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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Fall Schaninka: „Es ist eine Farce“

    Der Fall Schaninka: „Es ist eine Farce“

    Die Nachricht erschüttert die Wissenschaftsszene: An der Moscow School of Social and Economic Sciences, einer der renommiertesten Hochschulen in Russland, dürfen keine staatlichen Diploma mehr erworben werden. Das gab das Rosobrnadsor, die staatliche Aufsichtsstelle für Bildung und Wissenschaft, Ende Juni bekannt. Zuvor hatte die Aufsichtsbehörde an der Schaninka, so wird die Hochschule nach ihrem britischen Gründer Teodor Shanin genannt, eine Überprüfung durchgeführt, die notwendig ist für die sogenannte Akkreditierung der Hochschule. 
    Den Vorwurf des Rosobrnadsor, dass an der renommierten Schaninka bestimmte Bildungsstandards nicht eingehalten würden, halten viele für einen Vorwand. Unabhängige Beobachter werten die Entscheidung vielmehr als politisch motiviert. Die Schaninka pflegt enge Verbindungen nach Großbritannien. So können Studenten der Schaninka ihr Studium auch mit einem Diplom an der University of Manchester abschließen. Die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien jedoch gelten seit dem Fall Skripal als stark belastet.

    Auch ohne staatliche Diplome können Studierende ihr Studium an der Schaninka abschließen und haben als Alumni dieser renommierten Hochschule hervorragende Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Was derzeit vielen Sorgen bereitet, ist vielmehr die Frage, wie frei Lehre und Forschung in Russland sind.
    Erst im September vergangenen Jahres hatte eine andere renommierte unabhängige Privathochschule – die Europäische Universität Sankt Petersburg – sogar ihre Lehr-Lizenz verloren. Inzwischen wird dort nur noch geforscht.

    Die Schaninka erfährt derzeit viel Solidarität, mehr als 200 russische und internationale Wissenschaftler protestierten in einem offenen Brief gegen die Entscheidung des Rosobrnadsor.

    Meduza hat mit dem Dekan der Soziologischen Fakultät Viktor Wachstein gesprochen. Auf Snob kommentiert Boris Grosowski den Fall.

    Viktor Wachstein: „Noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität erlebt wie jetzt.“ / Foto © Viktor Wachstein/vk.com
    Viktor Wachstein: „Noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität erlebt wie jetzt.“ / Foto © Viktor Wachstein/vk.com

    Taissija Bekbulatow: Wie kann es sein, dass an einer Hochschule, die in diversen Rankings an der Spitze steht, so viele Verstöße [gegen die staatlichen Bildungsstandards – dek] gefunden werden?

    Viktor Wachstein: Lassen Sie uns diese Verstöße einmal genauer ansehen. Zum Beispiel gilt es als Verstoß, wenn ich mit meinen Studenten für ein Praxisseminar die Stadt verlasse. Das sind Studenten der Soziologie – Feldforscher.
    Ein weiterer Kritikpunkt sind die fehlenden Laborpraktika in Geschichte der Politik-  und Rechtswissenschaften. Ich finde, diese ganze Farce mit der Akkreditierung an sich ist schon ein ziemlich gutes Laborpraktikum in der neuesten Geschichte der Politikwissenschaft.
    Zu den anderen Verstößen äußere ich mich nicht. Nicht einer davon hat etwas mit der Qualität der Lehre zu tun.

    Wie bewerten Sie die Vorwürfe insgesamt?

    Als bürokratischen Versuch, eine unvoreingenommene Beurteilung der Qualität von Lehre und Forschung zu imitieren.

    Zu welchem Zeitpunkt wurde Ihnen klar, dass es Probleme geben könnte?

    Den Verdacht hatte ich schon sehr früh. Als sie [die Inspektoren – dek] in die Hochschule kamen, haben sie zunächst wirklich gearbeitet – haben dagesessen und Berge von Papier durchwühlt: Die Unterlagen meines Fachbereichs passen nicht alle in mein Büro, ich musste sie im Büro des Hochschulpräsidenten stapeln. Aber dann plötzlich haben sie alles stehen und liegen gelassen und sind weggefahren. Und dann natürlich die Gespräche hinter verschlossenen Türen. Auch mit den Experten.

    Eine Frage, die sich aufdrängt: Warum das alles?

    Das weiß niemand. Nur eines ist klar – die Qualität der Lehre und Forschung ist nicht der Grund für die Entziehung der Akkreditierung.

    Wenn die Entscheidung nicht vom Rosobrnadsor kommt, von wem dann?

    Ich habe nicht die geringste Ahnung.

    Inwiefern könnte die Situation mit den zunehmend schlechten Beziehungen zum Vereinigten Königreich zusammenhängen, wegen denen schon der British Council seine Arbeit einstellen musste?

    Wir verlieren uns hier gerade in Mutmaßungen. Das ist einfach nur eine mögliche Variante. Ich persönlich denke, dass das vielleicht auch ein Grund war. Aber wohl kaum der Hauptgrund.
     
    Glauben Sie, dass der FSB etwas mit den Vorwürfen zu tun haben könnte?
     

    Aktuell habe ich keinen Anlass, das zu glauben. Aber ich verfolge die Entwicklungen aufmerksam.
     
    Wie schätzen Sie die realen Folgen ein, welchen Schaden könnte die Entscheidung der Hochschule zufügen? Und auch den Studierenden?
     

    Es wird sich natürlich auf die Bewerberzahlen niederschlagen. Aber vermutlich nicht zu stark. Unsere Studenten kommen nicht wegen der staatlichen Diplome.
    Die Schaninka hatte die längste Zeit ihrer Geschichte keine [staatliche – dek] russische Akkreditierung. Und sie ist bestens ohne sie ausgekommen.
     
    Wie ist die Stimmung an der Schaninka?
     

    Ganz ehrlich, egal, was für Motive diejenigen haben, die uns damit zeigen wollten: „Für euch ist hier kein Platz“ – sie haben das genaue Gegenteil erreicht. Ich bin schon mein halbes Leben mit der Schaninka verbunden, aber noch nie habe ich eine so unglaubliche Solidarität unter Studenten, Professoren und Ehemaligen erlebt wie jetzt.


    „Es gibt nur noch wenig Freiheit für Forschung und Lehre“

    Der Fall Schaninka ist Ausdruck einer fatalen Entwicklung in der russischen Hochschullandschaft, kommentiert Boris Grosowski auf Snob.

    Noch setzt die „Schaninka“ ihre Arbeit fort –  staatlich anerkannte Diplome ausstellen darf sie jedoch nicht. Foto © Moscow School of Social and Economic Sciences
    Noch setzt die „Schaninka“ ihre Arbeit fort – staatlich anerkannte Diplome ausstellen darf sie jedoch nicht. Foto © Moscow School of Social and Economic Sciences

    Die Schaninka ist die führende Universität in Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie, in der Erinnerungsforschung und Geschichte der sowjetischen Zivilisation und in vielen anderen Bereichen. In einem Vierteljahrhundert wird man sich an die Angriffe gegen sie und an die Geschichte der Europäischen Universität in etwa so erinnern wie heute an die Zerschlagung der Genforschung und an die Schließung des Meyerhold-Theaters und an den Philosophen-Dampfer, der 1922 vom russischen Ufer ablegte. 

    Außerdem ist mittlerweile die seit Jahren laufende Zertrümmerung der RGGU vollbracht, und die Europäische Universität in Sankt Petersburg hat ihre Lehre eingestellt.

    Bürokratisches Aufsichtssystem

    Aber das Wichtigste ist: Es wurde ein bürokratisches Aufsichtssystem für Hochschulen geschaffen, das es ermöglicht, jede Uni wegen Verstößen gegen tausende kleiner formaler Anforderungen zu schließen. Es trägt den nicht allzu wohlklingenden Namen: Föderale Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft.

    Die gesamte Arbeit einer Hochschule ist nun der Bürokratie untergeordnet: Der Wust an Dokumenten, die der Föderalen Aufsichtsstelle vorzulegen sind, übersteigt alle Grenzen der Vernunft. Die Dozenten, Institute, Fakultäten, Bachelor- und Master-Programme produzieren tonnenweise vollkommen sinnlose Berichte.

    Über die Qualität der Lehre und Forschung sagen diese allerdings nichts aus. Die Föderale Aufsichtsstelle hat ein Aufsichtssystem geschaffen, das den Dozenten, Forschern und Universitätsmanagern das Leben unmöglich macht und das die besten Universitäten des Landes planmäßig vernichtet. Diese Aufsichtsstelle Rosobrnadsor sollte mitsamt ihrem Kontrollsystem dringend abgeschafft werden. Aber die Regierung hat andere Pläne. Sie will diese Aufsichtsstelle nicht abschaffen, sondern ihr sogar noch das Recht erteilen, wissenschaftliche Einrichtungen zu prüfen.

    Ein System, das besten Universitäten das Leben unmöglich macht und sie planmäßig vernichtet

    Die Autonomie der Universitäten und der Wissenschaft im weiteren Sinne ist eine der wichtigsten Errungenschaften in der Geistesgeschichte. In Russland ist es damit nun vorbei. Dabei ist die Bildungsaufsicht nur ein kleiner Schritt auf Russlands Weg in eine noch härtere Form des Autoritarismus. 
    Die Geheimdienste brauchen keine Universitäten oder Forschungseinrichtungen, diese Brutstätten des freien Denkens. Wozu braucht es schon die sozial- und geisteswissenschaftliche Expertise der Schaninka? Wir haben eine ganz andere Art von Expertise: Ein vom Geheimdienst beauftragter Experte meldet, der Historiker Juri Dmitrijew beschäftige sich mit Kinderpornografie.

    Es ist an der Zeit, offen zuzugeben, dass die Geheimdienste hinter der Zerstörung der Hochschulen stehen. Gleichsam als Vermächtnis der Väter träumen sie von jener Macht, über die die Tschekisten in der Sowjetunion verfügten, als sie der Genetik und der Molekularbiologie einen Riegel vorschoben.

    Gigantische Liste von Minimalverstößen

    Noch setzt die Schaninka ihre Arbeit fort, sie darf „nur“ keine staatlich anerkannten Diplome mehr ausstellen (so festgelegt für zwei Studienjahre). Aber bedenkt man die gigantische Liste von Minimalverstößen, die die Inspektoren bei der Schaninka festgestellt haben, fürchte ich, dass der Entzug der Lizenz nur eine Frage der Zeit ist. Oder eine Frage der „Kompromissfähigkeit“ der Leitung dieser Bildungseinrichtung und ihrer Fürsprecher bei der RANCHiGS (allein die Kooperation dieser staatlichen Akademie mit der nicht-staatlichen Schaninka lässt die für die Bildung zuständigen Geheimdienstler wohl wütend mit den Zähnen knirschen).

    Eine gute Prognose lässt sich hier leider nicht machen. Die Freiheit der Forschung und Lehre wird zunehmend aus den Unis verjagt. Entweder weil Lizenzen entzogen oder weil fähige Forscher und Dozenten ersetzt werden.

    Die 2010er haben sich als äußerst schwere Zeit für die russische Wissenschaft und Bildung erwiesen. Und es wird eher schlimmer als besser.

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  • „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    „Krieg bedeutet vor allem Opfer“

    Am 22. Juni 1941 überfiel NS-Deutschland die Sowjetunion. Der Historiker Alexander Etkind spricht im Interview über die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, den sowjetischen Sieg und über die Doppelrolle Stalins. Und er sagt, warum er es heute so wichtig findet, sich daran zu erinnern, dass der Kalte Krieg nie gänzlich eskaliert ist.

    Alexander Gorbatschow: Sie haben eingehend die Erinnerung an die Stalinschen Repressionen erforscht und auch, wie der Schmerz und die Trauer um die Opfer des Gulag in der heutigen Kultur weiterleben. Die Erinnerung an den Krieg überschneidet sich gewissermaßen mit dieser anderen Erinnerung – zumindest chronologisch und im Schicksal tausender Menschen, die sowohl im Lager als auch im Krieg waren.

    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Foto © Andrej Romanenko/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Alexander Etkind: Dieses Phänomen ist komplizierter, als es scheint. Es ist klar, dass sich die beiden Geschichten überschnitten haben: Mitunter haben Menschen im Gulag gesessen, dann an den Fronten des Zweiten Weltkriegs gekämpft, und sind schließlich wieder ins Lager gewandert. Oder die Überschneidung fand sich innerhalb der Familie: väterlicherseits saßen sie, mütterlicherseits waren sie an der Front – und allen soll gedacht werden.

    In der Kultur und im historischen Gedächtnis stehen diese Themen jedoch getrennt, wie zwei Kontinente, die sich zudem weiter voneinander entfernen. Und das, denke ich, ist ein Problem.

    Wie ist es dazu gekommen?

    Die Gründe hierfür sind wie immer politischer Art. Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es im Grunde nichts, worauf man stolz sein sollte. Nun, ja, der Krieg war siegreich, obwohl das nur so kam, weil der Krieg ein Weltkrieg war, und nicht nur ein Vaterländischer. Das heißt, alle Opfer, auch die sinnlosen, waren gerechtfertigt, denn am Ende stand der Sieg.

    Der Große Vaterländische Krieg ist das Einzige, worauf die offizielle Historiographie zur Sowjetära weiterhin stolz ist. Dabei gibt es nichts, worauf man stolz sein sollte

    Der Gulag, das waren nur sinnlose Opfer und keinerlei Siege, es gibt kein Mittel, hierfür eine Rechtfertigung oder Sühne zu finden. Und deshalb sind diese beiden Erinnerungsräume voneinander getrennt.

    Was meinen Sie, erfolgt das aufgrund einer zielgerichteten Tätigkeit des Staates, der diese beiden Räume gleichsam getrennt hält, oder kommen da dezentere, natürlichere gesellschaftliche Mechanismen zum Tragen?

    Ich glaube allgemein nicht an schöpferische Fähigkeiten des Staates. Der Staat ist in der Regel geistlos, dumm und verschwenderisch. Natürlich gibt es dort auch Leute, die man heute als creatives bezeichnen würde, die staatliche Förderungen erhalten und versuchen, die kreativen Kräfte der Bevölkerung irgendwie zu steuern, doch diese Gelder laufen in der Regel ins Leere oder richten Schaden an.

    Und wenn ich mir überlege, was wir jetzt beobachten können … Zum Beispiel die Ausstellung Russland – meine Geschichte. Die Ergebnisse sind mehr als jämmerlich. Deswegen glaube ich nicht an den Begriff „Geschichtspolitik“.

    Es kommt nicht auf den Staat an, sondern auf das Bemühen von Einzelpersonen mit unterschiedlichen Berufen und Bestrebungen – Historiker, Schriftsteller, Filmregisseure, Museumsmitarbeiter oder einfach Enthusiasten. Diese Menschen schaffen im Dialog miteinander, durch gemeinsame Anstrengungen, einen Sinnzusammenhang, den wir rückwirkend „historisches Gedächtnis“ nennen.

    Wir sagen, dass voneinander losgelöst zwei Typen der Erinnerung existieren. Und doch gibt es eine Figur, durch die diese beiden Typen miteinander verbunden sind, nämlich die Figur Stalins. Und es scheint mir, dass immer dann die Funken fliegen, wenn diese beiden Rollen Stalins gleichsam aufeinanderprallen: die des Oberkommandierenden und die des Organisators der Massenmorde.

    Chruschtschow hat seinerzeit den Begriff „Personenkult“ eingeführt. Zum damaligen Zeitpunkt passte der, aber es ist längst an der Zeit, ihn zu überdenken. Es geht hier nämlich um einen Staatskult.

    Es gibt Leute und ganze politische Gruppierungen, für die es wichtig ist, den Glauben an die machtvolle und lebensstiftende Rolle des Staates zu befördern. Dieser Staat manifestiert sich in der Führerfigur.

    Stalin ist die ideale Verkörperung dieses Kultes, weil er so viel Macht hatte, entschlossen und grausam war und militärische Siege errang. Und – so merkwürdig das erscheinen mag – weil er ein Fremdstämmiger war.

    In der russischen Tradition fügt sich dieser Umstand in den Kult vom Staat als einer fremden, mystischen Kraft, die von irgendwoher aus anderen Ländern kommt, für Ordnung sorgt und Siege bringt.

    Das heißt, Stalin ist nicht an sich wichtig, sondern als Schnittpunkt dieser Parameter?

    Genau, als Verkörperung der Ideale russischer Staatsgläubiger. Als oberster Führer, dem alles Gute zugeschrieben wird, der aber in keinster Weise für das Schlechte verantwortlich ist. Eine solche Figur wird natürlich auch jetzt im Massenbewusstsein konstruiert, auch wenn diese Figur kein Stalin ist.

    Der Krieg ist vor 73 Jahren zu Ende gegangen. Gleichwohl bleibt er weiterhin das zentrale Ereignis in der neueren Geschichte Russlands – sowohl für den Staat als auch, so wie es aussieht, für die Gesellschaft. Zumindest ist der Tag des Sieges von allen historischen Feiertagen eindeutig derjenige, der die Massen berührt, der am stärksten sakralisiert ist, und verbindet.

    Wissen Sie, der Feiertag in Russland, der die Menschen am stärksten verbindet, das ist Neujahr. Und warum Neujahr? Weil das kein religiöser Feiertag ist, sondern, grob gesagt, ein astronomischer, oder noch einfacher: ein recht sinnfreier. Da wird kein Geburtstag begangen, kein Todestag; das ist ein Ritual, zu dem sich die Menschen leicht vereinigen lassen.

    Auch der Tag des Sieges ist so ein Ereignis. Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet der Tag des Sieges ist, nicht der Tag des Kriegsbeginns, nicht der Gedenktag für die Kriegsopfer.

    Das heißt: So, wie die Rituale des Tages des Sieges gestaltet sind, ist das Trauma zwar da, doch betont wird hauptsächlich das Triumphierende. Wie korreliert das damit, dass der Krieg für die meisten seiner Teilnehmer vor allem Schmerz bedeutete?

    Krieg, das bedeutet vor allem Opfer. Um des Sieges willen werden Opfer gebracht. Ein Mensch, der im Krieg kämpft und an die Ziele des Krieges glaubt, geht davon aus, dass die Opfer einen Sinn hatten, dass sie gerechtfertigt und richtig waren. Und er feiert dann dieses Gerechtfertigtsein.

    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal
    Rückkehr sowjetischer Soldaten aus dem Krieg im Jahr 1945 / Foto © skaramanga_1972/livejournal

    Hätte sich in Russland auch ein anderer verbindender Feiertag ergeben können? Oder war es unausweichlich, dass gerade der Sieg zum bestimmenden, sakralen Ereignis der neueren Geschichte wird?

    Ich denke, es gibt Dinge, auf die das postsowjetische Russland stolz sein kann. So kann man zum Beispiel auf die Ereignisse von 1991 stolz sein, auf den unblutigen Zerfall eines Riesenreiches. In Russland ist oft die Ansicht zu hören, dass der Zerfall des Imperiums eine Tragödie war, ein Verbrechen, eine Katastrophe. Gut: Wenn es eine Katastrophe war, dann führt einen Gedenktag zu Ehren des verlorenen Sowjetstaates ein und gedenkt seiner feierlich. Aber das passiert nicht.

    Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen

    Es werden Reden gehalten, Ausstellungen organisiert, doch daraus entwickelt sich kein Ritual. Und ich denke, das hat einen Grund: Die Menschen empfinden keine Trauer um die verlorene Sowjetunion. Sie trauern um Verwandte und Vorfahren, die zu Sowjetzeiten ums Leben kamen, das waren viele Millionen. Die Menschen empfinden Schuld und Befremden – darüber, wie das alles geschehen, wie es dazu kommen konnte. Warum und wozu?

    Es gibt die Geschichte zweier totalitärer Staaten, die, verwickelt in ein diplomatisches Spiel, einen Krieg begannen. Ihre irrsinnigen Staatsführer schmiedeten politische Bündnisse und kündigten sie wieder auf, wechselten innerhalb weniger Jahre mehrmals Allianzen. All das endete in einer globalen Katastrophe; letztendlich errang eine der Seiten den Sieg.

    Aber auch das Bündnis, das um des Sieges willen entstanden war, zerfiel sofort wieder, und es begann ein weiterer Krieg, Gott sei Dank ein kalter. Dessen relativ unblutiger Charakter ist wohl auch etwas, worauf man heute stolz sein kann: Trotz bergeweise rostiger Waffen ist es nicht zur Explosion gekommen, wurde nicht aus Versehen ein Krieg ausgelöst. Das erforderte riesige Anstrengungen, mitunter auch Heldentaten Einzelner.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern.

    Meinen Sie, dass es Mechanismen gibt, die es ermöglichen, etwas kollektiv zu erfahren und zu erleben, was gar nicht gewesen ist?

    Gute Frage. Natürlich ist das schwer: Wie ließe sich dazu eine Ausstellung machen oder eine Parade abhalten? Die Leistungen der namenlosen Offiziere oder Beamten, die die Katastrophe abwendeten, bleiben vergessen. Wir kennen in der Regel nicht einmal ihre Namen. Oder wir erfahren nur aus purem Zufall von jemandem, der sich entschied, eine Rakete mit Atombomben nicht loszuschicken, obwohl er etwas dabei riskierte.

    Stolz sollte man nicht darauf sein, dass etwas in die Luft gegangen ist und Tod gebracht hat, sondern umgekehrt auf das, was man geschafft hat zu verhindern

    Man sagt, so sei die Erinnerung strukturiert. Aber wessen Erinnerung ist es, die so strukturiert ist? Ich denke, es ist die Erinnerung des Staates, die so funktioniert, dass sie den Menschen ihren eigenen, staatlichen Hierarchien folgend einen Platz zuweist, ihnen Ränge und Posten verleiht, Museen einrichtet und Ehrentafeln schafft. Und durch dieses Verhalten des Staates bleiben die wirklichen Helden oft ohne Gedenken.

    Der Staat hat kürzlich die Aktion Das Unsterbliche Regiment im Grunde genommen vereinnahmt …

    Ja, die Initiative wurde vom Staat vereinnahmt und wird nun für dessen Zwecke instrumentalisiert. Das muss jedoch nicht immer schlecht sein.

    Man muss von Fall zu Fall den eigenen Verstand einschalten, man kann keine generelle Strategie verkünden. Ich kann nichts Schlimmes daran erkennen, dass die Aktion Das unsterbliche Regiment eingesetzt wurde, um ein staatliches Ritual zu etablieren. Ja, mehr noch: Ich würde mich freuen, wenn beispielsweise die Aktion Die unsterbliche Baracke ebenfalls vom Staat aufgegriffen und Teil eines bewussten, durchdachten staatlichen Rituals würde.

    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    „Die Aktion ,Das unsterbliche Regiment‘ wurde eingesetzt, um ein staatliches Ritual zu etablieren“ / Foto © Nikolaj Semzow/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Was denken Sie, hat die konsequente Sakralisierung des Großen Vaterländischen Krieges in irgendeiner Art Einfluss auf die Haltung zu heutigen Kriegen? Nutzt der Staat den Sieg von damals zur Legitimierung heutiger Konflikte?

    Die Kriege heute haben natürlich einen anderen Charakter. Der Gesellschaft ist das aber nicht ganz so bewusst. Und wenn man aus irgendeinem unglücklichen Zufall dann doch den Fernseher einschaltet, stellt man fest, dass sehr viel von dem, was dort zu hören ist, entweder ein direkter Kriegsaufruf ist (was ja übrigens eine Straftat darstellt), oder – das ist eher die dezente Form – die Furcht vor einem Krieg abschwächen, die Empfindsamkeit für dieses Thema senken soll.

    In der Psychologie gibt es den Begriff der „Desensibilisierung“, der meiner Ansicht nach hier zutreffend ist: Er beschreibt eine zielgerichtete Verringerung von Empfindsamkeit. Und so etwas wird zweifellos auch erreicht, indem man einem siegreichen Krieg huldigt, der vor sehr vielen Jahren stattfand.

    Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar: Wohin kann die derzeitige verstärkte Kontrolle des Kriegsgedenkens führen? Bis hin zu Strafverfahren wegen „Entstellung der Geschichte“ oder wegen Hakenkreuzen in Videos aus den Archiven? Welche Ergebnisse wird es geben?

    Ich denke, gar keine. Diese Versuche werden nicht weit führen. Wenn man von der Zukunft spricht, muss man sich bemühen, sich auf minimale, aber relevante Voraussagen zu beschränken, und die allgemeinen tektonischen Verschiebungen in den Blick zu nehmen. Die können nämlich – im Unterschied zu einzelnen Ereignissen – vorausgesagt werden.

    Eine solche Verschiebung stellt meines Erachtens jene Desensibilisierung dar, von der die Rede war; die verringerte Sensibilität gegenüber Gewalt, Krieg, Verhaftungen, Folter, Leiden und dem Tod als solchen. Das ist eine tektonische Verschiebung, die von Krieg kündet, ihn vorbereitet. Natürlich bedeutet das nicht, dass der Krieg tatsächlich eintreten wird. Es ist aber eine schwerwiegende Verschiebung. Und es ist eine Bewegung, die nur schwer zu stoppen ist.

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Krieg bleibt Krieg

    Krieg bleibt Krieg

    UPDATE (30. Mai, 16.45 Uhr): Arkadi Babtschenko ist am Leben. Gemeinsam mit dem ukrainischen Geheimdienst SBU gab er eine Pressekonferenz vor Journalisten in Kiew. Die Mordinszenierung hat im russischen Internet heftige Debatten ausgelöst, die wir in unserer Debattenschau abgebildet haben.

    Juri Saprykin, Autor des unten stehenden Nachrufs auf Babtschenko, schreibt unterdessen auf Facebook:

    Wisst ihr was? Er lebt, Gott sei Dank. Nicht eines der gestern Nacht geschriebenen Worte nehme ich zurück. Zugleich hat sich Valentina Iwanowna M. als Mensch gezeigt. Und diesen, hm hm, schwierigen Gefühlskomplex, den die neuesten Nachrichten hervorrufen, werden wir irgendwie überleben (genau wie es jetzt auf allen Seiten richtig wäre, für ein paar Wochen die Sozialen Netzwerke zu kappen und sich keinem Fernseher zu nähern).


    Am 29. Mai wurde der russische Journalist und Schriftsteller Arkadi Babtschenko im Treppenhaus seines Wohnhauses in Kiew erschossen. Hinterrücks, was an die Ermordung anderer Regimekritiker erinnert, wie etwa an die des Oppositionspolitikers Boris Nemzow. Ein Schwall von Beschuldigungen erfüllt heute die Sozialen Netze. Tenor: Babtschenko sei für das System Putin genauso unbequem gewesen wie Nemzow, sein Tod sei seiner massiven Kritik am System geschuldet. Beweise bleiben aus, wahrscheinlich wird man nie den eigentlich Schuldigen finden und verurteilen, genauso wie im Fall Nemzow. Unmittelbar nach Babtschenkos Ermordung in Kiew begannen gegenseitige Schuldzuweisungen zwischen ukrainischen und russischen offiziellen Stellen.

    Babtschenko betrieb eine Art aktivistischen Journalismus. Putin sei ein Faschist, Russland sei Mordor – mit solchen Provokationen und Übertreibungen sprach der Journalist vielen aus der Seele, auf Facebook hatte er über 190.000 Follower. Sein Ton war oftmals wütend und schonungslos, seine Wortwahl Mat-durchsetzt. Er brach bewusst Regeln des klassischen Journalismus – was ihm Freunde, aber auch viele Feinde einbrachte – und verschaffte sich damit eine einzigartige Stellung in der russischen Medienlandschaft.

    Neben seinen wütenden Kommentaren zum politischen Tagesgeschehen in Russland und im Donbass rief Babtschenko oft dazu auf, für karitative Zwecke zu spenden. Obwohl er in seinem Blog oftmals seine Mittellosigkeit ansprach, adoptierte seine Familie sechs Heimkinder.

    Im Februar 2017 verließ der Moskauer Journalist Russland in Richtung Prag; laut Eigenaussage, weil er gewarnt wurde, dass sein Leben in Moskau nicht mehr sicher sei. Im August 2017 kündigte er an, „auf einem NATO-Panzer zurückzukehren“. Von Prag ging er zunächst nach Israel, später in die Ukraine.

    Babtschenko sprach oft über den Tod. Er kämpfte in beiden Tschetschenienkriegen, als Kriegsreporter berichtete er auch über die Gräuel im Donbass. Seine Bücher über einzelne Kriegsgeschehnisse sind auch auf Deutsch erschienen, zuletzt der Band Ein Tag wie ein Leben (2014). Einige Male schrieb er darüber, wie er dem Tod entronnen sei. Letztes Jahr ist der Journalist gefragt worden, ob es ihm Angst mache, jetzt zu sterben. Es „macht immer Angst zu sterben“, sagte er, „vor zwanzig Jahren und auch jetzt. […] Ich will mehr leben, als sterben.“

    Am 29. Mai wurde Schriftsteller und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko in Kiew erschossen / Foto © Sergej Bobylew/ITAR-TASS
    Am 29. Mai wurde Schriftsteller und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko in Kiew erschossen / Foto © Sergej Bobylew/ITAR-TASS

    Er war ein Mensch des Krieges. Er hat ihn gesehen, und er hat viel von ihm verstanden.

    Vor rund drei Jahren hat Colta.ru auf einer Veranstaltung eine Reihe von Kurzfilmen gezeigt, in denen DNR– und ATO-Kämpfer von den Filmemachern begleitet wurden. Nach der Vorführung sagte Arkadi Babtschenko, der Film sei natürlich interessant, aber es käme zu keinem Finale, in gewissem Sinne könne es auch gar keines geben. „In den ersten ein zwei Monaten gibt es noch die Chance, [die Kämpfe – dek] zu stoppen, später aber, wenn alles durcheinander geht, dann ist der Krieg, sofern er nicht ausbrennt und erlischt, nicht mehr zu stoppen. Ich bin gar nicht so sehr verschreckt durch das, was wir gesehen haben, sondern eher davon, wie lange es noch dauern wird und wohin das alles führt, auch für uns.“

    Babtschenko hat in beiden Tschtschenienkriegen gekämpft und war als Kriegskorrespondent in Südossetien. Über seine Kriege hat er in der Erzählung Alchan Jurt geschrieben, die 2002 in der Literaturzeitschrift Nowy Mir erschien, und in Kurzgeschichten, die in das Buch Woina (dt. „Krieg“) eingingen. Babtschenko selbst sagte dazu: „Das ist keine Literatur, das ist Rehabilitation.“

    Wie viele, die Krieg miterlebt haben, schreibt er, dass es beinahe unmöglich ist, aus einem Krieg zurückzukehren, ihn aus sich herauszuätzen. Er selbst ähnelte, sogar äußerlich, einem Soldaten nach der Entlassung aus dem Kriegsdienst: gleichzeitig locker und konzentriert, als wäre er jeden Moment bereit, sich in den Kampf zu stürzen oder in Deckung zu gehen. Sogar sein Nickname im LiveJournal [Starschina Sapassa, dt. „Reserveältester“ – dek], sah nicht aus wie ein geheimnisvolles Bilderrätsel oder gekünstelt Pseudonym, sondern wie eine Zeile aus dem Truppenausweis.

    Ein Soldat schaut anders auf die Welt als ein Zivilist, und das Pathos des Publizisten Babtschenko kann man in einer Frage auf den Punkt bringen: Warum seht ihr denn das Offensichtlichste nicht? Angefangen mit dem berühmten Posting im LiveJournal über ein Schneeräumfahrzeug (laut Babtschenko hätten die Teilnehmer der Proteste im Winter 2012 dieses Fahrzeug klauen und in Richtung Lubjanka lenken sollen, um die dortigen Sperrungen zu durchbrechen – dafür blühte ihm gleich ein Strafverfahren), spricht er beinahe wie mit unverständigen Kindern: Versteht ihr denn nicht – ein erlaubter Protest ist kein Protest, eine mit gewaltsamen Methoden angegliederte Krim ist nicht Russland, das, was im Donbass vor sich geht, das ist Krieg, das ist Schande; und an all dem Schuld ist kein abstraktes „Wir“, sondern seid ganz konkret ihr – die, die brav gewählt haben und die, die keinen Widerstand geleistet haben. Ihr, die Zivilbevölkerung, die ihr das Offensichtlichste einfach nicht seht.

    Schon klar, wie aus Babtschenkos Position heraus seine Moskauer Gesinnungsgenossen wirkten: wie schwache, zu endlosen Kompromissen bereite Konformisten. „Sie standen mit weißen Luftballons im Pferch und gingen dann auseinander.“

    Seine Haltung von unbedingter moralischer Richtigkeit schreckte viele ab. Sein Konzept von kollektiver Verantwortung – in dem die Schuld für das vergossene Blut der letzten Jahre nicht nur bei denen liegt, die Hand angelegt haben, sondern bei jedem, der nicht aktiv Widerstand geleistet hat, sprich: bei praktisch allen Bewohnern Russlands – war dermaßen ungemütlich, dass man es häufig auf die angeschlagenen Nerven oder die schwierigen Lebensumstände schieben wollte. Babtschenko war jedoch bereit, bis zur letzten logischen Grenze darauf zu beharren, und diese Grenze war immer wieder der Tod.

    In Postings weigerte er sich demonstrativ, Trauer zu zeigen für aus dem Leben geschiedene Landsleute – ob bei bekannten Schauspielern oder den Opfern der TU-154-Katastrophe – weil diese Russlands Handlungen auf der Krim und im Donbass aktiv unterstützt oder stillschweigend befürwortet hatten. Das verschaffte ihm einen lautstarken und bösen Ruhm. Für die „Trauer-Polizei“, die sich in den vergangenen Jahren auf Facebook und im Fernsehen gebildet hat und die sich auf alle stürzt, die auf ungehörige Weise über Verstorbene schreiben, war Babtschenko das Hauptziel.

    Derartige Postings von Babtschenko konnte man tatsächlich nur schwer unterschreiben, und als er dann nach mehrfachen Drohungen Russland verließ, löste das kaum Protest oder Mitleidsbekundungen aus. Der persönliche Krieg Babtschenkos wurde zu einem Partisanen-Ritt in ferne Grenzgebiete der Moral und Ethik, wohin zu gehen nur wenige bereit waren. Manchmal schien es, als würde der Autor bereits automatisch die vom Publikum geliebte Todesnummer abspielen, um damit gleichzeitig eine Welle des Hasses und eine Lawine mitfühlender Likes auf sich zu ziehen. Aber irgendwo in den Tiefen stand hinter diesen Zeilen trotz allem lebendiger Groll und starker Schmerz. Das Gefühl eines Menschen, der sich in die Schlacht stürzt, ohne über die Folgen nachzudenken; Krieg bleibt Krieg.

    Foto © Arkadi Babtschenko/Facebook
    Foto © Arkadi Babtschenko/Facebook

    Obwohl er sich mit den derbsten Äußerungen zu den sensibelsten Themen einen Namen gemacht hatte, war er doch ein überraschend sanfter Mensch. Ständig fuhr er mal nach Krymsk, mal in den Fernen Osten, half Flutopfern, sammelte Geld, verteilte Lebensmittel und schaufelte selbst im Dreck. In seiner Familie gibt es sechs adoptierte, sehr schwierige Kinder: Das Sorgerecht hat seine Mutter übernommen, gekümmert haben sich alle. Selbst in seinem ständig wiederkehrenden Mantra „Warum habt ihr denn nicht auf mich gehört?“ war kein Hochmut, sondern nur ein müdes Bedauern: Wenn ihr auf mich gehört hättet, 2011 oder ein wenig später, dann wären Tausende noch am Leben, die Menschen im Donbass, die Passagiere des MH17-Flugs, Nemzow, Scheremet und noch viele mehr. Seiner Logik zufolge – hätten wir auf ihn gehört – wäre auch er selbst jetzt noch am Leben. Es fällt schwer Argumente zu finden, um darüber zu streiten – ja, außerdem mit wem denn noch?

    Seine Sturheit, Unversöhnlichkeit und seine Überzeugung von der Richtigkeit seiner eigenen Position waren wie aus einer anderen Zeit. Man hätte sie problemlos in einer Altgläubigen-Skite verorten können oder in irgendeinem Bauernkrieg aus der Reformationszeit, und das auf beliebiger Seite.

    Es ist absehbar, wie sich die Ermittlungen zu seinem Mord nun abspielen werden: Die Konfliktparteien werden sich endlos gegenseitig die Schuld zuweisen und erklären, wer mehr davon profitiert, der kollektive Putin oder der weltweite Anti-Putin. So ist das postfaktische Zeitalter beschaffen, in dem es angeblich entweder keine Wahrheit mehr gibt oder man unmöglich zu ihr vordringen kann. Für Babtschenko hat es sie zweifellos gegeben und er war bereit, für sie bis zum Äußersten zu gehen. Er war ein Mensch des Krieges, der einst begonnen hat, gegen den Krieg zu kämpfen. Und der Krieg hat sich dafür an ihm gerächt.

    Schlaf gut, Soldat.

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  • Das Himmelfahrts-Kommando

    Das Himmelfahrts-Kommando

    „Willkommen in Asgardia – die allererste Weltraumnation, die allen offensteht!“ Mit diesem Grußwort ruft der russische Unternehmer Igor Aschurbejli auf seiner Website alle Erdenbürger dazu auf, sich den 170.000 Asgardianern anzuschließen. Der kosmische Staat soll die Erde vor Weltraumschrott, -strahlung und Sonnenstürmen schützen. Alle Grenzen werden überwunden, alle Konflikte beigelegt, verspricht Aschurbejli.  

    Alles Spinnerei? Taissija Bekbulatowa hat Aschurbejli für Meduza getroffen.

    Kolonie im Kosmos ©Личный сайт И.Р. Ашурбейли

    Igor Aschurbejli, 54, hat ein rundes gutmütiges Gesicht, Brille, einen grauen Schnauzer und war früher Chef eines Rüstungskonzerns. Man würde bei ihm als Letztes darauf kommen, dass er der Regierungschef eines Staates im Weltraum ist. 

    Während des Interviews benimmt er sich wie ein ungezogenes Kind: Unangenehme Fragen beantwortet er gar nicht erst, sondern kehrt mir den Rücken zu und fragt seine Assistentin mit gespielter Empörung: „Wen hast du mir denn da angeschleppt? Ich weiß nicht, was das hier soll?“ Dann dreht er sich wieder zu mir und sagt: „Ich habe irgendwie vergessen, was Sie gefragt haben.“ Nach einer meiner Fragen schaut er erstaunt auf die Uhr im Büro: „Die Uhr ist stehengeblieben. Irgendwas stimmt mit Ihnen nicht. Sogar die Uhr bleibt stehen.“ 

    Ein ganzes Jahrzehnt leitete Aschurbejli Almaz-Antei, einen der wichtigsten russischen Rüstungsbetriebe. Sein Büro befindet sich bis heute in demselben Gebäude am Leningrader Prospekt wie Almaz-Antei. Dort sind auch die Räume seiner Holding Sozium, die sich ebenfalls mit Rüstungsaufträgen beschäftigt. 

    Wie es sich für einen respektablen Geschäftsmann gehört, ist Aschurbejlis Arbeitszimmer mit dunklem Holz getäfelt, außerdem wird der Besucher zwischen Innen- und Außentür unerwartet von einem Skelett begrüßt. Die Assistentin erklärt, dass ihr Chef seine Leichen nicht im Keller verstecke, sondern dass er Offenheit demonstriere, „den Zustand der künftigen Welt”. Aschurbejli hat das Weltraum-Königreich Asgardia kurz nach seiner Kündigung bei Almaz-Antei gegründet. 

    Kolonie im Kosmos

    Asgardia hat schon 170.000 Bürger aus der ganzen Welt, und Aschurbejli hat die feste Absicht, eine Kolonie im Kosmos zu begründen. „Ich will zu meinen Lebzeiten eine ständige Kolonie auf dem Mond gründen und dort hinfliegen. Alles andere ist Abenteurerei.“

    Igor Aschurbejli wurde in Baku geboren, wuchs dort auf und studierte am Aserbaidschanischen Institut für Erdöl und Chemie. 1990 zog er nach Moskau und fing an Geschäfte zu machen, so organisierte er einige Kooperativen, die sich mit Softwareentwicklung und Computertechnik beschäftigten. Nach seinen eigenen Worten, fing er von Null an, „ohne jegliche Unterstützung, ohne Protektion“. „Die 1990er waren eine schwere Zeit, ich habe sie in all ihren Feinheiten am eigenen Leibe erfahren: Bei Schlägereien war ich dabei und reden konnte ich, dass ich als Gauner durchging.“
    „Was sollte man tun? Irgendwie musste man ja da durchkommen und den Überblick behalten“, erinnert er sich an einer anderen Stelle. 

    Aschurbejli gründete eine Firma, die ab 1991 mit dem Rüstungsbetrieb Almaz zusammenarbeitete, wo man ihm 1994 vorschlug, stellvertretender Generaldirektor zu werden. Sechs Jahre später wurde Aschurbejli Generaldirektor und blieb es bis 2011. Unter seiner Leitung entwickelten die Ingenieure von Almaz Flugabwehrraketensysteme, die im Ausland sehr beliebt waren und die Almaz-Antei einen stabilen Umsatz und einen Platz ganz vorne im Ranking der Rüstungsunternehmen sicherten. 
    2011 beschloss der Aufsichtsrat, Aschurbejli zu entlassen, verpackte die Nachricht allerdings in eine Danksagung. „Ich muss zugeben, der bittere Nachgeschmack, dass sie mich abgesägt haben, ist geblieben. Und die Staatsgeschäfte, mit denen ich mich in meinem vorherigen Lebensabschnitt erfolgreich befasst habe, war von ganz anderer Dimension als die privaten Aufgaben, denen ich mich heute widme.“ 

    Kirchenbau als Labsal für die Seele

    Laut Aschurbejli war es schwer, mit dem Stress nach der Kündigung klarzukommen: „Ich brauchte einen Ausgleich.“ Deswegen begann er „Kirchen zu bauen“ – das war eine Labsal „für die Seele“ des ehemaligen Waffenbauers. 
    Auch wenn er seine Kritik am aktuellen russischen Staat nicht näher benennen will, ist Aschurbejli ein politisch aktiver Mensch. Er ist Vorsitzender der Partei Wiedergeburt Russlands, die ihm 2015 nach dem Tod seines alten Freundes Gennadi Selesnjow, Parteigründer und Ex-Sprecher der Duma, zufiel.

    Eine der Initiativen der Partei war beispielsweise, die öffentlichen Toiletten zur „nationalen Idee“ Moskaus zu erklären. Aschurbejli behauptet, dass er kein Anhänger Wladimir Putins sei, aber ihm pünktlich zum Geburtstag zu gratulieren hat er nicht vergessen.

    Im Übrigen sind seine wahren politischen Ansichten monarchistisch. Er sagte mehrmals, dass Russland eine konstitutionelle Monarchie brauche und zwar „mit einem jungen, etwa 40-jährigen Zaren an der Spitze. Der neue Herrscher Russlands wird seine Thronbesteigung mit dem Segen des Patriarchen der ganzen Rus in der Alexander-Newski-Kirche in Jerusalem verkünden, und zwar … hoffentlich im Jahr … 2017, aber spätestens 2018“, so äußerte er sich im Sommer 2016. 

    Der Monarchist Aschurbejli wird aber auch nostalgisch, wenn es um die sozialistische Vergangenheit geht: „Ein Fläschen Wodka und eine Tafel Schokolade und, na ja, ein bisschen Kleingeld, das waren einmal die russisch-sowjetischen Kommunikationsmittel. Jetzt zählt nur noch der schnöde Dollar.“ Die heutige Gesellschaft missfällt ihm und er deutet an, dass das Volk „unprofessionellen Intriganten“, ja „Scharlatanen“, wenn nicht gar „Banditen“ zur Macht verholfen habe und erklärt, dass die gegenwärtigen Staaten „ausgelaugt und zu Vasallenburgen der räuberischen Mammonelite verkommen sind“. 

    Nach der Internetseite des Geschäftsmanns zu urteilen, sind es seine Überlegungen zum traurigen Zustand der heutigen Zivilisation und zur glücklosen demographischen Entwicklung Russlands, die ihn auf die Idee gebracht haben, einen eigenen, zunächst panslawischen Staat zu gründen – der dann aber auch Menschen aus der ganzen Welt aufnehmen soll. 
    Aufbauen will er ihn allerdings nicht auf diesem Planeten. „Auf der Erde kommt die Menschheit mit ihren Problemen nicht klar, das konnte sie noch nie und wird sie nie können“, erklärt Aschurbejli. 

    Auf der Erde kommt die Menschheit mit ihren Problemen nicht klar, das konnte sie noch nie und wird sie nie können
     

    Am 12. November 2017 startete vom Weltraumbahnhof Wallops im US-amerikanischen Bundesstaat Virginia die Trägerrakete Antares. Sie brachte den Raumtransporter Cygnus auf die Umlaufbahn. Neben einer Ladung für die Internationale Raumstation transportierte sie einen äußerst kleinen, 2,8 kg schweren Satelliten von der CubeSat-Größe eines Weißbrots mit dem Namen Asgardia-1. Auf dem Satelliten waren 512 Gigabyte Daten von „Bürgern“ Asgardias gespeichert, die, wenn sie sich auf der Asgardia-Homepage registriert hatten, eine Datei, zum Beispiel ein Foto, in den Weltraum schicken konnten. 

    „Ich habe den Verdacht, dass das die erste Erwähnung von Rap-Musik draußen im Weltraum ist, deswegen bin ich wahrscheinlich so eine Art Gagarin des russischen Raps“, scherzt der Musiker Leonid Popow. Als er von der Asgardia erfuhr, registrierte er sich einfach so zum Spaß auf der Website und beschloss, „ein Zeichen seines Daseins“ ins All zu schicken. „Damals habe ich gerade, meine Single Interstellar fertig gemacht und dachte, es wäre doch symbolisch, den Track in den Weltraum zu schicken”, erzählt er. „So sehr ich auch versucht habe, die Datei zu komprimieren, es ist mir leider nicht gelungen, diesen Track in den Weltraum zu senden. Die erlaubte Dateigröße war einfach zu klein. Letztlich konnte ich dann doch nur das Cover der Single hochladen.“

    Die eigentliche Aufgabe des Satelliten war es aber, ein wenn auch kleines, jedoch souveränes Territorium für den Staat Asgardia zu markieren. Eine Fahne, eine Hymne, ein Wappen und eine „Bevölkerung“ hatte er damals schon. Eine Mindestfläche, die ein Staat haben muss, ist nirgends festgeschrieben, sodass Asgardia jetzt formal über alle Merkmale eines Staates verfügt.

    Sobald es Staatsorgane gibt, will sich Aschurbejli außerdem an die UNO wenden, damit Asgardia Mitglied der Organisation wird. „Eher wird die UNO aufgelöst, als dass sie Asgardia nicht als Staat anerkennt“, ist Aschurbejli zuversichtlich. Hauptsache sei, dass andere Staaten Asgardia durch Unterzeichnung gegenseitiger Verträge anerkennen, sagt er weiter: „Und seien es nur fünf Staaten der Erde – und die kann ich schon nennen –, die Asgardia als Staat anerkennen, dann kommen wir einfach nach New York und sagen: ,Hallo, wagen Sie es nur, uns nicht aufzunehmen!’“ Nach den Worten eines Informanten aus der Umgebung Aschurbejlis rechnet er sicher mit der Unterstützung von Monaco und Lichtenstein.

    Monarchie statt Demokratie in Asgardia

    Im neuen Staat haben schon öffentliche Debatten angefangen. Am meisten kränkte die Asgardianer die Art, wie die Verfassung des neuen Staats erstellt wurde. Eine Gruppe von Juristen aus verschiedenen Ländern hatte die Verfassung ohne Mitwirken der Asgardianer selbst ausgearbeitet. 

    Obwohl Aschurbejli mehrmals mitgeteilt hat, dass die neue Staatsordnung von den Bürgern selbst bestimmt wird, erklärt die Verfassung Asgardia zum Königreich. In der Verfassung steht, dass Aschurbejli der Gründungsvater und der erste Staatschef sei. In der ersten Variante des Dokuments wurde ihm sogar das Recht zugestanden, sich Monarch, Präsident und König zu nennen, gleichfalls garantierte es ihm lebenslange Immunität. Zwar sind diese Punkte aus der letzten Variante der Verfassung verschwunden, dennoch hat er laut Verfassung weiterhin das Recht, den höchsten Richter und den Generalstaatsanwalt einzusetzen und zu entlassen. Außerdem kann Aschurbejli gegen Premierminister, Staatsbankleiter und Richter ein Veto einlegen, das Parlament auflösen und jedes beliebige Gesetz blockieren. Aschurbejli ist nicht der Meinung, dass er zu viel verlangt: „Das ist ein lächerliches Amt. Wo ist meine Krone und wer zahlt mir meinen Lohn?“ An Demokratie glaubt der Geschäftsmann nicht: „Mein Gott! Wo haben Sie Demokratie gesehen? Hören Sie damit auf! Das gibt es nicht. Das ist einfach eine Erfindung, mit der man die Menschen hinters Licht führt.“ 

    Die Asgardianer werden auch nur Affen im Kosmos sein

    Viele Asgardianer haben keine Lust mehr, weiter an dem Projekt teilzunehmen. „Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass auch die Bürger Asgardias bei allen hehren Idealen Menschen bleiben“, schreibt ein Asgardianer. „Die Asgardianer werden auch nur Affen im Kosmos sein, die sich gegenseitig die gleiche hässliche egoistische Scheiße antun, wie wir das schon hier auf der Erde machen.“

    Aschurbejli selbst behauptet, dass er sich nicht an das Amt des Staatsoberhaupts klammern werde. „Meine Amtszeit ist durch die Verfassung auf fünf Jahre beschränkt“, stellt er klar. „Ich will nämlich, wie auch Wladimir Putin, noch am Strand der französischen Riviera spazieren gehen.“ 

    Die Mitarbeiter des Projekts, mit denen Meduza sprach, sind der Meinung, dass sich die laufenden Kosten Asgardias auf etwa 200.000 Euro pro Monat belaufen. Aschurbejli spart nicht, so richtet er beispielsweise auf der ganzen Welt die Pressekonferenzen zu Asgardia in Ritz-Hotels aus.
    Der Gründer von Asgardia will, dass der Staat sich in Zukunft selbst trägt, aber es bleibt unklar, wie das funktionieren soll: Mal will er das mit Hilfe des Blockchain-Verfahrens und der eigenen Kryptowährung Solar erreichen (deren Absicherung der Mond selbst sein soll, also das Ziel zukünftiger Besiedelung), mal mit Hilfe von Startups der Bewohner Asgardias, mal mit Hilfe freiwilliger Steuern. 

    Laut einem Gesprächspartner von Meduza ist die größte Herausforderung für das Projekt, dass „die Anforderungen sich schnell ändern: Heute soll es auf die eine Weise gemacht werden, morgen auf eine ganz andere und was gestern gemacht wurde, ist dann plötzlich sinnlos“. „Asgardia ist ein Startup, das Leute leiten, die ihre Berufserfahrungen quasi noch in sowjetischer Zeit gemacht haben“, erklärt er. 

    Ein anderer ehemaliger Mitarbeiter des Projekts drückt sich gegenüber Meduza noch härter aus: „Von innen funktioniert das, als wäre es ein Spielzeug, das einem stinkreichen Kerl gehört. Totales Chaos, alles wird alle Nase lang verändert und dazu die absolute Tyrannei.“ Das Problem sei, dass „die Initiatoren des Projekts in ihrer Borniertheit überhaupt keinen Business-Plan haben. Ihre Ziele und Handlungen stimmen absolut nicht überein“. 

    Die Chefs hätten dem neuen Staat „so eine tyrannische Verfassung“ gegeben, dass ihnen „die Leute einfach davonlaufen“. Der ganze Weltraum-Staat ist also nichts mehr als der Zeitvertreib einer einzigen Person, so der ehemalige Mitarbeiter von Asgardia. „Obwohl sie sich das nie eingestehen werden. Selbst mit einer Sekte lässt sich das nicht vergleichen, denn da achtet man wirklich bei jedem einzelnen darauf, dass er sich nicht aus dem Staub macht“, sagt er noch. „Wenn kein Geld mehr da ist, dann ist auch das Projekt tot.“ 

    Von solchen Kleinigkeiten lässt sich Igor Aschurbejli nicht aus der Ruhe bringen. Er hat in Asgardia einen Sinn gefunden. „Irgendwie muss ich doch bis zum Tod noch leben“, sagt er, „und muss dabei doch auch was tun. Sonst wär’s doch langweilig.“

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  • Schuld und Sühne à la Kadyrow

    Schuld und Sühne à la Kadyrow

    Die islamisch geprägte Teilrepublik Tschetschenien gilt auch in der Literatur oft als Russlands „Anderer“. So anders strukturiert als der Rest Russlands, meint dagegen der Soziologe Denis Sokolow, sei sie aber nicht. Nur geschehe hier „alles unverhüllt“: „Während in Petersburg etwa ein Beamter wegen irgendetwas eingesperrt wird, bringt man ihn im Nordkaukasus einfach um“, sagt er im Interview mit Rosbalt.

    Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren die Menschenrechtslage in Tschetschenien schon seit langem. Im Jahresbericht von 2017 etwa ist von öffentlichem Druck auf Behörden und Justiz genauso die Rede wie von Schikanen, denen Menschenrechtsverteidiger immer wieder ausgesetzt sind. Amnesty nennt auch den Fall des kritischen, unabhängigen Journalisten Shalaudi Gerijew, der wegen des Besitzes von 167 Gramm Marihuana zu drei Jahren Haft verurteilt worden war. Im Prozess hatte er angegeben, dass sein „Geständnis“ nach Folter erzwungen worden war.

    Der Fall ist nicht der einzige seiner Art: Erst am 9. Januar 2018 wurde der bekannte Menschenrechtler Ojub Titijew, Leiter des Memorial-Büros in Grosny, festgenommen wegen angeblichen Besitzes von 180 Gramm Marihuana, das man während einer Autokontrolle bei ihm gefunden haben will. Prominente Vertreter internationaler Menschenrechtsorganisationen haben sich für Titijew ausgesprochen und sind von seiner Unschuld überzeugt.

    Das Portal Meduza nimmt ein weiteres Phänomen in den Fokus: Immer wieder tauchen in tschetschenischen Medien Videos auf, in denen sich Menschen entschuldigen – meist beim Staatschef Ramsan Kadyrow persönlich. Freiwillig? Meduza über eine erniedrigende Praxis und eine Gesellschaft, in der viele den Ehrverlust mehr fürchteten als den Tod.

    Am 18. Dezember 2015 strahlte der tschetschenische staatliche Fernsehsender Grosny folgenden Bericht aus: Das Oberhaupt der Republik Ramsan Kadyrow trifft die tschetschenische Bürgerin Aischat Inajewa. Inajewa sitzt ganz am Rand einer Couch, starrt auf den Boden und hat offenbar große Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Die Frau ist so niedergeschlagen, dass Kadyrow sie nicht zum Reden bringen kann und sich an ihren Mann wendet: „Magomet, bei Allah, bring deine Frau dazu, mir Fragen zu stellen!“ Inajewa sagt so gut wie nichts, sie entschuldigt und rechtfertigt sich nur.

    Kurz vor dem Treffen war auf WhatsApp (die App gehört zu den wichtigsten inoffiziellen Medien in Tschetschenien) eine Audiobotschaft von Aischat Inajewa aufgetaucht, die an einem Rehabilitationszentrum arbeitet. Darin beschwert sie sich über die Nebenkosten-Vorauszahlungen, die von Mietern verlangt werden. Inajewa verweist auf die Armut der einfachen Tschetschenen, kritisiert Kadyrow für seine „Angeberei“ und dafür, dass er mit kostspieligen Geschenken um sich werfe.

    Beim Treffen mit dem Oberhaupt der Republik nimmt Inajewa ihre Worte zurück und beteuert, sie sei „vermutlich nicht ganz bei Verstand“ gewesen. Zuvor wurde Inajewa schon bei einer Bürgerversammlung in ihrem Heimatbezirk, dem Nadteretschenski Rajon, öffentlich verurteilt.

    Zwei Tage nach dem Beitrag über Aischat Inajewa tauchte im Internet ein Entschuldigungsvideo des Bloggers Adam Dikajew auf. In dem Video läuft er ohne Hosen auf einem Laufband, erklärt, er sei ein Nichts, und singt das Lied Mein bester Freund – das ist Präsident Putin.
    Eine Woche zuvor hatte der Blogger Kadyrow dafür kritisiert, dass er am Jahrestag des Tschetschenienkrieges auf Instagram ein Video gepostet hat, das ihn beim Training auf dem Laufband zeigt, während im Hintergrund das besagte Lied läuft.

    Neues Genre

    Die Entschuldigungen von Aischat Inajewa und Adam Dikajew von 2015 waren wohl die ersten einem breiten Publikum bekannten Beispiele dieses Genres, das in Wirklichkeit bereits einige Jahre zuvor entstanden ist. Es gibt keinen strengen Kanon, allerdings ein paar gemeinsame Merkmale: Der Mensch im Bild wirkt erniedrigt – und es sieht nicht so aus, als könnte er seine Teilnahme am Videodreh verweigern.

    Igor Kaljapin, Leiter der NGO Komitee zur Verhinderung von Folter, hat viele Jahre in Tschetschenien gearbeitet. Er zweifelt nicht daran, dass die Menschen in den Entschuldigungsvideos schlichtweg keine Wahl hatten. „Ich denke, dass er [Adam Dikajew] mit massiven Mitteln zu dieser ‚Entschuldigung‘ genötigt wurde, denn in der Tschetschenischen Republik wirkt das extrem erniedrigend – ohne Hose auf dem Laufband.“

    Kaljapin zufolge verschwinden die Menschen oft für einige Tage, bevor sie sich entschuldigen. So war es auch im Fall der Journalisten Riswan Ibragimow und Abubakar Didijew. Sie verschwanden in der Nacht zum 1. April 2016 und tauchten einige Tage später wieder auf bei einem TV-Treffen von Ramsan Kadyrow mit tschetschenischen Historikern und Schriftstellern. In der Sendung des Staatssenders Grosny stehen Ibragimow und Didijew mit verängstigten Gesichtern im Hintergrund und hören zu, wie die anderen Teilnehmer ihre Bücher kritisieren. Am Ende entschuldigen sie sich nicht einfach nur in die Kamera, sondern sprechen einem Priester die Worte eines Bußgebets nach. Ein paar Monate später werden die Bücher von Ibragimow und Didijew von einem Gericht für extremistisch befunden. Vor Gericht sagte Ibragimow aus, er habe nach der Verhaftung vier Tage in der regionalen Abteilung für innere Angelegenheiten des Oktjabrski Rajon von Grosny verbracht, wo er mit Stromschlägen gefoltert worden sei.

    Jeder Unzufriedene gilt als maskierter Feind

    Seitdem gab es in den Medien ein paar Dutzend solcher öffentlichen Entschuldigungen. Der Großteil von ihnen richtete sich an Ramsan Kadyrow persönlich oder an die tschetschenische Regierung. Laut Tatjana Lokschina und vielen anderen Experten war es Kadyrow, der diese Standards setzte, die nun auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus Anwendung finden.

    Anhand der Beiträge des Staatssenders Grosny aus dem letzten Jahr zeigt sich, dass es gar nicht notwendig ist, direkte Kritik an der Regierung zu üben, um zum Protagonisten einer erniedrigenden TV-Reportage zu werden. Es genügt, sich zu beschweren oder öffentlich um Hilfe zu bitten oder in irgendeiner Form anzudeuten, dass die Regierung der Republik nicht effektiv arbeite.

    „Die Menschen in Tschetschenien sollen glücklich sein und ihren Herrscher loben, wie man Kadyrow in den letzten Jahren üblicherweise nennt“, erklärt Kaljapin. „Jeder Mensch, der mit irgendwas unzufrieden ist, ist ein maskierter Feind. Er muss enttarnt und zu einer Entschuldigung gezwungen werden.“

    Laut Kaljapin, werden solche „Feinde“, die es wagen, offizielle Beschwerdebriefe gegen Silowiki und Beamte bei der Staatsanwaltschaft oder dem Ermittlungskomitee einzureichen, mit besonderer Härte verfolgt.

    Als Beispiel führt er den Fall von Ramasan Dshelaldinow aus dem Dorf Kechni an. Dieser hatte eine Videobotschaft an Putin aufgenommen, in der er sich über Korruption beschwert. Danach wurde sein Haus in Brand gesetzt, er selbst wurde mit einem Verweis auf das Schicksal der ermordeten Brüder Jamadajew und Boris Nemzows zur Ausreise aus Tschetschenien gezwungen.

    Weibliche Angehörige dieses Tschetschenen mit der Videobotschaft an Putin berichten, sie seien nachts aus dem Haus gezerrt worden, man habe ihnen gedroht, sie in eine Schlucht zu werfen und habe direkt über ihren Köpfen Schüsse abgefeuert.

    Diejenigen, die sich in Sozialen Netzwerken über ihr Alltagsleben beschweren, werden nicht ganz so hart verfolgt, sie werden zu Protagonisten in erniedrigenden Reportagen auf Grosny. Meduza hat etwa zwei Dutzend solcher TV-Berichte analysiert. Sie alle folgen einem ähnlichen Schema und sollen immer dieselbe simple Botschaft vermitteln: sich im Internet zu beschweren ist schlecht und eine Schande.

    Der Aufbau einer typischen Reportage dieses Genres sieht in etwa so aus:

    1. Der Macher der Reportage berichtet, dass in Sozialen Netzwerken oder über WhatsApp ein Video/eine Beschwerde verbreitet wird – es folgt ein Screenshot oder ein Ausschnitt aus dem Video.

    2. Auf Anweisung des Oberhaupts der Republik wird eine besondere Kommission gebildet, um die Sache zu klären – für gewöhnlich mit hochrangigen Personen: Ministern, Kreisvorsitzenden und so weiter. In seltenen Fällen sogar Kadyrow selbst.

    3. Es stellt sich heraus, dass der Verfasser der Beschwerde oder der Macher des Skandal-Videos selbst an allem Schuld ist. Seine Motive können folgendermaßen ausfallen:

    – Er wollte die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er falsche Gerüchte und Tratsch verbreitet.

    – Er wollte sich auf fremde Kosten bereichern und seine Wohnsituation verbessern.

    4. Angehörige des Protagonisten und andere Interviewpartner erklären, es sei alles in Ordnung und seine Anschuldigungen seien frei erfunden.

    5. Die Kommissionsmitglieder entrüsten sich darüber, dass Menschen Falschmeldungen verbreiteten, während in der Republik so viel für die allgemeine Sicherheit/das Gesundheitswesen/die Unterstützung der Armen/das Wohlbefinden junger Mütter getan werde. Sie beklagen, dass derlei falsche Anschuldigungen die Regierungsorgane davon abbrächten, jenen zu helfen, die es wirklich brauchen.

    6. Der Protagonist der Reportage erkennt an, dass er im Unrecht war, er entschuldigt sich oder steht einfach nur beschämt da.

    7. Der Macher der Reportage beendet den Beitrag mit der Moral: Man darf keine Gerüchte und Tratsch verbreiten und sich nicht auf fremde Kosten bereichern.

    Keine Angst vor dem Tod, aber vor dem Ehrverlust

    Die tschetschenische Gesellschaft basiere auf dem Prinzip der Ehre, nicht nur der eigenen, sondern auch der Familienehre, erklärt die Projektdirektorin der NGO International Crisis Group Jekaterina Sokirjanskaja. „Wenn du beleidigt wurdest und deine Familie nicht angemessen reagieren konnte, leiden alle Verwandten darunter – deine Schwestern werden nicht heiraten, deine Brüder werden es schwer haben, einen Job zu finden, die ganze Familie wird einen Statusverlust erleiden“, erklärt die Expertin.

    Genau dieser Umstand macht ihr zufolge die Praxis der öffentlichen Entschuldigung zu einer so effektiven Methode der Kontrolle über die Gesellschaft – sogar effektiver als Todesdrohungen, denn die Tschetschenen haben keine Angst vor dem Tod. Eine andere sehr effektive Methode ist, auf die Verwandten Druck auszuüben. Denn jeder Mensch kommt besser zurecht mit der Bedrohung der eigenen Sicherheit als der seiner Angehörigen.

    Sokirjanskaja vermutet (wie auch die Leiterin des Moskauer Büros von Human Rights Watch Tatjana Lokschina), man könne die Ursprünge des Genres tschetschenischer Zwangs-Entschuldigungen in einer ähnlichen in dieser Region weit verbreiteten Praxis suchen: wenn Verwandte von Kämpfern dazu gezwungen werden, sich von ihren Familienmitgliedern loszusagen und sie somit aus dem gesellschaftlichen Leben zu streichen.

    Über die Grenzen Tschetscheniens hinaus

    Anfang 2016 verbreitete sich das Format der öffentlichen Entschuldigung auch über die Grenzen Tschetscheniens hinaus. Konstantin Sentschenko, ein Abgeordneter des Stadtrats von Krasnojarsk, reagierte auf beleidigende Aussagen des tschetschenischen Regierungsoberhaupts gegen die russische Opposition damit, dass er ihn auf Facebook „eine Schande für Russland“ nannte, die „alles, was nur ging, diskreditiert“ habe.

    Einige Tage später veröffentlichte Kadyrow ein Video auf Instagram, worin der Abgeordnete für seine Worte um Vergebung bittet: Er habe sich „nach persönlichen Gesprächen mit Vertretern des tschetschenischen Volkes“ dazu entschlossen. Als Verhandlungsführer fungierte damals Buwaissar Saitijew, dreifacher Olympiasieger im Freistilringen und Ehrenbürger der Stadt Krasnojarsk.

    Vor laufender Kamera verprügelt

    Später versicherte Sentschenko, er habe nicht mit einer Veröffentlichung des Videos gerechnet, und die Entschuldigung habe er im Rahmen eines privaten Gesprächs erbracht. Der Abgeordnete sagte, er sei nicht direkt bedroht worden, es habe aber Anspielungen auf mögliche Unannehmlichkeiten gegeben.

    Seit Anfang 2016 tauchten vermehrt Videos auf, in denen sich die Menschen nicht bei Ramsan Kadyrow, sondern bei Ramasan Abdulatipow, dem damaligen Oberhaupt der Republik Dagestan, entschuldigen müssen. In einem schlagen Unbekannte vor laufender Kamera auf einen Menschen ein und fordern eine Entschuldigung.

     

    Entschuldigungen werden aber nicht nur vor den Oberhäuptern der Republiken fällig. Mittlerweile kann jeder jeden zur Entschuldigung zwingen, wie der Fall von Oleg Tereschenko zeigt. Der Student der RANCHiGS wurde von seinen Kommilitonen dazu gezwungen, sich für Kommentare bei VKontakte zu entschuldigen, die sie als beleidigend empfunden hatten. Gibt man bei Sozialen Netzwerken „zur Entschuldigung gezwungen“ ins Suchfeld ein, stößt man auf zahlreiche ähnliche Videos.

    Verwandte als „Mittäter“

    Die tschetschenische Regierung hat mehr als einmal erklärt, dass für terroristische Straftaten die Angehörigen der Verdächtigen zur Rechenschaft gezogen werden: Mehr als einmal wurden die Häuser von Familien niedergebrannt und die Menschen gezwungen, die Republik zu verlassen. Laut Jekaterina Sokirjanskaja zählt die Regierung diese Verwandten als „Mittäter“, obwohl man bestens weiß, dass die Verwandten in den meisten Fällen überhaupt keine Ahnung haben, dass ihre Kinder in den Einfluss von Terrororganisationen geraten sind.

    Die Menschenrechtlerin Tatjana Lokschina ist überzeugt, dass gerade die tschetschenische Praxis der öffentlichen Entschuldigung die Standards für alle anderen gesetzt habe. Laut Lokschina nimmt die Zahl der öffentlichen Entschuldigungen zu, weil die föderale Regierung in Moskau nichts gegen die tschetschenischen Fälle unternimmt, selbst wenn Bewohner anderer Regionen betroffen sind.

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  • Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte

    Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte

    Stanislaw Petrow starb bereits im Mai 2017 nahe Moskau. Erst im September wurde sein Tod zufällig bekannt. Stanislaw Wer?

    Als eines der ersten Medien überhaupt berichtete die deutsche WAZ über seinen Tod, nachdem der Oberhausener Karl Schumacher, der Petrow persönlich kannte, auf seinem Blog darüber geschrieben hatte. Petrows Geschichte ist bis heute kaum bekannt, dabei hatte er während des Kalten Krieges eine folgenschwere Entscheidung getroffen.

    Meduza über den Mann, „der den Atomkrieg verhinderte“.

    Stanislaw Petrow hatte 15 Minuten Zeit, um die richtige Entscheidung zu treffen / Foto © Screenshot Movie Clips Film Festivals & Indie Films/YouTube

    Die Nacht zum 26. September 1983, Geheim-Einheit Serpuchow-15, unweit von Moskau. Stanislaw Petrow ist verantwortlicher Diensthabender auf dem Befehlsstand des Raketen-Frühwarnsystems. Um 0:15 Uhr gibt der Computer das von den sowjetischen Militärs am meisten gefürchtete Signal: Von US-amerikanischem Gebiet ist eine ballistische Rakete abgeschossen worden, Ziel ist die UdSSR. 
    Laut Anweisung hätte Petrow der Führung umgehend Meldung davon machen müssen, um den Befehl für einen Gegenschuss zu erhalten – doch das tat er nicht. 

    „Das System zeigte an, dass die Information höchst zuverlässig ist“, erinnert sich Petrow in einem seiner Interviews. „An der Wand leuchteten große rote Buchstaben: START. Also war die Rakete ganz sicher losgeflogen. Ich schaute auf meinen Aktionsplan. Einige waren von ihren Plätzen aufgesprungen. Ich erhob die Stimme, befahl allen, umgehend ihre Plätze einzunehmen. Das musste alles nachgeprüft werden. Es war unmöglich, dass tatsächlich eine Rakete mit Sprengköpfen …“

    Das System meldet einen US-Raketenangriff

    Vom Moment des feindlichen Raktenabschusses an bis zur Entscheidung über einen Gegenschlag hatte die sowjetische Führung nicht mehr als 28 Minuten Zeit. Petrow selbst hatte 15 Minuten, um die richtige Entscheidung zu treffen. Er bezweifelte, dass die USA sich zu einem Atomschlag gegen die Sowjetunion entschieden hatten. Er wie auch die anderen Offiziere waren instruiert, dass, im Falle eines echten Angriffs, Raketen von mehreren Basen gestartet werden müssten. Petrow meldete über die Hochsicherheitsleitung, dass der Computer eine Störung hätte. Untersuchungen ergaben später, dass die sowjetischen Sensoren von Wolken reflektierte Sonnenstrahlen als amerikanischen Raketenabschuss gewertet hatten.

    Petrow, so erinnerte er sich später, sollte befördert werden, gar einen Orden bekommen, doch stattdessen bekam er einen Verweis – sein Dienstprotokoll war nicht vollständig. 
    1984 trat Petrow außer Dienst und ließ sich mit seiner Familie in Frjasino bei Moskau nieder. Bis 1993 war der Vorfall von Serpuchow-15 ein Staatsgeheimnis; von dem Dienst an diesem Tag wusste nicht einmal seine Frau.

    Im September 1998 las Karl Schumacher aus Oberhausen, von Beruf Bestatter und ein politisch aktiver Mensch, eine kleine Zeitungsnotiz in der Bild, in der Petrows Name erwähnt wurde. „Da hieß es: Der Mensch, der einst den Atomkrieg verhindert hat, lebe in einer ärmlichen Wohnung in der Stadt Frjasino, seine Pension reiche nicht zum Leben, und seine Frau sei an Krebs gestorben“, erzählt Schumacher Meduza.

    Schumacher lud Stanislaw Petrow zu sich ein. Er wollte, dass Petrow den Ortsansässigen von jener Episode aus dem Kalten Krieg erzähle. Stanislaw Petrow folgte der Einladung und, dort angekommen, gab er ein Interview in einem lokalen Fernsehsender. Einige Regionalzeitungen berichteten über seinen Besuch.

    „Dem Menschen, der den Atomkrieg verhinderte“

    So erfuhr nach und nach die Welt von Stanislaw Petrows Geschichte. Nach dem Besuch in Oberhausen schrieben Medien weltweit über ihn, darunter Der Spiegel, Die Welt, Die Zeit, CBS, Radio1, die Washington Post und Daily Mail. Am 19. Januar 2006 bekam er im UNO-Hauptquartier eine kleine Kristallskulptur überreicht: eine Hand, die die Weltkugel hält. Darin war der folgende Schriftzug eingraviert: „Dem Menschen, der den Atomkrieg verhinderte.“

    Am 17. Februar 2013 wurde ihm der Dresdner Friedenspreis verliehen, für die Abwendung bewaffneter Konflikte. Der einzige weitere russische Preisträger dieser internationalen Auszeichnung war Michail Gorbatschow im Jahr 2010.

    Im Jahr 2014 erschien der dokumentarische Spielfilm Der Mann, der die Welt rettete. Petrow sagte in einem Interview mit der Komsomolskaja Prawda, Kevin Costner, der darin mitgespielt hat, habe ihm, Petrow, 500 Dollar überwiesen und sich bei ihm bedankt, dass er die Raketen mit Atomsprengköpfen nicht gestartet hatte. 

    500 Dollar und ein Dank von Kevin Costner

    In Interviews mit russischen Medien erklärte Petrow, er habe die Welt nicht gerettet. Das sei einfach ein schwieriger Arbeitsmoment gewesen. So lebte er weiter dort in Frjasino. Ende der 1990er Jahre habe er angefangen auf dem Bau zu arbeiten – als einfacher Wachmann.

    Am 19. Mai 2017 ist Stanislaw Petrow gestorben. Weder russische noch ausländische Medien haben darüber berichtet. Warum – das ist schwer zu sagen. Petrows deutscher Bekannter Karl Schumacher hat zufällig von seinem Tod erfahren. Er rief Petrow jedes Jahr am 7. September an, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Doch diesmal teilte ihm Petrows Sohn mit, dass sein Vater gestorben sei, bereits im Mai.

    „Mich hat seine Geschichte bis tief in die Seele berührt“, sagte Schumacher Meduza. „Ich habe in Westdeutschland gelebt, 35 Jahre lang habe ich die reale Bedrohung des Kalten Krieges gespürt. Ich war sicher, wenn die UdSSR Raketen abfeuert, dann landen die auf meinem Haus. Ich finde, dass Stanislaw den Friedensnobelpreis mehr als jeder andere verdient hat. Ehrlich gesagt habe ich einst ein [Nominierungsverfahren] organisieren wollen. Aber Stanislaw sagte zu mir, wenn er den Nobelpreis bekomme, dann werde er keine einzige Minute mehr Ruhe haben.“

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  • Wieso ist Stalin heute so populär?

    Wieso ist Stalin heute so populär?

    Den Befehl Nr. 00447 hat NKWD-Chef Nikolaj Jeschow am 30. Juli 1937 unterzeichnet. Mit diesem Befehl Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente begann die umfassendste Massenoperation des Großen Terrors unter Stalin. Hunderttausende wurden auf seiner Grundlage verhaftet, ein Großteil davon erschossen.

    80 Jahre später feiert Stalin eine Art Revival: Einer Umfrage des Lewada-Instituts zufolge halten 38 Prozent aller Russen Stalin für die herausragendste Persönlichkeit aller Zeiten – vor Staatspräsident Putin und vor dem Nationaldichter Alexander Puschkin. Nach wie vor verbinden viele Stalin mit dem Sieg über Hitlerdeutschland. Aber erklärt das allein die große Popularität?

    „Die Ent-Stalinisierung“, so schreibt Meduza, „kümmert in Russland heute kaum einen: die Gesellschaft verhält sich zu Stalin entweder gleichgültig oder gar wohlwollend.“

    Von führenden Wissenschaftlern und Experten wollte Meduza deshalb wissen: Hat denn überhaupt eine Ent-Stalinisierung stattgefunden in Russland? Oder warum ist die Figur Josef Stalin nach wie vor so populär?

    Juri Saprykin

     

    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    © Mark Nakoykher/Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Juri Saprykin (geb. 1973) ist ein russischer Journalist. Bekannt geworden ist er durch seine Arbeit als Chefredakteur bei dem Online-Magazin Afisha.ru. 2011/2012 war er maßgeblich an der Organisation der Protestreihe Sa tschestnyje Wybory (dt. Für freie Wahlen) am Bolotnaja-Platz beteiligt. Von 2011 bis 2014 war er Chefredakteur der Mediengesellschaft Afisha-Rambler. 2015 wechselte er zur Moscow Times, wo er als Redaktionsleiter tätig ist..

    Zu Sowjetzeiten war Stalin wie Solschenizyn: irgendwas Verbotenes

    In Russland hat die Ent-Stalinisierung schon einmal stattgefunden. Ich erinnere mich an meine Kindheit, die mit der späten Ära der Stagnation zusammenfiel – damals klang das Wort „Stalin“ in etwa so wie „Solschenizyn“. Das war etwas Verbotenes, das nirgendwo und in keinster Weise zur Sprache kommen durfte. 

    Die politische Strategie der geschwächten Kommunistischen Partei bestand darin, Stalin komplett zu vergessen, einfach auszuradieren. Für jemanden, der Ende der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre aufwuchs, existierte diese historische Figur gar nicht.

    Verbotene Volkshelden

    Stalin sah man, neben seinem gelegentlichen Auftauchen in irgendwelchen Kriegsfilmen, vor allem auf kleinen Porträt-Bildchen – hinter der Windschutzscheibe des nächstbesten Autos. Fernfahrer hängten sich bald Stalin, bald Wyssozki in ihre Fenster. Das waren damals Figuren ein und derselben Kategorie: verbotene Volkshelden. In diesem Sinne verkörperte Stalin weder Repressionen noch Massenmorde, sondern eine Ordnung, die dem einfachen Menschen in der späten Sowjetunion fehlte.

    Natürlich wusste niemand von den Repressionen, das Thema kam gar nicht erst auf. Doch es dachte auch keiner an Stalin als den großen Staatsmann, das war längst aus den Geschichtsbüchern gestrichen.

    Wunsch nach starker Führung

    Seit kurzem ereignet sich etwas Unerfreuliches in Russland: die Re-Stalinisierung. Diese schleichende Entwicklung geht einzig und allein auf den Wunsch der Obrigkeit zurück. Es gibt keine Nachfrage nach Stalin-Denkmälern seitens des Volkes, niemand schreibt dem Präsidenten Briefe: „Bringen sie uns Stalin zurück!“ Es handelt sich hier um eine bewusste Politik der Regierung: Das Pflanzen eines zarten Stalin-Kults als gewissen Orientierungspunkt – danach strebt die derzeitige Staatsmacht, das sei gut, dem solle man nacheifern.


    Ella Panejach

     

    © tv2.today
    © tv2.today
    Ella Panejach (geb. 1970) ist eine renommierte Soziologin aus Sankt Petersburg. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft, des Managements und der Finanzen in Sankt Petersburg promovierte sie 2005 an der Universität Michigan, USA. Seit 2015 ist Panejach Dozentin an der Europäischen Universität Sankt Petersburg.

     

     

     

    Sie sagen ,Stalin‘ und meinen: Wir wollen weniger Ungleichheit

    Die erste Ent-Stalinisierung scheiterte, weil es unmöglich war, die Schuldfrage anständig auseinanderzudividieren. Unter Chruschtschow hat sich die sowjetische Regierung in der Nachfolge Lenins positioniert. Doch tatsächlich lässt sich das System Stalins nicht von den ersten Jahre der Sowjetherrschaft trennen.

    Von Anfang an lag der Überwindung des Personenkults eine Lüge zugrunde: nämlich, dass es einen guten Bolschewismus und Kommunismus gegeben habe, aber dann sei Genosse Stalin gekommen und habe alles kaputt gemacht.

    Nur einen Teil des Traumas durfte man zulassen

    Das heißt, einen Teil des Traumas durfte man zulassen, einen anderen wiederum nicht. So musste die Liquidierung des Adels und der Bourgeoisie als Klasse weiterhin befürwortet werden, während die Verfolgung sowjetischer Beamter als Verbrechen und Ausschweifung gelten konnte. Die Tragödien im Zuge der Kollektivierung dagegen durften überhaupt nicht verurteilt werden, als hätte es sie nie gegeben.

    Während der Perestroika begann eine neue Phase der Ent-Stalinisierung. Es konnte darüber diskutiert werden, was wirklich passierte; die Archive wurden geöffnet, es kamen Möglichkeiten auf, diese Informationen auch zu veröffentlichen. Aber diese Tendenz ging einher mit dem relativ traumatischen Zerfall der Sowjetunion und einer tiefen Wirtschaftskrise. So wurden alle Bemühungen, die Vergangenheit zu bewältigen, in Verbindung gebracht mit den unbeliebten 1990er Jahren und der liberalen Politik, die für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht wurde und so weiter. 

    Komplex historischer Mythen

    Für die Jugend heute geht es in dieser Geschichte nicht einmal um ihre Großväter, sondern um noch frühere Generationen, um Menschen, die sie nie erlebt haben. Das heißt also, dass dieses Trauma für sie kein lebendiges Gesicht hat. Ihr Verhältnis dazu ist weniger ein Verhältnis zu aktuellen, realen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit als eher ein Verhältnis zu einem historischen Bild, zu einem bestimmten Komplex historischer Mythen.

    Was hat es mit Stalin heute auf sich? Für den Großteil seiner Bewunderer steht Stalin beispielsweise für effektive Führung, obwohl schon längst belegt ist, dass er kein guter Staatenlenker war. Er steht auch für den Kampf gegen Korruption, doch die gab es auch in der UdSSR, wie Historiker ja wissen.

    Stalin steht auch dafür, dass es in der UdSSR wesentlich weniger Ungleichheit gab als heute. Das ist schon etwas realistischer. 
    Der mythische Stalin verkörpert für seine Befürworter eine Gesellschaftsform, in der die Ungleichheit (und vor allem der demonstrative Luxus der Oberschicht) wesentlich geringer war als in ihrer gegenwärtigen Lebenswirklichkeit.

    Keiner will die Repressionen zurück

    Ich würde darauf achten, was die Leute eigentlich sagen wollen, wenn sie mit Stalin-Porträts auf die Straße gehen. Sie meinen damit nicht: „Wir wollen Repressionen; wir wollen, dass mehr Menschen ins Gefängnis kommen; wir wollen eine Zentralplanwirtschaft; wir wollen die Repression ganzer Völker; wir wollen, dass unsere Regierung einen weiteren Weltkrieg entfesselt.“ 

    Sie meinen damit: „Wir wollen weniger Ungleichheit; wir wollen weniger Korruption; einen sozialeren Staat als wir jetzt haben. Uns gefällt nicht, was wir haben, wir sind es leid, und um das zu artikulieren, wählen wir die Figur, die so grausam und abschreckend ist, wie möglich.“  In etwa das haben sie im Sinn, wenn sie Stalin zum besten Herrscher Russlands erklären.


    Ilja Wenjawkin

    © theoryandpractice.ru
    © theoryandpractice.ru
    Ilja Wenjawkin (geb. 1981) ist ein russischer Philologe und Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt Sowjetische Kultur und Literatur. Neben seiner Forschung leitet er Bildungsprogramme der Diskussionsplattform InLiberty und ist Gründungsmitglied des Internetprojekts Proshito – einer elektronischen Sammlung sowjetischer Tagebücher.

     

     

     

    Die Ent-Stalinisierung ist noch nicht abgeschlossen


    Die Ent-Stalinisierung ist in Russland aus einer Reihe von Gründen nicht abgeschlossen. Üblicherweise wird als [wichtigster] Grund das Vorgehen der russischen Staatsmacht in den 1990er Jahren genannt: Die Aufarbeitung des sowjetischen Erbes war für Boris Jelzin kein substanzieller Teil seiner Agenda. Die Demonstrationen auf der Lubjanka einen Tag nach dem gescheiterten Putsch führten lediglich zur Demontage des Dsershinski-Denkmals. Niemand wagte es, die KGB-Zentrale selbst zu betreten, und weiterhin wurde das Fortbestehen dieser obersten repressiven Instanz des Landes am selben Ort wie vor 70 Jahren kaum noch in Frage gestellt. Im Grunde genommen ist der Versuch, einen offenen [gerichtlichen] Prozess gegen die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu führen, im Sande verlaufen.

    Kein fundamentaler Elitenwechsel

    Unter Jelzin hat außerdem kein fundamentaler Elitenwechsel stattgefunden. Zu einem großen Teil sind diejenigen an der Macht geblieben, die die Karriereleiter der UdSSR-Nomenklatura hinaufgestiegen waren. Am auffälligsten wurde die Elitenkontinuität erst unter Wladimir Putin, als klar wurde, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ehemalige Mitarbeiter des sowjetischen KGB und Mitglieder der KPdSU an der Spitze des Staates standen.

    Legitimation des heutigen Regimes

    Es stellt sich heraus, dass wegen des Fehlens einer eigenständigen Ideologie die sowjetische Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Legitimation des aktuellen politischen Regimes spielt: Durch die kritische Auseinandersetzung mit Stalin und mit der sowjetischen Vergangenheit könnten die heutigen Machthaber in ernsthafte Bedrängnis geraten.

    Nach 1991 war das Bedürfnis nach Ent-Stalinisierung von Seiten der Gesellschaft nicht stark genug. Wie unlängst der Fall von Denis Karagodin zeigt, der im Alleingang die Namen derjenigen identifiziert hat, die an der Hinrichtung seines Vaters beteiligt waren, können konsequente und durchdachte Bemühungen auf privater Ebene sehr wirkungsvoll sein. Leider gibt es hier immer noch wenige Initiativen solcher Art.

    Gewalt als Norm

    Es ist wichtig zu verstehen, dass es nicht nur die Geschichte des Stalinismus an sich ist, die uns beschäftigt. Vielmehr werden damit auch wichtige Fragen über die Gesellschaftsordnung aufgeworfen, in der wir heute leben.

    Wenn wir heute über die Ent-Stalinisierung sprechen, meinen wir die Notwendigkeit der totalen Entautomatisierung der Gewalt: Wir müssen lernen, die Gewalt zu erkennen, die vielen gesellschaftlichen Institutionen inhärent ist, und aufhören, diese als etwas Normales hinzunehmen.

    In diesem Sinne ist der Kampf um die Rechte der Menschen in Heimen, Gefängnissen, im Militär und an den Schulen heute eine Fortführung der Ent-Stalinisierung der russischen Gesellschaft. Es ist nicht von grundlegender Bedeutung, ob wir Stalin erwähnen oder nicht, wenn wir darüber sprechen, dass keine Regierung dazu befugt ist, die Würde des Menschen mit Füßen zu treten. Dieser Kampf wird auf jeden Fall weitergehen, ob wir dabei auf die Geschichte verweisen oder nicht.


    Nikita Petrow

     

    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    © Rodrigo Fernandez/Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Nikita Petrow (geb. 1957) ist ein russischer Historiker, zu dessen Forschungsschwerpunkten Verbrechen der sowjetischen Geheimdienste zu Zeiten des Großen Terrors gehören. Er arbeitet als stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Memorial, die sich für die historische Aufarbeitung der politischen Repressionen und für die soziale Unterstützung von Gulag-Überlebenden einsetzt.

     

    Jede Kritik an der Vergangenheit wird als Intrige des Westens dargestellt


    Die Ereignisse der sowjetischen Epoche liegen in der Vergangenheit, aber was beunruhigt uns heute? Uns beunruhigt, dass das Land im alltäglichen Leben noch immer nicht vom Gesetz regiert wird, dass die bestehenden Gesetze wie Imitate wirken.

    Es gibt eine Verfassung, die Rechte und Freiheiten garantiert, und es gibt den Alltag, in dem das alles mit Füßen getreten wird.

    Willkür statt Gesetze

    Wir sehen, wie wir zu den Praktiken zurückkehren, die es in der UdSSR gab, als der politische Wille der Führung und nicht das Gesetz den Alltag bestimmt hat. Von diesem Standpunkt gesehen ist die Ent-Stalinisierung eine Absage an eine solche Praxis, an die Regeln und Gewohnheiten der Willkür, die sich im sowjetischen System gebildet haben.

    Andererseits muss man juristisch einen klaren Strich ziehen unter die sowjetische Vergangenheit und sagen, dass die sowjetische Epoche nicht nur eine Epoche der Willkür war, sondern auch die eines totalitären und verbrecherischen Staates. Dieser Strich ist momentan noch nicht gezogen.

    Es tut sich was

    Wenn man Ent-Stalinisierung enger versteht als Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen, dann tut sich da natürlich etwas. Allerdings im ständigen Widerspruch zu den Versuchen, Stalins Namen zurück auf die russische Landkarte zu bringen [durch die vorübergehende Umbenennung Wolgograds in Stalingrad – dek] oder das Thema 1945 zu forcieren und mit Stalins Persönlichkeit zu verknüpfen. Deswegen befürwortet der Staat nicht mal die vorsichtigsten Ent-Stalinisierungs-Programme.

    Leider haben sich der Staat und unser Volk als unfähig erwiesen, unter rechtsstaatlichen und demokratischen Bedingungen zu leben. Man ist ständig in alte Praktiken verfallen, weil man es so gewohnt ist und anders nicht kann. Das Primat des Staates vor den persönlichen Rechten ist heute die Visitenkarte des Kreml. Auch deswegen ist das Thema Ent-Stalinisierung so unbeliebt unter Russen. Mit Hilfe von Propaganda, Radio und Fernsehen hat man vielen Bürgern eingetrichtert, dass unsere Besonderheit in eine aggressive Xenophobie münden solle. Alle Versuche, die Vergangenheit zu kritisieren, werden als Intrigen des Westens dargestellt.

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  • „Der Westen hat Russland abgewiesen“

    „Der Westen hat Russland abgewiesen“

    Wer ihn einordnen will, der greift daneben: Regisseur Andrej Kontschalowski. Wie eine Art Zwitterwesen aus Konservativem und Liberalem changiert der ältere Bruder des berühmten Schauspielers und Regisseurs Nikita Michalkow zwischen den politischen Lagern. Seine Ideen über Russland sind noch gespeist von den Positionen russischer Philosophen wie Berdjajew. Als Opfer der Tauwetter-Zensur geht ihm die Freiheit jedoch über alles, 2012 unterschrieb er etwa einen Brief zur Unterstützung von Pussy Riot.

    Sein neuester Film Rai (dt. Paradies) kommt diesen Donnerstag in die deutschen Kinos, 2016 gewann Kontschalowski in Venedig den Silbernen Löwen dafür. Es geht darin um drei unterschiedliche Protagonisten – einen SS-Offizier, einen französischen Kollaborateur und eine emigrierte russische Aristokratin. Ihre Wege kreuzen sich während des Zweiten Weltkriegs.

    Katerina Gordejewa traf den Regisseur für Meduza, um mit ihm über den Film zu sprechen. Es ging dann aber vor allem um den besonderen Weg Russlands, die Beziehung zum Westen, bäuerliches Bewusstsein und die Notwendigkeit von Zensur. Immer wieder ist das Gespräch auch eine kleine Lehrstunde in Mansplaining.

    Schwierig einzuordnen – Regisseur Andrej Kontschalowski /  Foto © Pjotr Bystrow/Kommersant
    Schwierig einzuordnen – Regisseur Andrej Kontschalowski / Foto © Pjotr Bystrow/Kommersant

    Meduza: Ihr Film Paradies hat mich extrem beeindruckt. Ich verstehe, dass man Sie in Venedig mit stehenden Ovationen gefeiert hat.

    Andrej Kontschalowski: Danke.

    Auch das russische Kulturministerium war an Paradies beteiligt. Das scheint mir ja mal eine richtig gute Investition. Noch nie sind Gelder, die für Propaganda bewilligt wurden, derart intelligent eingesetzt worden: Ein glänzend gemachter Film erzählt der Welt – ganz europäisch – von der Wichtigkeit und Größe der russischen Idee. Hat Ihnen das von vorneherein so vorgeschwebt?

    Das Kulturministerium wird sich durch Ihre Meinung geschmeichelt fühlen, nehme ich an. Mir fällt es schwer, in solchen Kategorien zu denken und über irgendwelche Interessen zu sprechen. Jedenfalls kann man in dem Moment, in dem man an einen Stoff herangeht, schwer die Aussagen im Kopf haben, die sich im Laufe des Schaffensprozesses möglicherweise entwickeln. 

    Sie fragen einen Komponisten ja auch nicht, welche Idee er der Welt offenbaren, wovon er die Menschheit überzeugen wollte, denn Musik ist eben Musik.

    Was Komponisten nie daran gehindert hat, sich auf kreative Weise zu diversen aktuellen, auch politischen Fragen zu äußern. Aber sprechen wir über Paradies. Ihr Film berührt gleich mehrere Themen, die für die verschiedenen Länder und Kulturen äußerst schmerzhaft sind: den Holocaust, die französische Résistance, die Idee der Auserwähltheit der Russen als Retter und Befreier der gesamten Menschheit. 

    All das, was sie nennen, ist schließlich das Ergebnis. Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz. 

    Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen – das ist ein etwas anderes Thema als der Holocaust. Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein ….

    … der Tschechow liebt …

    Ja, der Tschechow liebt, ein aristokratischer, schöner Mensch, eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Für mich ist es sehr wichtig, dass er diesen trüben Fluss des Bösen betritt und die Strömung ihn fortträgt.

    Welche Reaktion in Frankreich erwarten Sie vor dem Hintergrund, dass zum Beispiel Alexander Sokurows Francofonia, ein Film, der ebenfalls das Thema Résistance und Kollaboration aufwirft, in Frankreich Probleme mit dem Verleih hatte: Das Außenministerium intervenierte gegen die Vorführung in Cannes, das französische Kulturministerium und sogar der Louvre haben sich quasi von dem Film distanziert. Wie es aussieht, sind die Franzosen nicht gerade erpicht darauf, dass Außenstehende sich dieser Themen annehmen. 

    Ich habe Sokurows Film leider noch nicht gesehen, aber ich bedaure sehr, wie die Jury in Venedig mit ihm umgegangen ist [Francofonia lief 2015 im Wettbewerb, erhielt aber keine der wichtigen Auszeichnungen – Anm. Meduza]. Das war sehr ungerecht. 

    „Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz“ / Filmstills © ALPENREPUBLIK
    „Das Thema von Paradies ist die Universalität des Bösen und sein Reiz“ / Filmstills © ALPENREPUBLIK

    Den Franzosen ist es außerordentlich unangenehm, ihre eigene Vergangenheit wieder ans Licht zu zerren. Und es war eine vollkommen richtige Entscheidung von de Gaulle damals, alle Akten von Kollaborateuren für 60 Jahre zu sperren. Erst heute, wo die Leute alle schon gestorben sind, werden die Archive geöffnet. 

    Wissen Sie, warum de Gaulle diese Entscheidung getroffen hat? Weil er verstanden hatte, dass man die Gesellschaft nicht spalten darf. Halb Frankreich hatte ja mit den Deutschen kollaboriert, also wenn wir ganz ehrlich sind, sogar der überwiegende Teil der Franzosen. 

    Finden Sie das wirklich richtig? Auf unser Land übertragen würde das ja heißen: Das Unglück liegt nicht darin, dass es 1991, als die KPdSU zerschlagen und die UdSSR aufgelöst wurde, keine Lustration gab. Sondern darin, dass man überhaupt angefangen hat diejenigen zu benennen, die Menschen hinter Gitter gebracht, denunziert und erschossen haben?

    Jede Geschichte hat ihre Ambivalenzen und es geht um weitaus tieferliegende Zusammenhänge von Ursache und Wirkung als um die bloße Auflistung der Verbrechen irgendwelcher Bastarde. Davon handelt im Grunde auch mein Film. 

    Was die Auflösung der Kommunistischen Partei betrifft, kann man das kaum als glückliche politische Entscheidung bezeichnen. Man darf nicht vergessen, dass die kommunistischen Ideen das Hoffen und Streben einer großen Zahl von Menschen verkörperten. Diese Menschen glaubten inbrünstig und aufrichtig an diese Ideen. Das waren ganz normale, ehrliche Leute. Sicher waren sie auch mit manchem unzufrieden, aber die 1960er Jahre – sprich die Zeit nach der Entstalinisierung – war für sie keine gute Zeit. Sie konnten nichts gegen die in der Chruschtschow-Ära entstandene, nennen wir es, Gedankenwelt tun, aber sie träumten keineswegs davon, dass man ihr Leben und ihre Ideale in den Dreck zog.

    Eine andere Zeit war angebrochen: All die Ideen, an die sie geglaubt hatten, waren in Verruf geraten, und Stalin wurden alle Sünden angehängt, die eigentlich diejenigen zu verantworten hatten, die die Entstalinisierung eingeleitet hatten. 

    Na und dann, wie ging es weiter? Sind alle Russen gute Menschen geworden? Haben sie aufgehört, in den Hauseingang zu pissen? Und ihren Müll aus dem Fenster zu werfen? Dass ich nicht lache.

    Die Mentalität des Volkes verändert sich nicht dadurch, dass plötzlich beschlossen wird, mit der Vergangenheit abzuschließen

    Die Mentalität des Volkes verändert sich nicht dadurch, dass plötzlich beschlossen wird, mit der Vergangenheit abzuschließen. Zumal es unmöglich ist, damit abzuschließen. Nehmen Sie zum Beispiel China: der Mao-Kult ist bis heute ungebrochen, und mit dem Land geht es voran.

    Also ich würde ungern China als Beispiel nehmen und ungern so leben wie in China. Sie vielleicht?

    Ich schlage Ihnen ja nicht vor, in China zu leben, sondern die politischen Probleme zu lösen wie die Chinesen. Ein politisches Problem in einem archaischen Land zu lösen ist eine völlig andere Sache als in Jugoslawien oder sonst irgendwo in Osteuropa. 

    Leben wir denn in einem archaischen Land?

    Meiner Ansicht nach lebt ein gewaltiger Teil unseres Landes in einem archaischen Wertesystem. Bei uns ist das Heidentum mit dem Kommunismus verwoben und der Kommunismus mit der Orthodoxie. Und jede Regierung in Russland, auch die jetzige, ist die Regierung eines sozial ausgerichteten Staates. 

    Inwiefern? 

    Insofern, als dass die Regierung sich verpflichtet fühlt, Menschen zu versorgen, die kein Interesse daran haben, viel zu arbeiten und zu verdienen und sich mit wenig begnügen. Man kann Menschen schwerlich gegen ihren Willen dazu bringen, „Business“ zu treiben. Es geht nicht darum, dass jemand sie nicht lässt, sondern darum, dass dem russischen Menschen daran nichts liegt. 

    Weder am Business noch an der sagenumwobenen Freiheit ist der Mehrheit der Russen etwas gelegen

    Weder am Business noch an der sagenumwobenen Freiheit ist der Mehrheit etwas gelegen. Würde ihnen etwas daran liegen, würden sie sie sich ohne Weiteres nehmen. Freiheit wird einem schließlich nicht gegeben, man nimmt sie sich! Aber den Menschen liegt nichts daran. Ihnen ist hoffentlich klar, dass wir von der russischen Nation sprechen und nicht von den Bürgern, die innerhalb des Moskauer Gartenrings leben.

    Das erinnert daran, wie sich die Rhetorik Wladimir Putins gewandelt hat: Zu Beginn seiner Präsidentschaft hob er ja gerne auf die europäischen Werte und auf Russland als Teil Europas ab, später war davon dann immer weniger und heute ist davon überhaupt nicht mehr die Rede.

    Mir scheint, Sie haben eine falsche Wahrnehmung von dem, was passiert ist. Russland hatte sich tatsächlich darum bemüht, zum europäischen Gebiet dazuzugehören. 

    Der Westen hat Russland abgewiesen, weil ihnen an uns als starkem Land nichts liegt, ihnen liegt an uns nur, solange wir vollkommen am Boden sind wie zu Zeiten der Perestroika

    Das war Putins Plan, der von seinen Überzeugungen her selbstverständlich der größte Europäer im ganzen Land ist. Doch der Westen hat Russland abgewiesen, hat Putin abgewiesen, weil ihnen an uns als starkem Land nichts liegt, ihnen liegt an uns nur, solange wir vollkommen am Boden sind wie zu Zeiten der Perestroika: ein großartiges Land mit einer Menge Scheiße ringsherum und einer bettelarmen Armee. Putin hat das verstanden. Und es blieb ihm kein anderer Ausweg, als die Armee aufzubauen und Verbündete im Osten zu suchen.

    Behagt Ihnen diese Kehrtwende?

    Ich war früher ein Befürworter der Westorientierung Russlands und glaubte damals auch, Russland hätte nur einen Weg – nämlich den nach Westen. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass es diesen Weg für uns nicht gibt. Und Gott sei Dank sind wir auf dem Weg in diese Richtung stark zurückgefallen.

    Europa steht am Rande der Katastrophe – so viel scheint klar. Man darf die Menschenrechte eben nicht über alles stellen

    Denn Europa steht am Rande der Katastrophe – so viel scheint klar. Die Ursachen dieser Katastrophe liegen darin, dass man die Menschenrechte eben nicht über alles stellen darf. Die Rechte eines Menschen sind immer im Zusammenspiel mit seinen Pflichten zu sehen. [In Europa] hat man sich von den traditionellen europäischen, also den christlichen, Werten verabschiedet.

    Für Sie ist Wladimir Putin also wirklich ein Europäer?

    Für Sie nicht? Das liegt wahrscheinlich daran, dass Sie nicht den gesamten Verlauf seiner Präsidentschaft im Blick haben. Er ist Europäer, ja, und zwar sowohl vom Kopf her als auch durch seine persönliche Erfahrung, er hat ja in Europa gelebt.

    „Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein …“
    „Das Böse tritt nicht zwangsläufig in Monstergestalt auf den Plan. Es kann ein kluger, gebildeter, begabter Mensch sein …“

    Ich glaube, als er die Führung des Landes übernahm, hatte er bestimmte Ideen, die sich unter dem Druck der inneren und äußeren Umstände später stark verändert haben. Er kam in ein vollkommen zerstörtes Land und stand vor der Aufgabe, eine gigantische archaische Masse von Menschen zu regieren, die dem Staat gegenüber extrem ablehnend eingestellt waren. Seine Bemühungen waren zuallererst darauf gerichtet, den Zerfall abzuwenden. Im Grunde finde ich es unvorstellbar, wie er das geschafft hat.

    Putin als Westler, als Mensch, der hervorragend deutsch spricht und mit der Weltkultur vertraut ist, hatte natürlich die Illusion, dass Russland nach Europa zurückkehren müsse. Doch in Europa sagten sie zu ihm: „Wer seid ihr überhaupt? Auf euch haben wir hier nicht gewartet.“ 

    In Europa sagten sie zu Putin: ,Wer seid ihr überhaupt? Auf euch haben wir hier nicht gewartet.‘


    Putins Münchner Rede war das Resultat einer kolossalen Enttäuschung hinsichtlich seiner Europa-Ideen, verbunden mit der Einsicht, dass ein Leben in dem Teil der Welt bevorsteht, der von einer Zivilgesellschaft noch weit entfernt ist. 

    Das sind alles äußerst schwierige Probleme, die für uns beide, die wir hier innerhalb des Moskauer Gartenrings sitzen, nicht erkennbar sind, aber das Land zu führen ist ohne diese Einsicht nicht möglich.

    Meine Schlussfolgerung wird Ihnen nicht gefallen: Wir sind nicht Westeuropa und wir werden es nie sein, und es hat auch keinen Sinn, sich darum zu bemühen.

    Wann ist Ihnen das klar geworden? Wie hat sich diese Veränderung vollzogen: Bis zu einem bestimmten Moment waren Sie Kontschalowski, der zum Beispiel mir immer durchaus wesensverwandt schien, und dann …

    … wann ich zu Michalkow geworden bin, meinen Sie?

    Ja. Danke, dass Sie das jetzt selbst ausgesprochen haben.

    Strengen Sie mal Ihr hübsches kleines Köpfchen an und denken Sie so an die 20 Jahre nach – da werden Sie sich auch verändern. Denkende Menschen ändern öfter mal ihren Standpunkt. Nur Idioten verändern sich nicht. Was mich stark beeinflusst hat, war mein Leben an dem See Kenosero, wo ich den Postboten gedreht habe. Das Leben mit Menschen, die mit allem, was sie tun, im Einklang sind, die weder Wladimir Putin noch Wladimir Posner etwas angeht. Sie leben in der reinsten Archaik, in der geradezu bewundernswerten Welt ihrer shakespearehaften Harmonie. Oder gar der einer antiken Tragödie.

    Wie äußert sich das?

    Diese Menschen dort streben nach nichts. Die lassen sich weder in den Kapitalismus noch ins private Unternehmertum treiben. Natürlich gibt es dort absolut großartige Menschen, aber ein Bürgertum, das dynamisch ist und Verantwortung für das Land empfindet, ist das nicht. Ein Bürgertum hat es nie gegeben und gibt es bis heute nicht. Auch das ist eins der Probleme der russischen Geschichte – das sollte man nicht einfach so übergehen.

    Sie waren also früher Liberaler und dann haben Sie sich unters Volk begeben und sind als vollkommen neuer Mensch zurückgekehrt. Kann man das so sagen?

    Jetzt tun Sie doch nicht so naiv. Warum müssen Sie denn derart vereinfachen? Ich habe drei Filme in einem russischen Dorf gedreht, ich lebe in diesem Land, und ich kenne mein Volk – besser als Sie, das liegt auf der Hand, schon allein deshalb, weil ich 40 Jahre älter bin als Sie. 

    Jetzt tun Sie doch nicht so naiv. Ich habe drei Filme in einem russischen Dorf gedreht, ich lebe in diesem Land, und ich kenne mein Volk – besser als Sie, das liegt auf der Hand

    Und ich bin nach und nach zu der Überzeugung gelangt: Wenn man das Land verändern will, muss man die Mentalität verändern. Und um die Mentalität zu verändern, muss man das kulturelle Genom verändern. Und um das kulturelle Genom zu verändern, muss man es zuerst in seine Bestandteile zerlegen, gemeinsam mit den großen russischen Philosophen – also den Zusammenhang von Ursache und Wirkung begreifen, der in unserem Land bis heute noch nicht erforscht ist. Und erst dann kann man entscheiden, wohin es gehen soll.

    Wenn man das Land verändern will, muss man die Mentalität verändern

    Es ist naiv zu glauben, wenn alle lesen und schreiben können, verändert das den Menschen. Zum Beispiel gilt „Business“ in der russischen Vorstellung als Diebstahl. Vom Moskauer Gartenring aus ist das keineswegs augenfällig, aber so ist es. Und das ist nicht alles. Dort draußen, hinter dem Ring, hinter Moskau, da gibt es vollkommen andere Werte und Menschen: Die wollen, dass der Staat sie in Ruhe lässt. Und das heißt, sie sind keine Staatsbürger, sondern Bevölkerung. Millionen Russen sind schlicht Bevölkerung. Von welchen Bürgerinitiativen reden wir da?

    Sie sprechen von einem kulturellen Code, der die Russische Nation prägt. Was genau meinen Sie?

    Bei uns herrscht ein bäuerliches Bewusstsein. Der russische Mensch hat vorbürgerliche Werte: „Das Hemd ist mir näher als der Rock“, „Rühr mich nicht an, dann rühr ich dich nicht an“ „’Ach, wählen gehen – wozu soll das gut sein.’ ‘Hingehen muss man, sonst kommen sie und scheuchen einen oder bestrafen einen sogar.’“

    „Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen“
    „Paradies ist für mich eine sehr wichtige Erfahrung, die Auseinandersetzung mit der Ambivalenz von Verbrechen“

    Das bäuerliche Bewusstsein ist die Abwesenheit des Wunsches, an der Gesellschaft teilzunehmen. Alles, was außerhalb der Interessen der eigenen Familie liegt, löst im besten Falle Gleichgültigkeit, im schlimmsten Falle feindselige Reaktionen aus. 

    Die Entstehung des Bürgertums in Europa hat das republikanische Bewusstsein hervorgebracht. Die Republik ist ja die Gesellschaft der Bürger. In Russland gab es ein republikanisches Bewusstsein in ganzen zwei Städten, und zwar in Pskow und in Nowgorod. Und darüber hinaus niemals und nirgends. Im Übrigen wurde auch diese Wiege [des Republikanischen – dek] plattgemacht. 

    Das Plattmachen gehört ja nun zu den Traditionen, die in unserem Land von jeher akkurat befolgt werden. Kaum dass irgendetwas Neues, Frisches sein Haupt erhebt, fängt es sich schon eine klatschende Ohrfeige ein: Bleib bloß weg hier, wag ja keine Experimente, untersteh dich, irgendwelche Gefühle zu beleidigen. Wir leben in einer Zeit der Renaissance von Denunziation und des Triumphs der Zensur.  

    Ganz ehrlich: Was Sie hier vortragen, ist nicht mit anzuhören. Ihren Fragen entnehme ich, dass Sie keine Ahnung haben, was wirkliche Zensur und echtes Denunziantentum bedeuten. Ich persönlich bedaure, dass es keine Zensur gibt. Die Zensur hat die Menschen noch nie daran gehindert, große Kunst zu erschaffen. Cervantes hat zur Zeit der Inquisition Meisterwerke geschaffen, Tschechow schrieb all das, was er der Zensur wegen nicht in einem Theaterstück unterbringen konnte, in Prosa.

    Ganz ehrlich: Was Sie hier vortragen, ist nicht mit anzuhören

    Denken Sie vielleicht, Freiheit bringt Meisterwerke hervor? Niemals. Große Kunst wird durch Beschränkungen hervorgebracht. Schöpferisch bringt die Freiheit dem Künstler gar nichts. Zeigen Sie mir mal diese Scharen von Genies, auf die die Zensur Druck ausübt? Die gibt es nämlich nicht.

    Leider ist es mit der Kultur im umfassenden Sinne des Wortes bei uns vorbei, es gibt keine Regisseure mehr. Denn bei Lichte besehen – was ist Regie? Regie bedeutet Reichtum an künstlerischen Assoziationen, das ist die unermessliche kulturelle Basis, ohne die ist alles nichts, alles andere sind Späßchen und Pointen. Die findet man bei unseren heutigen jungen Regisseuren jede Menge, aber künstlerische Assoziationen – Fehlanzeige. Darin liegt das Unglück und nicht in irgendeiner angeblichen Zensur. Da werden einfach Begriffe vertauscht.

    „Ich versuche eine neue Kinosprache für mich zu erkunden“
    „Ich versuche eine neue Kinosprache für mich zu erkunden“

    Genauso wie man heute gerne behauptet, es werde die Geschichte umgeschrieben, Ereignisse würden unterschlagen … In den letzten 20 Jahren ist so viel sogenannte Wahrheit geschrieben worden, die sich dann später als Nicht-Wahrheit erwiesen hat. Und wissen Sie warum? Weil Geschichte immer subjektiv ist. Die Wahrheit in der Geschichte kann überhaupt nicht triumphieren, weil Geschichte immer im Sinne desjenigen interpretiert wird, der sie interpretiert. Objektive Geschichte – das ist eine gewaltige Illusion. Wieder einmal eine. Nun ja, das Leben besteht aus Illusionen.

    Es hat wohl niemand irgendwelche Zweifel daran, dass Hitler ein blutiger Verbrecher war. An den Verbrechen des Nationalsozialismus zweifelt keiner. Wenn wir es rein rechnerisch betrachten wollen: Stalin hat eine vergleichbare Anzahl von Menschen getötet, sogar seine eigenen Leute. Aber heute ist diese Tatsache bei uns offenbar wieder strittig.

    Nehmen Sie einen chinesischen Kaiser aus dem 13. Jahrhundert, zu dem die Chinesen ins Mausoleum strömen – der hat innerhalb von zwei Wochen vierhunderttausend Menschen umgebracht. Ich frage also: „Aber der hat doch viele Leute getötet?“ Und kriege zur Antwort: „Stimmt, hat er, aber er ist doch ein Teil unserer Geschichte. Und wir besuchen hier sein Grab.“

    Na sicher, wenn ein Tyrann die Menschen umbringt, das ist eine eindeutige – und blutige – Katastrophe. Und natürlich war Hitler ein Wahnsinniger, aber vergessen Sie nicht, dass der Großteil der Deutschen ihn gewählt hat.

    Ich würde gerne noch einmal auf Ihren Film zurückkommen. Am Schluss von Paradies heißt es „Wir sind Russen, mit uns ist Gott“, fast wörtlich wird das so gesagt, ohne dass es mit irgendwelchen Reflexionen verbunden wäre. Quasi: So ist es halt – alles wissenschaftlich erwiesen. 

    Glauben Sie wirklich, das könnte unsere Nationalidee sein und damit könnten wir im Westen für uns Werbung machen?

    Derart frontal wird das im Film nicht gesagt. Die Protagonistin spricht allgemein davon, was menschliche Selbstaufopferung bedeutet - das ist ja ihr Lebensthema. Die ganze Erfahrung dieses Films ist für mich neu. Ich muss dazu sagen, dass mit meinem letzten Film, dem Postboten Trjapizyn, mein neues Regie-Leben angefangen hat. Paradies ist jetzt der zweite Film in diesem Leben, bei dem ich meine Rolle als Filmschaffender oder Künstler anders verstehe.

    Was heißt das?

    Ich versuche, die Gesetze des Films zu verstehen, die nicht offenliegen. Es ist nämlich eine Illusion, dass wir wissen, wie man Kino macht. Bei den Surrealisten hat es Versuche gegeben, das herauszukriegen, Buñuel in den naiven 1920er Jahren. Aber dann wurde Buñuel sehr tiefsinnig, und seine formale Suche nach anderer Bedeutung hatte ein Ende. Und jetzt versuche also auch ich diese neue Kinosprache für mich zu erkunden, solange ich noch am Leben bin. 

    Ich habe Abstand zu dem gewonnen, was ich früher gemacht habe, und inzwischen eine ganz neue Haltung zum Film als Ton- und Bildkunst entwickelt. Mit einem Mal habe ich begriffen, dass es nicht mehr braucht als Ton und Bild, das sind ausreichend Ingredienzien für eine ganze Symphonie, verstehen Sie? Bloß Ton und Bild. Keinerlei unnötiges Beiwerk.
     

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    „Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus“

    Wenn Dienstältere systematisch junge Soldaten schikanieren, teilweise sogar quälen oder misshandeln, so hat das in Russland einen Namen: Dedowschtschina. Die Dedowschtschina geht zurück bis in die Zarenzeit, doch bis heute legt sich über die konkreten Fälle meist ein Mantel des Schweigens, Betroffene bleiben den Schikanen hilflos ausgeliefert. Das Verteidigungsministerium spricht von einem erfolgreichen Kampf gegen die Dedowschtschina, seit die Wehrpflicht 2008 auf ein Jahr verkürzt wurde.

    Wie verbreitet ist die Dedowschtschina in der russischen Armee heute? Für Meduza hat Jewgeni Antonow Zahlen zusammengetragen und mit Menschenrechtlern und Betroffenen gesprochen.

    Beim Militär herrscht eine andere Ordnung, eine andere Wahrnehmung / Foto © Pawel Golowkin/Kommersant

    Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus

    Mit diesen Worten zerrte eines Tages im Dezember 2014 der kleine pummelige Ainur, seit sieben Monaten Wehrdienstleistender in einem Verband bei Nowosibirsk, den frisch einberufenen Georgi in den Trockner – einen Raum zum Trocknen der Soldatenuniformen. „Bist wohl ein Oberschlaumeier und hast was über Kasachstan zu melden?“

    Eine halbe Stunde zuvor hatte Georgi gesagt, Kasachstan sei ein Land mit niedrigem Lebensstandard. Mit Ainur, der Kasachstan als seine zweite Heimat bezeichnet, kamen noch zwei weitere Mitsoldaten in den Raum. Sie verdrehten Georgis Arme so, dass er sie nicht mehr rühren konnte. Ainur baute sich vor ihm auf, und, kaum war die Tür zugefallen, da verpasste er dem Neuling „eine Kopfnuss, oder vielleicht war’s auch eine Ohrfeige“, erinnert sich Georgi heute. In seinem Ohr klingelte es. Dann schlug Ainur ihm ein paar Mal in den Magen, in die Nierengegend, packte ihn an den Haaren und sagte, so würde das jetzt jeden Tag ablaufen, wenn er nicht vor versammelter Mannschaft erklärte, dass Kasachstan ein großartiges Land sei.

    Ich hatte sogar den Gedanken, dass ich mich umbringen würde, wenn so etwas passiert

    Als Georgis neue Armeekameraden den Trockner verließen, befahlen sie ihm, sich bald zu verziehen und der Führung nichts davon zu sagen, „sonst passiert noch was“. Ainur fügte mit einem Lächeln hinzu, er könnte ihn auch „aufschlitzen“. Aufstehen und das Zimmer verlassen konnte Georgi erst nach einigen Minuten – er hatte starke Schmerzen am ganzen Körper, obwohl er „nicht einmal blaue Flecken hatte“.

    Die Einheit, in die der junge Mann aus Barnaul im November 2014 kam, war den Erfahrungsberichten im Internet zufolge relativ ruhig. Weil er die Schule schlecht abgeschlossen hatte, hatte Georgi beschlossen, zur Armee zu gehen – wegen der erleichterten Zugangsvoraussetzungen an der Hochschule. Und nachdem er in den Sozialen Netzwerken gelesen hatte, dass in den meisten sibirischen Einheiten „alle Gesetze befolgt“ würden, die Angst vor der neuen Erfahrung legte sich, obwohl eine mögliche Dedowschtschina ihn durchaus nervös machte. 
    „Ich hatte sogar den Gedanken, dass ich mich umbringen würde, wenn so etwas passiert“, erinnert er sich. „Aber als es dann passierte, war mir klar, dass ich leben will. Also beschloss ich durchzuhalten.“

    Am nächsten Tag, vor der Bettruhe, erklärte Georgi vor aller Augen, Kasachstan sei das beste Land der Welt. Seine Kameraden nahmen es auf, als wäre das völlig normal: Wie sich herausstellte, war er nicht der erste, der zu solch einer Erklärung gezwungen wurde.

    Viele halten eine Reform der Streitkräfte für eine der drängendsten Aufgaben 

    Im April 2002 erklärte Wladimir Putin in seiner Botschaft an die föderale Versammlung die Verkürzung der Wehrdienstzeit zu einem seiner Hauptziele. Umfragen zufolge hielten die Bürger eine Reform der Streitkräfte für eine der drängendsten Aufgaben der Regierung; die meisten Befragten gaben an, dass sie auf eine Ausmerzung der Dedowschtschina hofften.

    Im Juni 2006 unterzeichnete Putin ein Gesetz, das die Dauer der Wehrpflicht von ehemals zwei Jahren auf ein Jahr reduzierte. Der damalige Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow erklärte, diese Maßnahme diene dazu, ernsthaft gegen regelwidriges Verhalten in der Armee vorzugehen und die Kasten der Dedy und Duchi auszumerzen: Großväter, wie die Altgedienten bezeichnet werden, und Geister – Soldaten, die gerade erst einberufen worden sind.

    Bald darauf hörte das Verteidigungsministerium auf, Namenslisten von Wehrdienstleistenden zu veröffentlichen, die während der Dienstausübung zu Tode gekommen sind (diese Aufgabe obliegt seitdem der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft). Der letzte Bericht bezieht sich auf die Zahlen des Jahres 2008 und spricht von 471 verstorbenen Wehrdienstleistenden (das sind deutlich weniger als früher: 1996 belief sich die Zahl der außerkriegerischen Verluste der Armee auf über 1500 Menschen, 2005 waren es noch über 1000).

    Gleich mehrere Menschenrechtsorganisationen sind sich sicher: Das Fehlen einer Statistik bedeutet nicht die plötzliche Abwesenheit der Dedowschtschina. Georgis Geschichte ist bei weitem nicht die einzige, nicht einmal im Jahr 2014.

    Er hatte seine Eltern mehrfach um Geld gebeten, ohne zu verraten, wofür

    In der Nacht zum 17. Februar desselben Jahres wurde in einer Einheit bei Chabarowsk der Rekrut Alexej Snakin gefunden, an einem Gürtel erhängt. Während seiner Dienstzeit hatte er seine Eltern mehrfach gebeten, ihm Geld zu schicken, ohne ihnen verraten zu wollen, wofür. Ein Jahr später wurde Major Nikolaj Tschabanow angeklagt, den Rekruten erpresst und ihm gegenüber Gewalt angewendet zu haben. Tschabanow wurde wegen Missbrauchs seiner dienstlichen Kompetenzen zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt.

    Im Februar 2016 gelang es Juristen  der Menschenrechtsorganisation Prawo Materi, die Anklage umzuwandeln: Das Gericht verurteilte Tschabanow nach demselben Paragraphen zu dreieinhalb Jahren Strafkolonie.

    Als Todesursache wurde akute Gastritis angegeben 

    Am 14. März 2014 tagsüber kam in der Einheit Jurga im Gebiet Kemerowo der Rekrut Sergej Laptew auf seinem Gefechtsposten ums Leben. Als Todesursache wurden zunächst Herzstillstand und akute Gastritis angegeben – ungeachtet der Erklärungen der Eltern, ihr Sohn habe nie etwas am Magen oder am Herzen gehabt. Sie fochten das Gutachten vor Gericht an, woraufhin es eine erneute Untersuchung gab, bei der die Ärzte einen Durchbruch der Magenwand, eine stumpfe Bauchverletzung und hohen Blutverlust feststellten. 

    Man verurteilte Iwan Kulagin, einen Dienstkameraden Laptews, zu fünf Jahren Haft nach Paragraph 335 Strafgesetzbuch, der regelwidriges Verhältnisse unter Armeeangehörigen unter Strafe stellt.
    Die Liste von Fällen wie diesem ließe sich fortsetzen, und sie enden bei weitem nicht alle mit einer Verurteilung. Die existierende Statistik berücksichtigt nur Strafverfahren, die aufgrund eben dieses Paragraphen 335 eingeleitet wurden: 2014 waren es 939 Fälle, 2015 waren es 901.

    Die Armee ist eine der geschlossensten Strukturen, die es in Russland gibt

    Laut Menschenrechtlern von Organisationen wie Prawo Materi oder Grashdanin i Armija, die mit dem Problem der Gewalt innerhalb der Streitkräfte arbeiten, gibt es im Grunde keine genauen Erhebungen zur derzeitigen Situation beim Militär. 

    „Die Armee ist eine der geschlossensten Strukturen, die es in Russland überhaupt gibt“, bestätigt auch Georgi und berichtet, dass die Soldaten nicht wirklich wissen, an wen sie sich im Falle einer Unrechtssituation wenden sollen. „Das ist, als würdest du in einem Metallkasten sitzen, der kleine Schlitze hat, aber du kommst da nicht durch. Ich persönlich wusste nicht, zu wem ich gehen sollte, als ich geschlagen wurde. Also bin ich zu niemandem gegangen.“

    In jener Einheit in Sibirien verbrachte der junge Mann ein halbes Jahr. In dieser Zeit wurde er vier Mal brutal zusammengeschlagen und musste regelmäßig für Ainur und seine Kumpel Schuhe putzen. Georgi ist der Meinung, Schuld an seinem Leidensweg sei die Illusion gewesen, in Russland gäbe es keine Dedowschtschina: „Wenn ich gewusst hätte, was [in der Armee] los ist, hätte ich eine Möglichkeit gefunden, nicht hinzugehen, oder ich hätte mich wenigstens moralisch vorbereitet. Vielleicht hätte ich einen Selbstverteidigungskurs gemacht.“

    Arseni Lewinson, [Jurist bei Grashdanin i Armijadek], sagt, es komme nicht selten vor, dass Todesfälle vom Militärgericht zu Suiziden oder Unfällen erklärt werden.

    Laut einer Statistik von Prawo Materi wurden 2016 42 Prozent aller Todesfälle als Suizid gewertet,  24 Prozent als Unfall (von allen Fällen, die der Organisation aufgrund von Berichten von Angehörigen der Verstorbenen bekannt sind). Viele Straftaten schaffen es nicht in die Statistik, weil die Opfer sie nicht melden, fügt Lewinson hinzu. So ist es meistens bei Prügelattacken, die nicht tödlich enden – die Mehrheit der Einberufenen, so der Menschenrechtler, „hat Angst und schweigt“.

    Jewgeni wurde 2010 in die Armee einberufen, im Gebiet Pskow. Der Dienst war ruhig, aber die Führung forderte eiserne Disziplin, erinnert er sich. „Wenn sich jemand gehen ließ, seine Uniform nicht sauber hielt, die Befehle der Führung nicht sofort befolgte, musste die gesamte Kompanie hundert Liegestütze machen. Natürlich hat der Schuldige, wenn so was passierte, sofort Prügel bekommen“, erzählt Jewgeni. „Niemand will für jemand anderen herhalten. Die Führung wusste das und nutzte das aus.“

    Jewgeni selbst hat sich nie als Opfer gesehen, obwohl er unmittelbar nach dem Beginn seines Wehrdienstes drei Mal zusammengeschlagen wurde. Ein paar Monate später machte er selbst mit beim Verdreschen seiner Kameraden. „Wir waren immer ganz vorsichtig, sanft“, erläutert der ehemalige Soldat, der mit Meduza nur sprechen will, wenn er anonym bleibt.

    Ein paar Monate später machte Jewgeni selbst mit beim Verdreschen seiner Kameraden 

    „Ich finde immer noch nicht, dass ich irgendetwas falsch gemacht habe. Beim Militär herrscht eine andere Ordnung, eine andere Wahrnehmung. Was im Zivilleben als barbarisch gilt, kann in einer Einheit weit verbreitet sein“, sagt Jewgeni. 

    Er unterstreicht, dass er Gewalt gegenüber seinen Dienstkameraden nur angewendet habe, weil es nicht anders ging: „Wir wollten niemanden belehren, wenn wir zuschlugen, wir haben einfach nach den Regeln gelebt, die bestehende Ordnung weitergeführt.“ Wenn er das Wort Dedowschtschina ausspricht, schwingt beinahe so etwas wie Stolz mit.

    Verschiedene Experten und Menschenrechtler erklären, der Begriff Dedowschtschina sei im Hinblick auf heutige Straftaten in der Armee – streng genommen – nicht mehr ganz korrekt: Es gehe nur noch selten um eine „Erziehung“ der neuen Rekruten; die traditionellen Kasten der Dedy, Tscherepy, Slony und Duchi können sich seit dem Übergang zum einjährigen Wehrdienst schlicht nicht schnell genug formieren. In vielen Fällen spielt es auch gar keine große Rolle, wie lange der Soldat, gegen den man Gewalt anwendet, schon im Dienst ist.

    Arseni Lewinson sagt, die Regelverstöße würden heutzutage andere Formen annehmen: Es würden mehr Straftaten durch höherrangige Militärdienstleistende begangen; Fälle von Erpressung nähmen zu. 

    Fälle von Erpressung nehmen zu

    Jewgeni erinnert sich, dass die Vorgesetzten, wenn die Soldaten sich weigerten, Geld für die Renovierung ihrer Datschen zu sammeln, ihnen die Urlaubsscheine verweigerten oder zusätzliche Dienstschichten aufbrummten, manchmal zertrümmerten sie auch ihre Handys.

    Für das Jahr 2016 konnte Meduza in den Medien und anderen offenen Quellen mehrere Dutzend bekannt gewordene Fälle von Erpressung im Wehrdienst finden: Unter Androhung von Gewalt oder Mord wurden von den Rekruten Geld, technische Geräte oder Lebensmittel verlangt. Laut Berichten von Menschenrechtlern beschränkt sich die Erpressung in der Regel auf Summen von 1000 bis 5000 Rubel [umgerechnet etwa 15 bis 70 Euro – dek] pro Woche. Zunächst wird der Rekrut auf seine Zahlungsfähigkeit hin „abgetastet“: Man verlangt Geld und droht ihm mit dem Tod. Wenn er einknickt und das Geld zahlt, wird mehr gefordert.

    Auch in Georgis Einheit wurde Geld erpresst: Jede Woche, erinnert sich der Ex-Soldat, haben rund 20 Leute jeweils 200 bis 300 Rubel [umgerechnet etwa 3 bis 6 Euro – dek] an Ainur und seine Jungs gezahlt. „Wenn wir nicht zahlen wollten, brachten sie uns in den Trockner und verprügelten uns“, erzählt Georgi. „Besonders die Eisenstange, die dort aus irgendeinem Grund immer stand, liebten sie: Damit schlugen sie uns in die Rippen und auf die Beine.“ Wenn jemand nicht zahlen konnte, wurde er gezwungen, Ainur und seinen Jungs die Schuhe zu putzen oder ihre Dienstschichten zu übernehmen.

    Georgi erinnert sich, dass die größte Summe, die er je auf einmal gezahlt hat, rund 5000 Rubel [etwa 70 Euro – dek] waren, im April 2015, kurz bevor er in eine andere Einheit versetzt und Ainur aus dem Wehrdienst entlassen wurde. Eine verbreitete Praxis, wie die Experten erklären: Vor dem Ende ihrer Wehrdienstzeit sammeln die „Aggressoren“ noch einmal Geld ein; viele verlassen die Armee mit einer ganzen Ausrüstung an teuren technischen Geräten.

    Viele Aggressoren verlassen die Armee mit einer modernen technischen Ausrüstung 

    „Wenn das Militär professionalisiert wird, verschwindet auch die Dedowschtschina“, sagt Veronika Martschenko von Prawo Materi.

    Ein Faktor, der das Verschwinden der Dedowschtschina verhindert, ist vor allem die erwähnte Abgeschlossenheit der Armee: Für die Rekruten ist es schwer, auf die Rechtsbrüche in ihrer Einheit aufmerksam zu machen. „Du kannst auf jeder Etappe Probleme bekommen. Selbst wenn es der Rekrut bis zur Sanitätsstelle schafft oder die Schlagspuren fotografiert – sein Fall wird vom Kommandeur derselben Einheit geprüft. Man könnte vermuten, dass der den Fakt des Verstoßes verheimlichen wollen wird“, sagt Lewinson. „Ein nicht unwesentlicher Teil der Jungs, die sich an uns wenden, sind welche, die eigenmächtig da rausgefunden haben.“

    Werbeagentur oder Hilfsgruppe für Opfer von Gewalt?

    Georgi erinnert sich, wie er einmal einem der Offiziere seiner sibirischen Einheit im Privatgespräch erzählt hat, dass sich Ainur aggressiv verhält und „transnationale Konflikte schürt“. Der Offizier versprach ihm, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, doch das Gespräch blieb ohne Folgen. Seinen Eltern hat Georgi auch nichts erzählt, nur zwei Freunden, die ebenfalls nicht wussten, was er tun könnte.

    Georgi sagt, von seinen Bekannten aus der Armee habe er gehört, dass die Situation in seiner ehemaligen Einheit besser geworden sei. „Sie haben plötzlich angefangen, normale Abendkontrollen durchzuführen, vor kurzem wurden ein paar Leute wegen Schlägereien ins Strafbataillon geschickt, und die Führung hat eine strenge Disziplin eingebracht. Vielleicht gab es tatsächlich einen Befehl von oben“, berichtet er.

    Er selbst konnte nach sechs Monaten endlich in eine andere Einheit wechseln, nachdem er die Führung „buchstäblich mit Gesuchen überschüttet“ hatte. Georgi wollte zum Psychologen gehen, aber als er dann „an einem normalen Ort war, ließ das nach“. Nach dem Wehrdienst schrieb er sich an der Nowosibirsker Uni ein, brach das Studium aber enttäuscht wieder ab. Jetzt arbeitet Georgi in einer Werbeagentur und denkt darüber nach, eine Hilfsgruppe für Opfer von Gewalt zu gründen. „Ich trage niemandem etwas nach. Ich glaube, es ist passiert, weil es passieren musste“, räsoniert der junge Mann. „Natürlich ist das schlimm, man muss das bekämpfen. Aber um der Dedowschtschina ein Ende zu setzen, muss man wohl selbst da durchgegangen sein.“

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  • Politik aus der Trickkiste

    Politik aus der Trickkiste

    „Irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, so beschreibt ein Polittechnologe sein Berufsbild auf Meduza. Russland ist das Geburtsland der Polittechnologie. Was wie eine Wissenschaft klingt, meint ein Arsenal von Manipulationstechniken, die den politischen Prozess maßgeblich beeinflussen können. Vor allem bei Wahlen kommen diese Instrumente zum Einsatz. 

    Der Begriff Polittechnologie ging während des russischen Präsidentschaftswahlkampfs 1996 in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Mit zweifelhaften Methoden versuchen Polittechnologen, den Wählerwillen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, um ihrem Kandidaten zum Sieg zu verhelfen. Sie berufen sich auf Machiavelli: Jedes Mittel zur Machterlangung und zu deren Erhalt ist ihnen recht. Am Geburtstag des politischen Philosophen feiern sie den Tag des Polittechnologen.

    Taissija Bekbulatowa hat sich in der Branche umgehört. 

    1999 fanden in der chakassischen Stadt Sajanogorsk Bürgermeisterwahlen statt. Der junge Unternehmer Oleg Deripaska versuchte, anstelle des ihm nicht freundlich gesonnenen Stadtoberhaupts „seinen“ Kandidaten unterzubringen. In der Zeit vor den Wahlen wurde Sajanogorsk in ein merkwürdiges Spiel hineingezogen – die Wähler wurden aufgefordert, an einer Verlosung teilzunehmen: Um zu gewinnen, musste man den Ausgang der Wahlen voraussagen. Im Fernsehen wurden dann täglich die Umfragewerte gezeigt. Die Bewohner der Stadt setzten auf den führenden Kandidaten – und stimmten schließlich auch für den, auf den sie gesetzt hatten. Deripaskas Kandidat siegte mit großem Abstand. Er hatte das Ranking angeführt, das ständig im Fernsehen lief und mit der Realität nichts zu tun hatte.

    Das war das „Smirnowsche Hütchenspiel“. Dessen Erfinder, der Polittechnologe Wjatscheslaw Smirnow, nennt es bescheiden eine „primitive Technik, die auf Gier setzt“: „Die Leute sahen sich  Clips an, die ich schon aufgenommen hatte, bevor sie ihre Stimmzettel ausfüllten, und sie sahen, dass unser Kandidat führt. Den Wahlkampfstab leitete Deripaska persönlich. Er saß mit Stift und einem Notizheft für fünf Kopeken da und schrieb irgendwas auf.“

    Mit Methoden wie dieser haben sie Bekanntheit erlangt, die Vertreter eines für Russland neuen Berufsstandes. Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als echte Wahlen eingeführt wurden, war der Beruf des Polittechnologen entstanden, und zwar in enger Nachbarschaft zum Geld: bei den Großunternehmen, die in den Regionen „ihre“ Gouverneure und Bürgermeister einsetzen wollten. Die Finanz- und Industriegruppen hatten in den Regionen ihre spezifischen Interessen. Und bei den für sie wichtigen Fragen hingen die Entscheidungen von den Stadt- und Regionalregierungen ab.

    „Der Beruf [des Polittechnologen] ist ein Grenzgänger, irgendwo zwischen Soziologe und Erpresser“, erklärt Smirnow. „Einerseits gibt es bestimmte Methoden, wissenschaftliche Gesetze. Andererseits musst du schon Geld zur Arbeit mitbringen, weil du ein halbes Jahr deines Lebens in irgendeiner Region herumhängen musst, um irgendeinem Bürgermeister oder Gouverneur zur Wahl zu verhelfen.“

    Bald war in diesem Bereich viel Geld im Spiel. Teilweise stürzten sich für die Platzierung eines Wunschkandidaten zwei, drei Firmen mit vergleichbaren Ressourcen ins Rennen. Diese Firmen stellten dann die ersten Technologenteams auf. Denn die Sponsoren zogen es vor, den Spitzenkandidaten nicht direkt Geld zu geben. Sie konnten ja nicht wissen, wofür es ausgegeben wird. Stattdessen schickte man firmeneigene Leute, die dann das Wahlkampfbudget verwalteten.

    NAMENSVETTER UND GEFÄLSCHTE ANZEIGEN

    Recht bald wurde mit „Polittechnologie“ der Begriff „schwarze PR“ assoziiert. Wahlen in Russland waren ein sehr spezifisches Phänomen und unterschieden sich deutlich von Wahlen in westlichen Ländern. Daher reichte es nicht, die Instrumente der europäischen und amerikanischen Kollegen zu übertragen – die Technologen in Russland mussten selbst kreativ werden: Bei den Wahlen tauchten plötzlich Namensvetter auf, gefälschte Anzeigen in Zeitungen, die die Opponenten diskreditieren sollten, und vieles mehr. Technologien, die sich in einer Region bewährt hatten, fanden sofort in anderen Regionen Anwendung. Viele von ihnen werden bis heute eingesetzt.

    Der ehemalige Präsidentschaftskandidat Andrej Bogdanow gilt als Erfinder vieler Wahltechniken. „Das [mit den Namensvettern] hat sich Bogdanow ausgedacht“, behauptet Smirnow. „Später dann, bei den Wahlen zur Moskauer Stadtduma, hat man ihm deswegen den Kopf eingeschlagen, einfach, weil er erklärt hatte, dass er einen Namensvetter gegen einen mit uns befreundeten Kandidaten aufstellen wird. Der hat daraufhin zwei Kerle mit Schlageisen bei ihm vorbeigeschickt.“ In den Medien wurde schließlich nur erwähnt, dass Bogdanow während des Wahlkampfes 1997 von Unbekannten angegriffen worden war.

    Bogdanow hat Smirnows Aussage bestätigt. Auch heute noch werden Polittechnologen bedroht. Einer von ihnen meint im Scherz „Ein Technologe im Feldeinsatz, der noch nie in einem Kofferraum irgendwo in den Wald gefahren wurde, ist kein Technologe.“

    Folge der „schwarzen“ Innovationen war, dass als Polittechnologien vor allem die bunten Tricks  wahrgenommen wurden – zum Beispiel der aus Krasnojarsk 1998: Um den Gouverneursposten kämpften damals Alexander Lebed und Waleri Subow. Zur Unterstützung des ersten trat Alain Delon auf, für den zweiten Alla Pugatschowa. Gewinnen sollte Lebed, doch wollten die Sponsoren der Kampagne auf keinen Fall, dass der General schon im ersten Durchgang siegt, weil sie befürchteten, dass er dann nicht mehr kompromissbereit wäre. Also finanzierten sie eine Kampagne für und eine gegen ihn.

    Zur Unterstützung des einen trat Alain Delon auf, für den anderen Alla Pugatschowa

    Höhepunkt der Kampagne war der Marsch der Penner. „Wir heuerten Obdachlose an, gaben ihnen Topfdeckel und Schöpflöffel, hängten ihnen Schilder um, mit Portraits von Lebed und Parolen wie Lebed ist unsere Wahl auf Leben und Tod“, erzählt Smirnow. „Alle Fernsehsender warteten darauf, das auf dem zentralen Platz der Stadt filmen zu können.“

    Gleichzeitig erschienen „Leute von Lebeds Wahlkampfstab“ in der Stadt, die die Höfe abklapperten und fragten, wieviel Schweine und Hühner es da gebe, angeblich für den Entwurf einer Sondersteuer auf landwirtschaftliche Selbstversorger­wirtschaft; auch davon wurden Berichte im Fernsehen gezeigt. Lebed siegte, wie geplant, erst im zweiten Durchgang.

    KREATIVE TECHNIKEN

    Kreative Techniken gefallen den Politikern gewöhnlich sehr, funktionieren aber nicht immer. „Nehmen wir mal an, ein Kandidat ist reich, und er will gegen den Konkurrenten gleich fünf Namensvettern ins Rennen schicken. Du erklärst ihm dann, dass das nicht besonders hilfreich sein wird. Der aber meint: ‚Der soll ruhig nervös werden, ich will ihm eine verpassen‘ “, erklärt Smirnow.

    Das Gleiche gilt auch für gröbere Methoden wie Wählerbestechung: „Unsere Wähler sind bereit, jemandem gegen Geld ihre Stimme zu geben. Sie sagen: ‚Komm und bau uns eine Haustür aus Metall ein, dann können wir miteinander reden.‘ In vielen Regionen ist das durchweg so. Die Rentner sagen: ‚Schaut, Pupkin hat mir einen Lebensmittelkorb gebracht, ich bin für ihn.‘ Allerdings sind unsere Rentner auch nicht blöd – nach einer gewissen Zeit holen sie sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht.“

    Unsere Rentner sind auch nicht blöd: Sie holen sich von allen Kandidaten die Geschenkkörbe ab, und zur Wahl gehen sie dann nicht

    Die Technologen, die schon in den 1990er Jahren tätig waren, haben jene Zeit als unerreichbare, goldene Ära in Erinnerung: Das Geld floss in Strömen, es gab viele Wahlen, und Auftraggeber auch. Die Ära endete abrupt.

    „Ungefähr seit der Verhaftung Chodorkowskis hörte die Wahlfinanzierung durch große Unternehmen auf. Es wurde ihnen einfach verboten“, erinnert sich Smirnow. „Jetzt ist es nicht mehr möglich, dass jemand ‚seine‘ Gouverneure installiert. Jetzt entscheidet die Regierung, wer ernannt wird.“

    Im Endeffekt wurde nicht nur von den Politikern verlangt, systemkonform zu werden, sondern auch von den Technologen, die für sie arbeiten. Für die besteht laut Branchenmitgliedern eine Erfolgsgarantie vielfach darin, gute Kontakte zur Machtpartei und zur Präsidialadministration zu unterhalten.

    Oppositionsparteien bringen nichts ein

    „Jetzt sehen die Spielregeln so aus: Sucht euch Aufträge bei Einiges Russland. Die anderen Parteien dienen nur als Deko. Das sind nur Krümelreste. Die haben ihre Haustechnologen“, sagt Bogdanow. „Der größte Arbeitgeber, das ist die Staatsmacht. Über 90 Prozent der normalen, guten Aufträge kommen von dort“, bestätigt der Polittechnologe Wladimir Perewostschikow.

    Mit der Systemopposition arbeiten die Technologen nur wenig zusammen und reißen sich auch nicht darum – es bringt wenig Geld, und die Chancen auf einen Sieg sind klein. „Die LDPR hat überhaupt keine Technologen nötig“, merkt Jewgeni Malkin an, einer der erfahrensten Polittechnologen im Land. „Shirinowski ist selbst Technologe genug.“

    „Das größte Problem der [System-]Opposition ist, dass sie nicht so richtig gewinnen will. Größeren Anspruch zu erheben, ist gefährlich, sie wollen ihre Opponenten nicht allzu sehr angehen. Sie sind mit allem zufrieden, so wie es ist“, fährt Malkin fort. „Wir können aber keine halbherzige Kampagne entwerfen.“ Das Elend der demokratischen Parteien sieht Malkin in deren „ineffektiver und kaum fokussierter Botschaft“: „Würden sie mit der Parole Putin muss weg! antreten, kämen sie auf sechs Prozent.“

    Würde die Opposition mit der Parole Putin muss weg! antreten, käme sie auf 6 Prozent

    „Unsere Gesellschaft ist in Wirklichkeit ziemlich auf Protest aus. Sie sieht alles, was vor sich geht, durchschaut es, duldet es einfach“, ergänzt Perewostschikow. „Fast in jeder Gegend Russlands ließe sich innerhalb weniger Monate ein Protest lostreten.“

    Der Polittechnologe Abbas Galljamow erinnert sich, dass sie bei einer der Kampagnen vor der Hälfte der Wohnungstüren „schon nach dem Satz ‚Guten Tag, wir sind von Einiges Russland‘ sofort eine Abfuhr erlebt haben“.

    Für eine erfolgreiche Protestkampagne der Opposition reichen die Ressourcen aber nur selten – die Anzahl der Leute, die sowohl das Geld haben, um die Administrativen Ressourcen zu übertrumpfen als auch Kampfeswillen, liegt dem Politberater Valentin Bianki zufolge bei „ungefähr null.“ Gewöhnlich sieht die Auseinandersetzung der Regierung mit der Opposition aus wie „ein Panzer, der einen Frosch niederwalzt“, wie es Perewostschikow ausdrückt.

    DIE ARBEIT IM FELD

    Ein Teil der Polittechnologen ist mit der ständigen Begleitung der Kandidaten in einer Region befasst. Früher konnte es passieren, dass ein ganzes Team von bis zu 120 Personen angeflogen kam, das dann auch den Wahlkampfstab bildete. Doch diese Zeiten sind vorbei, jetzt erlauben es die Wahlkampfbudgets nur selten, derart große Teams von extern anzuheuern. „In jeder Region haben sich eigene Medienleute, feste Wahlkampfhelfer bei den Parteien und eigene Technologen etabliert“, erklärt der Politikberater Dimitri Gussew. Es hat sich ein Format entwickelt, bei dem zwei, drei erfahrene Polittechnologen zum Einsatzort fliegen und dann Technologen vor Ort einweisen.

    Unter den Polittechnologen gibt es die gesonderte Gruppe der Politikberater, die in der Regel die Kampagnen vor Ort nicht selbst führen.  Zu ihnen gehören die bekanntesten Markt-Akteure. „Wenn man sich die Top-20 [der Polittechnologen in Russland] anschaut, ist dort außer Parfjonow niemand Polittechnologe im Sinne des Handwerkes; der also in der Lage wäre, alles von der Pike auf selbst zu machen, der hinfährt, eine klare Strategie entwirft, ein Konzept, der die Mobilisierung organisiert, der selbst Fokusgruppen durchführen kann und auch Meinungs­umfragen“, meint ein Gesprächspartner von Einiges Russland. „Alle diese Leute delegieren bis zu einem gewissen Maße die Aufträge nur weiter. Sie fahren rum, holen Aufträge ein, indem sie ihr Gesicht zeigen. Dann kommen sie zu irgendeiner Sitzung in der Präsidialadministration und erzählen: ‚Ich komme gerade aus der Region X, der Dreck an meinen Stiefeln ist noch nicht trocken.‘ Und zur gleichen Zeit befindet sich das Team in der Region – und am Steuer sitzt ein ganz anderer.“

    Es gibt die Bürosklaven und den Chefredakteur, der die Sache verkauft

    „Politikberatung ist, wenn zum Gouverneur ein kluger Herr in feinem Anzug kommt, der in der Regel die Sitzungen bei SurkowWolodinKirijenko besucht und zu den Top-Polittechnologen Russlands gehört“, erzählt Wjatscheslaw Smirnow. „Er schreibt dann ein Konzept, auf welche Weise die Wahl zu gewinnen ist, mit welcher Ideologie und so weiter. Genauer gesagt: Die Bürosklaven schreiben alles auf, und er ist der Chefredakteur, der die Sache verkauft. Der Preis liegt zwischen 50.000 und 150.000 Dollar pro Konzept.“

    Bogdanow und Smirnow haben ihre eigene Nische: Sie „halten sich Parteien“, die von Interessenten gegen eine bestimmte Summe für ihre Zwecke gepachtet werden können. (Aufgrund der „Liberalisierung“ der Parteiengesetze nach den Protesten von 2011/2012 ist es Bogdanow gelungen, mehrere Parteien mit unterschiedlichen Namen beim Justizministerium registrieren zu lassen.) „Wenn Sie mal Vorsitzender einer Partei waren, und sei es nur für drei Monate, für die Zeit der Wahlen, dann kommen Sie in Ihrer Stadt mächtig voran“, erklärt Smirnow.

    Bogdanow fügt hinzu, dass man nicht nur mit Parteien Geld verdienen könne, sondern auch mit gesellschaftlichen Organisationen (von denen er auch einige im Angebot hat). In der Vorwahlzeit zum Beispiel würden sich sehr gut Beschäftigungs­nachweise in NGOs verkaufen, die man in den Wahlunterlagen angeben kann.

    Bogdanow fasst es so zusammen: „Auf dem Markt gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt.“

    DER MARKT WANDELT SICH

    Auf dem schrumpfenden Markt der Wahlen in Russland versuchen die Akteure mittlerweile, andere Verdienstmöglichkeiten zu finden. Ihre eigentlichen Fertigkeiten bringen Polittechnologen aus Russland oft in den Ländern der GUS an den Mann, wo es bis heute riesige Budgets gibt (besonders gute Honorare werden, so ein Gesprächspartner von Meduza, in den nicht anerkannten Republiken gezahlt, etwa in Südossetien). Einige machen ihre Erfahrung zu Geld, indem sie Schulungen anbieten und Vorträge halten.

    „Mein Eindruck ist, dass der Markt nicht kleiner wird, sondern sich wandelt“, meint Alexej Kurtow, Gründer der Agentur InterMediaKom. „Politikberatung betrifft nicht nur Wahlen, sie ist ein ständiger Prozess.“

    Es gewinnt derjenige, der über die nötigen Instrumente verfügt

    Die Präsidialadministration wurde in der Ära Putin zum wichtigsten politischen Entscheidungszentrum des Landes – also auch zum Anziehungspunkt für Polittechnologen. Jeder Leiter erneuert in den ersten sechs bis zwölf Monaten nach seiner Ernennung das System.

    Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, für die Staatsmacht erfolgreich Wahlen zu bestreiten: Die Präsidialadministration und das zentrale Exekutivkomitee von Einiges Russland widmen sich den Wahlen auf föderaler Ebene, ist von einer Quelle in der Partei zu erfahren.

    Andrej Koljadin, früher Leiter der Abteilung Regionalpolitik des Referats für Innenpolitik in der Präsidialadministration, berichtet, dass er sich unter Surkow auch mit dem FSB auseinandersetzen musste. Denn der war seinerzeit entschlossen, anderthalb Monate vor den Wahlen das Oberhaupt einer Region zu verhaften. „Ich habe mit denen vom FSB total gestritten, weil die Festnahme eines Gouverneurs vor den Wahlen eindeutig die Wahlergebnisse verdirbt. Er wurde verhaftet, aber erst nach den Wahlen.“

    Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht

    Unter Wjatscheslaw Wolodin, der Surkow im Dezember 2011 [in der Präsidialadministration – dek] abgelöst  hatte, änderte sich das System ein wenig. „Es gab weniger Einmischung in die regionalen Wahlkämpfe, so nach dem Motto: Ihr sollt ruhig eure eigene lokale Agenda haben“, berichtet ein Gesprächspartner von Meduza, der Einiges Russland nahesteht. Ihm zufolge nahm das neue Team [im Kreml] die regionalen Wahlen nicht mehr als Gefahr wahr, nachdem die Proteste von 2011/2012 abgeklungen waren. Und nach der Angliederung der Krim haben sie sich auch hinsichtlich der föderalen Wahlen beruhigt.

    „Der einzige große Fehler war die Bürgermeisterwahl [2013] in Moskau“, so der Informant. „Warum haben sie damals Nawalny zugelassen? Sie wollten ihn wunderschön ausspielen! Sie haben tatsächlich geglaubt, dass die Umfragewerte für Nawalny bei drei bis fünf Prozent liegen, und sie haben sich zutiefst getäuscht“ (Nawalny hatte später mit 27 Prozent der Stimmen den zweiten Platz errungen – Anm. Meduza).

    Jetzt, da in der Präsidialadministration Sergej Kirijenko für die Innenpolitik verantwortlich ist, ändere sich das Gefüge allmählich, berichten Marktakteure. Insgesamt arbeite Kirijenko sehr viel weniger intensiv mit Experten als seine Vorgänger. Er verschickt keine Themen-Memos, hat es nicht eilig, Geld zu verteilen, und vielen ist daher nicht klar, was weiter zu tun ist.

    „Wo will man als Politologe unterkommen? Der wichtigste Auftraggeber für diese Sparte sind in Russland die Regierungsstrukturen. Es gibt zwar noch die großen Unternehmen, aber auch da ist es besser, systemkonform zu sein. Und die Opposition ist keine ernstzunehmende Geldquelle“, erläutert Nikolaj Mironow.

    Ökonomie der Politik

    „Die teuerste Kampagne, die gibt es nicht“, meint Jewgeni Malkin. Marktakteure räumen allerdings ein, dass die für Polittechnologen vorgesehenen Budgetposten geschrumpft sind, sodass Kampagnen wie die Gouverneurswahlen 2002 in der Region Krasnojarsk, als der Wahlkampf von Alexander Chloponin noch um die 30 Millionen Dollar kostete, sind heute  kaum noch möglich. „Ich kenne Menschen, die sich einander gegenüber gesetzt und geübt haben, folgenden Satz ruhig auszu­sprechen: ‚Das kostet eine Million Dollar‘“, erzählt einer der Gesprächs­partner von Meduza. „Aber die Zeiten sind jetzt natürlich andere.“

    Ein großer Teil der Wahlkampfgelder fließt „inoffiziell“. Nach Einschätzung von Valentin Bianki bekommen rund zehn Prozent der Technologen eine offizielle Entlohnung. Ein Gesprächspartner von Einiges Russland sagte Meduza, die Zunft sei nicht sonderlich an einer Legalisierung ihrer Budgets interessiert. „Mindestens jeder zweite Technologe fährt nicht wegen der Honorare zu einem Wahlkampf, sondern um vor Ort Kohle abzuzwacken“, meint der Informant.

    „Man braucht sehr viel Cash“, meint einer der Marktakteure. „Nehmen wir an, du schickst Kiezagitatoren los, um den Wahlkampf der Opposition zu sabotieren, wie bezahlst du die, aus dem Budget? Man muss den Journalisten was zahlen, den Wahlkommissionen, den Wahlbeobachtern. Man muss irgendjemandes Wahlkampf stören, Provokateure zu fremden Veranstaltungen schicken … Schließlich kann man wohl schlecht in einen Vertrag reinschreiben: ‚Provokationen – 5 Stück à 1 Stunde‘. Man muss Bots oder echte Menschen ranholen, die die Kommentare zumüllen. Und dann muss man manchmal jemanden mit Füßen treten. Was in den Regionen oft vorkommt.“

    Wettbewerb der politischen Instrumente

    Weithin bekannt ist beispielsweise der Fall Nikolaj Sandakow. Der ehemalige Vizegouverneur des Gebietes Tscheljabinsk, der seit April 2016 in Haft ist, wird beschuldigt, Bestechungsgelder angenommen zu haben. Auch Nikita Belych, seinerzeit Gouverneur des Gebietes Kirow, der im Juli 2016 bei der Entgegennahme von 400.000 Euro in bar festgenommen wurde, soll nach Angaben der Agentur Reuters von örtlichen Unternehmern Geld „für die Wahlen“ eingesammelt haben.

    „Die verschiedenen politischen Player wollen den Markt umschichten“, meint Jewgeni Mintschenko. „Die einen sagen: Warten Sie mal, wozu brauchen wir einen Wahlkampfmarkt, wenn man alles administrativ regeln kann? Andere wiederum sagen: Wozu alles administrativ entscheiden, wenn wir alles mit Hilfe eines Strafverfahrens oder einer Durchsuchung regeln können? Das ist der Wettbewerb der politischen Instrumente …“

    Andrej Koljadin fasst zusammen: „Ein Polittechnologe, das ist unter anderem auch jemand, der weiß, wie man einen Wahlkampf führt, ohne dass jemand ins Gefängnis wandert.“

    Der Beruf des Polittechnologen weist heute in Russland eine eindeutige Spezifik auf: Da die Wahlen meist von oben kontrolliert werden, ist der Sinn von Wahlkämpfen nicht immer klar. Die Wahlkampfstäbe von Einiges Russland in den Regionen arbeiten stets im Verbund mit der Regierung vor Ort, in deren Händen sich in der Regel die wichtigsten Ressourcen befinden, unter anderem die Medien.

    Es gibt auch direktere Methoden, um auf den Ausgang von Wahlen Einfluss zu nehmen. „Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt“, erklärt Smirnow. „Der Traum eines jeden reichen Kandidaten ist es, dass er zum Vorsitzenden der Wahlkommission geht, diesem Geld zahlt – und dass dieser ihm ein Protokoll gibt, das den Sieg feststellt. Möglichst schon vor den Wahlen.“

    Je mehr Einmischung bei den Wahlkommissionen, desto weniger Polittechnologien werden benötigt

    Andrej Bogdanow zufolge „werden Technologen jetzt in Wirklichkeit nicht mehr gebraucht“, weil Wahlkämpfe oft einfach nur Blendwerk seien, das verdecken soll, dass alles schon durch Abmachungen und Scheinkandidaten entschieden ist.

    „Alle unerwünschten Kandidaten werden vor den Wahlen aus dem Rennen genommen. Der Polittechnologe ist jetzt eher ein Unterhändler, ein Bindeglied zwischen Präsidialadministration und den lokalen Eliten“, erklärt Bogdanow.

    Die Technologen sind überzeugt, dass ihr Beruf gefragter sein wird, sobald es mehr echte Urnengänge und Referenden gibt.

    „Man sagt: Diese Politberater, das sind Leute, die der Gesellschaft schaden … Wir gehören aber zu denen, die der Demokratie weltweit am meisten nützen!“, erklärte Jewgeni Malkin jüngst bei einem Briefing zum Tag des Politikberaters. „Wir sind auf dem Feld des realen elektoralen Wettbewerbs präsent, wir erklären den Politikern, was die Leute wirklich von ihnen wollen, wir helfen Koalitionen zu schmieden und Übereinkommen zu erreichen, um die Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen der Elite zu minimieren. Solch hervorragende Leute wie uns sollte man nicht beschimpfen, sondern sie auf Händen tragen und jeden Tag ‚Danke‘ sagen.“

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