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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Weißt du, da war Krieg“

    „Weißt du, da war Krieg“

     

    Das Erinnern an den Großen Vaterländischen Krieg ist in Russland eine feierliche Sache – und war es auch schon zu Zeiten der Sowjetunion: Am Tag des Sieges, der am 9. Mai gefeiert wird, gibt es eine große Parade am Roten Platz in Moskau. Hunderttausende im ganzen Land gehen auf die Straße und feiern den Sieg der Sowjetunion über den Faschismus. Die heutigen militärischen und propagandistischen Ausprägungen des Feiertags – einem der wichtigsten in Russland – werden allerdings immer wieder auch kritisch hinterfragt.

    Eine neue, privatere und persönlichere Form des Erinnerns läutete in jüngster Zeit etwa die Aktion Unsterbliches Regiment ein, eine ursprünglich zivilgesellschaftliche Initiative. Auch wenn diese teilweise von offizieller Seite vereinnahmt wird (auch Wladimir Putin lief bereits mit einem Bild seines Vaters bei einem solchen Gedenkmarsch mit), ist der Ursprungsgedanke, die Geschichte der eigenen Großeltern zu erfragen und zu bewahren. Politische oder kommerzielle Aussagen sind bei dieser Art des Gedenkens dagegen unerwünscht.

    Zum persönlichen Gedenken, das die Geschichte der eigenen Vorfahren würdigt, aber auch kritisches Nachfragen erlaubt, motiviert die Aktion des unabhängigen Exil-Mediums meduza: Es rief seine Leser in diesem Jahr dazu auf, ihnen die Kriegserinnerungen der Eltern und Großeltern zu schreiben. Einzelne Redakteure steuerten außerdem Geschichten aus der eigenen Familie bei. Einige davon hat dekoder übersetzt – und stellt sie an diesem für beide Länder wichtigen Tag neben die russischen Originale.

    Wladimir Zybulski

    Wladimir Zybulskis Großvater Wladimir (rechts) mit einem Kameraden / Foto © Wladimir Zybulski/meduza
    Wladimir Zybulskis Großvater Wladimir (rechts) mit einem Kameraden / Foto © Wladimir Zybulski/meduza

    [bilingbox]Ich bin nach meinem Großvater benannt. Einen Großteil meines Lebens wusste ich Folgendes über ihn: Mit 18 kam er an die Front in den Nachrichtentrupp, er kämpfte bei Stalingrad, arbeitete nach dem Krieg in einer Lokomotivfabrik und hat einmal in einem Film mitgespielt. Ich habe nie mit ihm gesprochen: Er starb zwei Jahre vor meiner Geburt.

    Mama und Oma erzählten immer, dass Großvater sehr zurückhaltend war und dass es Großmutter große Anstrengung gekostet hat, bis er bei seinen Chef um eine Wohnung bat. Außerdem wurde noch erzählt, dass die Orden auf dem feierlichen Portraitfoto in Wirklichkeit nicht seine waren. Er hatte all seine Orden und Medaillen verloren, als er in Berlin in den Zug stieg, und das Portrait musste dann mit den gleichen, aber eben den Orden von jemand anders gemacht werden. Großvater hat lange Jahre an das Ministerium geschrieben, damit sie ihm neue machen, aber vergeblich.

    Wofür genau mein Opa all seine Orden bekommen hat, wurde mir allerdings nie erzählt: Ruhmesorden II. und III. Klasse, den Orden des Großen Vaterländischen Krieges I. Klasse und einige Medaillen.

    Vor ein paar Jahren entdeckte ich dann die Website podvignaroda.ru, auf der man etwas über Verwandte erfahren konnte, die im Krieg waren. Dort fand ich auf Auszeichnungs-Listen, dass mein zurückhaltender Großvater mit 21 Jahren nach Korrektur des Frontverlaufs deutsche Maschinengewehrschützen entdeckt hatte, die um den Beobachtungsposten verteilt waren. Er erschoss damals 15 Deutsche, die übrigen entkamen. Ein bisschen später dann in Berlin „stürmte er ein Haus, in dem Deutsche waren – durch Kugeln aus seiner Maschinenpistole starben acht deutsche Soldaten, drei nahm er gefangen“.

    Ich erzählte meiner Mutter von meiner Entdeckung und die zeigte es meiner Oma. Keine von ihnen wusste, was mein Großvater im Krieg gemacht hatte. Wenn du über Morde im Krieg in Büchern oder in Interviews mit Frontsoldaten liest, ist es das eine; wenn du erfährst, dass auch dein eigener naher Vorfahre getötet hat, beziehst du es auf dich und dir wird ganz schön mulmig. Aber du spürst auch Stolz – auf den Mut deines Opas.~~~Меня назвали в честь деда. Большую часть моей жизни я знал про него следующее. В 18 лет его забрали на фронт связистом, он воевал под Сталинградом, после войны работал на тепловозостроительном заводе и однажды засветился в одном фильме. Сам я никогда с ним не разговаривал: он умер за два года до моего рождения.

    Мама с бабушкой рассказывали, что дед был очень скромный, и бабушке больших усилий стоило заставить его попросить у начальства квартиру. Еще рассказывали, что медали, которые у него на портрете, на самом деле не его. Все свои медали и ордена он потерял, когда садился в поезд из Берлина, и парадный портрет пришлось делать с такими же, но чужими. Дед потом долго писал в министерство, чтобы ему сделали новые награды, но тщетно.

    Чего мне не рассказывали, так это того, за что именно дед получил все свои награды: ордена славы II и III степеней, орден Отечественной войны I степени, ордена Славы II и III степеней и несколько медалей.

    Несколько лет назад я узнал про сайт «Подвиг народа», где можно узнать про воевавших родственников. Там я нашел наградные листы, и выяснилось, что мой скромный дед в 21 год, возвращаясь после исправления линии, обнаружил немецких автоматчиков, окружающих наблюдательный пункт. Тогда он застрелил 15 немцев, остальные разбежались. А чуть позже, уже в Берлине, «ворвался в дом, где находились немцы, и огнем своего автомата убил восемь немецких солдат и троих пленил».

    Я рассказал про свою находку маме, та показала бабушке. Никто из них тоже не знал, что дед делал на войне. Когда читаешь про убийства на войне в книгах или в интервью фронтовиков — это одно; когда узнаешь, что и твой самый ближайший предок убивал тоже, примеряешь на себя — и становится жутко. Но и гордость чувствуешь — за смелость деда.[/bilingbox]


    Lika Kremer

    Lika Kremers Großeltern Marianna und Mark mit Sohn Gidon / Foto © Lika Kremer/meduza
    Lika Kremers Großeltern Marianna und Mark mit Sohn Gidon / Foto © Lika Kremer/meduza

    [bilingbox]Ein Jahr bevor die Deutschen Riga eroberten, bekamen mein Opa Mark und seine Frau – nach 13 Jahren kinderloser Ehe – endlich eine Tochter.

    Der Bruder meines Opas hatte ein Geschäft für Männerhemden, darum hat man ihn gleich nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen 1940 mit seiner Familie als „Kapitalisten“ nach Sibirien deportiert. Mein Opa blieb. Er war Geiger, spielte außerdem Saxophon und leitete ein kleines Unterhaltungsorchester, das in Restaurants auftrat und Stummfilme im Kino Splendid Palace begleitete.

    Als die Gefahr einer deutschen Okkupation aufkam, wussten Opa und seine Familie nicht, ob sie emigrieren sollten oder nicht. Letztlich entschieden sie, dass man mit einem Kleinkind besser nicht ins Unbekannte flieht, und blieben. Zum eigenen Schutz ließen Mark und seine Frau eine Lettin bei sich einziehen, in der Hoffnung, dass die Familie verschont bleibe, wenn die eine Lettin den Pogromverbrechern die Tür öffnet.

    Ab August 1941 gab es in Riga ein Ghetto, in das man meinen Opa mit Frau und Tochter schickte. Vier Monate später nahm man ihnen ihre anderthalbjährige Liba weg, verschleppte sie in den Rumbulski-Wald und tötete sie. Die Frau meines Opas kam ins Konzentrationslager Kaiserwald.

    Mit allen, die arbeiten konnten, durchquerte Mark jeden Morgen unter Aufsicht die ganze Stadt, um Zwangsarbeit zu verrichten. Eines Tages entschied er sich mit einem Mithäftling, Willi Kaplan, zur Flucht.

    Elvira Ronis, jene Lettin, die kurz vor der Deportation bei meinem Opa eingezogen war, lebte noch immer dort. Sie war eine feinfühlige, mutige Frau. Mein Opa erklärte es damit, dass sie einen Buckel und deswegen viel durchgemacht hatte. Als mein Opa noch im Ghetto lebte, kam Elvira täglich an den Zaun und brachte ihm und seiner Familie heimlich Milch. Als Mark und Willi flohen, versteckte sie die beiden schließlich im hintersten Zimmer jener Wohnung.

    Sie lebten dort eine Weile, doch dann entwickelte sich eine Affäre zwischen Elvira und einem deutschen Offizier. Der Offizier schöpfte Verdacht, dass irgendwas in der Wohnung nicht stimmt.

    Aus Angst, aufzufliegen, mietete Elvira eine Werkstatt in der Terbatas Straße 56. Opa und sein Kamerad hoben unter dem Boden eine große Grube aus und versteckten sich in dieser Erdhöhle. Elvira brachte ihnen regelmäßig zu essen. Manchmal setzte sich mein Opa eine Sonnenbrille auf, klebte sich einen Schnurrbart an, verließ das Versteck und ging auf den Markt, um verbliebene Gegenstände zu verkaufen, damit Elvira Geld für Lebensmittel hatte.

    Mein Opa verbrachte ein Jahr und sieben Monate in der Grube. Anfangs waren dort nur zwei untergetaucht, zum Ende des Kriegs hin waren sie zu siebt.

    Am 13. Oktober 1944 hat die Rote Armee Riga befreit. Mein Opa erhielt eine Stelle als Stimmführer der zweiten Geigen beim Orchester des Rigaer Radios. Dort lernte er meine Großmutter Marianna kennen.

    Meine Oma kam gebürtig aus Deutschland, aus der Familie eines erfolgreichen schwedischen Geigers. Ihre Mutter war Jüdin, deshalb war die Familie nach Estland geflohen, als Hitler an die Macht kam. Das wohlhabende deutsche Mädchen lernte über den Sommer alle 14 Fälle der estnischen Grammatik und ging in Tartu in die Schule. Fünf Jahre später wurde Estland sowjetisch, dann begann der Krieg. Meine Oma fuhr mit ihren Eltern per Zug durch das riesige fremde Land bis nach Alma-Ata.

    Während der Evakuierung spielte meine junge Großmutter im Orchester des Mossowet-Theaters, litt Hunger, lernte Russisch sprechen, mit Gewehr überm Rücken Ski fahren und Zuckerrüben ernten. In ihrer Freizeit strickte sie den Schauspielerinnen Pullis mit Hirschen und Sternen und tauschte sie gegen Kartoffeln. Nach dem Krieg zog die Familie nach Riga. Meine Oma begann beim Radio-Orchester zu arbeiten, traf meinen Opa und … mein Papa wurde geboren.

    Ende der 1970er Jahre wanderten meine Großeltern nach Westdeutschland aus. Meine Oma Marianna begann dort ein neues, aufregendes Leben. Sie wurde zur Modenärrin, reiste viel, liebte es, Geschenke zu machen und andere zu überraschen. Und fast alles, was ich machte, kommentierte sie – ohne das „r“ zu rollen, wie es sich gehört – mit dem Wort „Horror“. ~~~За год до того, как немцы захватили Ригу, у моего дедушки Марка и его жены, после тринадцати лет бездетного брака, наконец родилась дочь.

    У дедушкиного брата был магазин мужских сорочек, поэтому сразу после ввода советских войск в 1940 году его вместе с семьей депортировали в Сибирь как «капиталиста». А дедушка остался. Он был скрипачом, играл на саксофоне и руководил небольшим эстрадным оркестром, который выступал в ресторанах и сопровождал немое кино в кинотеатре «Сплендид палас».

    Когда возникла опасность немецкой оккупации, дедушкина семья никак не могла понять, стоит эмигрировать или нет. Решили, что все-таки с маленьким ребенком бежать неизвестно куда нельзя — и остались. Чтобы обезопасить себя, Марк с женой поселили в квартиру латышку, надеясь, что если дверь погромщикам откроет она, семью не тронут.

    В августе 1941-го в Риге появилось гетто — их с женой и дочкой отправили туда. Через четыре месяца полуторагодовалую Либу отобрали, отвезли в Румбульский лес и убили. А дедушкину жену отправили в концлагерь «Кайзервальд».

    Вместе со всеми, кто мог работать, каждое утро Марк шел под конвоем через весь город на принудительные работы. И однажды они, с еще одним узником, Вилли Капланом, решились бежать.
    Эльвира Ронис, та самая латышка, которую дедушка поселил у себя незадолго до депортации, все еще жила у него дома. Это была чуткая и смелая женщина, дедушка объяснял это тем, что у нее был горб — и она сама много натерпелась. Когда дедушка еще был в гетто, Эльвира каждый день приносила к решетке и тайно передавала ему и его семье молоко. В итоге она спрятала сбежавших Марка и Вилли в дальней комнате в той же самой квартире.

    Они прожили там какое-то время, но тут у Эльвиры случился роман с немецким офицером. Офицер начал подозревать, что в квартире что-то не так. Опасаясь разоблачения, Эльвира сняла мастерскую на улице Тербатас, 56. Дедушка и его товарищ вырыли под полом большую яму и спрятались в этой землянке. Эльвира регулярно приносила им продукты. Время от времени дедушка надевал темные очки, наклеивал усы, выходил из укрытия и шел на рынок — продавать сохранившиеся вещи, чтобы добыть для Эльвиры деньги на еду.

    В этой яме дедушка провел год и семь месяцев. Сначала беглецов было двое, но к концу войны стало уже семеро.

    13 октября 1944 года Красная армия освободила Ригу. Дедушка получил место концертмейстера вторых скрипок в оркестре рижского радио. Там он познакомился с бабушкой Марианной.

    Бабушка родилась в Германии в семье успешного шведского скрипача, ее мама была еврейкой, поэтому когда Гитлер пришел к власти, семья бежала в Эстонию. Благополучная немецкая девочка за лето выучила все 14 падежей эстонского языка и пошла в школу Тарту. Через пять лет Эстония стала Советским Союзом, а потом началась война. Бабушка с родителями проехала на поездах через огромную чужую страну и оказалась в Алма-Ате.

    В эвакуации юная бабушка играла в оркестре театра Моссовета, голодала, училась говорить по-русски, бегать на лыжах с винтовкой и собирать сахарную свеклу. В свободное время она вязала артисткам свитера с оленями и звездами и меняла их на картошку. После войны семья переехала в Ригу. Бабушка пошла работать в оркестр радио, встретила дедушку — и у них родился мой папа.

    В конце 1970-х дедушка с бабушкой эмигрировали в Западную Германию. Там бабушка Марианна зажила новой увлекательной жизнью. Стала модницей, много путешествовала, обожала дарить подарки, устраивать сюрпризы. И почти про все, что я делала, бабушка, не выговаривая букву «р», говорила «кошмар».[/bilingbox]


    Galina Timtschenko

    Galina Timtschenkos Großvater Pjotr Iwanowitsch Zerkowny  / Foto © Galina Timtschenko/meduza
    Galina Timtschenkos Großvater Pjotr Iwanowitsch Zerkowny / Foto © Galina Timtschenko/meduza

    [bilingbox]Unmöglich ist es, sich zu erinnern, wann sie dir das erste Mal gesagt haben: „Weißt du, da war Krieg.“ Du blätterst im Fotoalbum mit den Portraits von Opa in Uniform mit den Rauten am Kragen; du siehst, wie Omas Gesicht anfängt zu zittern, wenn sie über ihn spricht; du weißt, dass Mama jedes mal den Ton ausschaltet, wenn sie im Radio oder Fernseher hört Erhebe dich, du großes Land [Wstawai, strana ogromnajadek]; merkst, dass sie deinem Vater nie Kartoffeln auftun und erklären, dass „sie im Krieg nur gefrorene Kartoffeln gegessen haben“; voll Entsetzen schaust du auf den buckeligen orthopädischen Schuh und gewaltigen Stock von Omas Bruder.

    Meine Mama war sechs, als der Krieg anfing. Opa war zu dieser Zeit Hauptmann bei der Roten Armee. Er fuhr schon am 22. Juni los an die Front. Oma und Mama gelang es wie durch ein Wunder in die ihre Heimat nach Perwomaisk in die Ukraine zu gelangen. Einen Monat später wurde das Gebiet [von Deutschen – dek] besetzt.

    Sie unterteilten die vier Jahre unter den Deutschen in die Zeit, „als die Ingenieure da waren“ – damals sorgten die Deutschen für Infrastruktur und zogen gen Osten; „als die Italiener kamen“ – da erinnerte sich Oma, dass die „nie etwas wegnahmen, im Gemüsegarten ernteten sie Tomaten und brachten im Tausch entweder Wäsche oder Brot; „als die Rumänen kamen – da wurde das Haus ratzeputze leergeräumt“; „als die SS-Einheiten kamen“ – das war eine Strafoperation, nachdem sie den Untergrund aufgespürt hatten; und schließlich, „als unsere Leute vorstießen“ – da wurde die Stadt drei Tage bombardiert, und alle saßen drei Tage im Keller.

    Die ganzen vier Jahre nahm meine Urgroßmutter die vier Fotos mit Männern in Uniform nicht von der Wand: ihre drei Söhne Alexej, Pjotr und Nikolai und ihr Schwiegersohn (mein Großvater) Pjotr. Alle waren an der Front, und bis Kriegsende hatte sie von keinem Nachricht.

    Ihr ältester Sohn Alexej war seit 1942 verschollen. Der mittlere Pjotr beendete den Krieg der Garde als Hauptmann und Ordensträger. Der jüngste kämpfte als Infanterist und Oberfeldwebel, ausgezeichnet mit dem Orden des Roten Sterns; aufgrund einer Splitterverletzung hinkte er sein ganzes Leben.

    Mein Großvater, Hauptmann Pjotr Iwanowitsch Zerkowny, war seit Juni 1941 in der Nähe der Stadt Uman verschollen. Nach dem Tod meiner Großmutter fand ich in ihren Unterlagen einen Stapel Suchanfragen an das Verteidigungsministerium. Die letzte hat sie 1991 abgeschickt.~~~Невозможно вспомнить момент, когда тебе впервые сказали: «Знаешь, была война». Ты просто листаешь альбом с портретами деда в военной форме с ромбами на воротнике; видишь, как начинает дрожать лицо у бабушки, когда она говорит о нем; знаешь, что мама каждый раз выключает звук, если слышит по радио или в телевизоре «Вставай, страна огромная»; замечаешь, как отцу никогда не кладут на тарелку картошку, объясняя, что «в войну только мерзлую картошку и ели»; с ужасом смотришь на горбатый ортопедический ботинок и здоровенную трость бабушкиного брата.

    Моей маме было шесть, когда началась война. Дед, к тому времени капитан Красной армии, уже 22 июня уехал на фронт, а бабка с мамой чудом смогли доехать до родного дома в Первомайске (Николаевская область Украины). А через месяц оказались в оккупации.

    Они делили прожитые «под немцем» четыре года на «когда стояли инженеры» — это немцы налаживали сообщение, двигаясь на восток; «когда пришли итальянцы» — тут бабка всегда вспоминала, что те «никогда ничего не отнимали, собирали в огороде помидоры и приносили то белье, то хлеба в обмен»; «когда пришли румыны — и в доме не осталось ничего»; «когда пришли эсэсовцы» — это в городе была карательная операция после обнаружения подполья; и, наконец, «когда наступали наши» — город бомбили трое суток, и все трое суток они просидели в подвале, а во дворе под грушей до 46 года лежала неразорвавшаяся бомба — и прабабка поставила вокруг плетень «от греха».

    Все четыре года прабабка не снимала со стены четыре фотографии мужчин в военной форме: трое сыновей Алексей, Петр и Николай и зять (мой дед) Петр. Все были на фронте, и ни от кого из них до конца войны не было вестей.

    Старший ее сын пропал без вести в 42-м. Средний Петр закончил войну гвардии капитаном и орденоносцем. Младший воевал в пехоте, гвардии старшина, награжден орденом Красной звезды, остался навсегда хромым из-за осколочного ранения.

    Мой дед, капитан Петр Иванович Церковный пропал без вести в июле 1941 года под городом Умань. После бабкиной смерти в ее документах я нашла пачку запросов в министерство обороны, последний из них она отправила в 1991 году.[/bilingbox]

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  • „Wir haben lange genug stillgehalten“

    „Wir haben lange genug stillgehalten“

    Sie gilt als eine der bedeutendsten Intellektuellen des Landes: Irina Prochorowa. Die Herausgeberin der angesehenen geisteswissenschaftlichen Zeitschrift Nowoje literaturnoje Obosrenije  (dt. „Neue literarische Rundschau“) ist eine gewichtige Stimme in der russischen Öffentlichkeit. Stärkeren politischen Einfluss gewann Prochorowa, als sie 2014 kurzzeitig die Leitung der Partei ihres Bruders übernahm – der Milliardär Michail Prochorow hatte mit der liberalen Bürgerplattform eine Zeit lang politische Ambitionen signalisiert. Prochorowas Austritt nur wenige Monate nach der Angliederung der Krim erscheint dabei symptomatisch für den Zustand der russischen Gesellschaft.

    So spricht Prochorowa in diesem Interview mit dem Webmagazin Meduza darüber, warum die Angliederung der Krim einen Keil zwischen die Menschen getrieben habe, weshalb politisches Engagement derzeit fast unmöglich sei – und wie ein Donald Trump in Populisten à la Shirinowski einen russischen Vorläufer hatte.

    Das Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung von Meduza in deutscher Übersetzung veröffentlichen, führte Ilja Scheguljow mit Irina Prochorowa in London.

    Eine der bedeutendsten Intellektuellen des Landes – Irina Prochorowa / Foto © Strelka – Institute for media, architecture and design / flickr.com
    Eine der bedeutendsten Intellektuellen des Landes – Irina Prochorowa / Foto © Strelka – Institute for media, architecture and design / flickr.com

    Ilja Scheguljow: Man hat den Eindruck, dass die Spaltung der Gesellschaft in letzter Zeit, also seit der Krim, vollkommen unüberwindlich geworden ist. Empfinden Sie das auch so? Was genau ist da kaputtgegangen?

    Irina Prochorowa: Versuche, die Gesellschaft in zwei feindliche Lager zu spalten, hat es auch vor der Krim schon mehr als einmal gegeben – die Diskreditierung der 1990er, der Angriff auf den demokratischen Wandel, die Verbreitung einer Nostalgie nach dem Sowjet-Imperium, die Militarisierung des allgemeinen Bewusstseins. Die Krim war die letzte Herausforderung. Und diese konnte die Gesellschaft nicht mehr meistern. Obwohl sie der krampfhaften Mobilisierung bemerkenswert lange standgehalten hat.

    Was gerade passiert, ist eine Rückkehr zur totalitären Tradition einer staatlichen Lenkung. Die Polarisierung der Gesellschaft ist ein Element davon – die endlose Suche nach inneren Feinden.

    Wenn ihr gegen das Regime protestiert, verratet ihr euer Vaterland. Dieses Modell besteht nach wie vor

    Ich möchte Ihnen ins Gedächtnis rufen, dass in der Sowjetunion die ganze Identitätskonstruktion auf der Loyalität oder der Illoyalität zur Regierung beruhte. Es war ein Modell, bei dem der Staat den Platz der Heimat für sich beanspruchte: Wenn ihr gegen das Regime protestiert, verratet ihr euer Vaterland. Dieses Modell besteht nach wie vor.

    Hinzu kommt, dass die Spaltung die Gesellschaft in zwei ungleiche Teile teilt. Spüren Sie, dass Sie sich in der Minderheit befinden?

    Da sehen Sie mal, wie leicht wir uns auf das sowjetische Spiel der Bolschewiki-Menschewiki eingelassen haben. Es gibt keine absolute Mehrheit oder Minderheit, und es hat sie auch nie gegeben: Ein Mensch kann sich in der einen sozialen Frage in der Mehrheit befinden und in einer anderen wiederum in der Minderheit.

    Die Tatsache, dass man die Gegner der Krim-Annexion in der offiziellen Presse als Ausgestoßene darstellt, bedeutet noch gar nichts. Zum einen wissen wir aufgrund der fehlenden Pressefreiheit weder wie hoch der tatsächliche Prozentanteil der kritisch eingestellten Menschen ist noch mit welcher Dynamik sich die öffentliche Meinung in Anbetracht der Krise und der Gegensanktionen verändert.

    Und zum anderen: Sogar wenn die offiziellen Zahlen stimmen und die Zahl der Gegner der Krim-Kampagne tatsächlich bei 15 Prozent liegt, dann ist das immer noch jeder siebte Bürger. Nicht übel für Ausgestoßene!

    ‚Die Fünfte Kolonne hat sich versammelt‘ – solche Worte darf man nicht nur nicht aussprechen, man darf sie nicht einmal denken

    Diese Logik darf nicht aufgehen, andernfalls treiben wir uns selbst ins Ghetto. Ich empöre mich zum Beispiel jedes Mal darüber, wenn jemand von meinen Freunden oder Kollegen bei einem Treffen spottet: „Die Fünfte Kolonne hat sich versammelt.“ Solche Worte darf man nicht nur nicht aussprechen, man darf sie nicht einmal denken!

    Noch nicht einmal im Scherz?

    Verzeihen Sie, aber ein Scherz ist ein Mittel zur Verfestigung eines Wertesystems. Wenn Sie beginnen, auf diese Art zu scherzen, heißt es, dass Sie diese Logik anerkennen.

    Wir sind alles andere als ein Randphänomen. Wir sind die Avantgarde der Gesellschaft. Tatsächlich ist es die Regierung, die sich auf marginale, radikale Gruppen stützt – pseudo-orthodoxe Aktivisten, Pseudo-Kosaken und so weiter. Ihnen erlaubt sie, zu wüten und erklärt sie zur „Stimme des Volkes“.

    Nichtsdestotrotz ist sogar die Bürgerplattform an der Krim-Frage zerbrochen. Und Sie selbst sind wegen der offiziellen Haltung der Partei aus ihr ausgetreten.

    Die Haltung zur Krim war der Eckpfeiler für die politische Selbstdefinition aller Parteien. Weil in der Bürgerplattform die Meinungen dazu auseinandergingen, haben Michail [Michail Prochorow: Bruder von Irina Prochorowa und Gründer der Partei – Anm. d. Red. Meduza] und ich ein internes Referendum vorgeschlagen. Bei der Auszählung hat sich herausgestellt, dass der Großteil der Parteimitglieder die Angliederung der Krim unterstützt.

    Die Haltung zur Krim war der Eckpfeiler für die politische Selbstdefinition aller Parteien

    Ich fand, mir blieb keine andere Möglichkeit, als die Partei zu verlassen, denn meiner Ansicht nach widerspricht das im Kern ihren ursprünglichen Grundlinien.

    Was da passiert ist, ist sehr traurig. Aber es zeugt auch davon, dass unser Parteiaufbau noch sehr fragil ist. Leider ist das politische Feld derzeit überhaupt so eingeengt, dass mir jegliche Partei-Experimente beinahe unmöglich erscheinen. Dennoch war es eine sehr wertvolle Erfahrung.

    Aber Sie haben doch ernsthaft Politik betrieben. Hatte das überhaupt einen Sinn? Es gibt doch auch die Lesart, dass die Proteste von 2011 und 2012 zu einer Verschlechterung der Situation und zu zunehmenden Repressionen geführt hätten.

    Wissen Sie, das ist genau die Situation, wenn jemand versucht, einem anderen den schwarzen Peter zuzuschieben. Ich bin der Meinung, dass all dieses Gerede von wegen „Man hätte das mit den Kundgebungen lieber lassen sollen“ im Kern falsch ist. Schließlich haben wir unsere Bürgerrechte verteidigt – die Möglichkeit, unsere Meinung mit friedlichen Demonstrationen kundzutun. So steht es in der Verfassung. Wir haben also keinerlei Schuld auf uns geladen, geschweige denn ein Verbrechen begangen.

    Wir haben lange genug stillgehalten, und die Situation hat sich dennoch kontinuierlich verschlechtert

    Es wäre naiv zu denken, dass, wenn wir nur stillsitzen und den Schwanz einziehen würden, alles ganz wunderbar wäre … Außerdem haben wir lange genug stillgehalten, und die Situation hat sich dennoch kontinuierlich verschlechtert.

    Finden Sie, dass es im Augenblick überhaupt sinnvoll ist, sich in Russland politisch zu betätigen?

    Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, dass ein vollwertiges politisches Leben derzeit objektiv betrachtet nicht möglich ist. Aber ich habe aufrichtigen Respekt vor den Menschen, die bereit sind, auf diesem Feld aktiv weiterzuarbeiten.

    Das Problem der demokratischen Parteien in Russland besteht meiner Meinung nach nicht nur darin, dass sie einer Hetze durch das politische Establishment ausgesetzt sind, sondern auch in der Krise der politischen Sprache und der politischen Vorstellungskraft an sich. Die Protestbewegung, die 2011/12 an Fahrt aufnahm, scheiterte doch vor allem daran, dass sie keine strategische Agenda parat hatte. Abgesehen von der Losung „Für faire Wahlen“ hatte man der Bevölkerung, die sich nach Veränderungen sehnte, im Grunde nichts anzubieten.

    Die Erfahrung der Protestbewegung hat geholfen zu verstehen, dass das sozial-politische Erbe, das uns die sowjetische Nachkriegsgesellschaft hinterlassen hat, in vielerlei Hinsicht verbraucht und entwertet ist, und nur teilweise verinnerlicht wurde.

    Abgesehen von der Losung ‚Für faire Wahlen‘ hatte man der Bevölkerung nichts anzubieten

    Die poststalinistischen Jahrzehnte waren eine ausgesprochen wichtige Zeit für die innere Demokratisierung der Gesellschaft. Durch intensive intellektuelle Arbeit konnte eine ganze Reihe sehr wichtiger Prinzipien formuliert werden: die Notwendigkeit eines menschenwürdigeren Lebensumfeldes, das Streben nach Bürgerrechten und -freiheiten.

    Meistens drückte sich das neue Wertesystem jedoch nicht in politischen Forderungen aus, sondern in der Alltagssprache: Man wollte ein Recht auf freien Zugang zur internationalen Pop-Kultur, träumte vom höheren Lebensstandard („wie im Westen“), forderte die Möglichkeit, ins Ausland zu reisen und Zusatzverdienste zu haben und so weiter. 

    Das waren aber keine „bourgeoisen Überbleibsel“, und auch kein „Niedergang der Kultur“ oder ein „Kniefall vor dem Westen“, wie die offizielle sowjetische Presse diese Entwicklung der allgemeinen Einstellung darstellte. Es war die Transformation einer Gesellschaft, die größere Mobilität und bessere Lebensqualität wollte.

    Im Prinzip hat sich dieser Lebensstil, mit der bekannten Einschränkung, auch durchgesetzt. Natürlich nur, wenn unsere Regierung es nicht fertig bringt, dass wieder ein eiserner Vorhang entsteht.

    Welche Lehre aus der Erfahrung der Vergangenheit haben wir am wenigsten in unser Denken integriert?

    Am allerwenigsten wurde das Erbe der sowjetischen Bürgerrechtler verstanden und angenommen. Sie hatten die Achtung des Gesetzes als den wichtigsten gesellschaftlichen Wert und als persönliche Tugend proklamiert. Wie die Ereignisse der vergangenen Jahre beweisen, sind sich die wenigsten Menschen dessen bewusst, wie wichtig es ist, persönliche und berufliche Freiheiten zu verteidigen. Und das hat traurige Konsequenzen. Wir sehen keine Proteste gegen die Verabschiedung von verfassungswidrigen Gesetzen. Aber nicht, weil unsere Gesellschaft Tyrannei so gern mag, sondern weil sie das Prinzip der Herrschaft des Gesetzes nicht als eine nationale Idee begreift.

    Die Bedeutung von Begriffen wie Liberalismus, Toleranz oder Feminismus war der Gesellschaft nicht klar. Deswegen war es auch so leicht, das alles zu diskreditieren

    In Sowjetrussland war ein offenes politisches Leben unmöglich, weil alle sozialen Fragen woanders verhandelt wurden, hauptsächlich in der Kultur. Das kulturelle Kapital, das die Nachkriegsgesellschaft angesammelt hatte, spielte eine immense Rolle bei der rhetorischen Legitimation der Perestroika. Doch es war überwiegend eine künstlerische und keine politische Metaphorik im eigentlichen Sinn.

    Zaghafte Versuche einer neuen politischen Sprache tauchten in der Publizistik während der Perestroika auf – erinnern Sie sich noch beispielsweise an „das kommando-administrative System“? Doch dann ist die Sowjetunion auch schon zusammengebrochen, und die westeuropäische Rhetorik musste unverzüglich importiert werden.

    Ich fürchte, genau das war die Achillesferse der demokratischen Bewegung. Denn die Bedeutung von Begriffen wie Liberalismus, Toleranz oder Feminismus war der Gesellschaft nicht sehr klar. Sie verfügte über keine lange Tradition der Aneignung solcher Begriffe. Mir scheint, dass es deswegen auch so leicht war, das alles zu diskreditieren.

    Und doch scheint die Sprache, in der die Regierung jetzt mit den Menschen kommuniziert, zu funktionieren.

    Leider ist es immer einfacher, Menschen zu manipulieren, denn für gewöhnlich appelliert man dabei nur an die niedersten Gefühle. Beispielsweise wenn man Menschen durch nationale oder konfessionelle Zugehörigkeit aufwiegelt. Das sind altbewährte Verfahren von unlauteren Politikern aller Völker und Zeiten.

    Aber sie sind effektiv.

    Der Effekt hält nicht lange an, für gewöhnlich zieht er traurige Konsequenzen nach sich. Es ist immer schwerer, an das Gute im Menschen zu appellieren, aber die Erfahrung lehrt uns, dass auch das möglich ist.

    Die Regierung jongliert mit Fetzen der offiziellen Sowjetrhetorik, die dem Großteil der Bevölkerung gut zugänglich und vertraut ist, und zwar nicht nur der älteren Generation. Denn auch nach 25 Jahren postsowjetischen Lebens sind die sowjetischen Propagandafilme nicht von den Fernsehbildschirmen verschwunden. Es werden immerzu visuelle Muster aus der Sowjetzeit reproduziert.

    Wir brauchen dringend eine neue Sprache zur Beschreibung der sozialen Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Denn ohne Sprache gibt es keine Politik, verstehen Sie?

    Außerdem hat man in vielen Regionen noch Mitte der 2000er Jahre Studenten nach sowjetischen Lehrbüchern unterrichtet, weil es in den Bibliotheken keine neuen gab.

    Da die demokratische Rhetorik der 1990er kompromittiert wurde, brauchen wir dringend eine neue Sprache zur Beschreibung der sozialen Probleme, vor denen die Gesellschaft steht. Denn ohne Sprache gibt es keine Politik, verstehen Sie?

    Man kann die Luft zwar mit Ausrufen über Demokratie erschüttern, aber der Begriff hat keine Bedeutung. Bei uns nennt sich die Partei von Shirinowski „liberal-demokratisch“. Übrigens können wir gerade eine große Zahl von Politikern im Ausland beobachten, die Shirinowskis Beispiel folgen.

    Was denken Sie eigentlich darüber? Wie lassen sich die populistischen Tendenzen in Europa und Amerika erklären?

    Ich denke, Russland erfüllt im gegebenen Fall seine traditionelle Rolle als Trendsetter bei sozialen Erschütterungen. Es schien uns lange so, als sei Shirinowski eine ausschließlich russische Anomalie, dabei ist er offenbar der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils.

    Es schien uns lange so, als sei Shirinowski eine ausschließlich russische Anomalie, dabei ist er offenbar der Begründer eines neuen, weltweiten, politischen Stils

    Die Krise der repräsentativen Demokratie tritt in Russland, als einem Land mit einer radikalen Kultur, deutlich zutage. Sie ereignet sich aber im Grunde genommen in der ganzen Welt. Es ist dieselbe Entwertung der gewohnten Begriffe, dasselbe intellektuelle Vakuum, das sich schamlose Gauner zunutze machen.

    Ich kann mich noch daran erinnern, wie man 1990 auf die Auftritte von Shirinowski reagiert hat: Er sagte fürchterliche Dinge, beleidigte und erniedrigte seine Gegner, schlug Frauen, und viele lachten und applaudierten diesem Volksspektakel, dieser Possenreißerei der übelsten Sorte.

    Nun beobachten wir Phänomene wie Trump oder Boris Johnson. Ich fürchte, in naher Zukunft wird es immer mehr solche Beispiele geben.

    Und was passiert dann?

    Es ist eine sehr gefährliche Situation. Sie erinnert stark an die 1930er Jahre des 20. Jahrhunderts. Wir sehen, wie die Faszination an Gewalt und totalitären Ideen wiedererwacht. Um dem etwas entgegenzusetzen, muss man das System der demokratischen Werte fundamental überdenken und wenn nötig ein Upgrade vornehmen.

    Man muss eine neue Metaphorik erarbeiten, die für alle Gesellschaftsschichten zugänglich und attraktiv ist. Das ist für die Behauptung einer demokratischen Lebensform unerlässlich. In dieser Hinsicht sitzen sowohl die USA als auch Europa und Russland in einem Boot. Wir alle stehen vor diesem globalen Problem.

    In den 1930er Jahren konnte kein intellektuelles Gegengift für den Totalitarismus in seinen unterschiedlichen Ausprägungen gefunden werden. Allein die kriegerische Niederlage des Faschismus hat die westeuropäische Gesellschaft zeitweilig von den Ideen der Gewalt als Mittel der Staatsführung weggeführt. Doch eingedenk der historischen Erfahrung müssen wir ein Gegengift finden. Ich denke, uns allen stehen einige Jahre harter Arbeit bevor.

    Glauben Sie, dass diese Arbeit in Russland Erfolg haben kann?

    Warum nicht? Brauchen unsere Leute etwa keine Empathie, kein Mitleid und keinen Respekt – jene Dinge, an denen es uns tatsächlich so schmerzlich mangelt, auch in den Kreisen, in denen wir beide uns bewegen?

    Die russische Gesellschaft ist von oben bis unten brutal und ungeduldig. Die Verachtung gegenüber Menschen, wenn sie etwas nicht wissen oder nicht verstehen, sitzt bei uns tief. Wir haben weder den Wunsch noch die Geduld noch die Sanftmut, Menschen so anzuerkennen, wie sie sind, in all ihrer Unvollkommenheit. Wir träumen genau wie unsere Regierung von einem utopisch-perfekten, „richtigen“ Volk.

    Darin liegt übrigens ein Grund für den unendlichen Kreislauf der Gewalt. Ein Mensch mit dem Wunsch, eine schöne, lichte Zukunft zu errichten, kommt an die Macht, aber das dumme Volk begreift sein Glück nicht – na wenn das so ist, legt die Daumenschrauben an!

    Ein Mensch mit dem Wunsch, eine schöne, lichte Zukunft zu errichten, kommt an die Macht, aber das dumme Volk begreift sein Glück nicht – na wenn das so ist, legt die Daumenschrauben an

    Der liberale Philosoph Isaiah Berlin gab seinerzeit eine fabelhafte Bestimmung des Menschen: „Die Menschheit ist ein krummes Holz.“ Der Wunsch, sie im Handumdrehen zu behobeln und gerade zu biegen, führt unweigerlich zu Gewalt und zur Katastrophe.

    Wenn wir über die Quintessenz der demokratischen Weltsicht nachdenken, sehen wir, dass sie auf einer unausgesprochenen Anerkennung der menschlichen Unvollkommenheit beruht und auf der Suche nach Wegen, die Folgen dieser Unvollkommenheit zu minimieren. Daraus erwächst die Vorrangstellung der Bildung und Aufklärung sowie das ungewöhnlich ausgeprägte Mäzenentum und Ehrenamt, weil sie jeder Form von Willkür und Gewalt, staatlicher wie privater, einen Riegel vorschieben.

    Neulich sind Sie in London im Klub Offenes Russland aufgetreten. Man sagt, die Eintrittskarten seien innerhalb einer halben Stunde ausverkauft gewesen. Es gibt dort ein riesiges Publikum von Menschen, die aus Russland emigriert sind. Es sieht also so aus, als würden die Intellektuellen derzeit das Land verlassen …

    … was sehr traurig ist, und zudem einen furchtbaren Verlust für das Land bedeutet. Es herrschen unvorteilhafte Bedingungen für Künstler und Intellektuelle, die es gewohnt sind, in einem freien Land zu leben. Es ist bedauernswert, dass unsere Staatsmänner die Tragweite dieses Problems nicht begreifen.

    Das nicht totzukriegende Erbe der autoritären Führung ist nicht zu übersehen – der naive Glaube, man könne mit einem Parteibeschluss oder einem Anruf aus dem Kreml alles, was man will, heranzüchten. Ganz gleich, ob eine neue Bildungsschicht oder eine gigantische Rübe. Aber leider gibt es das nur im Märchen. In der Realität entstehen nach diesem Prinzip nur Frankensteins und Disteln.

    Stalins These von der Austauschbarkeit eines jeden Menschen hat das Land zu einem enormen Rückschritt in nahezu allen Bereichen des öffentlichen Lebens geführt. Und wir haben daraus nichts gelernt und begehen denselben Fehler wieder.

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