wochenende getroffen. Im Gegenzug für seine Loyalität – Lukaschenko beschwor mit lodernden Worten die angebliche Gefahr, die von der NATO ausgehe – soll der belarussische Machthaber in den nächsten Jahren ein enormes Rüstungspaket erhalten, unter anderem das Raketensystem Iskander-M, das mit Atomwaffen bestückt werden kann. Der politische Analyst Alexander Klaskowski kommentierte das Treffen wie folgt:  „Lukaschenko, der dem Kreml jahrelang versprochen hat, dass sich die Belarussen den Panzern der NATO entgegenwerfen würden, ist sicherlich nicht begeistert von der Aussicht auf eine echte Auseinandersetzung mit den Ukrainern oder dem nordatlantischen Bündnis. Doch die Schlinge der katastrophalen Abhängigkeit von Moskau sitzt ihm im Nacken.“

    Weil es immer wieder Befürchtungen und Hinweise dafür gibt, dass Lukaschenko sich doch noch mit eigenen Truppen an dem Krieg beteiligen könnte, wandte sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky in einer Ansprache direkt an die belarussische Bevölkerung. Er warnte die Belarussen davor, sich in den Krieg hineinziehen zu lassen.

    Die Abhängigkeit von Russland, die Lukaschenko im Zuge der Proteste in seinem Land auf fatale Art und Weise ausgebaut hat, hat Belarus jetzt schon eine unheilvolle Rolle in dem Krieg beschert. Auch vergangenes Wochenende wurden russische Raketen von belarussischem Staatsgebiet und aus dem belarussischen Luftraum in Richtung Ukraine abgeschossen. 

    Was aber bedeuten der Krieg und die Rolle Russlands dabei für die belarussische Gesellschaft, die im Sommer 2020 so eindrucksvoll begonnen hatte, sich von ihren autoritären Strukturen emanzipieren zu wollen? Wie wirkt sich die aktuelle Situation möglicherweise auf die belarussische Identität aus, die in vielfacher Hinsicht mit russischen Implikationen verwoben ist? In einer Analyse für das Medium Nasha Niva geht der Politologe Pjotr Rudkowski, akademischer Direktor des Belarusian Institute for Strategic Studies, diesen Fragen auf den Grund.

    Sehen wir uns die Bedeutung des Ausdrucks „nach Russland“ [gemeint hier im Sinne von post Russland – dek] näher an. Sogar im für Russland schlimmsten Szenario (Niederlage im Krieg gegen die Ukraine und Verlust der Krim) wird Russland als Staat weiterbestehen. Mit welchem Staatssystem und in welcher politischen Machtkonstellation – das steht auf einem anderen Blatt. 

    Doch auch wenn der Krieg für Russland denkbar gut ausgeht – es behält die Krim und entreißt der Ukraine drei, vier Oblaste – wird es aus diesem Krieg extrem geschwächt und ohne Aussicht auf baldige Genesung hervorgehen. Das Land wird sich in einer Wirtschaftskrise befinden, von der internationalen Arena isoliert, ohne verlässliche Bündnispartner – nicht einmal in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) oder in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – und mit angeschlagenem militärischen Image. 

    Dazu kommt der innere Faktor. Man sollte Berichten über 70 bis 75 Prozent Unterstützung der „Spezialoperation“ und über 80 Prozent Vertrauen in Putin unter der Bevölkerung Russlands nicht zu viel Bedeutung beimessen. Diese Zahlen sind zwar teilweise überzeugend, aber nur, was die Gegenwart betrifft. Der Krim-Effekt hielt drei Jahre lang an, dann ließ er nach. Und das, obwohl die damalige Spezialoperation a) unblutig, b) schnell erledigt und c) effektiv war. Die heutige Spezialoperation ist jedoch a) ein blutiger Krieg, zieht sich b) schrecklich in die Länge und ist c) ineffektiv. Hier wird der „patriotische“ Aufschwung viel schneller wieder verpuffen. Multipliziert mit der Wirtschaftskrise wird das mit hoher Wahrscheinlichkeit zur sozialen Instabilität führen.  

    Insofern wird Russland nach diesem Krieg „nicht mehr es selbst“ sein. Es wird ein Land sein, das die nächsten Jahre vor allem damit zu tun haben wird, zu überleben und nicht auseinanderzufallen. Es wird nicht mehr das Russland sein, das wir die letzten zwei Jahrzehnte kannten.    

    Der kanadische Politologe Seva Gunitskiy veröffentlichte vor ein paar Jahren eine Studie, in der er Faktoren analysierte, die in den letzten zwei Jahrhunderten bei Systemtransformationen eine Rolle spielten. Der Autor zeigte, dass die größten Transformationen stattfinden, wenn sich auch die globale Hegemonie strukturell verändert. Am eindrucksvollsten sah man das nach den zwei Weltkriegen sowie beim Zerfall der Sowjetunion

    Es gibt noch einen anderen Kontext von Transformationen – nämlich regionale Umbrüche, die sich viral verbreiten. Ein Beispiel hierfür ist der Arabische Frühling 2010 bis 2012, als durch rund 20 Länder einer Region eine Welle von Protesten mit unterschiedlichen Folgen rollte. 

    In der Zeit der Proteste in Belarus 2020 gab es weder Veränderungen in der globalen Hegemonie noch eine virale Welle in der Region. Diese Art von Prozessen nennt Gunitskiy „emulativ-horizontale“ Transformationen. Sie verlaufen langsam und dauern lange, dafür ist das Ergebnis – wenn es denn erreicht wird – ziemlich beständig. Ein Beispiel dafür ist die Demokratisierung in Portugal, Spanien oder Griechenland in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. 

    Es kann passieren, dass ein Prozess in einem Kontext beginnt und in einem anderen fortdauert. In Polen fanden die Proteste 1980/81 genauso wie in Belarus 2020 in einer Situation statt, in der die globale Hegemonie stabil war und die Region nicht von einer viralen Welle ergriffen wurde. Doch ihre Fortsetzung – in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – erfolgte bereits vor dem Hintergrund eines geschwächten Hegemons: der Sowjetunion. Diesmal führten die Proteste zu Veränderungen des Systems: Im Juni 1989 gab es freie Wahlen [in Polen – dek], die kommunistische Autokratie wurde von einer repräsentativen Demokratie abgelöst. 

    Vieles weist darauf hin, dass die nächste Folge der belarussischen Proteste vor dem Hintergrund eines geschwächten lokalen Hegemons – Russlands – beginnen wird. Das garantiert noch keinen Erfolg, erhöht jedoch die Chance darauf um ein Vielfaches.   

    Bruch mit dem autoritären Status quo

    Wenn die Menschen in alten Zeiten schnell ein Haus bauen mussten, dann verwendeten sie das Material, das gerade am besten verfügbar war. Das konnte eine Höhle sein, ein Baum, Steine oder sogar Tierhäute. 

    Identität wird meistens auf ähnliche Weise geformt. Eine aktive und langfristige „Suche nach Identität“ passiert nie in der Masse, das ist etwas für sehr motivierte Menschen, die sich die Zeit dafür nehmen können. Die Antwort auf Fragen wie „Wer bin ich? Wer sind wir?“ wird in der Regel aus schnell greifbaren Materialien modelliert: aus der dominanten Sprache im jeweiligen Umfeld und Vorstellungen über ihren Status, aus bestehenden religiösen Traditionen, aus Schulbüchern entnommenen Meinungen über die historische Rolle bestimmter Länder, aus medialen Einflüssen etc. 

    In Belarus gibt es einen wichtigen Teil der Gesellschaft, auch wenn er in der Minderheit ist: Menschen, die sich aktiv für Geschichte und Sprache interessieren und ihre Zeit in den Aufbau einer starken nationalen Identität investieren. Bei allem Respekt für diese Minderheit ist es aber auch nicht verwunderlich oder gar befremdlich, dass die Mehrheit entweder nicht so motiviert ist oder einfach nicht genug Zeit und Energie dafür hat. Die Mehrheit legt ihrer Identität Elemente zugrunde, die am leichtesten verfügbar sind. 

    Für etliche Generationen von Belarussen waren diese „greifbaren“, am schnellsten verfügbaren Materialien die russische Sprache, die Geschichte Russlands und/oder der UdSSR, russisches Kino, Musik und Sport, sowie ihre Wahrnehmung vom großen Einfluss Russlands in der modernen Welt. Je mehr sie sich an das Leben im unabhängigen Belarus gewöhnten, desto mehr legte sich über die russische sprachlich-kulturelle Identität eine belarussisch-etatistische Identität, die mit einer staatsbürgerlichen Zugehörigkeit zur Republik Belarus einhergeht. Für eine Analyse der Faktoren und Merkmale dieses Umstandes ist hier kein Platz, daher beschränken wir uns darauf, die Gesetzmäßigkeiten zu benennen, kraft derer die Zugehörigkeit zum russischen Sprach- und Kulturraum für viele Belarussen teilweise identitätsstiftend war und immer noch ist. Nicht einmal die Proteste von 2020 haben das wesentlich verändert.  

    Der Krieg in der Ukraine führt wahrscheinlich zu einem Bruch in der Identität der Belarussen. Zum ersten Mal haben wir es mit einem internationalen Konflikt zu tun, in dem nur eine Minderheit von Belarussen Russland unterstützt und die Zahl seiner Kritiker höher ist als die Zahl der Befürworter. Im Georgienkrieg oder bei der Annexion der Krim war die absolute Mehrheit der Belarussen auf der Seite Russlands (der Identitäts-Faktor kam zum Tragen). Zusätzliche Bedeutung erhält diese Wendung dadurch, dass in früheren Phasen dieses Konflikts Lukaschenkos Medien keine Unterstützung für Russland signalisiert und sich manchmal sogar Kritik erlaubt haben. Jetzt agiert die offizielle Propaganda zwar im Interesse des Kreml, doch die Verteilung von Unterstützern und Kritikern der „Spezialoperation“ ist vergleichbar mit ihrer Verteilung innerhalb der bulgarischen Gesellschaft.  

    Der Faktor der russozentrischen Identität der Belarussen verliert seine Wirkung. Russlands international gefestigtes Image als Aggressor und das Durchsickern von Informationen über Kriegsverbrechen der Russen in die belarussische Gesellschaft werden den Bruch in der Identität noch vorantreiben. Zwar wird die Verwendung der russischen Sprache kaum abnehmen, doch Russlands Image wird sich im belarussischen Weltbild radikal verändern.   

    ***
    Für den Aufschwung 2020 haben Tausende Belarussen mit ihrem Leben, ihrer Gesundheit oder ihrer Freiheit bezahlt. 2022 haben für die Verteidigung ihres Landes gegen den Aggressor Zigtausende Ukrainer ihr Leben oder ihre Gesundheit verloren. Das ist der schmerzhafte Aspekt dieser Vorgänge. Neben dem Gedenken der gefallenen Helden und der Solidarität mit den Leidtragenden ist jedoch auch ein anderer Aspekt zu beachten:

    Russland wird als Stabilisator des belarussischen Status quo immer schwächer. Sowohl als Hegemon, als auch als Teil der Identität der Belarussen. Wie Gunitskiys Forschungsarbeit gezeigt hat, erhöht eine solche Schwächung maßgeblich die Chance auf einen Bruch des autoritären Status quo.  

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  • „Der Sport befindet sich nicht jenseits der Politik“

    „Der Sport befindet sich nicht jenseits der Politik“

    Der Fußball in der Ukraine ist nochmals verstärkt seit dem Beginn der Maidan-Revolution Ende 2013 eng mit den gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Land verbunden. Die organisierten Fanszenen des Landes stellten sich bei den Demonstrationen nicht nur in Kiew schützend vor die protestierenden Menschen. Viele Fans aus den Ultra-Szenen schlossen sich mit dem Beginn des Krieges in der Ostukraine den Freiwilligenbataillonen an, wieder andere organisierten Netzwerke, um die damals schlecht ausgerüstete Armee und die Bataillone mit Waffen, Lebensmittel, Ausrüstung und medizinischer Hilfe zu versorgen. Der Fußball, der immer noch stark durch die Eigentümerschaft der Oligarchen geprägt ist, geriet auch aufgrund des Krieges in eine tiefe Krise, Zuschauerzahlen sanken dramatisch, zahlreiche Traditionsvereine wie beispielsweise der FK Dnipro gingen bankrott.

    Mit dem Angriffskrieg, den Russland gegen die Ukraine führt, finden sich Fußballer, Spieler, Trainer und Fans auch mitten in den dramatischen Ereignissen wieder. Stadien wie das Juri Gagarin-Stadion in Tschernihiw und Trainingsanlagen wurden zerstört. Viele Fans, aber auch Trainer, Profifußballer und ehemalige Spieler kämpfen in der Armee oder auf Seite der Territorialverteidigung. Wie beispielsweise Igor Belanow, 1986 als „Europas Fußballer des Jahres“ ausgezeichnet. Oder der aktuelle Trainer des in Transnistrien ansässigen Vereins Sheriff Tiraspol Jurі Wernidub. Auch unter den Sportlern gibt es bereits Verluste. Witali Sapylo and Dmytro Martynenko waren die ersten Opfer, sie wurden in der ersten Woche der Invasion getötet.

    Oleg Dulub ist Trainer des FK Lwiw, der in der höchsten Spielklasse des Landes vertreten ist. Der Belarusse ist ein bekannter Fußballcoach. Er führte den belarussischen Verein Krumkatschy (dt. Die Raben) – einer der wenigen Vereine in Belarus, die als Privatinitiative entstanden sind – 2016 zum Aufstieg in die höchste Spielklasse. In der Ukraine trainierte er Karpaty Lwiw und Tschornomorez aus Odessa und aktuell den Verein aus Lemberg. 

    In einem Interview für das belarussische Medium Nasha Niva berichtet Dulub, wie er die Ukraine infolge des Krieges verlassen hat, warum das Land sein zweites Zuhause ist und was er in Lwiw nach Beginn der russischen Invasion erlebt hat. Er erklärt auch, wie er zu den Sport-Sanktionen gegen Russland und seine Heimat steht und warum der Sport kein unberührter Ort abseits der Politik sein kann. 

    Nasha Niva: Ist Ihnen die Entscheidung schwer gefallen, das Land zu verlassen?

    Oleg Dulub: Die ist spontan gefallen, ich hatte nicht vor, die Ukraine zu verlassen. Ich kam wie gewöhnlich zum Platz, und dort wurde mir und Wassili Chomutowski [dem belarussischen Torwarttrainer des FK Lwiw] gesagt, dass wir schleunigst weg müssten, weil bald belarussische Truppen in die Ukraine einmarschieren. Wenn das passiert, würde uns die EU vielleicht nicht mehr reinlassen.

    Es gab gute Gründe, diesem Tipp zu vertrauen. Außerdem sahen wir ja, was rundum vor sich ging. Unsere ukrainischen Spieler mussten sich zum Beispiel bei bei der Einsatzleitung der Territorialverteidigung melden und sich dort eintragen. Wir haben gefragt, was wir Ausländer denn tun sollen? Die Leute vom Verein telefonierten herum und sagten uns dann: Fahrt schnell weg! Auch wenn ich es immer noch bedaure, dass ich die Ukraine verlassen habe, weil die Mannschaft dort geblieben ist und ich dort immer gut behandelt wurde.

    Wie sind Sie ausgereist?

    Der Club hat uns geholfen. Wir fuhren mit einem Auto mit belarussischen Kennzeichen. Vor uns fuhr ein Fahrzeug vom Verein zur Begleitung, und an allen Kontrollpunkten ging es durch den grünen Korridor.

    Was waren für Sie die stärksten Eindrücke?

    Vor allem die Menge an Menschen. Wir hatten im Voraus die Warteschlangen an den Grenzübergängen gecheckt; bis zwei Uhr nachmittags war niemand da, keine Autos, keine Flüchtlinge. Als wir aber ankamen, da hatte schon der Flüchtlingsstrom eingesetzt. Beeindruckt im positiven Sinne hat mich, wie der Grenzübertritt organisiert war, wie gut die ukrainischen und polnischen Grenzbeamten gearbeitet haben. Auf der anderen Seite der Grenze, in Polen, wollten viele Männer in die Ukraine fahren, um sie zu verteidigen.

    Es ist nur schwer zu vermitteln, was wir im Vorfeld der Grenze gesehen haben. Eine Schlange von fünf Kilometern, aus Frauen und Kindern, die von Männern begleitet waren. Sie haben die Frauen und Kinder zur Grenze gebracht und sind dann umgekehrt, um ihr Land zu verteidigen.

    Ich würde die Ukraine als mein zweites Zuhause bezeichnen

    In Warschau erlebte ich dann eine besondere Situation. Ich erreichte mein Hotel am Flughafen, „all inclusive“. Hinter mir saß ein älterer Mann, ihm war anzusehen, dass er die Kleider anhat, in denen er von zu Hause losgegangen war. Dieser Mann war sehr verwirrt, als ob er zum ersten Mal in einem solchen Hotel ist und nicht weiß, was er tun soll. Vom Aussehen her schien er Bauer zu sein. Der Hotelmanager ging zu ihm und bot ihm Kaffee oder Tee an, der Mann verstand ihn nicht. Eine junge Frau wird gerufen, die Russisch spricht und ihm nochmal Kaffee oder Tee anbietet. Der Mann schaut sie an und sagt: „Ich habe Hunger.“ Das heißt, da wurde jemand einfach aus seiner normalen Umgebung gerissen und über die Grenze gebracht. Das hat mich sehr ergriffen. Ich kann verstehen, was für ein Stress das für ihn ist.

    War die Ukraine für Sie ein Zuhause?

    Ich würde sie als mein zweites Zuhause bezeichnen, besonders jetzt, wo ich zum zweiten Mal gekommen bin, um in der höchsten ukrainischen Liga zu arbeiten. Die Haltung gegenüber uns [als Trainerteam – dek] ist jetzt eine ganz andere, denn die Leute haben gesehen, wie wir 2016/17 beim ersten Mal in der Ukraine gearbeitet haben. Sie haben für uns die besten Bedingungen geschaffen, im Alltag und fürs Training. Es versteht sich, dass es bei der Arbeit unterschiedliche Momente gibt. Aber so ist Fußball, alles gut.

    Ich will noch etwas zur Haltung der Menschen in der Stadt sagen, besonders bei unserer zweiten Ankunft. Ich war angenehm überrascht, dass mich die Leute in Lwiw erkannten; sie kamen auf mich zu, grüßten mich, wünschten viel Erfolg. Und das, obwohl die meisten in der Stadt Fans von Karpaty sind [der Verein hat sich 2021 aufgelöst – Anm. Nasha Niva]. Vielleicht kennen mich die Leute gerade deshalb, weil ich Karpaty 2016 von ganz unten hochgeholt habe.

    Wie steht es jetzt um Lwiw?

    Die ausländischen Spieler haben das Land verlassen, aber die Ukrainer sind alle in Lwiw. Sie sind verpflichtet, in der Territorialverteidigung zu arbeiten, beim Abladen der humanitären Hilfsgüter mitzuhelfen. Anschließend trainieren alle gut organisiert, gehen in die Trainingshalle und spielen Fußball.

    Was, du schläfst? Bei euch ist doch Krieg!

    Wie haben Sie den 24. Februar erlebt?

    Ich erinnere mich an den Abend davor. Wir waren mit dem Trainerteam im Hotel etwas essen und redeten über die Lage und den drohenden russischen Einmarsch. Wir waren uns einig, dass in einer solchen Situation kein normaler Mensch einen Krieg anfängt, weil der nicht zu gewinnen ist. Wir gingen ganz ruhig schlafen, und so gegen halb sechs kriege ich einen Anruf auf Viber. Die Jungs aus Belarus melden sich und fragen: „Was, du schläfst? Bei euch ist doch Krieg!“

    Ich geh‘ ins Internet, schau mir die Rede eines gewissen Genossen über den Beginn der sogenannten Spezialoperation an. Ich dachte sofort an die Zeilen aus dem Lied: „[Am 22. Juni] // Genau um vier Uhr // Wurde Kyjiw bombardiert // Uns wurde gesagt, // Dass jetzt Krieg ist“. Die Rede ging ja um fünf Uhr Moskauer Zeit raus, und in Kyjiw war es da vier. Ich sah sofort viele Parallelen zu jenem Krieg, zu 1941.

    Um 12 Uhr hatten wir eine Versammlung und danach ein Gespräch mit der Vereinsleitung. Rund drei Stunden saßen wir noch auf der Anlage rum, dann fuhren wir ins Hotel zurück.

    Wie sehr spürt man in Lwiw, dass jetzt Krieg ist?

    Lwiw ist im Hinterland, und alle Kampfhandlungen werden vom Hinterland aus unterstützt. Und was ich in dieser Stadt gesehen habe, hat mich verblüfft, zutiefst berührt. Zum einen sah ich lange Schlangen vor den Musterungsbehörden. Da standen Männer, die versuchten sich zur Armee zu melden, aber nicht genommen wurden. Es hieß, alle Einheiten seien schon komplett, es gebe aber nicht genug Waffen.

    Ein paar Tage später begann vor den Musterungsbehörden die Sammlung von Sachen für die Flüchtlinge. Ich erinnere mich an Berge von Essen und Kleidung. Und weitere fünf Tage später gab es in Lwiw die ersten Kontrollposten. Das kam sehr unerwartet: Du kommst abends von der Anlage und es ist nichts zu sehen. Morgens willst du dann zur Anlage und stehst plötzlich vor einem Kontrollposten. Gleichzeitig waren die Schlangen vor dem Militärkommissariat nicht verschwunden. Da standen sehr viele Männer, die nach Kyjiw wollten, um die Stadt zu verteidigen.

    Rund eine Woche nach Kriegsbeginn erklärte der Bürgermeister von Lwiw, dass sich alle Männer zwischen 18 und 60 für eine Beteiligung an der Territorialverteidigung registrieren lassen müssen, auch die Spieler des Vereins.

    Wie haben Sie die Zeit von Kriegsbeginn bis zur Ausreise verbracht?

    Ich musste mich irgendwie [vom Krieg] ablenken. Ich habe natürlich die Nachrichten geschaut, hauptsächlich CNN und ukrainische Sender. Ich sah jetzt weniger russische und belarussische Programme. Insbesondere nach den Beiträgen über den Angriff auf das Verwaltungsgebäude in Charkiw, als die Belarussen sagten, die Ukrainer hätten sich selbst in die Luft gejagt.

    Ich bekomme ja aus verschiedenen Quellen Informationen, was tatsächlich in der Ukraine vor sich geht. Der Manager unseres Vereins war in Butscha, im Zentrum der Kämpfe, eingeschlossen unter der Erde. Er hat erzählt, was die sogenannten russischen „Befreier“ getan haben, und das erinnert mich an das Vorgehen der Faschisten im Zweiten Weltkrieg.

    Bei der Menge an Informationen könnte man verrückt werden

    Vor rund drei Tagen gab es da den Jungen, dessen Vater vor seinen Augen erschossen wurde. Der Junge selbst wurde verletzt. Sie haben ihm in den Kopf geschossen. Dieser Junge war der Freund der Tochter unseres Managers, er kennt das Kind und die Eltern, die ums Leben kamen.

    Irgendwann am zweiten oder dritten Tag der Bombenangriffe rief ich diesen Manager an, und er schaltete auf Video. Ich sah, wie da die Leute im Luftschutzkeller saßen. Ziemlich schwer, jemanden in dieser Situation etwas zu fragen. Makarewitsch hat das gut gesagt: Wenn jemand im Krieg war, erinnert er sich nicht gern daran.

    Auch einer unserer Scouts war in Butscha. Andere Scouts waren in Charkiw und in Saporishshja und erzählten, wie dort die Häuser mit direktem Beschuss bombardiert werden, mit den Mehrfachraketenwerfern Grad, mit Granaten und so weiter.

    Nach all diesen Nachrichten und Telefonaten sind Wassili Chomutowski und ich zur Anlage gegangen und haben dort einiges erledigt. Bei der Menge an Informationen konnte man verrückt werden. So viel Negatives. Ich sah die Erschütterung der Menschen, ich weiß, dass der Sohn unseres Scouts seit den Bombenangriffen ständig Schluckauf hat, und wie sehr sich die Haltung dieses Mannes gegenüber Russen und Belarussen verändert hat.

    Haben Sie selbst irgendeine Anfeindung erlebt?

    Was Lwiw angeht, da gab es nichts. Weil man mich hier sehr gemocht hat. Der einzige Nachteil war, dass einige Tage nach Kriegsbeginn meine Geldkarte gesperrt wurde, weil die Konten von Russen und Belarussen eingefroren werden sollten. Das war für mich okay, schließlich ist das Land im Krieg, und da geht es zur Sache.

    Hat diese Zeit ihre Wahrnehmung von den Ukrainern verändert?

    Nur zum Positiven. Ich habe eine geeinte Nation gesehen. Für sie ist dieser Krieg so wie der Große Vaterländische Krieg für die Sowjetunion: Die Menschen sind durch das gemeinsame Ziel vereint, diesen Krieg zu gewinnen. Mich hat auch erstaunt, wie sich die ukrainischen Sportler verhalten haben. Sie standen mit wenigen Ausnahmen zusammen. Andrij Bohdanow, ein Fußballer von Kolos, legte den Eid ab, nahm die Maschinenpistole und zog in den Krieg; und es gibt noch mehr solcher Beispiele.

    Vor dem Krieg schienen die Ukrainer nicht sonderlich geschlossen hinter Selensky zu stehen. Aber wie er sich dann nach Kriegsbeginn verhalten hat! Die Lage ist kritisch, man müsste eigentlich weg, und er sagt: Nein, ich werde mit der Waffe in der Hand kämpfen. Und das hat sich auf die Bevölkerung übertragen. Die Nation hat sich um Selensky zusammengeschlossen.

    Hat sich Ihre Haltung zu Russland jetzt geändert?

    Ja, meine Beziehung zu Russland hat sich sehr verschlechtert. Wie sich die sogenannten Befreier verhalten … So kann man im 21. Jahrhundert nicht vorgehen. Sie vernichten ganze Städte zusammen mit der Zivilbevölkerung, einfach nur deshalb, weil diese Städte russischsprachig sind, aber die Menschen die Soldaten dort nicht mit Salz und Brot empfangen. Man muss verstehen, dass die Ukraine ein freies Land ist und die Ukrainer nur sehr schwer zu versklaven sind. Eher sterben sie, aber sie werden niemals mehr Sklaven sein.

    Ich denke nicht, dass sich der Sport jenseits der Politik befindet

    Was denken Sie über die Sanktionen gegen russische und belarussische Sportler?

    Ich verstehe überhaupt nicht, warum diese Sanktionen für Empörung sorgen. Diejenigen, die damit nicht einverstanden sind, sagen: Nun, der Sport steht jenseits der Politik. Wer hat sich bloß diesen Satz ausgedacht? Jeder Sport, und sei es im Kleinsten, spiegelt trotzdem das Geschehen in der Gesellschaft wider. Erinnern wir uns nur an die Olympischen Spiele 1936 in Deutschland. Wozu haben die Deutschen sie gebraucht? Um die Überlegenheit der arischen Rasse zu zeigen. Die Olympischen Spiele in Moskau und Sotschi haben dazu gedient, mit Hilfe des Sports die Überlegenheit der Sowjetunion bzw. Russlands zu zeigen.

    Meiner Meinung nach sollte ein Land, dass im 21. Jahrhundert im Herzen Europas einen Krieg entfacht hat, bestraft werden. Ich sage nicht, dass die Sportler am Krieg schuld sind: Die großen Markenfirmen verlassen das Land, den Banken wird der Zugang zu SWIFT gesperrt und so weiter. Der Sport steht hier an vorletzter Stelle.

    Ich denke nicht, dass sich der Sport jenseits der Politik befindet. Jeder Sportler ist auch Bürger seines Landes. Während der Proteste 2020 haben einige Sportler eine sehr bequeme Haltung eingenommen, nach dem Motto: Wir beschäftigen uns ausschließlich mit Sport und mischen uns nicht in die Politik ein. Dabei geht es doch gar nicht um Politik! Als die Menschen 2020 getötet wurden und wo jetzt Menschen umgebracht werden … Da geht es um menschliche Haltungen und nicht um Politik. Wir reden hier nicht davon, wen du wählst, ob die Roten, die Gelben, die Weißen oder die Grünen, sondern darum, ob du Mord gutheißt oder nicht.

    Die Ukraine hat gezeigt, dass je weiter ein Sportler oben steht, desto stärker die Einsicht in die Bedeutung der eigenen Persönlichkeit ist. Mir scheint, das hängt alles zusammen.

    Belarussische Sportler haben einen regimefreundlichen Brief unterzeichnet, russische Sportler sind zu regimefreundlichen Veranstaltungen gegangen. Haben sie alle die Sanktionen verdient?

    Für mich ist die Antwort klar: Sie haben es verdient. Natürlich können sie sagen, sie hätten sich nicht für sowas interessiert und hätten einfach nur trainiert … Wissen Sie, es gab da den tschechischen Schriftsteller Julius Fučik, den haben die Nazis 1944 hingerichtet. Als er im Gefängnis war, hat er das Buch Reportage unter dem Galgen geschrieben, in dem er beschreibt, was mit ihm geschah. Da gibt es einen guten Satz, den kenne ich auswendig: Fürchtet euch nicht vor Feinden, die können höchstens töten, fürchtet euch nicht vor Freunden, die können höchstens Verrat üben, fürchtet euch vor gleichgültigen Leuten, denn durch ihre schweigende Zustimmung geschehen die fürchterlichsten Verbrechen der Welt.

    Die schlimmsten Menschen auf der Welt, das sind wirklich die schweigenden Duckmäuser. Ich respektiere jede Position, verstehe das aber so, dass jeder zumindest eine haben sollte. Jeder Mensch ist einmalig, aber vor Gott sind alle gleich. Es ist ja nicht so, dass jemand als Präsident geboren wird. Nein, du wirst zunächst als Mensch geboren, erst dann erringst du ein Amt.

    Ist der Sport in Belarus noch am Leben?

    Amateursport, ja, der lebt. Der Profisport aber, die Wettbewerbe mit den besten Athleten der Welt, diese Möglichkeit wird es für belarussische und russische Sportler nicht mehr geben. Daher wird der Sport in diesen Ländern auf das Niveau von Freizeitsport absinken, wenn er nur wegen der Gesundheit betrieben wird. Erklären Sie mir doch bitte, wer den belarussischen Sport noch braucht, von dem sich nach 2020 die Fans abgewandt haben und dem die internationale Bühne versperrt ist?

    Die Ideologen.

    Die Ideologie muss demonstrieren, dass die belarussische Nation den anderen Nationen überlegen ist. Aber wie willst du das zeigen, wenn du dich nicht mit den besten Sportlern messen kannst? Du spielst nicht gegen Bayern München oder Liverpool, sondern gegen Mannschaften mit dem Niveau von Smolewitschi oder Mikaschewitschi. Das ist das Niveau von Betriebssportmeisterschaften. Was hat das mit Ideologie zu tun? Die verliert da den Sinn.

    Es wird gesagt: Hebt die Sperre auf, und wir zeigen euch, dass wir gute Sportler haben. Die Sperre wird aber nicht aufgehoben und man wird weiter im eigenen Saft schmoren. Es gibt einen guten Spruch: Wenn du ein Löwe sein willst, musst du auch mit Löwen kämpfen – nicht mit Katzen oder Mäusen, sondern eben mit Löwen! Die Löwen, das sind hier die besten Sportler der Welt, und wenn du gegen die spielst, dann wirst du besser.

    Fußball ist mehr als nur eine Sportart

    Glauben Sie an die Zukunft von Belarus?

    Ja. Die Genossen, die da jetzt am Ruder sind, die kommen und gehen. Ich hoffe, dass das Land bald frei sein wird.

    Machen Sie jetzt irgendwelche Pläne für Ihr Leben?

    Nun, ich versuche herauszufinden, wie ich die Mannschaft trainieren soll, wenn die ukrainische Meisterschaft weitergeht. Ich denke, wir werden nur ein paar Wochen zum Trainieren haben und dafür, wieder, zumindest teilweise Kondition zu kriegen.

    Gibt es eine Chance, dass die Meisterschaft schon bald weitergeht?

    Das hoffe ich sehr. Man muss wissen, dass Fußball in jedem Land mehr ist als nur eine Sportart. In Spanien wurde unter Franco versucht, den Fußball wiederzubeleben, um zu zeigen, dass im Land alles wieder normal sei. Ich denke, das erste, was die Ukraine machen wird, wenn sich alles wenigstens ein bisschen wieder eingerenkt hat, ist eine Fortsetzung der nationalen Meisterschaft.

    Als der Krieg begann, habe ich nachgeschaut, wann die sowjetische Meisterschaft nach dem Großen Vaterländischen Krieg weiterging. Und: Das erste Spiel fand am 13. Mai 1945 statt, wenige Tage nach Kriegsende. Da haben wir‘s.

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  • Keine Nischen mehr

    Keine Nischen mehr

    Der Alltag in Belarus ist weiterhin von Festnahmen und Gerichtsurteilen geprägt. Mittlerweile gibt es 359 politische Gefangene, es wurden infolge der Proteste seit dem 9. August 2020 über 3000 Strafprozesse in die Wege geleitet. Zudem sind die Machthaber um Alexander Lukaschenko bedacht, durch schärfere Gesetze und Verordnungen jegliche Protest- und Kritikmöglichkeit zu bekämpfen und die Berichterstattung über Protestaktionen und Repressionen durch den Staat zu erschweren. Das Parlament hat kürzlich eine Erweiterung und Verschärfung der Extremismus-Gesetze beschlossen. Auch der Sender Euronews wurde in Belarus blockiert.

    Was passiert mit dem Alltag, mit dem Leben, wenn man in einem politischen System lebt, dass die eigene Entfaltungsmöglichkeit immer mehr einschränkt? Der belarussische Schriftsteller Viktor Martinowitsch lotet diese Fragen in einem Beitrag für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma aus, veröffentlicht wurde der Text schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.

    Zeiten wie diese habe ich noch nicht erlebt. 

    Dabei dachte ich, ich hätte schon alles mitgemacht und wäre von Anfang an dabei gewesen.

    Bislang hatten die unsicheren Kantonisten durchgehalten, weil es immer noch irgendwo eine Nische gab. 

    Wenn sie die Leute wegen der Kundgebungen in Kurapaty einbuchteten, konntest du noch zum Michalok-Konzert im Gorki-Park gehen. Wenn sie dann auch noch Michalok und Kulinkowitsch verboten (das hatten wir schon mal), gingst du eben in eine Kunstausstellung, die dich daran erinnerte, dass da noch jede Menge Andersdenkende waren wie du. 

    Zeiten wie diese habe ich noch nicht erlebt

    Ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich bei einer Lesung in Deutschland vorsichtig gefragt wurde, ob wir, die Bewohner aus dem Land des Glücks, eigentlich einfach so für Reisen durch den Eisernen Vorhang kämen. Damals fand ich, die Deutschen würden übertreiben. 

    Es war ja nicht alles schlecht.

    Ich weiß noch, wie ich erklärte, ein Buch könne man ja im 21. Jahrhundert nicht mehr komplett verbieten, ein starker Text bezwinge jedes Verbot. 

    Und jetzt stehen wir hier. 

    In einer Welt von Texten, die als extremistisch eingestuft werden. 

    In einer Welt von Kunstausstellungen mit unpolitischen Themen (Medizin und Ärzte, come on!), die geschlossen werden, nicht von der Kommission zur Bekämpfung von Pornografie, sonst wäre es ja noch Kunst, sondern vom Ministerium für Katastrophenschutz. 

    Noch vor einem Jahr betete jeder Theaterregisseur, jede Organisatorin einer Kulturveranstaltung und jeder Schriftsteller vor einer Signierstunde: „Hoffentlich kommt jemand, hoffentlich kommt jemand.“

    Denn Zuschauer, Publikum, Leserinnen waren wählerisch angesichts des reichhaltigen kulturellen Angebots und kamen nicht zu jedem. 

    Auch jetzt wird gebetet. 

    Nur anders. 

    Nämlich: „Hoffentlich kommt keiner.“ 

    Gemeint sind damit natürlich nicht Zuschauer, Publikum und Leserinnen. 

    Es gibt praktisch keine künstlerischen Aktivitäten mehr, die nicht mit einem blauen Kleinbus mit getönten Scheiben enden. 

    Und vor allem lässt sich unmöglich vorhersagen, wo, an welchem Punkt, das Signal gegeben wird.

    Da denkst du, du bist Künstler. Oder Eigentümer einer Kultureinrichtung. Wo ist da der Grund zu Verhaftung? Der Anlass für ein Strafverfahren? 

    Es ist wie in dem bekannten Spruch: Als sie die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen, weil ich kein Kommunist war. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, weil ich kein Gewerkschafter war. Als sie mich geholt haben, war niemand mehr da, der für mich hätte sprechen können. 

    Zum ersten Mal gibt es keine Nischen mehr. 

    Was immer du tust – es gibt keine Sicherheitsgarantie. Wenn du in Krewa Masleniza gefeiert hast, hast du immer noch die Chance, dass sie später nicht mal ein Strafverfahren gegen dich einleiten.

    Nur will niemand mehr riskieren, das auszuprobieren. 

    Was immer du tust – es gibt keine Sicherheitsgarantie

    Die aktivsten Leute sind gegangen. Das sind so viele, dass ich kürzlich gemerkt habe: Inzwischen sind wirklich sämtliche belarussischen Bands, die ich jahrelang im Auto gehört habe (Nizkiz gab es damals noch nicht, sorry), im Ausland. Die letzten Verbliebenen haben versucht sich zu bewegen, als hätte sich die Lage nicht geändert. Doch sie sind schnell an ihre Grenzen gestoßen. 

    Niemand ist mehr unschuldig. 

    Es ist ganz offensichtlich: Sie wollen ganze Tätigkeitsbereiche „mit einem glühenden Eisen ausbrennen“. Da kannst du tschechische Autos oder Nivea-Creme verkaufen, das allgemeine Verbotsregime wird auch dich erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit. 

    Nach der nächsten lauten Unterredung. Die selbst jene erstarren lässt, die das Ganze ausführen sollen. 

    Das allgemeine Verbotsregime wird auch dich erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit

    Musiker sind schuld, weil sie die falschen Lieder singen. 

    Sportlerinnen sind schuld, weil sie die falschen Aufrufe gestartet haben. 

    Werbeleute sind schuld, weil sie den falschen Leuten Platz einräumen. 

    Händler sind schuld, weil sie angeblich nicht mit belarussischen Waren handeln (stimmt das denn)? 

    Journalistinnen sind schuld, weil sie in diesem Land schon immer schuld sind

    Sogar Theaterleute sind schuld! Theaterleute, hört ihr?! Überall, auf der ganzen Welt sind Theaterleute seit Shakespeares Zeiten noch nie für etwas verantwortlich gewesen. Höchstens dafür, dass niemand über ihre Scherze lachte. Und jetzt haben sie sich der Illoyalität schuldig gemacht. 

    Und müssen ausgemerzt werden. 

    Du, eine freie, selbstbewusste Person, die nichts als einen guten Lime-Coffee möchte, bist nur ein einziges falsches Wort von einem feuchten, vergitterten Keller entfernt. 

    Eine einzige Tat, die vor einem Jahr noch niemand wahrgenommen hätte.

    Das Leben hier wird zum Tanz über dem Abgrund. 

    Und erfordert viel Mut. 

    Jeder neue Morgen ist eine Herausforderung: Bist du noch Mensch? Bist du noch frei? 

    Alles ist verboten, selbst Reportagen über die Aktivitäten auf den Straßen. 

    Es ist verboten, am falschen Tag vor die Tür zu gehen. 

    Du hast Gleichgesinnte angehupt? Du hast gute Chancen, den Führerschein zu verlieren. 

    Und ich denke Folgendes. 

    Die Nischen.

    Die von früher.

    Die gab es nicht aus Gutmütigkeit. 

    Denn das Sowjetsystem kannte keine Gutmütigkeit. Und die jetzt, die haben einfach alles aus den früheren, totalitäreren, aber auch wesentlich durchdachteren Zeiten übernommen.

    Und die Typen von früher mit ihren Hornbrillen und aufgedunsenen Gesichtern waren komischerweise davon ausgegangen, dass der Pöbel (also Menschen wie du und ich) doch ein Ventil braucht, um seinen ästhetischen Dampf ablassen zu können. Sie haben keinen Krieg geführt, sie wollten einfach ewig regieren. Und sie taten alles dafür, diese Herrschaft zu ermöglichen. 

    Deshalb gab es in der UdSSR auch die Schestidesjatniki. Wosnessenski, Wyssozki, das Taganka-Theater, Mark Sacharow, Andrej Tarkowski, Andrej Sacharow, Ales Adamowitsch, Uladsimir Karatkewitsch.

    Was jetzt geschieht, ist der Versuch, das Atmen zu verbieten. 

    An ein derartiges Experiment haben sich nicht einmal die großen, müden Vorgänger herangewagt, die das Fundament jener Angst gelegt haben, die hier nun wieder alles beherrschen soll. 

    Waren das denn Idioten?

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  • Protestflagge: Verbot als Heiligsprechung

    Protestflagge: Verbot als Heiligsprechung

    Die Generalstaatsanwaltschaft in Belarus plant, die weiß-rot-weiße Flagge als Symbol des Extremismus einzustufen, was de facto ein Verbot bedeuten würde. Das wurde vergangenen Freitag bekannt. Die Flagge ist vor allem seit Beginn der Proteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko am 9. August 2020 zum Symbol für die demokratische Bürgerbewegung geworden. Das Bekanntwerden der Verbotspläne entfachte empörte Debatten und neuerliche Protestaktionen, bei denen Belarussen weiß-rot-weiße Flaggen zeigten oder Gebäude damit dekorierten. Der Koordinationsrat der Opposition initiierte eine Petition gegen das Verbot und wandte sich mit einem Statement an die Öffentlichkeit: „Wir glauben, dass das Verbot der Verwendung von weiß-rot-weißen Symbolen unbegründet ist. Es wird nur dadurch motiviert, dass politischer Druck auf Bürger ausgeübt wird, die weit von der Linie der Regierung entfernt sind.“

    In einem Kommentar, den Artyom Shraibman in seinem Telegram-Kanal veröffentlichte und der schließlich vom belarussischen Medium Nasha Niva übernommen wurde, prognostiziert der politische Analyst: Ein Verbot der weiß-rot-weißen Flagge könnte einen Bumerangeffekt für die Machthaber haben.

    Das Verbot der weiß-rot-weißen Flagge und ihre Einstufung als Extremismus ist ein wichtiger Schritt zur weiteren Sakralisierung der Flagge. Die war zu Beginn des Jahres 2020 ein Symbol der national-demokratischen Gesellschaftsschicht – die etwa 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht. Zum  Jahresende hin war sie bereits – ohne Bezug zur historischen Bedeutung – ein Symbol des breiten bürgerlichen Protests.

    Am Sonntag nach der Wahl im August 2020 protestierten hunderttausende Menschen in Minsk gegen die Machthaber / Foto © Nadseja Bushan/Nasha Niva
    Am Sonntag nach der Wahl im August 2020 protestierten hunderttausende Menschen in Minsk gegen die Machthaber / Foto © Nadseja Bushan/Nasha Niva

    Jetzt wird sie zu einem heiligen Symbol, zur verbotenen Frucht, zu etwas, das man nachts an Wände malt, das in verborgenen Winkeln versteckt und wodurch die emotionale Bindung an dieses Symbol immer mehr gefördert wird. 

    Die Machthaber unterschätzen ihre Beliebtheit und verbauen sich so einen weiteren Weg für eine Kompromissfindung, indem sie Millionen ihrer Gegner zu Kriminellen machen, nicht nur für ihre Taten, sondern auch für ihre Zeichen. 

    Der Awtosak (Gefangenentransporter) gilt als Inbegriff für staatliche Repressionen bei den Protesten in Belarus / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC-BY SA 3.0
    Der Awtosak (Gefangenentransporter) gilt als Inbegriff für staatliche Repressionen bei den Protesten in Belarus / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC-BY SA 3.0

    Die rot-grüne Flagge hatte immer mehr Unterstützung als die belarussische Staatsmacht und sie hätte diese ganz bestimmt überleben können. Jetzt wird der Gesellschaft angetragen sich aufzuteilen. Sich neben einer rot-grünen Flagge zu zeigen ist mittlerweile Ausdruck einer politischen Position.

    Solch eine Politisierung eines Symbols und seine Bindung an eine konkrete Position ebnet den Weg dahin, dass das Verschwinden der Machthaber auch das Verschwinden seiner Attribute bedeuten wird. Die rot-grüne Flagge hatte Chancen, kein solches Attribut zu werden, aber nun wird sie es ganz bestimmt. 

    Mit dem Verbot der weiß-rot-weißen Flagge gewährleisten die Machthaber, dass sie zum Staatssymbol werden wird, weil sie nun keine Subkultur mehr darstellt. Ein bedeutender Tag.

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    Und jetzt kehren wir zum normalen Leben zurück?

  • Und jetzt kehren wir zum normalen Leben zurück?

    Und jetzt kehren wir zum normalen Leben zurück?

    Viktor Martinowitsch gehört zu den bekanntesten Schriftstellern seines Landes. In seinen Romanen befasst er sich mit den Mechanismen autoritärer Macht und ihren Auswirkungen auf den Lebensalltag der Menschen. In dieser Woche ist sein neuer Roman Revolution in der deutschen Übersetzung von Thomas Weiler erschienen. Anders als der Titel vermuten ließe, geht es in dem Roman allerdings nicht um die Protestbewegung, die Belarus seit dem 9. August 2020 in Atem hält. Vielmehr beschäftigt er sich mit dem, was Macht ist, wie sie in zwischenmenschlichen Beziehungen wirkt und wie sie Menschen letzten Endes zum Schlechten verändert. Über sein neues Buch und über die Proteste in seiner Heimat hat Martinowitsch unlängst in einer Veranstaltung des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB) gesprochen.

    Auch in Kolumnen und Interviews äußert sich der Schriftsteller immer wieder zu politischen Ereignissen in Belarus. So auch in diesem Beitrag, der sich mit dem aktuellen Stand der Protestbewegung beschäftigt und den Blick in deren nahe Zukunft wagt. Geschrieben hat Martinowitsch den Artikel für die Internetseite des Kulturprojektes Budzma, veröffentlicht wurde er schließlich auch auf der Seite des belarussischen Mediums Nasha Niva.

    Wahrscheinlich stecke ich schon zu lange da drin. 

    Und erinnere mich an sehr viel. 

    Jedenfalls sehe ich keinen Anlass für Optimismus. 

    Ihr könnt das als Denkanstoß nehmen. 

    Als Einladung zur Desillusionierung. 

    Zur Planung dieses Jahres und eures Lebens. 

    Als Entscheidungshilfe, wie ihr leben und was ihr ändern wollt. 

    Ihr meint, die Proteste leben im Frühjahr 2021 wieder auf? 

    Die Proteste sind nicht das Coronavirus, da gibt es keine erste und zweite Welle. Die Menschen, die im Sommer und Herbst in Massen auf die Straße gegangen sind, haben dafür gebüßt, haben gesessen, haben Repressionen unvorstellbaren Ausmaßes erlebt – wieso sollten sie wiederkommen? 

    An diesem Punkt waren wir schon mal. 

    Und es hat zu nichts geführt. 

    So war das in den 2000er Jahren: Im Herbst schlug die Opposition vor, bis zum Frühling zu warten. Und dann, nach dem traditionellen Tag der Freiheit und dem Tschernobyl-Marsch, wollte sie auf den Herbst warten, in dem sich die „wirtschaftliche Lage verschlechtern“ sollte. Im Herbst wiederholte sich dann das Ganze. Schon der Ausdruck „traditionelle Protestaktion“ ist ein Oxymoron. Ebenso die „geheime Protestaktion“. 

    Es ist doch offensichtlich, aus der Situation „Eine Million an der Stele“ wurde die Situation „Flashmob in der Metro: Menschen tragen weiß-rot-weiße Strümpfe und fotografieren sich ohne Gesichter“. 

    Ihr meint, Elite und Nomenklatura würden sich aufspalten lassen? 

    Die Krise des Jahres 2020 ist nicht mit der Krise des Jahres 1996 vergleichbar. Als ein Mann nur einen Schritt von einem Amtsenthebungsverfahren entfernt war und die Hälfte der Parlamentsabgeordneten und ein Teil der Verfassungsrichter, wenn nicht gegen ihn, so doch wankelmütig waren. Bei vergleichbarer Lage auf den Straßen und Plätzen … Und wie endete es? Mit einer Beschränkung der Sitze „im neuen Parlament“ und einer Verfassungsänderung, nach der eine Amtsenthebung schwieriger zu bewerkstelligen ist als eine Oscar-Nominierung für einen staatlich produzierten Kinofilm. 

    Ihr hebt auf die wirtschaftliche Lage ab? Da kann ich nur sagen: Ja, ja! Warten wir den Herbst ab! Sie wird sich verschlechtern und … (das hatten wir schon). 

    Ihr seid überzeugt, Putin sei enttäuscht, dass die Zusagen von Sotschi, einen Dialog zu starten und die Machtbefugnisse neu zu ordnen, nicht eingehalten wurden? Was kann der denn schon, dieser Putin? Sie sehen ja, Nawalny zu vergiften, haben sie auch nicht geschafft. Und hier haben wir es mit einem geopolitischen Gambitspiel zu tun, einer komplizierten Geschichte. Außerdem dürfte es im Frühjahr aller Voraussicht nach auch in Russland hoch hergehen, weshalb sollte man also die unzufriedenen Russen noch damit ermuntern, dass man die Proteste bei den Nachbarn in Veränderungen münden lässt? 

    Ich weiß, was das Regime getan hat und was es tun wird. Mit der Zusage, die Verfassung ändern zu wollen, hat es sich Zeit erkauft, die Proteste zu ersticken. Und nun, da die Spannungen unter den Ofen gekehrt sind, packt es den Stier beim Euter, schleppt das Ganze bis zum Jahr 2025 und erklärt, die Zeit sei „noch nicht reif für Veränderungen“ (wie gehabt). 

    Es wird vorschlagen, dass wir „die aktuelle Seite umblättern“ und „zum normalen Leben zurückkehren“. 

    Und manch einer wird tatsächlich zurückkehren zu diesem Leben. 

    Wird für die belarussische Sprache auf Etiketten kämpfen. Stets darum bemüht zu verschweigen, dass man diese Sprache binnen drei Tagen zurückhaben könnte, würde sich etwas Größeres ändern. 

    Manch einer wird für die Verteidigung von Kurapaty trommeln — ein Heiligtum, wenn man bedenkt, dass der aktuelle Furor dort seinen Ursprung hat, in Kurapaty, in der ausgebliebenen nationalen Einigung um dieses Unglück. Aber hätten sich die Dinge 1996 anders entwickelt, stünde in Kurapaty längst ein großes Denkmal und die umliegenden Hektar Land wären unantastbar. 

    Manch einer wird seine Bemühungen und seine Rhetorik auf die Erneuerung der Paläste lenken, jener Paläste, in deren Fenstern unlängst noch alle Scheiben ganz waren und die alten Eichentüren intakt, die aber zusehends verfallen und weiter verfallen werden, wenn der Staat sie wieder an sich reißt, da man hier nichts vollständig besitzen kann, unterstehen wir doch alle dem Kreisexekutivkomitee. 

    Diejenigen, die sich weiter erinnern, werden weiter schreien. 

    Weiter stöhnen. 

    Sie werden sich an internationale Organisationen wenden, die immer gleichgültiger reagieren werden, da an Belarus als Transitland das große Kapital derjenigen hängt, die hinter europäischen Politikern stehen. 

    Bald werden diese gramgebeugten Rechtschaffenen selbst bei den Menschen hier im Land kein Gehör mehr finden. Auch bei denen, die alles gesehen haben und überall dabei waren, denen die Erinnerung daran aber zu schmerzhaft ist. Dann doch lieber shoppen gehen und Serien schauen, außerdem ist es einfach eine Riesengaudi, im Gummireifen die vereiste Tubingbahn in Silitschy runterzusausen … 

    Wir werden uns zerstreiten darüber, wer was falsch gemacht hat. Wieso es gekommen ist, wie es gekommen ist. Wir werden den ehemaligen Führungsfiguren Vorhaltungen machen, besonders jenen, die ins Ausland gegangen sind (dabei hätten sie in erster Linie unser Mitgefühl verdient). Wir werden uns wundern über die Blumen, die manche weiterhin an den Orten ablegen, wo Taraikowski ermordet und Bondarenko zusammengeschlagen wurden. 

    Ich bin einer von denen, die sich erinnern und sich immer erinnern werden. 

    Nicht nur an 2020. 

    Sondern auch an 2010 (Blutlachen im Schnee, schwarze Phalangen in der Dunkelheit, das Aufblitzen der Lichter auf den Helmen). 

    Und an 2006 (oh, dieser Schneesturm!). 

    Und an 1996 und 1999 (hat einer behauptet, die ersten Todesopfer gab es erst seit letztem Sommer). 

    Meine Erinnerung ist es, die mir die Freude nimmt. 

    Aber dieselbe Erinnerung verbietet mir auch, wieder normal zu werden. 

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    „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

    „Rundherum lagen Menschen in Blutlachen“

    Was war da los? #2

    Der Platz des Wandels

    „Die Proteste sind zu einer Befreiungsbewegung geworden“

    Mit der Angst um den Hals

  • Der Platz des Wandels

    Der Platz des Wandels

    „In einigen Jahren wird man Exkursionen hierher machen“, schreibt ein Rezensent bei Google-Maps und vergibt fünf Sterne für einen unscheinbaren Hinterhof inmitten riesiger Plattenbauten in einem gewöhnlichen Minsker Wohnviertel. Die Geschichte des Hofes in der Orschanskaja-Straße im Minsker Norden zeigt einmal mehr, dass sich der Protest in Belarus nicht nur bei den großen Demonstrationsmärschen und Streiks abspielt – und dass er viele kreative Gesichter hat.

    Ulad Schwjadowitsch schildert in der belarussischen Traditionszeitung Nasha Niva seine Eindrücke aus dem legendären Hinterhof. 

    Die Geschichte vom Platz des Wandels beginnt am 18. August 2020: Ein unbekannter Künstler bemalte an diesem Tag das Trafohäuschen mit den Porträts von Ulad Sakalouski und Kiryl Halanau: Die DJs hatten [die Protesthymne von Viktor ZoidekPeremen (dt. Wandel) bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung aufgelegt und dafür jeweils 10 Tage Arrest bekommen.

    Fotos: © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    Fotos: © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Graffitis haben gewöhnlich eine kurze Lebensdauer, erst recht, wenn es sich dabei um Malereien mit einer eindeutig politischen Aussage handelt. Es schien als würde ein solches Schicksal auch dieses Wandgemälde ereilen: Bereits am nächsten Tag wurde es in einem operativen Einsatz übermalt. Aber das war, wie sich herausstellte, erst der Anfang … 

    Der gewöhnliche Minsker Innenhof – umringt von Hochhäusern – ist innerhalb weniger Wochen zu einer echten Kultstätte avanciert: Die Anwohner sprühten das Konterfei der DJs Sakalouski und Halanou auf eine Wand, hängten eine gigantische weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern auf, schmückten den Zaun mit hunderten von bunten Bändchen und brachten am Trafohäuschen ein Schild an: Platz des Wandels

    Zum Platz des Wandels kommen jeden Tag Silowiki und Stadtmitarbeiter, sie entfernen die Fahnen, reißen die Bändchen ab und überstreichen das Wandgemälde. Doch die Anwohner lassen nicht locker: Sie waschen die Farbe von den Porträts der DJs, knüpfen neue Bändchen und hängen wieder Fahnen auf. Abends versammeln sich die Leute auf dem Platz, knüpfen Kontakte, tanzen, singen und treffen Freunde. Musiker und Schauspieler des Kupalauski-Theaters traten hier bereits auf, der Hof bekam seinen eigenen Instagram-Account und den Platz des Wandels kann man sogar bei Google-Maps und Yandex-Taxi finden. 

    ***

    Am Abend des 9. Septembers ist es auf dem Platz des Wandels wie gewohnt belebt: Einige Dutzend Menschen haben sich im Hof versammelt. Tagsüber hatten Stadtmitarbeiter versucht, das Konterfei der DJs zu übermalen, doch die Anwohner haben es fast unverzüglich wiederhergestellt. 

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Nun prangen die DJs an der Wand, oben drüber die weiß-rot-weiße Flagge mit der Flagge von Minsk, Kinder laufen umher und Hunde ebenso. Die Erwachsenen warten auf das Konzert: Heute soll Smizer Waizjuschkewitsch in dem Kult-Innenhof auftreten.

    „Das passiert hier quasi jeden Tag. Es begann um den 12. August herum. Die Menschen fingen an sich im Hof zu treffen, lernten sich kennen. Später tauchte das Wandgemälde auf, die Leute richteten eine gemeinsame Chatgruppe ein, nicht nur für Anwohner, sondern auch für Leute aus der Nachbarschaft“, erzählt eine Anwohnerin. „Mit der Zeit haben sich alle kennengelernt. Die Menschen fingen an, gemeinsam zu den Demonstrationen zu gehen, sich gegenseitig zu unterstützen, ganz nachbarschaftlich. Einige Anwohner haben sich über den Lärm beschwert. Wir haben darauf Rücksicht genommen und treffen uns seitdem nur noch bis 22 Uhr. Nun, es gab auch eine Babuschka, die die Bändchen abgeschnitten hat. Wir haben mit ihr gesprochen und diskutiert, dass sie ihre Meinung hat und wir eben eine andere, das ist ja nichts schlimmes. Sie hat versprochen, keine weiteren Sabotagen mehr durchzuführen. Das war’s, mehr Probleme gab es nicht.“

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Die Bändchen sind am Zaun um den Spielplatz angebracht. Bis vor Kurzem hing noch eine gigantische weiß-rot-weiße Fahne zwischen den Häusern, doch die Silowiki haben sie bereits entfernt – und mussten dafür die Tür zum Dach aufsägen.

    Statt der Fahne gibt es nun den Zaun, der komplett mit Bändern verziert ist: teils mit weiß-rot-weißen, teils mit roten und grünen Bändern. Auch die versucht man regelmäßig zu entfernen.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    „Heute haben sie drei Arbeiter geschickt, dahinter noch vier mit Masken. Haben einen Teil der Bänder entfernt und sind dann einfach wieder gegangen. Vielleicht hat es was gebracht, dass die Anwohner kamen, ihnen ins Gewissen redeten, sodass es ihnen unangenehm wurde“, erzählen die Menschen.

    Nun hängen die Anwohner die Bänder wieder auf. Gemeinsam mit ihren Kindern. 

    Sie sagen, dass das alles ohne jegliche Organisation abläuft. Für den Stoff der Bänder wird kein Geld gesammelt – die Leute bringen es von selbst, wie sie es für nötig halten. Um die Wiederherstellung der Wandbemalung kümmert sich wer gerade Zeit und Lust hat.

    „Die große Fahne haben die Frauen genäht. Aber wir entschieden, sie vorerst nicht aufzuhängen, weil sie angefangen haben, unsere Hausgemeinschaften mit Strafen zu bedrängen. Insgesamt 18.000 Rubel [etwa 5.800 Euro – dek] für drei Häuser“, berichten die Anwohner.

    Das Schild mit der Aufschrift Platz des Wandels haben die städtischen Bediensteten zwar ebenfalls entfernt, aber es besteht kein Zweifel, dass schon bald ein neues auftauchen wird. 

    Währenddessen kommen immer mehr Menschen auf den Platz. Kiryl und Darja warten mit ihren zwei Kindern auf das Konzert.

    „Die Kinder fragen, was passiert, aber wir erzählen ihnen natürlich nicht alle Einzelheiten. Einmal kam mein Sohn, ein Zweitklässler, aus der Schule und sagte: ,Ein Mädchen aus unserer Klasse ist für Lukaschenko, krass oder?‘ Für ihn ist es komisch, dass es Menschen gibt, die für Lukaschenko sind. Wir sagen, dass er darüber nicht in der Schule sprechen soll, aber die Kinder kriegen ja eh alles mit. Vor allem, weil wir keine Omis und Opis hier haben, deswegen nehm ich den Kleinen mit zu den Demos. Dann bleiben wir nur bis 18 Uhr und stehen auch nur am Rand. Aber er hört ja da die Losungen wie ,Lukaschenko, ab in den awtosak‘, wobei ich ihm verbiete das nachzusagen. Ich erkläre, dass darüber nur Erwachsene diskutieren, die schon wählen dürfen“, sagt Darja. „Aber ich kann nicht nicht rausgehen. Ich finde, jeder muss seine Meinung kundtun.“

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
    © Nadseja Bushan / Nasha Niva

    Einige Eltern sehen das anders.

    „Ich sage meinem Sohn offen: Die weiß-rot-weiße Flagge ist unsere historische Flagge. Unsere jetzige Staatsflagge ist eine andere, die weiß-rot-weiße hat man uns 1994 genommen. Wir erklären, dass die Leute aufgebracht sind, weil sie bei der Wahl einfach betrogen wurden. Warum sollten wir nicht ehrlich mit ihm sein?“, sagt Wadsim, dessen Sohn noch in die Kita geht.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Es sind auch viele Menschen fortgeschrittenen Alters da.

    „Mich stören diese Partys gar nicht, im Gegenteil. Ich höre diese Musik selbst seit 34 Jahren und gehe zu den Demos“, sagt einer der Anwohner stolz. Der Mann ist 56 Jahre alt und Ingenieur in einem Staatsbetrieb. Er sagt, dass er neulich für eine Nacht festgenommen wurde und man ihm auf der Arbeit mit Kündigung gedroht hat: „Dann haben sie es sich nochmal anders überlegt, unter der Bedingung, dass ich nicht nochmal geschnappt werde. Ich sagte: ,Ich versuche es, aber garantieren kann ich das nicht.’ Den Job würde ich ungern verlieren, aber wie soll man zuhause bleiben, wenn man sieht, wie sie 17-jährige Mädchen verhaften?“, fragt der Mann. 

    Jetzt beginnt der Auftritt von Waizjuschkewitsch, gleich mit [der Protesthymne – dek] Mury. Die Leute singen mit.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Noch ist es im Hof ruhig. Vor zwei Tagen, am 7. September, kamen OMON-Einheiten hierher, allerdings erst, als alles schon vorbei war. Dennoch haben sie zwei Menschen festgenommen.

    „Ich wollte den Müll vom Spielplatz einsammeln, da kamen mehrere Fahrzeuge der Silowki angefahren und haben mich umzingelt, so dass ich nicht entkommen konnte. Sie haben mich mitgenommen und auch einen Nachbarn, der einfach nur auf dem Heimweg war“, berichtet Wasil, der auch Anwohner ist.

    Er kam verhältnismäßig glimpflich davon: Sie brachten ihn und den Nachbarn zur Wache, am nächsten Tag hat man sie freigelassen. 

    „Ein Protokoll wegen Rowdytums wurde aufgesetzt, aber sie sagten, wenn die Miliz nicht innerhalb von 10 Tagen anruft, dann ist alles gut“, erinnert sich Wasil.

    Wasil ist IT-Spezialist und arbeitet mit deutschen Geschäftspartnern. Er sagt, als diese von den Internet-Blockaden und den Festnahmen erfahren haben, hätten sie ihm zunächst eine Dienstreise nach Deutschland für ein bis zwei Monate angeboten, später dann einen kompletten Umzug.

    „Noch will ich das nicht. Ich liebe dieses Land, ich möchte gerne hier leben. Hier ist es wunderbar, die Menschen sind wunderbar“, sagt Wasil: „Aber wenn sich nichts ändert, dann werde ich im schlimmsten Fall ausreisen. Ich habe einen kleinen Sohn und ich möchte, dass er in einem Land aufwächst, wo Menschen wertgeschätzt werden.“

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Eine halbe Stunde nach dem Konzert fahren zwei Kleinbusse mit OMON-Einheiten in den Hof. Ein großer Linienbus steht außerdem etwas weiter entfernt. Die Leute verfallen in Panik, aber sie bleiben. Waizjuschkewitsch singt weiter, die Kinder rennen umher. Die Silowiki sitzen noch in ihren Fahrzeugen. 

    „Die OMON-Leute sind gekommen!“, warnt ein Zehnjähriger auf seinem Fahrrad die Anwesenden.

    Lange warten die Silowiki nicht. Zum Lied Kupalinka, das die Menschen im Chor singen, besetzen die Figuren in Schwarz den Spielplatz. Der Gesang bricht mittendrin ab, die Leute rufen Waizjuschkewitsch „Danke!” zu. Einige verlassen den Spielplatz, andere werden dort blockiert.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Die Silowiki warnen über ihr Megafon über die „nicht genehmigte Veranstaltung“, worüber sich die Leute empören und entgegnen, dass sie hier wohnen. 

    „Ihr verängstigt unsere Kinder, haut ab!“, rufen die Frauen.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Die OMON-Leute lassen diejenigen passieren, die weggehen wollen. Zu Festnahmen kommt es nicht, aber die Menschen gehen noch nicht endgültig auseinander. Einige bleiben vor den Hauseingängen, andere kehren in ihre Wohnung zurück und schauen aus dem Fenster.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Währenddessen tauchen außer den Menschen in Schwarz noch weitere Silowiki in grüner Uniform auf. Sie umzingeln das Trafohäuschen, jemand übermalt das Konterfei der DJs schnell mit schwarzer Farbe. 

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    „Schande!“, brüllen ihnen die Menschen entgegen. Darauf empören sich die OMON-Leute demonstrativ untereinander, nach dem Motto: Die schleppen ihre Kinder um diese Uhrzeit nach draußen und beschweren sich dann auch noch – was wollen die eigentlich?

    Die Anwohner rufen immer wieder: „Das ist unser Hof!“ und „Es lebe Belarus!“, doch die Silowiki bewegen sich nicht vom Fleck, solange, bis das Wandgemälde endlich zerstört ist. Danach gehen die Menschen in Schwarz, es bleibt noch ein Dutzend Silowiki in Miliz-Uniformen ohne Erkennungszeichen und in grünen Uniformen. Die Anwohner bitten sie, sich vorzustellen oder auszuweisen, aber die Uniformierten reagieren nicht.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Nach und nach kehren einige Dutzend Anwohner auf den Platz zurück. Einige versuchen, mit den Silowiki ins Gespräch zu kommen. Die antworten: Unterhaltet euch untereinander. Einer der Männer holt eine Bibel hervor und fängt an, den Silowiki aus der Offenbarung des Johannes vorzulesen. Ein Silowik mit GoPro-Kamera auf dem Kopf filmt den Vorleser mit seinem Handy.

    „Und ich sah: Als es das sechste Siegel auftat, da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde schwarz wie ein härener Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut“, liest der Mann vor. 

    Nebenan schaukeln die Kinder, die Anwohner bieten sich gegenseitig Tee und Kaffee an. Die Hunde beschnuppern sich. Vor ihnen stehen die Silowiki auf dem Spielplatz. Die Luft riecht nach der Farbe, mit der das Wandgemälde überstrichen wurde. 

    Wenn das Ausmaß des Protests abnimmt in diesen Tagen, dann nimmt das Ausmaß der Absurdität offensichtlich zu. 

    Anschließend bringen die Silowiki ein paar Kerle, deren Gesichter müde vom Alkohol wirken, angebliche Arbeiter in Zivil. Die Arbeiter bringen eine Leiter, ein Tichar klettert auf das Dach des Trafohäuschens und werkelt lange, um die weiß-rot-weiße Fahne zu entfernen. Schließlich ist die Mission erfüllt: Sie haben die Nationalflagge entfernt und sogar die Flagge von Minsk.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Der Platz leert sich. Die Anwohner gehen nach Hause und sagen einander: „Bis morgen!“ und „Danke, Nachbarn! Schlaft gut!“.

    Auch die Silowiki gehen. Wo eben noch die Kinder spielten, ist nun nun Leere, wo die Menschen sangen, ist nun Stille. Und anstelle der DJs sind da zwei Silowiki mit Maske, die dort abgestellt sind, bis die stinkende Farbe getrocknet ist.

    © Nadseja Bushan / Nasha Niva
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    Einmal mehr haben die heldenhaften Silowiki den inkompetenten tschechischen Puppenspielern einen Nasenstüber verpasst.

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