Die Schattenwirtschaft ist in Russland seit Jahren rückläufig. In den 1990er Jahren betrug ihr Anteil am gesamten Bruttoinlandsprodukt noch etwa bis zu 50 Prozent. 2018 lag er laut Finanzaufsichtsbehörde Rosfinmonitoring bei rund 20 Prozent. Obwohl der Schattensektor für eine Volkswirtschaft zumeist schädlich ist, wird er in Russland vielerorts geduldet – auch, weil viele Mitarbeiter staatlicher Stellen daran verdienen, dass sie die illegalen Unternehmer gewähren lassen. Diese zahlen dann zwar keine Steuern, dafür aber eine Abgabe an die Kryscha. Kryscha bedeutet wörtlich übersetzt Dach. Im kriminellen Jargon ist damit eine Organisation oder eine Person gemeint, die einem Händler oder einem Unternehmen gegen Geldzahlungen „Schutz“ gewährt. Als eine solche Kryscha gilt Alexander Konowalow. Gegen eine Abogebühr verspricht er, „Probleme zu lösen“: Probleme, die Sankt Petersburger Straßenhändler mit den Kontrollbehörden haben, einschließlich der Polizei.
Im Interview mit Meduza spricht Konowalow über seine Tätigkeit, wie er dazu kam und warum er der Meinung ist, dass Putin alles in Ordnung gebracht hat.
Im September 2016 wurde in der Wirtschaftszeitung Delowoi Peterburg ein Investigativtext mit dem Titel Ein-Mann-Betrieb von der Größe einer Stadt veröffentlicht. Thema war der illegale Straßenhandel in Sankt Petersburg, dessen Marktvolumen auf etwa 40 Milliarden Rubel [circa 550 Millionen Euro – dek] geschätzt wird. Quellen des Artikels zufolge wird dieser Markt seit den frühen 2000er Jahren von ehemaligen Mitarbeitern des Innenministeriums kontrolliert.
Ein zentraler Akteur sei der Petersburger Alexander Konowalow, der auch ein Mitarbeiter des Innenministeriums war. Viele Unternehmer, die in Petersburg Straßenhandel betreiben, sind bei ihrer Arbeit auf ihn angewiesen: Gegen eine Abogebühr (ab 1000 Rubel pro Tag [etwa 15 Euro – dek]) verspricht Konowalow, „Probleme zu lösen“, Probleme mit den Kontrollbehörden, einschließlich der Polizei.
Aufgewachsen ist Alexander Konowalow in einer Militärfamilie in der Region Murmansk, in der geschlossenen Stadt Gadshijewo, wo sich die Marinebasis der Nordflotte befindet. Die Familie lebte sehr bescheiden. „Das Gehalt wurde [dem Vater in den 1990er Jahren] manchmal ein halbes Jahr lang nicht ausgezahlt, Fleisch habe ich erst mit 17 zum ersten Mal probiert“, erzählt Konowalow Meduza. Auf dem Höhepunkt der Krise von 1998 zog die Familie nach Sankt Petersburg: „In der Stadt gab es damals weder Essen noch Kleidung.“ Alexander begann ein Studium an der Universität des Innenministeriums in Sankt Petersburg. Nach seinem Abschluss ging er zur Polizei.
Mit 17 Jahren habe ich zum ersten Mal Fleisch probiert
Alexej Loschtschilow: Was war Ihre Motivation, für die Behörden zu arbeiten?
Alexander Konowalow: Es klingt vielleicht verrückt, aber stellen Sie sich einmal vor: Sie sind 21 und verkörpern faktisch die Staatsmacht, Sie sind bewaffnet und repräsentieren den Staat. Als Fahndungsbulle fühlst du dich endlich sicher. Das war damals wichtig, heute ist das schwer zu verstehen, weil man auf der Straße nicht mehr zusammengeschlagen wird.
Warum haben Sie nur knapp ein Jahr für die Polizei gearbeitet?
2002 war auch die Polizei noch ganz anders als heute, als Fahndungsbulle hast du dich immer am Rand der Legalität bewegt. Natürlich sagen viele, man solle sich stets an die Gesetze halten, aber im Leben läuft es anders.
Ich habe selbst gekündigt, weil ich gegen die Arbeitsnormen verstoßen habe. Das war eine ganz lustige Geschichte.
Wir hatten einen Mann verhaftet, früher war der schon mal wegen Vergewaltigung verurteilt worden, und nun wurde er wegen einer langen Verbrechensserie gesucht. Er hatte auf der Straße jungen Frauen Mobiltelefone [die sie an einer Kordel trugen] vom Hals und Schmuck von den Ohren gerissen. Wir verhafteten ihn, aber dann war der Kommissar abgelenkt, ich suchte irgendwo anders nach Unterlagen, und der Mann sprang aus dem ersten Stock und lief weg. Später rief er an und sagte, dass wir ihn nicht mehr kriegen würden. Ich stand als Schuldiger da und bekam Schwierigkeiten deswegen. Wir haben ewig nach ihm gesucht. Wie sich herausstellte, war er auch noch pädophil, ein 13-jähriger Geliebter hat ihn ausgeliefert. Er wurde gefunden und verhaftet. Ich kam von der Datscha angerauscht und ging mit einem Gummiknüppel zu ihm in die Zelle.
Ich kam von der Datscha angerauscht und ging mit einem Gummiknüppel zu ihm in die Zelle
Er hat ordentlich eins drüber bekommen, und das hatte sogar einen positiven Effekt. Ein paar Jahre später, als ich schon nicht mehr als Bulle arbeitete, kam ich einmal aus geschäftlichen Gründen aufs Revier, und da saß wieder dieser Typ. Als er mich erblickte, schrieb er sofort ein Geständnis.
Hat Ihnen die Arbeit gefallen?
Es ist eine wunderbare Arbeit. Wenn es meine Frau nicht gegeben hätte – ich habe sie mit 18 geheiratet – wäre ich vielleicht geblieben. Sie machte mir die Hölle heiß, weil ich rund um die Uhr arbeitete. Die Arbeit bei der Polizei war früher eine hochkreative Tätigkeit, wie es jetzt ist, weiß ich nicht.
Die Arbeit bei der Polizei war früher eine hochkreative Tätigkeit
Seine ersten Schritte als Unternehmer machte Alexander Konowalow bereits Ende der 1990er Jahre, nach dem Umzug nach Sankt Petersburg und während des Studiums an der Universität des Innenministeriums, das er 2002 abschloss. Er sagt, er habe eigentlich nie beabsichtigt, Unternehmer zu werden, die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau aber habe alles verändert. Konowalow war 18, und „ich musste irgendwie was verdienen, um sie wenigstens ins Kino einladen zu können“. „Das Stipendium betrug damals 40 Dollar, bei der Polizei waren es etwa 80 Dollar“, erinnert er sich.
Sein erstes größeres Geld verdiente Konowalow bei Kommunalwahlen in Sankt Petersburg, unter anderem im Wahlkampf für den Einzug ins Stadtparlament. Er heuerte in den Teams von gleich einem Dutzend Kandidaten an und erhielt überall Geld dafür, dass er Werbematerial der Konkurrenten vernichtete.
Er bekam Geld dafür, dass er Werbematerial der Konkurrenten vernichtete
Der nächste Schritt war Handel mit Mobiltelefonen, die in den späten 1990er Jahren sogar in Petersburg noch Seltenheitswert hatten. Das Geschäft war lukrativ, kam aber bald zum Erliegen. „Spekulanten wurden unter Druck gesetzt, die Nachfrage begann zu sinken. Es war wichtig, einen Laden zu eröffnen“, erzählt Konowalow. Bei Abschluss des Studiums betrieb er bereits eine Kette von elf Läden und verdiente im Monat das Zehnfache eines durchschnittlichen Polizisten.
„Handel ist schwierig, wenn keine Nachfrage besteht, aber damals war sie sehr groß. Zugegeben, alle elf Läden hatten mit Schwierigkeiten zu kämpfen, so tauchten etwa drei Tage nach der Eröffnung des ersten [Ladens] Beamte der Abteilung zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität bei mir auf und beschlagnahmten sämtliche Handys wegen Schmuggels. Damals waren ja alle Mobiltelefone geschmuggelt“, erinnert er sich.
Damals waren ja alle Mobiltelefone geschmuggelt
2003 haben Sie eine Stelle in einem Supermarkt angetreten. Warum?
Nachdem ich bei der Polizei gekündigt hatte, eskalierten die Schwierigkeiten mit Banditen und Ähnlichem, ich konnte mein Business [den Verkauf von Telefonen] nicht mehr schützen. Davor hatte sich für alle Probleme eine Lösung gefunden, denn wie hätte man einem Mitarbeiter der Polizei was abpressen können. Nach der Kündigung wurden meine Verkaufsstellen angezündet und ausgeraubt. Kurz, nach den fetten folgten magere Jahre. Ich wurde stellvertretender Filialleiter im Supermarkt Pjatorotschka, arbeitete in vier oder fünf Filialen, wurde aber zweimal gefeuert.
Warum?
Beim ersten Mal hatte ich einen Ladendieb gestellt, aus Gewohnheit. Er fing an, die Mitarbeiter zu beleidigen und leistete Widerstand, und so goss ich ihm Wasser über den Kopf und sperrte ihn im Kühllager ein. Ich hatte einen hektischen Tag und vergaß ihn. Er wurde von Lieferanten gefunden, eine halbe Stunde später, und er wäre tot gewesen. Ich bekam einen Riesenschreck. Und wurde mit Schimpf und Schande gefeuert.
Aber ich hatte gern in diesem Team gearbeitet und setzte alle Hebel in Bewegung, um zurückkehren zu können. Was auch gelang, aber dann haben sie mich erneut gefeuert. Schicksal. Seither habe ich nie mehr als Angestellter gearbeitet.
Der Dieb leistete Widerstand, ich goss ihm Wasser über den Kopf und sperrte ihn im Kühllager ein
Die Zahl unternehmerischer Projekte in Kooperation mit Geschäftspartnern wuchs. Neben den elf Handyläden baute der ehemalige Polizist auch die größte Schönheitssalonkette Petersburgs auf, Lady (heute umfasst sie 53 Läden). Er eröffnete mit Partnern Bars und Restaurants, Saunen und Pyschetschnyje-Cafés. Viele Projekte liefen nur ein paar Jahre.
2016 schätzte Delowoi Peterburg den Jahresumsatz der mit Konowalow verbundenen Unternehmen auf 3 bis 4 Milliarden Rubel [40-80 Millionen Euro – dek]. 2016/17 führte die Zeitung Konowalow im Rating der Petersburger Milliardäre auf, mit einem vermuteten Vermögen von 1,23 bis 1,33 Milliarden Rubel [rund 17 Millionen Euro – dek].
Ich musste Geschäfte eröffnen – nicht um Oligarch zu werden, sondern um mich über Wasser zu halten
Haben Sie alle Projekte selbst finanziert?
Die meisten zusammen mit Geschäftspartnern. Es war einfach unabdingbar, Geschäfte zu eröffnen – nicht weil ich Oligarch werden wollte oder so, sondern um mich über Wasser zu halten. Ich muss ja die Schulden zurückzahlen, die ich gemacht hatte, um einen neuen Salon oder eine Pyschetschnaja zu eröffnen. 2008, in der Krise, hatte ich zwei Millionen Dollar Schulden, mal abgesehen von den Krediten bei den Banken. Ich bin immer noch dabei, diese Schulden abzuzahlen. Allein an Zinsen kommen jeden Monat 700.000 Rubel [rund 10.000 Euro – dek] zusammen.
Sind Sie reich? Sie waren ein paar Mal in der Rangliste der Milliardäre aufgeführt.
Das ist Quatsch. Aber ich bin dem Journalisten, der das geschrieben hat, bis heute dankbar – es war hilfreich für die Kommunikation mit jungen Damen und potenziellen Geschäftspartnern. Ich führe ein normales Leben, habe eine Frau, drei Kinder – monatlich geben wir 200.000 bis 300.000 Rubel [rund 4000 Euro – dek] für den Lebensunterhalt aus.
Sie haben also keine Milliarde?
Offiziell läuft fast nichts auf meinen Namen. Konkret ist es schwierig, den Wert [der Aktiva] einzuschätzen – jede Einschätzung ist subjektiv. Der Jahresumsatz bewegt sich ungefähr in diesem Bereich. Aber ich habe keine freien Mittel. Alles fließt ins Geschäft.
Die Behörden wollten mir mal eins überziehen
Konowalow sagt, er habe ursprünglich versucht, sich beim Aufbau seiner Unternehmen an die Gesetze zu halten. Aber es sei ihm nicht gelungen – seinen Angaben zufolge wurde er bis 2019 in fünf Fällen verurteilt (Meduza fand bestätigende Informationen über drei Fälle). Die erste Strafe erhielt er 2009, nach Artikel 238 des russischen Strafgesetzbuches (Nichteinhaltung von Sicherheitsvorschriften beim Erbringen von Dienstleistungen). In einer der Kneipen von Konowalow hatte man Verstöße gegen die Hygienevorschriften gefunden. Zuerst wurde ein Protokoll über einen administrativen Rechtsverstoß aufgenommen, als sich die Sache wiederholte, wurde ein Strafverfahren angestrengt. Konowalow ist überzeugt, dass es nur deswegen so weit kam, weil „die Behörden mir mal eins überziehen wollten“.
„Das Ganze endete mit einer Strafe, aber ich konnte es kaum fassen, dass man wegen einer solchen Lappalie verurteilt werden kann. Ich wurde dafür verurteilt, dass wir statt der sechs [gesetzlich vorgeschriebenen] Waschbecken nur zwei hatten. Das ist völlig absurd, *** [furchtbar]“, sagt er.
Damit waren die Probleme nicht behoben, die Kontrollbehörden fanden weiterhin Verstöße. Nach Konowalows Bekunden ist das der Grund, warum er zu einem „Verfechter der inoffiziellen Arbeit“ wurde – das heißt er beschloss, sich den Vorschriften nicht mehr unterzuordnen.
In den folgenden zehn Jahren wurde der Petersburger dann weitere vier Male verurteilt.
Konowalow wurde zu einem „Verfechter der inoffiziellen Arbeit“ – Vorschriften galten für ihn nicht mehr
In den Medien war zu lesen, dass Sie Unternehmern dabei helfen, „Probleme“ mit der Polizei zu „lösen“. Warum ist Ihnen das bei Ihren eigenen Strafverfahren nicht gelungen?
Meine Rede. Die Medien stellen mich als einflussreichen Korruptionär dar, aber wenn ich das wirklich wäre, hätte ich meine eigenen Probleme doch lösen können, oder? Zumindest hätte ich die Strafverfahren abwenden können.
Jede Sekunde besteht die Gefahr, ins Straflager zu wandern. Man kann mir jederzeit wieder einen „Knüppel“ zwischen die Beine werfen – manche der Vorschriften für Unternehmen sind einfach absurd. Sie können gar nicht erfüllt werden. Wenn man die Leute einfach mal arbeiten lassen würde! All die Regelungen für jedes kleinste Detail werden den Leuten in fünf Jahren verrückt vorkommen, wie heute die Stalinzeit, als Leute wegen eines Witzes erschossen wurden.
Jede Sekunde besteht die Gefahr, dass ich ins Straflager wandere
Die Medien bezeichnen Alexander Konowalow als „Kurator des illegalen Handels in Sankt Petersburg“ und als „zentralen Player“ dieses Marktes. Mit dem Straßenhandel begann Konowalow vor etwa zehn Jahren. Zusammen mit Geschäftspartnern platzierte er Minivans an Kreuzungen, die Coffee to go verkauften. Das Format erwies sich als erfolgreich, 2016 standen im Zentrum Petersburgs 20 solcher Autos. Diese rollenden Kaffeebars entsprachen in keiner Weise den Vorschriften der Behörden. Auf die direkte Frage, ob er Schmiergelder bezahlt habe, um auf der Straße arbeiten zu können, antwortet Konowalow ausweichend: „Bestechung ist ein heikles Thema. Wenn man darüber redet, kann man leicht etwas Falsches sagen. Der eine zahlt was, ein anderer nicht.“ Darüber hinaus eröffnete Konowalow nicht genehmigte Verkaufsstellen für Zuckerwatte, kandierte Äpfel, Fische und andere Lebensmittel. Bekannt ist er aber nicht vorrangig dafür.
Laut RBC und Delowoi Peterburg kontrolliert Konowalow schon seit mehreren Jahren einen bedeutenden Teil der Straßenhändler Sankt Petersburgs. Demnach müssten sie ihm mindestens 1000 Rubel pro Tag bezahlen, um arbeiten zu können – andernfalls würden sie von den verschiedenen Ämtern intensiv kontrolliert und müssten ihre Arbeit aufgeben. Nach Angaben der Journalisten ziehen die Polizei und andere Behörden es oft vor, mit Konowalow verbandelte Verkaufsstellen zu übersehen.
Allerdings werden auch diese Verkaufsstellen mit Strafen belegt, gemäß der Datenbank des Gerichtsvollzugsdienstes wurden gegen Konowalow allein in Sankt Petersburg mehrere hundert Verstöße zu Protokoll genommen. Die Zusammenarbeit mit den Händlern funktioniert folgendermaßen: Sie arbeiten über Konowalows Einzelunternehmen, und dementsprechend landen sämtliche Strafen und sonstige Forderungen bei ihm. Unternehmer, die mit ihm zusammengearbeitet haben, erzählen, dass er einen Teil der Probleme ohne Bußgelder „lösen“ kann – dank seiner Beziehungen.
Legal arbeitende Straßenhändler, die über eine Arbeitserlaubnis verfügen, bestätigen, dass Konowalows Aktivitäten faktisch den fairen Wettbewerb zerstören und ungünstige Bedingungen für legale Unternehmen schaffen. Schätzungen der Gesprächspartner von RBC zufolge zahlen illegale Verkaufsstellen in Sankt Petersburg jährlich insgesamt mindestens 6,6 Milliarden Rubel [knapp 100 Millionen Euro – dek] an Alexander Konowalow und ähnliche Vermittler.
Das ist keine Korruption, sondern eine Partnerschaft
Wann haben Sie damit angefangen, für andere illegale Straßenhändler Probleme zu lösen?
Streng genommen ist es nicht so, dass ich für andere „Probleme löse“. Das wird oft fälschlicherweise behauptet. Wir sind Partner und für unterschiedliche Bereiche der Arbeit zuständig. Ich kümmere mich um Organisatorisches und Technisches, der Geschäftspartner um den Einkauf und den Verkauf. Man kann auch ohne mich arbeiten.
In den Medien hieß es aber, dass das nicht funktioniert, weil man wegen der Kontrollen durch die Polizei und andere Behörden sofort schließen müsse. Würden sich die Leute hingegen an Sie wenden, können sie ungestört weitermachen.
Es ist so: Man kann allein arbeiten, aber dann kriegt man wegen der Kontrollen Probleme. Wenn sich jemand an mich wendet, läuft die Arbeit über mein Einzelunternehmen, und ich übernehme alle Strafen und so weiter. Das ist keine Korruption, sondern eine Partnerschaft.
Warum können die Leute dasselbe nicht einfach ohne Sie tun?
Wahrscheinlich wollen sie weiterarbeiten, aber keine fünf Strafverfahren und ein Ausreiseverbot am Hals haben wie ich.
Für Ihre Dienste nehmen Sie ab 1000 Rubel [etwa 15 Euro – dek] am Tag. Stimmt diese Zahl?
Ja, aber der größte Teil davon geht für Strafen und so weiter drauf.
Wie viele Straßenhändler arbeiten auf diese Weise mit Ihnen zusammen?
Im Moment sind es etwa 30. Zu Spitzenzeiten waren es 200. Jetzt sind es weniger, weil die Ware oft [von Kontrolleuren] beschlagnahmt wird.
Warum bezeichnen die Medien Sie als zentralen Player im Straßenhandel Petersburgs? Analysten zufolge gibt es in der Stadt einige tausend illegale Straßenhändler.
Das weiß ich nicht. Es gibt Leute, die dasselbe in größerem Maßstab tun. Nur arbeite ich unter meinem Namen und verstecke mich im Gegensatz zu anderen nicht hinter irgendwelchen dubiosen Kaschemmen oder Scheinfirmen.
Man kann sich ja auch die Mühe machen, alle Genehmigungen zu besorgen und legal zu arbeiten.
Da ich mich schon lange mit diesem Thema befasse, habe ich alles quasi unter dem Mikroskop betrachtet. Wir würden gern legal arbeiten, aber es ist sozusagen unmöglich, wirklich absolut alle Vorschriften und Normen zu erfüllen. Bei jedem finden sich Verstöße. Und das ist nicht normal.
Wir würden gern legal arbeiten, aber es ist unmöglich, alle Vorschriften zu erfüllen
Nicht nur illegale Straßenhändler arbeiten mit Konowalow zusammen. Nach dem gleichen Schema werden seit den frühen 2010er Jahren in Sankt Petersburg Dutzende von Kneipen, Restaurants, Nachtclubs und Shisha-Bars betrieben. Konowalows Dienste sind auch in Moskau und anderen Städten gefragt. Nach eigener Aussage kooperieren hunderte unterschiedliche Firmen in mehreren Dutzend russischen Städten mit ihm. Viele davon werden wegen Verstößen ganz unterschiedlicher Art – von Nachtlärm bis zum Verkauf von Alkohol ohne Lizenz – regelmäßig mit Geldstrafen belegt.
Meiner Meinung nach ist es besser, wenn eine Kneipe Alkohol ausschenkt und überlebt, als wenn sie zumacht
Es ist bekannt, dass beispielsweise gewisse Bars und Restaurants dank der Zusammenarbeit mit Ihnen Alkohol ohne Lizenz ausschenken.
Das stimmt. Aus der Sicht des Normalbürgers ist das schrecklich. Man könnte glauben, dass sich alle eine Vergiftung holen und daran sterben werden, aber damit hat das nichts zu tun. Keiner wird sterben – das ließe sich mit allen Beziehungen der Welt nicht verbergen. Meiner Meinung nach ist es besser, wenn eine Kneipe Alkohol ausschenkt und überlebt, als wenn sie zumacht.
Es gibt aber auch eine Menge Betriebe mit Lizenz. Glauben Sie nicht, dass Ihre Tätigkeit nicht nur eine Gefahr für die Gäste darstellt, sondern auch den Wettbewerb behindert? Es läuft darauf hinaus, dass sich die einen an die Gesetze halten müssen und die anderen nicht.
In einer idealen Welt verkörpert ein Gesetz den Mehrheitswillen. Wenn die Mehrheit der Betriebe aufhört, sich an idiotische Normen zu halten, wird es aufgehoben.
An ein falsches Gesetz braucht man sich also nicht zu halten?
Natürlich nicht, und die Entscheidung liegt bei der Mehrheit. Nehmen wir etwa die Verkehrsregeln. Wenn sich in Sankt Petersburg alle an die vorgeschriebenen 60 Stundenkilometer halten würden, würde die Stadt im Stau ersticken. Gesetze müssen so sein, dass man sie einhalten kann. Keiner bricht gern das Gesetz. Glauben Sie, dass es mir Spaß macht, wenn ich bei jedem Klingeln zusammenzucke, weil ich denke, dass es zu einer Durchsuchung kommt? Glauben Sie, dass ich gern über Belarus ins Ausland reise?
Würden sich in Sankt Petersburg alle an die vorgeschriebenen 60 Stundenkilometer halten, würde die Stadt im Stau ersticken
Konowalow ist überzeugt: Mit seiner Tätigkeit hilft er Unternehmen, trotz der starken Einschränkungen durch den russischen Gesetzgeber ihrer Arbeit nachzugehen. Im Gespräch betont er immer wieder, dass es ihm beim illegalen Handel nicht um Geld gehe. Er scheint selbst daran zu glauben.
„Ich befasse mich mit diesem Thema, weil es für mich wie eine Religion ist. Es heißt immer, die Entwicklung des Landes hänge von den Petrodollars ab, aber ich bin überzeugt, dass das nicht stimmt. Die kleinen Unternehmen, denen heute die Luft abgeschnürt wird, sind das Fundament der Wirtschaft“, erklärt er.
Alle Anschuldigungen, er vertrete im Straßenhandel die Interessen bestimmter hochrangiger Beamter oder Silowiki, weist Konowalow zurück. Eine der Petersburger Polizei nahestehende Quelle von Meduza berichtet, Alexander Konowalow habe zumindest bis vor Kurzem über gute Beziehungen zu gleich mehreren hochrangigen Polizeibeamten verfügt.
Ich befasse mich mit diesem Thema, weil es für mich wie eine Religion ist
Sie sagen, dass Sie das alles im Interesse der Unternehmen und der Wirtschaft tun. Welche Vorteile bietet der illegale Handel der Gesellschaft? Steuern werden ja keine bezahlt.
Er schafft ganz einfach Arbeitsplätze – Menschen können arbeiten, statt zu Hause zu sitzen und mit der Konsole zu spielen. Man kann natürlich auch zu irgendeinem großen Konzern gehen, aber wenn alle kleinen dichtmachen, gibt es nicht genug Jobs für alle. Der nächste unstrittige Vorteil: Jede dieser Verkaufsstellen ist eine Wirtschaftseinheit. Um auf der Straße Kaffee verkaufen zu können, müssen Sie Kaffee, Milch und so weiter einkaufen. Das generiert einen Ertrag, in der Wirtschaft taucht Geld auf, und daraus ergeben sich Synergien.
Von außen bekommt man den Eindruck, es gebe Polizisten und Beamte, die sich an illegalem Handel bereichern. Warum sollten sie etwas an der Situation ändern wollen, wenn Vermittler wie Sie die Verkaufsstellen unterstützen, damit sie trotzdem tätig sein können?
Glauben Sie, dass jene Beamte, die dieses Geld theoretisch bekommen können, irgendwelche strategischen Entscheidungen treffen? Ich glaube nicht, dass das Geld an Beglow oder seine Stellvertreter geht, sehen Sie das anders? Warum man nichts daran ändert, weiß ich nicht.
Und die Polizei, die das kontrollieren soll? Im RBC-Magazin stand, dass die Polizeibeamten die Verkaufsstellen, für die Sie als Vermittler fungieren, gern übersehen.
Die haben wahrscheinlich einfach faule Polizisten beobachtet. Die Behauptung ist absurd, wenn man bedenkt, dass ich mehrmals verurteilt worden bin und meine Verstöße mehrere tausend Mal zu Protokoll genommen wurden. Allein während unseres Gesprächs sind wieder drei hinzugekommen. (Während des Interviews haben mehrmals Mitarbeiter aus verschiedenen Verkaufsstellen angerufen und mitgeteilt, dass sie wieder einmal kontrolliert worden sind).
Sie treffen also keinerlei informelle Absprachen mit der Polizei?
Wie könnte ich?
Bezahlen Sie Schmiergelder?
Nein. Genauso wie kein Mensch Ihnen sagt, dass er einem Verkehrspolizisten Geld gibt.
Also bezahlen Sie doch?
Es ist mir physisch nicht möglich, das zu sagen. Wenn Sie jemanden fragen, ob er mit Drogen dealt, und er antwortet ja, wandert er sofort ins Straflager.
Also anders gefragt. Bekommen Polizisten oder Beamte Schmiergelder dafür, dass illegale Verkaufsstellen tätig sein können?
Ich denke, es funktioniert genau so wie in anderen Bereichen. Der eine oder andere wird illegale Absprachen getroffen haben, aber es hängt vom einzelnen Mitarbeiter ab. Ich selbst würde davon abraten, Schmiergeld anzubieten. Wenn Sie keins anbieten, kriegen Sie eine Strafe, und vielleicht wird die Ware beschlagnahmt. Wenn Sie welches anbieten, kommt es fast sicher zu einem Strafverfahren.
Sie haben also keinerlei Verbindungen zu hochrangigen Polizeibeamten?
Was heißt Verbindungen? Stellen Sie sich vor, Sie hätten zusammen mit Wladimir Wladimirowitsch Putin studiert, hätten neben ihm gesessen und ihn geduzt. Hätten Sie Verbindungen zu ihm? Würden Sie sich etwa nicht an ihn wenden bei bestimmten Fragen im Leben? Naja, und die Leute, mit denen ich studiert habe, sind heute Oberst. Bei uns in Russland hilft man sich gegenseitig. Es gibt Situationen, in denen man um Hilfe bitten muss, weil man sonst im Gefängnis landen würde. Ich bewege mich ständig im Grenzbereich der Gesetze, hätte ich mich nie an jemanden gewandt, säße ich mit Sicherheit im Gefängnis. Doch ich sitze nicht. Aber man darf es nicht als Vetternwirtschaft oder Korruption bezeichnen. Die Beziehungsstruktur in Russland ist einfach so.
Ist „Probleme lösen“ Ihre Haupttätigkeit?
Nein, aber ein wesentlicher Bestandteil, um die 40 Prozent. Obwohl es mehr Hämorrhoiden als Geld einbringt. Ich mache es nicht wegen des Geldes. Klar verdiene ich, aber es ist nicht mein Antrieb, mir die Taschen vollzustopfen. Ich will meine Tätigkeit nicht schönreden, ich bin durch und durch unsauber. Aber ich versuche, meinem Heimatland nützlich zu sein, und glaube, dass mir das gelingt. Wenn sich alle immer an alle Regeln halten würden, gäbe es schlicht kein Unternehmertum mehr.
Ich will meine Tätigkeit nicht schönreden, ich bin durch und durch unsauber
Konowalow liebt den Präsidenten Wladimir Putin aufrichtig. Im VKontakte-Profil des Unternehmers steht in der Rubrik Weltanschauung: „Putin ist der größte Herrscher in der ganzen Geschichte Russlands!“ Konowalow hat über den Präsidenten sogar ein Gedicht geschrieben:
Möge der Neid sie quälen, die Ärsche! Die Krim gehört uns! Ohne Blut! Putins Werk! Kinder und Enkel werden ihm danken. Wladimir Putin ist einfach ein Gott!
Sie schimpfen über die Gesetze, aber wir wissen doch, woher sie kommen. Von den staatlichen Behörden.
Sie wurden von Feinden ausgedacht, die man erschießen müsste. Entweder hatten die Beamten zwar hehre Absichten, aber von Tuten und Blasen keine Ahnung, oder sie wurden von unseren Feinden bezahlt. Einer Verschwörungstheorie zufolge ist ein Teil der Gesetze gekauft, weil unser Staat zerstört werden soll.
Aber es ist doch der von Ihnen so geschätzte Putin, der all diese Gesetze unterschreibt.
Ich vermute, dass er sie unterschreibt, weil in der Gesetzesbegründung steht, dass sie zum Wohle aller verabschiedet werden.
Halten Sie ihn für so dumm, dass ihm das jahrelang entgehen kann?
Das ist das erste, was ich ihn fragen würde, wenn ich die Gelegenheit dazu hätte, mich mit ihm zu unterhalten. Ich finde keine logische Erklärung dafür.
Wofür schätzen Sie Putin so sehr?
Ich wurde 1981 geboren, und bevor Putin kam, war alles ganz furchtbar – es gab weder Butter noch Sahne noch Jeans. Nichts gab es. Wer zur Armee ging, kam da nicht mehr raus. Als Offizier war man praktisch dem Straßenkehrer gleichgestellt.
Sind Sie der Meinung, dass das Putin alles in Ordnung gebracht hat?
Natürlich. Tausend Jahre hat das keiner geschafft. Die Situation war in jeder Epoche am Arsch, dann kam Putin, und alles wurde gut.
Finden Sie nicht, dass die Situation ungefähr seit 2012 wieder in jeder Hinsicht langsam im Arsch ist? Das einfachste Beispiel dafür ist die Verfolgung Andersdenkender. Die zahlreichen Fälle von „Extremismus“.
Ach, das sind doch keine Verfolgungen. Sie wissen nicht, was Verfolgung heißt. Heutzutage wird nur gehätschelt. Würde es einer zivilisierten Gesellschaft einfallen, ihren Herrscher zu kränken? Wenn wir das zulassen, werden wir zur Ukraine. Ich bin kein Watnik, aber dazu wird es führen.
Ihnen verbietet doch auch niemand, ein Gedicht über Putin zu schreiben. Warum sind Sie der Meinung, dass scharfe Kritik verboten werden muss? Viele werden wegen eines simplen Reposts bestraft.
Schauen Sie sich die Gerichtspraxis an. Die Leute werden nicht wegen eines Reposts bestraft. Sie gehen auf die Straße und tragen Transparente mit der Aufschrift „Putin ist ***“ [schlecht].
Finden Sie, dass man dafür bestraft werden soll?
Ich bin überzeugt, dass die Leute dafür beim ersten Mal mindestens ins Straflager gehören – das lehrt sie, ihr Heimatland zu lieben. Um mit einer solchen Kritik auf die Straße gehen zu dürfen, muss man etwas erreicht haben, über vergleichbare Erfahrung verfügen, man kann nicht unter Putin in einem satten, glücklichen Land aufwachsen und ihn dann, ohne Hunger und Krieg erfahren zu haben, *** [beleidigen].
Glauben Sie, dass sich die Situation für Unternehmer, die Russland so schadet, verbessern wird? Werden Sie Ihren Kampf gewinnen?
Natürlich nicht. Spätestens in einem Jahr sitze ich im Gefängnis.
Das ist Ihnen klar, trotzdem verlassen Sie das Land nicht. Sitzen Sie lieber im Straflager?
Wenn der Staat es so will, gehe ich ins Gefängnis und versuche, von dort aus zu tätig zu sein. Ich bin nicht mehr so jung und möchte nicht im Alter denken müssen, nichts Nützliches für mein Land getan zu haben. Ich will nicht denken, dass ich mich einfach an dämliche Gesetze gehalten habe, will nicht Putin die Schuld an allem zuschieben. Alles aufgeben und den Westen als Wichsvorlage nehmen? Nein, danke. Mir ist klar, dass meine ganzen Aktivitäten nur Mäusespektakel sind, aber wenn jeder etwas beiträgt, wird der Effekt elefantisch. Hängt unser Land etwa nicht von uns ab?
Möchten Sie nicht aufhören?
Erstens kann ich das nicht. Wie könnte ich die Schulden zurückzahlen? Mit welcher Arbeit verdiene ich so viel, dass ich im Monat 700.000 Rubel [etwa 10.000 Euro – dek] Zinsen abzahlen kann? Und zweitens will ich auch gar nicht. Alle wollen ihre Ruhe, aber mir gefällt, was ich tue. Ohne meine Arbeit wäre es leer, nichts anderes bereitet mir ein solches Vergnügen. Am Boden braucht es keinen Piloten.
Im Westen verehren ihn viele – in Russland selbst ist das anders: Im März 2016 räumten in einer WZIOM-Umfrage zwar 46 Prozent der Befragten ein, Michail Gorbatschow habe zum Wohl des Landes handeln wollen, aber 47 Prozent waren der Ansicht, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Ganze 24 Prozent meinten sogar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die Großmacht Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe.
Sicher ist die Bilanz von Gorbatschows Regierungsjahren eine gemischte, und die Begeisterung, die ihm speziell in Deutschland entgegengebracht wird, lässt sich nicht einfach verallgemeinern. Oft zum Beispiel wird vergessen, dass Gorbatschow zwar beim Zerfall des Warschauer Pakts (und so auch bei den Ereignissen, die zum Fall der Berliner Mauer führten) auf jede Gewaltausübung verzichtete, in der damaligen Sowjetunion aber durchaus für Militäreinsätze gegen die sich verselbständigenden Republiken verantwortlich war, wie etwa beim Vilniusser Blutsonntag.
In den letzten Jahren gibt der heute 88-jährige Michail Gorbatschow nur noch wenige Interviews. Meduza hat im März 2018 mit ihm gesprochen, natürlich auch über die Perestroika und seine Sicht der Dinge.
Ilja Scheguljow: Sie waren sechs Jahre an der Macht, das entspricht nach heutiger Gesetzeslage einer Amtszeit des Präsidenten. Haben Sie nie daran gedacht, dass Sie, wenn Sie nicht die Reformen angestoßen hätten, vielleicht heute noch Generalsekretär sein könnten? Dann hätten Sie doppelt so lang regiert wie Breshnew.
Michail Gorbatschow: Dann wäre das schon nicht mehr Gorbatschow. Das wäre dann ein Jelzin oder irgendein anderer Kerl.
Wie auch immer Ihre Haltung zu Jelzin sein mag, Sie haben etwas mit ihm gemein. So sind weder Sie noch er gegen die Meinungsfreiheit vorgegangen, auch wenn die Ihnen beiden riesige Probleme bereitete.
Solschenizyn hat irgendwo gesagt: Gorbatschows Glasnost hat alles zugrunde gerichtet. Ich fand eine Gelegenheit, ihm darauf zu antworten: Das ist ein tiefgreifender Irrtum eines Menschen, den ich sehr achte. Und schließlich die Frage: Wie kann das sein, dass Menschen mit verschlossenem Mund [leben], dass sie nicht einmal einen Witz erzählen können, dass sie sofort irgendwohin verschickt werden, zur Umerziehung, oder zum Holzfällen? Aber genau so war das ja bei uns. Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt.
Wenn es keine Glasnost gegeben hätte, hätten bei uns keine Veränderungen zum Besseren eingesetzt
Und es hätte keinerlei Freiheit gegeben. Freiheit, das bedeutet vor allem Glasnost. Die Freiheit, mit den Menschen über seine Sorgen zu reden, darüber, was man [rundum] wahrnimmt, und wie man sich dazu verhält. Und wenn sich jemand täuscht, wird man ihm qua Freiheit helfen, das zu korrigieren. Sowohl die Presse wie auch die Gesellschaft …
Die ganzen 1990er Jahre und die erste Hälfte der 2000er Jahre haben Sie von Vorträgen gelebt. Worum ging es in diesen Vorträgen?
Ich bin zum Beispiel kurz vor der Wahl Obamas in den Mittleren Westen [der USA] gefahren, nach St. Louis. Dort kamen 13.000 Menschen zu dem Vortrag, im Stadion der Universität. Das Thema meines Vortrags lautete „Perestroika“.
Da stand ein junger Mensch auf, so in deinem Alter, und fragte: „Herr Präsident, dürfte ich Sie etwas fragen: Sie sehen, dass sich die Lage in Amerika immer mehr verschlechtert, was raten Sie uns?“ Ich antwortete: „Wissen Sie, ich werde Ihnen jetzt keinen Fahrplan, kein Menü vorschlagen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Meiner Meinung nach braucht Amerika eine eigene Perestroika.“ Der ganze Saal erhob sich. Nun, und zwei Jahre später haben sie Obama gewählt.
Also selbst Mitte der 2000er Jahre waren alle interessiert, von der Perestroika zu erfahren?
Die Perestroika lebt. Auch wenn man sie jetzt beerdigen will. Aber man kann Gorbatschow und die Perestroika nicht begraben. Das geht nicht. Wem sonst ist es schon gelungen, einfach so die ganze Welt zu verändern? Und gleichzeitig will man mich erschossen sehen. Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe. Weil ich angeblich schuld sei. „Sie hätten sich umbringen sollen, Herr Gorbatschow. Und wenn Ihnen das schwerfällt, rufen Sie mich, ich erledige das.“ Solche Briefe kriege ich. Es gibt da aber auch andere.
Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe
Woran soll ich schuld sein? Die einen werfen mir vor, dass ich Ungarn weggegeben habe. Andere sagen, ich hätte Polen weggegeben. Weggegeben? Wem denn? Den Polen und den Ungarn. Das ist natürlich wirres Zeug. Andere geben nichts weg, stimmt.
Ihre Vorträge haben Ihnen gutes Geld eingebracht …
Ja, auf unserer ersten Reise 1992 haben wir eine Million [Dollar] verdient. Wir haben sie für unsere Sache eingesetzt. Übrigens, zum Thema, wie ich das Geld, was ich bekommen habe, verwendete. [1990] erhielt ich den Nobelpreis: 1,1 Millionen Dollar. Von der Million wurden sechs Kliniken gebaut, zur Hilfe für die Opfer von Tschernobyl, am Aralsee in Asien und in Russland.
Erzählen Sie von ihrer Tätigkeit im Umweltbereich. Schließlich sind Sie der Gründer und Präsident des [Internationalen –dek] Grünen Kreuzes, einer großen zivilgesellschaftlichen Umweltschutzorganisation.
Ja, das Grüne Kreuz, das ist tatsächlich mein Kind. Da waren alle möglichen Leute versammelt: Angehörige der Intelligenzija, Politiker, Vertreter der Religionen, Frauen, junge Menschen, und natürlich die Presse. In 31 Ländern wurden Grüne Kreuze gegründet! Das Ansehen [der Organisation] ist riesig. Zu einem gewissen Grad hatte mich damals Pitirim ins Boot geholt. Er ist auch sonst zu einem guten Freund geworden.
Nach Ihrem Rücktritt haben Sie versucht, Politik zu machen. Sie haben beispielsweise 2001 die Sozialdemokratische Partei organisiert, gemeinsam mit dem damaligen Gouverneur der Oblast Samara, Konstantin Titow. Warum? Wer ist Titow, aus Ihrer Sicht?
Ein Dreckskerl.
Warum?
Er hat fürchterlich getrickst. Aber dann hat er mit der Regierungspartei angebandelt, und sie haben einen Deal gemacht. Die Hauptsache war, dass wir bei den Wahlen außen vor bleiben sollten. Sie hatten Angst vor uns, deshalb haben sie alles unternommen, um [uns] kleinzukriegen.
Aber wozu hatten Sie Titow überhaupt gebraucht?
Ich habe vieles verziehen. Übrigens, wenn ich gefragt werde, was ich bedauere, antworte ich: Ich habe zu viel verziehen.
Ich habe zu viel verziehen
Aber stell dir mal vor, was gewesen wäre, wenn ich aus ähnlichem Holz geschnitzt wäre wie Josef [Stalin]? So kann man einem Land auch den Rest geben.
Warum war es überhaupt nötig, dass Sie in die Politik zurückkehrten?
Es musste etwas geschaffen werden, was unverdorben ist.
Und warum?
Die Menschen verlangen nach einer Organisation, nach einer Bündelung der Kräfte; allein kann man nichts bewegen. Zusammen werden wir siegen!
Aber warum mussten Sie sich da persönlich hineinziehen lassen?
Ungefähr diese Frage hat mir auch mal ein junger Mann gestellt, der war in der Regierungspartei mit der Innenpolitik befasst …
Ja. Ein talentierter Kerl. Aber mit starkem Beigeschmack.
Er hat Sie angerufen?
Nein. Wir hatten 82 Regionalverbände gegründet, die Partei hatte schon 35.000 Mitglieder. Danach bin ich zu eben diesem Freund Surkow gegangen. Ich musste mich registrieren lassen, und alle haben die [Partei]Unterlagen angeschaut. Und Surkow sagte: „Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Was wollen Sie also?! Das haben Sie doch nicht nötig.“ Ich habe ihm gesagt: „Das ist eine dumme Frage. Wenn jemand sein ganzes Leben so mit der Politik verbunden war, dann ist er schon … Das ist mein Wesenskern.“
Surkow sagte: ,Michail Sergejewitsch, was wollen Sie denn? Sie haben doch erreicht, was noch niemandem in der Geschichte gelungen ist. Das haben Sie doch nicht nötig.‘
Letztendlich kamen sie dann mit Beanstandungen, sie hätten da irgendwelche Unterschriften gefunden, die nicht korrekt wären [die Sozialdemokratische Partei Russlands wurde 2007 vom Obersten Gericht aufgelöst, wobei Gorbatschow sie bereits 2004 – nach einem Konflikt mit Konstantin Titow – verlassen hatte – Anm. Meduza].
Ich habe mich vor einigen Jahren mit Boris Beresowski unterhalten, wenn Sie sich an den erinnern.
Natürlich erinnere ich mich.
Und er hat mir damals gesagt, dass er es bedauert, immer eine schlechte Menschenkenntnis gehabt zu haben, dass er die menschlichen Qualitäten der Leute nicht erkannte. Von sich können Sie so etwas nicht behaupten?
Ja, das würde ich auch sagen. Ich war zum Beispiel der Meinung, dass man nicht auf alle möglichen Angriffe und Ausfälle reagieren sollte. Wenn sich mal was zuspitzte, haben wir Mittel gefunden, nicht etwa Druck zu machen, sondern die Dinge intellektuell klarzustellen.
Wie jene Geschichte [mit dem Putsch] 1991. Ich dachte: Wieviel Versuche hatte es da gegeben! Mal wollte jemand dem Präsidenten Rechte entziehen, sie jemandem anderen übertragen, mal dies, mal das. Das war eine Sitzung in Ogarjowo unter meiner Leitung, wir wollten den neuen [Unions-] Vertrag vorbereiten, und die veranstalten da sowas hinter meinem Rücken. Ich kam am zweiten Tag und habe sie zusammengestaucht. Da dachte ich, dass ich alle Fragen geklärt hätte, und diese Überzeugtheit wurde dann fast zu einer Überheblichkeit.
Ich habe auch Putin gewarnt [, dass zu große Selbstsicherheit schädlich ist]. Als ich sagte, dass er sich für den Vertreter Gottes hält. Das machte ihn natürlich wütend: Er hat ja mal gesagt, dass man Gorbatschow das Maul stopfen sollte. Einem Präsidenten! Das Maul stopfen!
Gefällt Ihnen Putin?
Ich denke, er ist da recht am Platz. Durch Zutun aller sind dort die Dinge bis ins Letzte verkommen – aber es musste bewahrt werden, damit es nicht zerfällt.
Sie meinen Russland?
Ja, ja. Wir müssen das in Betracht ziehen, trotz aller Verstöße und Fehler. Ich erinnere mich natürlich, wie er sagte, dass er mich – angeblich – bei den Feiern zum Sieg [am 9. Mai 2016] nicht gesehen habe. Als Putin [vom Regisseur Oliver Stone in dessen Film] gefragt wurde, warum er mich nicht gegrüßt hat, sagte er, dass er mich nicht bemerkt habe.
Sie haben ihn einige Male unter vier Augen getroffen, soviel ich weiß.
Ja.
Hat er sich mit Ihnen beraten?
Nein.
Aber wozu haben Sie sich getroffen? Welchen Sinn sollte das haben?
Gar keinen: Händeschütteln. Die letzte Begegnung war am 12. Juni 2017, am Tag Russlands.
Nur Sie zwei?
Nein, nein. Absolut zufällig. Wir kamen gerade aus diesen Zelten, die da im Kreml stehen, wo der Tag Russlands gefeiert wurde. Wir gingen draußen zum Kremlpalast hinüber. Und plötzlich schau ich, irgendwie hatte es bei denen, die mich begleiteten, einen Ruck gegeben, und sie hatten angehalten. Was war los? „Da läuft Putin.“ „Na und?! Und was heißt das jetzt, Leute? Was habt ihr denn bloß? Lasst uns weitergehen!“ Und ich ging ihm direkt entgegen, gerade so, wie es passiert, wissen Sie, dass man sich auf einem Pfad begegnet, zwischen Feldern, und nicht ausweichen kann. Wir grüßten uns. Ich sagte: „Wir haben uns lange nicht gesehen!“ Und er darauf hin: „Mur, mur, mur“ – er brummelt jetzt ganz viel.
Brummelt?
Damit es unklar ist. Ich sagte: Sie haben für mich dreimal einen Termin angesetzt, Wladimir Wladimirowitsch, und dreimal hat der nicht stattgefunden. Danach bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich mich nicht aufdrängen werde. Und das war’s dann auch.
Putin brummelt jetzt ganz viel
Vergnügung hat er genug. Er trinkt, tanzt, fliegt, fährt Schiff und macht, weiß der Teufel, was man alles so machen kann. Nur in den Weltraum traut er sich nicht. Dann würden ja alle schreiben: „Herr Putin, bleiben Sie dort, tun Sie dem Volk einen Gefallen!“
Wir unterhalten uns hier in den Büroräumen der Gorbatschow-Stiftung. Die Stiftung ist bereits 26 Jahre tätig, und Sie haben sie die ganze Zeit unterstützt. Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit der Stiftung?
Sie hält, was sie verspricht.
Was wurde erreicht? Welche Ziele hatten Sie sich gesetzt?
Das Ziel war erstens, die Geschichte der Perestroika zu erforschen. Und überhaupt war das Ziel ein kulturelles, politisches und gesellschaftliches Zentrum.
Gaidar oder Kudrin zum Beispiel haben ähnliche Stiftungen. Sie schreiben Entwicklungskonzepte für Russland.
Das sind Wirtschaftsfachleute. Uns geht es eher um ein neues Modell. Und dieses Modell muss gesucht werden. Wenn Einiges Russland [weiter so] arbeitet [wie jetzt], dann wird diese Partei das gleiche Schicksal erleiden wie die Kommunistische Partei.
Uns geht es um ein neues Modell
Wir werfen diese Fragen in Artikeln auf, in allen möglichen Denkschriften, in Reden und so weiter. Und weißt du, man spürt jetzt, dass ein Bedarf an Sozialdemokratie entsteht. Und dass die Suche nach einer neuen Plattform vonnöten ist. Wir haben ein Buch herausgegeben, das heißt Ein sozialdemokratisches Projekt für Russland. Wie es so schön heißt: Alles, was wir geschaffen oder noch nicht ganz geschaffen haben, es steht alles da drin …
In meiner Familie sagen sie: „Wann gibst du endlich Ruhe?“.
Die gleiche Frage hätte ich auch.
Dazu muss man ein Leben in der Politik gelebt haben, so wie ich es getan habe. Ehrlich gesagt, habe ich mir die Frage auch schon gestellt. Ich denke aber, dass es für mich schlimmer wäre, wenn ich mich aus der Politik zurückziehen würde.
Sie halten sich also für einen Politiker?
Vor allem werde ich als Politiker wahrgenommen. Es gibt bei uns viele, die sich für Politiker halten, obwohl sie gar keine sind.
Wie kam es dazu, dass ein großer Teil Ihrer Familie jetzt nicht mehr bei Ihnen lebt?
Die haben alle hier gelebt, in Moskau. Dann hat Irina [die Tochter Gorbatschows – dek] zum zweiten Mal geheiratet. Andrej Truchatschow. Und der arbeitet [in Deutschland] in der Wirtschaft: Logistik, Transporte. Er gefällt mir, er ist ein guter Kerl. Aber er muss vor Ort sein. Und als sie [Irina und er] umzogen, zog es alle anderen hinterher, ihre Töchter. Wir haben fast das ganze Geld zusammengekratzt; wir haben ja nur ganz bescheidene Reserven. Aber wir konnten ihnen allen dort, in Berlin, Wohnungen kaufen.
Und Sie wollen nicht dorthin umsiedeln?
Nein, ich ziehe da nicht hin.
Warum? Sie meinen, dass Sie als ehemaliger Präsident nicht einfach übersiedeln können? Dass das unpatriotisch wäre?
Ich will einfach nicht mit Russland brechen!
Ihre Familie aber hat mit Russland gebrochen?
Nein. Sie und mich zu vergleichen … das wär‘ wie Äpfel mit Birnen oder Spatzen mit Stuten.
Bei einem Brand auf einem russischen U-Boot der Nordmeerflotte sind 14 Seeleute ums Leben gekommen. Wer sind die Toten? Gibt es Verletzte und wie viele? Um welches U-Boot handelt es sich? Derzeit gibt es viele offene Fragen, aber kaum Antworten. Nur tröpfchenweise fließt die Information: Präsident Putin gab bekannt, dass unter den Toten sieben Kapitäne ersten Ranges gewesen seien. Das Schiff sei ein Forschungsschiff. Es wurde nach dem Unglück zu einer Militärbasis in Seweromorsk, im hohen Norden Russlands, gebracht. Russische Medien wie RBC und Novaya Gazeta berichten unterdessen, dass es sich dabei um das nuklearbetriebene U-Boot AS-12 handele. Über dieses U-Boot ist nur wenig bekannt, es unterliegt strenger Geheimhaltung. Eine Theorie ist, dass es nicht zu Forschungszwecken, sondern zu anderen Arbeiten auf dem Meeresgrund verwendet werden könnte, etwa zur Sabotage von Unterseekabeln.
Das Unglück ereignete sich am 1. Juli, die Nachricht darüber war zuerst tags darauf auf der russischen Website severlife.ru erschienen. Diese lokale Infoplattform aus Seweromorsk hat der Website similarweb zufolge durchschnittlich rund 150.000 Aufrufe im Monat.
Wie severlife.ru-Blogger Jewgeni Karpow als einer der Ersten von dem Unglück erfahren hat und weshalb er seine Meldung kurz nach der Veröffentlichung wieder von der Seite nahm, das erzählt er im Interview mit Meduza – und gibt ganz nebenbei einen Einblick, welche Hürden unabhängige, regionale Onlinemedien im heutigen Russland mitunter nehmen müssen.
Am 1. Juli ist so gegen 23 Uhr die Nachricht aufgetaucht, dass sich das Krankenhaus auf die Aufnahme einer großen Zahl Verletzter vorbereitet. Die Info kam von meinen Quellen bei der Nordmeerflotte. Um was genau es sich handelt, das haben sie nicht gesagt. In diese Sachen stecken wir unsere Nase normalerweise nicht rein, da es um strategische Geschichten geht.
Die Informationen über Todesopfer und Verwundete änderten sich ständig. In der allerersten Meldung wies ich darauf hin, dass meine Informanten unterschiedliche Auskünfte geben und dass es schwer sei, aus ihren Worten die genaue Anzahl [Toter und Verwundeter – dek] zu bestimmen.
Die Informationen über Todesopfer und Verwundete änderten sich ständig
Interessant war, dass vom Katastrophenschutzministerium keinerlei Informationen kamen. Meine Informanten dort sagten, dass sie von nichts gehört hätten. Da stiegen Zweifel in mir auf [an der Richtigkeit der Informationen aus erster Quelle], deswegen wartete ich ab bis zum Morgen und begann, die Information mit anderen Quellen abzugleichen.
Nach der Veröffentlichung [am 2. Juli, vormittags – dek] hab ich bei der Pressestelle angerufen und um eine Stellungnahme gebeten. Danach hat mich einer angerufen, der mit der Nordmeerflotte zu tun hat, und bat mich, die Info wieder von der Seite zu nehmen: Es gäbe bald eine offizielle Meldung dazu. Ich hab Informationen darüber, dass derzeit zwei Menschen auf der Intensivstation sind, aber ich kann das nicht garantieren, denn ich bin nicht in der Stadt. Genausowenig kann ich sicher sein, dass die Informationen der Pressestelle der Wahrheit entsprechen.
Wahrscheinlich wird es niemals irgendwelche Informationen geben – es geht hier schließlich um die Nordmeerflotte
Die Namen der Toten haben mir meine Quellen nicht genannt. Das Krankenhaus geht auf meine Anfragen nicht ein. Wahrscheinlich wird es niemals irgendwelche Informationen geben – es geht hier schließlich um die Nordmeerflotte. Sie sprechen überhaupt wenig mit Zivilisten, erst recht nicht über Dienstliches – wenn, dann nur zuhause in der Küche.
Nach der Veröffentlichung wurde Karpow telefonisch gebeten, die Info wieder von seiner Seite zu nehmen
Ich weiß, dass die Stimmung in der Stadt jetzt ziemlich aufgeheizt ist. Es sind hochrangige Leute angekommen, wer sich mit denen trifft, hat Geheimhaltungserklärungen unterzeichnet. Das verlangen sie womöglich auch von den Familien der Toten und Verwundeten.
Wahrscheinlich erfahren wir in den nächsten Tagen nicht mal ansatzweise etwas über die Opfer [am 3. Juli bestätigte der Sankt Petersburger Interims-Gouverneur Alexander Beglow, dass sie zu den Streitkräften gehörten, die in Sankt Petersburg stationiert sind – dek|, nicht mal ihr ungefähres Alter. Aber ich denk mal, bei ihnen kann es sich kaum um einfache Soldaten auf Zeit handeln.
Die Stimmung in der Stadt ist ziemlich aufgeheizt
In der Stadt wird man wohl kaum etwas mitbekommen. Kursk hat man mitbekommen, denn wir haben aus den Fenstern beobachtet, wie man das U-Boot herauszog, die Situation war schwierig. Alle haben alles kapiert, die Stadt war grau, trüb, schweigsam, als ob man die Anspannung spüren konnte. Weinende Menschen gab es in der Stadt aber keine.
Es gibt keine Journalisten in Seweromorsk. Hier arbeite ich, und da sind noch die Medien, die die Stadtverwaltung eingerichtet hat. Niemand wird sie informieren. Und mir kommt meine Tätigkeit manchmal quer.
Von 2008 bis 2011 habe ich im Einsatz- und Streifendienst der Seweromorsker Miliz gearbeitet. Dann aber wurde ich nach Paragraph 228.2 zu drei Jahren Haft verurteilt, vor Gericht saß ich als Mitarbeiter [der Polizei – dek]. Aus Seweromorsk wurde ich nach Kirow gebracht, wo ich einsaß. Dann war ich in einer Strafkolonie in Irkutsk und kam nach einem Jahr und neun Monaten vorzeitig auf Bewährung raus. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse um Golunow könnte man bei mir eine halbe Tonne Kokain finden und mich wieder ins Gefängnis schicken.
Vor Kurzem tauchte im Internet ein anonymer Artikel auf, dass ein ehemaliger Häftling (also ich) Nachrichten aus Seweromorsk schreibe. Da steht, dass ich auf meiner Website manchmal glaubwürdige Informationen verbreite und manchmal ein wenig lüge. Und dass man sich nicht wundern solle, falls Jewgeni Karpow bald Förderung von ausländischen Medien erhält [das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz gilt seit November 2017 auch für Medien – dek].
Ich finde es interessant, mich damit zu beschäftigen. Noch in Haft habe ich realisiert, dass ich das machen werde. Und nun gibt es meine Website und einige Gruppen in sozialen Medien schon seit fünf Jahren. Ich trete aber als Blogger auf, eine Registrierung als Medium habe ich nicht.
Iwan Golunow, Journalist im Investigativ-Ressort des Exilmediums Meduza, wurde am Donnerstag in Moskau festgenommen. Laut Meduza-Angaben wird ihm versuchter Drogenhandel in großer Menge angelastet. Details zum Fall sind derzeit noch unklar.
Dem Vorwurf versuchten Drogenverkaufs begegnen viele Kollegen mit Skepsis – untergeschobene Suchtmittel gelten in Russland als Klassiker, um strafrechtliche Verfahren zu erzwingen. Meduza-Chefin Galina Timtschenko und Chefredakteur Iwan Kolpakow kommentieren den Vorfall.
Unser Kollege, Freund und Meduza-Korrespondent Iwan Golunow wurde in Moskau festgenommen. Bei ihm selbst sowie bei ihm zu Hause sollen angeblich Drogen gefunden worden sein: Der Ermittler spricht von einem „versuchten Verkauf“. Golunow konnte über Freunde mitteilen, dass ihm zwei Tüten mit unbekannter Substanz untergeschoben wurden. Laut Aussage Golunows, durfte er kein Telefon benutzen und keinen Anwalt rufen. Der Ermittler kontaktierte Golunows Freundin, die Korrespondentin der russischen BBC Swetlana Reiter, etwa 14 Stunden nach der Festnahme, mitten in der Nacht.
Später baten Iwan und sein Anwalt, dass man Proben an seinen Händen und Nägeln nehmen möge – ein Verfahren, über das ein Kontakt mit Drogen bestätigt oder widerlegt werden kann. Diesem Antrag wurde nicht stattgegeben. Iwan wurde während der Verhaftung und im Polizeirevier geschlagen; er und sein Anwalt baten, einen Krankenwagen zu rufen, um die Schlagspuren zu dokumentieren. Auch diesem Gesuch wurde nicht stattgeben.
Iwan Golunow ist einer der bekanntesten Investigativjournalisten Russlands. Sein fachlicher Ruf ist tadellos. Er ist ein peinlich genauer, ehrlicher und unparteiischer Journalist. Privat ist Wanja einer der anständigsten Menschen, die wir kennen.
Wir sind überzeugt, dass Iwan Golunow unschuldig ist. Wir haben außerdem Anlass zur Annahme, dass Golunow wegen seiner journalistischen Tätigkeit verfolgt wird. Wir wissen, dass Wanja in den letzten Monaten bedroht wurde; wir wissen auch, dass die Drohung mit einem seiner Texte zusammenhängt, an dem er zuletzt gearbeitet hatte; wir ahnen, woher diese Drohungen kommen. Meduza wird jeden Ermittlungsschritt im Fall Golunow verfolgen. Wir finden raus, in wessen Interesse Wanja verfolgt wird und werden diese Information publik machen. Wir werden unseren Journalisten mit allen verfügbaren Mitteln schützen.
Am 20. Mai wurde bekannt, dass zwei Journalisten der Tageszeitung Kommersant ihren Arbeitgeber verlassen. Daraufhin haben alle Mitglieder der Politikredaktion geschlossen ihre Kündigung eingereicht.
Der Sprecher des Verlagseigentümers Alischer Usmanow legt den zwei Journalisten zur Last, einen „bestellten“ Artikel geschrieben und damit gegen die redaktionellen Standards verstoßen zu haben. Beweise dafür bleiben bislang aus, sowohl die Journalisten als auch der stellvertretende Chefredakteur von Kommersant bestreiten den Vorwurf.
Viele unabhängige Journalisten sind bestürzt über den Vorgang, sie sehen darin einen weiteren Schlag gegen die Pressefreiheit in Russland. Sie erinnern sich an das Schicksal des Onlinemediums Lenta.ru und des Investigativ-Portals RBC. Tenor damals: Diese beiden Medien hätten die „Verkehrsregeln“ des russischen Journalismus verletzt und dabei eine gewisse „durchgezogene Linie“ überschritten. Gemeint ist vor allem Selbstzensur. Russland nimmt auf der Rangliste der Pressefreiheit Platz 149 ein – von insgesamt 180.
Die Redaktion von Meduza äußerte ihr Mitgefühl gegenüber den 13 Kollegen vom Kommersant.
Der Unternehmer und Eigentümer der Zeitung Kommersant Alischer Usmanow hat die Kündigung zweier Journalisten der Zeitung erzwungen: Iwan Safronow und Maxim Iwanow. Dem Aktionär gefiel ein Artikel nicht, in dem es darum ging, dass Valentina Matwijenko womöglich den Posten als Sprecherin des Föderationsrates aufgibt und der Chef des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin ihren Platz einnimmt.
Der Chefredakteur und Generaldirektor von Kommersant Wladimir Shelonkin sagte gegenüber Vedomosti: „Wir haben uns von den Journalisten getrennt, da beim Erstellen des Artikels die redaktionellen Standards des Kommersant verletzt wurden.“ Unter anderen Umständen – sprich zu anderen Zeiten oder außerhalb von Russland – hätte Shelonkin wahrscheinlich erklären müssen, gegen welche redaktionellen Standards genau verstoßen wurde. Denn unmittelbar nach Safronow und Iwanow hat die gesamte Belegschaft der Politikredaktion von Kommersant ihre Kündigung eingereicht – als Zeichen, dass sie mit der „Entscheidung des Aktionärs“ nicht einverstanden sei.
Es ist erstaunlich, dass sich Shelonkin ausgerechnet auf redaktionelle Standards beruft: Denn seitdem Usmanow die Zeitung gekauft hat, mischt er sich regelmäßig und, allem Anschein nach, durchaus effektiv in ihre Arbeit ein – will sagen, ein Verstoß gegen redaktionelle Standards ist eher dem Eigentümer und Chef vorzuwerfen. Aber der Kommersant hat eine phänomenale Anziehungskraft. So arbeiten trotz allem dort immer noch dutzende hochprofessionelle Mitarbeiter, für die, davon sind wir überzeugt, Zensur inakzeptabel ist. Von außen zuzusehen, wie es mit einer Zeitung schrittweise den Bach runtergeht, tut ziemlich weh; mit denen, die Teil davon sind, nicht mitzufühlen, ist unmöglich. In all den Jahren haben sowohl Mitarbeiter des Kommersant als auch ihre Leser und Konkurrenten gehofft, dass die Krise auf magische Weise enden wird – doch das ist, oh weh, nicht passiert.
Von Quellen aus dem Verlagshaus Kommersant wissen wir, dass die Veröffentlichung über Matwijenko einen solch starken Unmut eines Aktionärs ausgelöst hat, dass sogar die Kündigung des Chefs diskutiert wurde. Stattdessen hat man jedoch den Autoren des Artikels nahegelegt zu gehen und ihnen zudem die Verletzung von Standards angelastet. Allein der Gedanke daran, wie so etwas abgelaufen sein mag, ist beschämend.
In der Meduza-Redaktion arbeiten ehemalige Kommersant-Mitarbeiter, doch nicht nur ihnen ist es schwer ums Herz. Der russische Journalismus verliert seine Profis mit erschreckender Geschwindigkeit: Die Leute gehen nicht, um bei anderen angesagten Medien anzuheuern, sondern sie gehen in den meisten Fällen in angrenzende Berufszweige, das heißt ins Nirgendwo. Und doch trauern wir heute nicht um unseren Beruf, sondern um eine konkrete Redaktion in einer konkreten Zeitung. Wir wissen, der Kommersant ist eine Familie. Und in dieser Familie ist ein Unglück geschehen. Haltet durch, Freunde!
Ojub Titijew, Leiter von MemorialGrosny, ist im Januar 2018 verhaftet worden. Die Polizei hat in seinem Auto angeblich Drogen gefunden. Derzeit läuft der Prozess gegen ihn, den internationale Menschenrechtler als fadenscheinig und konstruiert bezeichnen. 2018 wurde er mit dem Václav-Havel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet. Der Moskauer Journalist Schura Burtin, der schon über Juri Dmitrijew, Leiter von Memorial Karelien, recherchiert und geschrieben hatte, kennt Titijew jedoch schon lange. Den Prozess gegen ihn hat er zum Anlass genommen, um nach Grosny zu fahren und kleinere tschetschenische Orte zu besuchen, etwa Kurtschaloi, wo Ojub Titijew herkommt.
Auf Meduza hat Schura Burtin Titijews Geschichte aufgeschrieben, die auch eine Geschichte über das Tschetschenien der Gegenwart ist. Ein dekoder-Longread.
„Ich erinnere mich, wie Mama ihm mal hinten Flicken auf die Hose gemacht hat“, erzählt Ojubs ältere Schwester. „Er war in der zweiten oder dritten Klasse. [Mama] sagte: ‚Geh mit dieser Hose in die Schule, die andere ist noch feucht.‘ Er hat sich unwillig angezogen, fertig gemacht, die Tasche genommen, und ist los, ohne etwas zu sagen. Mama sagte mir: ‚Ich weiß, dass er sich irgendwo versteckt hat. Lauf ihm unauffällig nach.‘ Ich bin los, ihm nach. Er hatte sich um die Ecke bei den Nachbarn versteckt und stand da jetzt. Ich wartete und wartete, aber er kam nicht raus. Ich ging hin und sagte: ‚Mama wird schimpfen …‘ Unsere Mutter war noch ziemlich streng. ‚Guck mal, ist doch überhaupt nicht zu sehen. Geh’ heute so, Ojub. Setz dich hin, dann merkt’s niemand.‘ Da ist er widerwillig los. An diese Geschichte erinnere ich mich aus irgendeinem Grund ständig, warum weiß ich nicht.“
Ich hatte nicht vor, diese Episode einfließen zu lassen, weil sie nicht so recht ins Gesamtbild passen wollte. Aber dann merkte ich, dass auch ich mich ständig an sie erinnerte. Vermutlich deswegen, weil sich in ihr Ojubs wahre, seine scheue und eigensinnige Natur spiegelt.
Ich habe Ojub Titijew vor zehn Jahren kennengelernt. Er war ein Freund und Kollege meiner Schwester. Sie bauten zerstörte Schulen in den Bergregionen Tschetscheniens wieder auf und transportierten Kranke und Verletzte zur Behandlung nach Moskau. Er war ein schweigsamer Mann mittleren Alters, auf den ersten Blick keine besonderen Auffälligkeiten.
Ich sollte einen Text über die tschetschenischen Adaten und ihre Anwendung schreiben, und Ojub fuhr mit mir für ein paar Tage durch die Berge, um mich mit einigen der Ältesten bekannt zu machen. Aus irgendeinem Grund kannte er dort alle. Es stellte sich heraus, dass er ein angenehmer Mensch ist, insbesondere ein verlässlicher. Außerdem führte seine Lässigkeit dazu, dass wir sofort zum „du“ übergingen, obwohl er bedeutend älter war als ich. Damals habe ich gemerkt, dass sich hinter dieser gemächlichen Art noch etwas anderes verbirgt. Wenn er über die Dörfer erzählte, erwähnte er manchmal Episoden des Krieges, die dort geschehen waren – inklusive der Nummern von Einheiten, Namen von Kommandeuren, Opferzahlen und konkreten, schrecklichen Todesumstände. Und wer, wann, bei wem und für wie viel den Körper jenes Getöteten freigekauft hatte. Ich hatte das Gefühl, als wüsste er das alles ganz genau und nicht aus dem Internet.
Später verstand ich, dass Ojub weitaus besser informiert war, als alle mir bekannten Memorial-Mitarbeiter, anderen Menschenrechtler und Journalisten. Es schien, als wüsste er die ganze Wahrheit über das, was in Tschetschenien passierte und passiert. Auf jede Frage gab er für gewöhnlich eine kurze, konkrete Antwort.
Sein Wissen hat Ojub nie kommentiert und war offensichtlich nicht stolz darauf. Er sah aus wie ein bescheidener Dorflehrer, der aus unerklärlichen Gründen die Last ungeheuren Wissens über das menschliche Leid auf seinen Schultern trug. All das war noch vor der Ermordung Natascha Estemirowas, und bevor Ojub die tschetschenische Abteilung von Memorial übernahm.
Trotzdem haben wir uns nicht ein einziges Mal über Persönliches unterhalten, über sich selbst hat Ojub nie geredet. Daher wusste ich lange nicht, was ich sonst noch über ihn schreiben könnte.
„In Tschetschenien wird schwerlich überhaupt jemand mit dir reden“, sagte mir eine Bekannte von Ojub. „Ich persönlich jedenfalls nicht, wenn ich dort wäre.“
Sie hat sich geirrt. Ich hatte nicht genügend Zeit mich mit allen zu unterhalten, die etwas über Ojub erzählen wollten. Tatsächlich kann ich keinen einzigen der Tschetschenen hier beim Namen nennen, konnte bei niemandem übernachten. Das ging nur in Hotels. Jeder Einheimische, der in diese Geschichte verwickelt ist, riskiert sein Leben.
Kapitel 1 Vergebung
Vermutlich hatte ein Ereignis in Ojubs Kindheit starken Einfluss auf sein Schicksal: Sein Vater, ein Dorfpolizist, tötete einen Menschen. Das war ein unglücklicher Zufall, und alle wussten, dass er unschuldig war. Die Titijews baten um Vergebung, und die Sippe des Getöteten akzeptierte. In Tschetschenien gilt das Gesetz der Blutrache: Ein Mord kann nicht ungesühnt bleiben. Die Familie des Getöteten muss sich rächen – oder der Familie des Mörders vergeben. Es werden lange Verhandlungen geführt, Kompensationen vorgeschlagen, die Ältesten anderer Sippen als religiöse Autoritäten hinzugezogen. Es ist wichtig zu verstehen, dass die Blutrache kein Recht der Familie ist – es ist ihre Pflicht. Ihr Umfeld erwartet von ihr Gerechtigkeit. Einen Mord nicht zu rächen bedeutet, den Ruf der Sippe zu beschmutzen. Aber um den dreht sich das ganze Leben. Vergebung ist möglich, doch das ist eine lange Prozedur, und es braucht eine handfeste Grundlage, mit der alle einverstanden sind.
Die Pflichten, die sich für die Familie aus der ihnen zuteil gewordenen Milde ableiten, wiegen schwer. Ab sofort muss sie der Familie des Getöteten in jeder Situation beistehen und immer als erstes zur Stelle sein, so als würde sie den Verstorbenen zu ersetzen versuchen.
„Wir sind jetzt wie Verwandte“, erzählt Ojubs Schwester. „Wir stehen seitdem an ihrer Seite. Als ihr Sohn heiratete, halfen wir, und auf den Feldern im Herbst und Frühling ebenso.“
Das soziale Leben des Mörders ändert sich fundamental: Er stirbt quasi selbst, muss auf ewig Buße tun. Er muss entweder aus seinem Heimatort verschwinden oder sich völlig unauffällig verhalten. Er kann kein öffentliches Leben mehr führen und nicht mehr an Versammlungen der Dorfgemeinschaft teilnehmen. Er darf nicht mehr sichtbar sein.
„Ihr Vater gab seine Arbeit auf und hielt sich von da an nur noch im Haus auf, ohne sich jemandem zu zeigen“, erzählt ein Freund der Familie Titijew. „Er war gezwungen so zu leben, während die Mutter die Verantwortung für die Familie übernehmen musste. Sie hatte schwer zu tragen, diese starke Frau.“
Ojubs Vater war ein sehr zarter Mensch und, der sowjetischen Ordnung zum Trotz, sehr gläubig. Seine Mutter dagegen war sehr streng. Ojub war der jüngste von vier Brüdern. Ich weiß nicht, ob das etwas mit der Sache zu tun hat, aber mir scheint, dass jüngere Brüder oft unter dem Affentheater ihrer älteren Brüder leiden, mehr Mitgefühl für ihre Eltern empfinden und versuchen, es ihnen recht zu machen. Ich vermute, dass die Tragödie des Vaters eine tiefe Prägung in Ojub hinterlassen hat – seine Verschlossenheit, Bescheidenheit und Abneigung gegen Gewalt. Und ich habe das Gefühl, dass Ojub sein ganzes Leben ein Gefühl der Schuld mit sich herumtrug.
Kapitel 2 Der Sportlehrer
Was in seiner Kindheit und Jugend weiter passiert ist, weiß ich nicht. Was ich weiß, ist, dass er den Militärdienst in der Ukraine abgeleistet hat, und zwei Jahre in einem Disziplinarbataillon absaß. Als Jungspund, der sich dort desöfteren mit Tschetschenen umgab, hatte er sich geweigert, die Anordnungen der Altgedienten auszuführen. Dafür versuchte man einmal, kurzen Prozess mit ihm zu machen. Sie waren zu elft, aber Ojub entriss ihnen das Messer. Das deckt sich nicht im Geringsten mit seinem friedliebenden Charakter. Allerdings wurde Ojub mit äußerst rigorosen Vorstellungen über Ehre und Würde erzogen, und ich glaube, dass er schlichtweg keine Wahl hatte.
Ojub beendete das Agrarinstitut, dann das Institut in Nowgorod, kehrte nach Kurtschaloi zurück und fing an, als Sportlehrer an einer Schule zu arbeiten. Ab Mitte der 1980er Jahre organisierte er dort mit einem Kameraden einen Boxverein, einen der ersten in Tschetschenien. Alle seine Freunde sagen, dass Ojub hingebungsvoll, ja fanatisch in Sport vernarrt ist.
„Er hat einen der Box-Klubs in Tschetschenien aufgebaut, aus dem seither Champions hervorgegangen sind“, erzählt der Vorsitzende von Memorial, Alexander Tscherkassow. „Er hat sich da sehr reingehängt. Das Schicksal dieses Klubs ist ihm überaus wichtig, genauso wie das seiner Schüler. Die Leidenschaft für den Sport ist nicht irgendein beliebiger Charakterzug, sondern ein Grundpfeiler seines Lebens.“
Ich kann mir Ojub in der Rolle des Trainers sehr gut vorstellen, als ernsten und wortkargen Typen. Ich stelle mir vor, dass er seine Schüler sehr liebt, wenn er es sich auch nicht anmerken lässt; wie er geduldig mit ihnen ist. Dieser Verein spielte in seinem Leben eine bedeutende, widersprüchliche Rolle.
Während der Perestroika verließ Ojub die Schule. Anscheinend handelte er mit Möbeln und sonst welchem Kram und führte einen kleinen Laden in Gudermes. Er heiratete. Erzählungen nach zu urteilen, war er damals ein anderer, fröhlicher, offener und kontaktfreudiger Typ. So lief es bis zum Krieg. Und als russische Truppen in Grosny einmarschierten, schloss sich Ojub, so wie viele andere, der Dudajew-Miliz an. Er tat das ungeachtet der Meinung seiner älteren Brüder.
„Am Anfang waren die Aufrufe solche: ‚Los jetzt, raus mit euch! Ehefrauen, Mütter – lasst eure Männer gehen! Wenn du ein Mann bist – verkauf die Kuh und kauf dir eine Maschinenpistole!‘ Naja, einige haben sich verleiten lassen, ehrliche, gute Leute“, erzählt Jakub Titijew. „Aber als Dudajew im Fernseher erschien, habe ich meinen Brüdern von Anfang an gesagt: Nein, diesem Schnauzer werde ich nicht hinterherlaufen, das ist kein männlicher Schnauzer. Wenn es sein muss, finden wir Waffen. Wir sind zu viert. Aber jetzt macht es keinen Sinn, sich zu verteidigen. Niemand hat vor, uns die Heimat wegzunehmen.“
Aber Ojub ging trotzdem. Ihm folgten viele Jugendliche aus dem Dorf, darunter seine Schüler. Dennoch ist er nicht lange in Grosny geblieben.
„Seine Mutter und Schwester sind hingefahren“, erzählt einer seiner Freunde, „und haben auf den Knien, weinend, auf ihn eingeredet, dass der Vater weg ist und er die Familie nicht einfach im Stich lassen kann und so weiter. Seine Mutter sagte ihm: ‚Wenn du jetzt nicht gehorchst und mitkommst, dann bist du nicht mehr mein Sohn.‘ Und Ojub fühlte sich schuldig gegenüber seiner Mutter, dafür, dass sie es immer so schwer gehabt hatte. Also musste er mitkommen.“
Ojub gehorchte und kehrte heim. Aber seine Schüler blieben zurück, um zu kämpfen. Sie kamen um, siebzehn an einem Tag. Ojub lief über das Feld und las sie in Einzelteilen auf – hier einen Arm, dort ein Bein, irgendwo anders einen Stiefel …
Kapitel 3 Depression
Nach dem Tod seiner Schüler verließ Ojub lange Zeit nicht mehr das Haus und sprach mit niemandem. Freunde dachten, dass er durchgedreht sei.
„Die ganze Zeit saß er da, behaute Tschurty aus Stein, die hiesigen Grabsteine, und setzte sie auf die Gräber. Es war ein schwerer Schlag für ihn, dass er zurückgekehrt war und sie gestorben waren.“
Alle sagen, dass Ojub die nächsten Jahre in einer Depression verbrachte. Sein Charakter veränderte sich. Er wurde zu dem, als den wir ihn heute kennen: still und nachdenklich. Er half den anderen Dorfbewohnern ihre Verwandten zu suchen, die in Gefangenschaft waren, und sie sowie die Körper der Toten bei den föderalen Kräften, den Russen, freizukaufen.
„Im Großen und Ganzen haben sich die Frauen um die Suche nach den Verschollenen gekümmert. Die Männer haben sich damals hinter den Frauen versteckt, weil es zu gefährlich war. Aber Ojub hatte keine Angst. Er hat sich nie unter den Röcken verkrochen“, erzählt ein Freund.
Ich glaube, dass Ojub damals, in diesem Zustand, gelernt hat, bei gefährlichen Aktionen die Angst vollständig zu ignorieren. Möglicherweise versuchte er auf diese Weise, seine Schuld zu bereinigen. Oder er hoffte, dabei umzukommen.
„Er hat sich darauf verstanden, die Überreste aufzusammeln und zu bestatten, wie andere die Hausarbeit erledigen“, sagt ein Nachbar von Ojub. „Alle hatten Tote zu beklagen. Trotzdem machten die Menschen weiter. Sie schlossen irgendwie Frieden damit. Aber Ojub kam nicht darüber hinweg.“
„So ein Verhalten ist heutzutage nicht gerade weit verbreitet“, erklärt Alexander Tscherkassow. „Solche Menschen wurden zu dieser Zeit beispielsweise Dorfvorsteher, Älteste. Das sind Menschen, die man vorschob, um Verhandlungen mit den Soldaten zu führen. Sie trugen die Verantwortung für alle, nicht nur für die eigene Familie. Für alle in ihrem Umfeld: Verwandte, Kollegen, Schüler, alle, die ihnen vertrauten. So einer war er.“
„Er hat definitiv viel riskiert“, erzählt ein Nachbar. „Da gab es diesen Rebellenführer namens Radujew, erinnern Sie sich? Er kam in Gudermes vorbei und startete eine Schießerei. Da war alles voller Leichen. Die Leute flüchteten aus der Stadt. Und Ojub ist los, um in seinem Auto die Leute aus der Stadt zu fahren. Während die Bomben fielen, fuhr er den ganzen Tag hin und her. Den Seitenflügel haben sie ihm durchlöchert. Am Ende hat er die Leichen noch bestattet.“
Es muss damals gewesen sein, dass Ojub anfing, sich alles zu merken, was er von den Geschehnissen mitbekam. Alle Kollegen sagen, dass sie viele Male über sein phänomenales Erinnerungsvermögen für Daten, Zahlen und Ereignisse staunten.
„Ein Computer merkt sich wahrscheinlich nicht so viel“, sagt Tscherkassow. „Wenn du rein gar nichts tun kannst, nicht einmal etwas sagen, dann musst du es halt abspeichern. Auch das wird dir am Tag des Jüngsten Gerichts mit angerechnet.“
Kapitel 4 Der Freiwillige
Ojubs Laden in Gudermes brannte im Krieg bis auf die Grundfesten nieder. Seine Schwager wollten ihn wieder aufbauen, aber Ojub verlor das Interesse daran. Er kehrte in die Schule zurück. Sein älterer Bruder Sultan war dort Direktor. Die Schule war zerstört, die Brüder bauten sie mit bloßen Händen wieder auf. Ojub unterrichtete dann Sport und Geschichte.
Als der Zweite Tschetschenienkrieg begann, war es wieder Ojub, der die Dorfbewohner aus den Filtrationslagern rausholte. Im Jahr 2000 kam Natascha Estemirowa von der Menschenrechtsorganisation Memorial in Kurtschaloi an. Sie sammelte Daten über die Getöteten und Verschleppten. Man verwies Natascha an Ojub, der sich anbot zu helfen. So lernten sie sich kennen, und er leitete dann Informationen an sie weiter.
Zu Beginn beäugten sie einander misstrauisch. Der Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina kam es so vor, als würden sie nicht recht warm miteinander: „Er war nicht all zu sehr zum Lächeln aufgelegt, kriegt die Lippen nicht so recht auseinander. Wie soll man mit so einem Menschen arbeiten? Seine erste Reaktion war ein Gesichtsausdruck, der zu sagen schien, dass das, was wir da machen, Mumpitz ist. Aber mit der Zeit erkannte er, dass wir es ernst meinen.“
„Weißt du, in der Welt der Menschenrechtler gibt es sehr viele gute Leute“, erzählt die Human Rights Watch-Mitarbeiterin Tatjana Lokschina. „Viele kreative Persönlichkeiten, interessante Gespräche, wunderbare Initiativen. Häufig wollen die Menschen aufrichtig etwas bewirken, glauben zu einhunderfünfzig Prozent daran. Aber dann resignieren sie und das war’s. Ojub hat sich nie an philosophischen Auseinandersetzungen über Heimat und Zukunft beteiligt, sondern versucht, realen Menschen zu helfen. Er hat seine Versprechen immer gehalten. Wenn du ihn gebeten hast, etwas herauszufinden oder zu überprüfen, konntest du mit hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass er es macht. Und er sagte auch manchmal Nein. Seine Grenzen zu kennen ist auch sehr wichtig.“
Alle seine Freunde sagten mir, dass Memorial für Ojub die Rettung war und er ansonsten definitiv verrückt geworden wäre. Anfangs gab er einfach als Freiwilliger Informationen weiter. Er hielt alles handschriftlich fest, und fuhr fünfzig Kilometer und über dutzende Checkpoints, um die Dokumente den Moskauern zu übergeben. Er unterschrieb nicht mit seinem Namen, sondern einfach nur mit „Monitor-1“.
Während der 2000er hatte sich Tschetschenien dem Kadyrow-Clan noch nicht vollständig unterworfen. Moskau unterstützte mehrere bewaffnete Clans gleichzeitig, die um die Macht kämpften oder ihre Unabhängigkeit verfochten: die Jamadajews, die Baisarows, die Kakijews und die Chassambekows. Das war ein blutrünstiger Haufen. Das Dorf Kurtschaloi war das Hoheitsgebiet von Chamsat Edelgirijew, dem Chef der örtlichen Polizei, der ebenfalls wegen seiner unglaublichen Brutalität berüchtigt war. Es hieß, er würde Ramsan nicht fürchten. In den Bergen nahe dem Dorf Jalchoi-Mochk hatte er ein geheimes Privatgefängnis, wo man Entführte folterte. Die Polizei von Kurtschaloi befand sich hundert Meter von Ojubs Haus entfernt.
„Diese Polizeieinheit war eine der schlimmsten in ganz Tschetschenien“, sagt Elena Milashina, Journalistin der Novaya Gazeta. „Er riskierte damals jeden Tag sein Leben. Uns wurde bewusst, dass wir abends von der Arbeit nach Hause gingen, er aber in die Höhle des Löwen zurückkehrte.“
Kapitel 5 Das Dorf
Aus den Gesprächen mit Verwandten und Nachbarn erfuhr ich etwas über eine Seite von Ojubs Leben, über die ich zuvor noch nichts gehört hatte: In Kurtschaloi und weit über seine Grenzen hinaus wird er als Friedensrichter hochgeschätzt.
Man muss verstehen, dass es in Tschetschenien zwei gesellschaftliche Sphären gibt. Es gibt die äußere Sphäre, über die im Fernsehen gesprochen wird, und die dörfliche, das Leben der wainachischenTaips, wo Bräute umworben und entführt werden, wo geheiratet und sich getrennt, geboren und gestorben wird, wo Konflikte zwischen Dorfbewohnern aufflammen und gelöst werden, wo fern aller Augen und Ohren Blutrache geübt und Friedensgerichte abgehalten werden.
Der wichtigste Faktor hier sind verwandtschaftliche Verbindungen. Das ist nichtsdestotrotz das öffentliche Leben, wenn auch in einem völlig nichtöffentlichen Sinne des Wortes. Ein Konflikt, selbst wenn alle drumherum davon wissen, gilt als die private Angelegenheit zweier Familien. Niemand wird anfangen darüber in der Zeitung zu berichten. Jeder Tschetschene lebt in diesen beiden Sphären, und jedes komplexe Ereignis lässt sich in diesen zwei Dimensionen interpretieren.
Diese Trennung hat es immer gegeben, die gesamten einhunderfünfzig Jahre seit der Unterwerfung Tschetscheniens. Die Existenz dieser wainachischen Sphäre, die für die sowjetischen Machthaber beinahe unsichtbar war, hatte weitreichende Konsequenzen: die Entwicklung einer Schattenwirtschaft und eines Systems der Nebenverdienste in der Breshnew-Ära, das Fortbestehen von suffistischen Bruderschaften, den plötzlichen Zusammenbruch des Staates 1991, die gute Organisation der tschetschenischen Milizen, die Schwäche des Maschadow-Regimes und massenhaft weitere.
„Wenn beispielsweise jemand stritt“, erzählt ein Verwandter, „oder jemand einen Unfall verursachte, bei dem der andere Fahrer starb, haben die Leute Ojub gerufen, wenn es um die Versöhnung ging. Wenn er kommt, um zu reden, können jene nicht ablehnen, denn er ist ein angesehener Mann. Nicht nur Verwandte riefen ihn, auch andere Dorfbewohner, Menschen aus Nachbardörfern, aus der ganzen Republik. Ich erinnere mich, dass sogar Leute aus Inguschetien zu ihm kamen.“
„Und womit kamen die Menschen zu ihm?“
„Keine Ahnung, das ist doch eine Sache zwischen ihnen. Wenn ich zu ihm kam, und ihm irgendwas erzählt habe, hat er das auch niemandem weitergesagt.“
„Es gibt Regeln der Scharia“, erklärt Jakub Titijew, „und irdische Regeln, die Adaten. So oder so muss Gerechtigkeit herrschen. Die Menschen suchen einen Ort, wo man eine Sache still regeln kann. ‚Also, gehen wir zu Ojub, zu Usman oder zu Magomed?‘ ‚Jawohl.‘ Es geht das Gerücht um, dass der oder der objektiv und ehrlich richtet. Am Anfang wird ein mündlicher Vertrag geschlossen: ‚Mein Urteil wird endgültig sein, beide Seiten werden damit einverstanden sein. Wenn nicht, fange ich gar nicht erst an.‘ Kommt heraus, dass du im Recht oder schuldig bist, dann war’s das, Punkt. Du hast nicht das Recht, dich zu beschweren.“
Bei Memorial wusste man über diese Seite Ojubs nur wenig. Aber es wird ungefähr verständlich, woher Ojub so viele Kontakte hatte.
„Als ich in Tschetschenien ankam, setzten wir uns hin, und er erzählte mir bis ins kleinste Detail, was hier gerade passierte“, erzählt die Menschenrechtlerin Jekaterina Sokirjanskaja. „Menschen wurden entführt, in irgendwelchen illegalen Gefängnissen festgehalten, gefoltert und schließlich ermordet. Er hat hunderte solcher Fälle bearbeitet, hunderte menschliche Schicksale. Die Körper hat man entweder irgendwo verbuddelt, oder einfach auf die Straße geworfen, wo sie jemand fand und dann auf irgendeinem Dorffriedhof begrub. Er forschte lange nach, sehr gründlich, stellte Verbindungen her. Ergab sich ein Muster, so prüfte er und vergewisserte sich, bis das Bild vollständig war.“
„Ojub verstand, dass man Details bestimmen und dokumentieren muss, denn die Leute verschwanden. Sowohl ihre Verwandten, als auch die Bewohner, die die Körper gewaschen und sie begraben hatten. Sie erinnerten sich noch, wie die Leiche aussah, wie sie bekleidet war. Aber es war klar, dass die Information bald für immer verloren sein würde“, fährt Sokirjanskaja fort. „Man muss zu den Leuten rausfahren, um ihre Aussagen aufzunehmen, meistens sind es Ehefrauen und Mütter. Es ist psychisch sehr anstrengend, diese Leute zu zwingen, sich noch einmal zu erinnern. Und es war überraschend, wie viel sie vergaßen. Manchmal konnten selbst Mütter sich nicht mehr an die Augenfarbe ihrer Kinder erinnern, an welchem Tag das passiert war, in welchem Monat. Manches behielten sie sehr genau, und andere Details verschwanden vollständig. Wir verstanden, welche Menge an Information da verloren ging.“
Mit der Zeit stellte Ojub für Memorial eine einzigartige Datenbank zusammen, mit der man nicht nur die Vermissten suchen, sondern auch die Täter feststellen konnte, darunter Soldaten. Er musste alles mögliche überprüfen: alte Verfahren dieser Menschen, Daten der Staatsanwaltschaft, Anfragen von Anwälten. Musste sie systematisieren, sämtliche Information über einen Verschollenen zusammenführen oder mehrere Fälle miteinander verbinden. Manchmal verschwanden Menschen in Gruppen, etwa um Militärbasen herum. Laut Memorial wurden in Tschetschenien in den 2000er Jahren 2000 bis 5000 Menschen durch Silowiki entführt und ermordet.
„Er hat versucht, mich vor all dem zu bewahren. Er verschlüsselte die Dateien über Verstümmelte, Erhängte, diejenigen, die man gefoltert hatte“, erzählt eine Mitarbeiterin von Memorial. „All diese furchtbaren Texte und Fotos versteckte er vor mir: ‚Das ist nichts für deine weibliche Psyche.‘ Selbst wenn es notwendig war, dass ich mir etwas anschaute, sagte er: ‚Das hier schau dir nicht an, nur das da.‘ Er lebte mit all dem, dem, was passiert war, die ganze Geschichte dieser beiden Kriege. In ihm steckten so viele Informationen! Für ihn drehte sich alles darum. Manchmal waren Menschen von ihm abgestoßen. Manche fanden ihn langweilig. Selbst mein Mann sagte: ‚Er macht mich fertig, erzählt immer nur über das eine.‘“
Es galt, nicht nur an die Toten zu denken. Nach dem Krieg landeten zehntausende Kaukasier in den Gefängnissen. Man bezichtigte sie der Mitgliedschaft in illegalen bewaffneten Gruppierungen. Ein Teil von ihnen hatte tatsächlich gekämpft. Aber Tausende wurden Opfer konstruierter Fälle. Im Knast wurden sie als Terroristen gehandelt, und man ging scheußlich mit ihnen um.
„Einmal, um drei Uhr nachts“, erinnert sich Swetlana Gannuschkina, „rief mich jemand an: ‚Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Ihre Telefonnummer ist hier bei uns auf die Wand geschrieben.‘ Ich fragte: ‚Wo sind Sie?‘ ‚Ich sitze im Gefängnis. Sie haben gerade einen Menschen abgeholt und schlagen ihn jetzt zusammen. Helfen Sie irgendwie‘. Ich fand heraus, von welchem Knast die Rede war, und rief die Wache an. Die sagt: ‚Wer hat Ihnen das gesagt?‘ Ich antworte: ‚Jemand hat mir gesagt, dass er bei euch arbeitet. Bei euch gibt es doch anständige Leute?‘ Und bald darauf kriege ich eine SMS: ‚Sie haben uns sehr geholfen. Den Typen haben sie zurückgebracht, halbwegs unversehrt.‘ Schon bald sagte mir Ojub, dass sie auch ihn anriefen. Wir verstanden, dass man etwas tun musste, Anwälte hinschicken und so weiter.“
Ojub und seine Kollegen stellten ein Projekt zur Unterstützung der Tschetschenen und Inguschen in den Vollzugsanstalten auf die Beine. Sie nahmen Beschwerden von Verwandten auf, schrieben Anfragen an die Staatsanwaltschaft und an die Gefängnisbehörde, und schickten Anwälte in die Knäste. Gerechtigkeit war damit nicht zu erreichen, aber es konnte sein, dass die Folter aufhörte, und Kranken endlich medizinische Hilfe gewährt wurde.
Kapitel 7 Der einsame Wolf
„Als wir anfingen mit ihm zusammenzuarbeiten“, erzählt die Mitarbeiterin einer Menschenrechtsorganisation, „erzählten die Moskauer, dass er der Typ ‚einsamer Wolf‘ sei. Meine Tochter war Sekretärin und hatte sogar Angst an einem Tisch mit ihm zu sitzen und zu Mittag zu essen, so einen ernsten Eindruck machte er. Ich habe sie beruhigt, dass er nur äußerlich so wirkt, aber innerlich ein herzlicher Mensch ist. Und er sagte mir selbst, dass er das Gefühl hat, dass man ihn nicht möge und ihm aus dem Weg gehe, weil er nicht besonders charmant ist.“
„Wenn du ihn dir so anschaust, wirkt er wie ein harter Kerl aus den Bergen“, sagt eine Memorial-Mitarbeiterin, „aber dann wird dir plötzlich klar, dass er – im Gegenteil – sehr emotional ist, und versucht, das irgendwie zu verbergen. An ihm war überhaupt nichts Großspuriges, Machohaftes. Beispielsweise, wenn irgendwelche Feiertage anstanden, wo man den Mädels was schenkt. Menschen eine Freude zu machen war ihm sehr wichtig. Er bringt uns irgendwas mit und hat dabei so ein bescheidenes, kindliches Lächeln auf den Lippen: ‚Hier, greift zu.‘ Seine Gesten sind von einer rührenden Tollpatschigkeit.“
„Ich erfuhr erst, dass er vier Kinder hat“, erzählt eine Kollegin von Ojub, „als er irgendein Formular ausfüllen musste.“
Von Verwandten und Nachbarn aus Kurtschaloi hörte ich einen Haufen Geschichten, in denen sich Härte auf merkwürdige Art und Weise mit etwas Kindlichem vermischte.
Ojubs Neffen sind sehr nette Typen, um die dreißig, Bauarbeiter. Beide sind Ojub irgendwie ähnlich, aber auf unterschiedliche Art und Weise: Einer tschetschenisch-rau und reserviert, der andere, im Gegenteil, offenherzig, sanft und zugänglich.
„Ojub hat nie mit mir geschimpft, wenn ich irgendwas angestellt habe. Er hat niemals mit irgendjemandem geschimpft …“
Der Neffe verbirgt sein Gesicht in der Armbeuge und weint. Als der Zweite das merkt, fängt er an, schneller zu erzählen:
„Einmal wurde ich in einen Unfall verwickelt. Ich hatte ein ganz neues Auto und wurde abgedrängt. Der andere Fahrer hat sich sehr unfair verhalten. Er leugnete alles. Ich fuhr nach Hause, war stinksauer. Da kommt Ojub an: ‚Jusuf, deine Hände sind ja dreckig? Komm, wasch dich‘. Er öffnete den Wasserhahn, und ich wusch mich. ‚Siehst du, alles Irdische, wie Dreck, kommt und verschwindet wieder. Vielleicht vergibst du ihm jetzt, dann wird auch dir der Allmächtige vergeben. Er ist auch nur ein Mensch, vielleicht hat er einen Fehler gemacht. Sowas passiert. Kein Grund sich aufzuregen‘. Er war ruhig wie der Prophet.“
Ich glaube im Allgemeinen, dass Namen einen Einfluss haben. Nicht immer einen direkten, natürlich. Aber die Spiegelung des Schicksals in unseren Namen ist schwer zu übersehen. Der Prophet Ojub (die tschetschenische Variante des biblischen Hiob) – das ist die Verkörperung der Geduld.
„Er hatte mal einen Wolga, den er schließlich auseinanderschraubte. Ersatzteile, Stoßstange, Türen – er legte alles aufs Dach“, erzählt ein Nachbar. „Da sitzt er zuhause und hört, dass jemand auf dem Dach herumläuft. Er schaut aus dem Fenster, und sieht einen Dieb. Ojub kennt ihn, der hatte auch einen Wolga. Er nahm alles was er brauchte mit und verschwand leise wieder. ‚Wie, du hast nichts gesagt?‘ ‚Nein, was soll ich ihm denn sagen?‘“
„Die ganze Familie saß zusammen, und sah fern. Da erinnerte sich Ojub, dass die Nachbarn keinen Fernseher hatten, denn sie waren sehr arm. Er schaltete ihn ab, packte ihn ein und brachte ihn rüber.“
„Seine Frau erzählte da mal was, ungefähr einen Monat vor seiner Verhaftung. Er kam nach Hause und sagte: ‚Haben wir noch Lebensmittel, Zwiebeln und Kartoffeln? Leg einen Vorrat an, diesen Monat gibt’s kein Gehalt.‘ ‚Aber du hast es doch schon bekommen.‘ ‚Ja, ich hab’s abgegeben, um den Armen zu helfen.‘ In den Bergregionen half er einfach allen. Die Nähmaschine hatte er auch weggegeben! Und seine Ehefrau machte das mit.“
„Irgendwann mal, während des Krieges, hörte ich, dass auf dem Basar Butter und Zucker günstig verkauft werden“, erzählt Ojubs Schwester. „Und er sagt: ‚Das geht nicht, das ist Diebesgut, das ist Haram. Wenn das nicht gestohlen wäre, würden sie’s nicht so günstig verkaufen. Wenn ihr was braucht, dann kauft es im Laden. Und wenn ihr wenig Geld habt, dann kauft eben nicht so viel‘.“
„Mittlerweile machen doch alle Mullahs bei uns das, was sie wollen. Aber Ojub hat in seinem Leben unter keinen Umständen auch nur ein Gebet versäumt. Er ist ein streng gläubiger Muslim. Aber er hat das nie zur Schau gestellt, niemandem etwas aufgedrängt oder jemanden belehrt.“
„Wenn Ojub irgendwohin unterwegs ist und an einer Beerdigung vorbeikommt, dann macht er da definitiv Halt. ‚Weil auch du sterben musst‘, das waren immer seine Worte.“
„Den Russen gegenüber ist er tolerant, aber mir fällt es schon schwer, in seiner Gegenwart zu rauchen“, erzählt ein Memorial-Mitarbeiter. „Von der Sauferei fange ich gar nicht erst an. Auf Seminaren im Hotel rennst du auf dem Balkon rum, du willst unbedingt rauchen, weißt aber nicht, in welchem Zimmer er wohnt, ob er was sieht oder nicht. Du gerätst ins Schwitzen: Und was, wenn er jetzt rauskommt? Er würde nichts sagen, aber sein Blick verrät alles. Wir waren auf einem Seminar und ich hatte Geburtstag. Eine Kollegin sagte: ‚So, zu diesem Anlass stoßen wir mit einem Wein an! Komm schon, was ist los? Gestern hast du doch auch getrunken.‘ Und ich sah es in Ojubs Augen: ‚Alkoholiker!‘“
„Mein Sohn hat geheiratet“, erzählt ein Freund, „und unser Haus war dafür nicht gemacht, deshalb musste die Hochzeit in einer größeren Räumlichkeit stattfinden. Von Ojubs Haus aus sind das fünfzig Meter. Aber er warnte mich: ‚Wenn die Hochzeit bei euch zuhause stattfindet, komme ich. Wenn sie in einem Festsaal stattfindet, komme ich nicht. Du weißt, dass das nicht die tschetschenische Sitte ist.‘ Aber ich war nicht gekränkt. Er wäre ohne zu fragen auf ein Himmelfahrtskommando mit mir mitgekommen. Aber zur Hochzeit kam er nicht, weil man traditionell im Haus des Bräutigams feiert.“
„Das ist das, was wir Gylk nennen – die Verhaltensregeln, der Ehrenkodex“, erzählt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Ojub hielt sich zu einhundert Prozent daran. Wie man sich in der Gesellschaft zu verhalten hat, insbesondere dort, wo Frauen sind. Selbst die Pose, wie du sitzt, wie du redest, welchen Ton du dir erlaubst. Ojub benahm sich immer sehr bescheiden, fürsorglich und großzügig. Alles was man für das Büro brauchte oder für die Teepause, kaufte er. Er ließ nicht zu, dass wir Geld ausgaben, obwohl das nicht seine Pflicht war. Nicht weit von uns gab es ein kleines Kaffeehaus. Wenn wir Zeit hatten, gingen wir mal vorbei. Ojub kam nach, und bezahlte sofort die gesamte Rechnung. Wir versuchten, nach ihm hinzugehen, weil es uns unangenehm war, dass er immer für uns zahlte.“
„Er ist von Beruf Schweißer, wenn auch ein Autodidakt“, erzählt ein Nachbar von Ojub. „Er reparierte für alle. Wenn im Dorf irgendwas passierte, ein Unfall oder irgendein Unglück, warf er alte Klamotten über, und los geht’s. Man muss ihn nur anklingeln an sein Tor klopfen, selbst um drei Uhr morgens, ganz egal. ‚Womit kann ich helfen?‘. Als ich baute, hat er mehr als ich gearbeitet.“
„Bei ihm gibt es kein Meins und Deins. Als wir in Gudermes arbeiteten, hatte er einen Shiguli, so einen roten. Wir alle fuhren ständig mit diesem Wagen. Er hat ihn nie jemandem verweigert. Einer kam, stellte das Auto ab – ich setzte mich und fuhr los. Ich kam zurück, ein anderer fuhr wieder los. Und irgend so ein Verkehrspolizist sagt: ‚Hör mal, jetzt sag mal ehrlich, wem dieses Auto wirklich gehört.‘“
„Ich habe ihm mal ein italienisches Sakko geschenkt, das mir zu groß war. Er befingerte es. ‚Gute Qualität, wie viel hast du dafür gezahlt?‘ ‚Fünfundvierzigtausend.‘ ‚Was denn, bist du übergeschnappt?! Weshalb soviel Geld? Du hättest es doch den Armen geben können.‘“
„Ojub hat den Armen immer Geld gegeben, das heißt bei uns Sadaqa. Er ging selbst zu ihnen. Er wusste, wo sie sind. Mich fragte er: ‚Weißt du, ob es bei euch in der Nähe jemanden gibt?‘ Wenn irgendwer in unserem oder im Nachbardorf etwas brauchte, ganz egal, er brachte Lebensmittel oder Geld vorbei. Und wenn die Kinder etwas für die Schule brauchten, dann kaufte er auch das. Einmal, das weiß ich noch, kaufte er den Kindern Bälle und Fußballtrikots.“
Sport hat Ojub sein ganzes Leben sehr ernsthaft betrieben. Nachbarn erzählten, dass sie vor ungefähr 15 Jahren nachts an sein Tor klopften und ihm sagten, dass Jakubs Haus in Flammen stand. Irgendwo war Gas ausgetreten. Ojub rannte los, um zu helfen, am anderen Ende des Dorfs. Aber vorher ging ihm die Puste aus. Von da an trainierte er täglich.
„Abends brauchte man Ojub nicht zu suchen, er war immer in der Sporthalle“, erzählt ein Nachbar. „Jeden Tag, selbst wenn er von morgens bis abends geackert hatte. Er trainierte mit Hanteln, ungeachtet seines Alters. Ein grandioser Boxer war er immer schon. Es verging kein Tag, an dem er nicht acht Kilometer gejoggt ist. Und jeden Sonntag in Gudermes zwanzig Kilometer. Einmal hat er mit einem Freund gewettet. Ojub warf sich eine kugelsichere Weste über, 18 Kilogramm, und sie liefen zu zweit los. Sein Freund hielt keine vier Kilometer durch, aber Ojub lief hin und zurück ohne innezuhalten.“
Sport war für Ojub ein Teil seiner Ethik. Um Menschen zu helfen, musste er kräftig sein.
„Er schrieb uns einen Brief“, erzählt ein Neffe, „ich habe ihn hier im Telefon: ‚Helft allen, sowohl Verwandten als auch Fremden. Ein Mann muss all jenen helfen, die in Schwierigkeiten stecken. Solch eine Möglichkeit gibt es nicht oft. Solange ihr jung und gesund seid: Helft euren Mitmenschen. Wo auch immer ihr gerade seid – helft! Und geht auf jeden Fall trainieren!‘“
Kapitel 8 Die Berge
Als Ojub und ich durch Tschetschenien fuhren, erzählte mir ein weiser Alter vom „Weg des Konach“. Der Konach, was auf tschetschenisch so viel wie Krieger oder Bewahrer bedeutet, ist die zentrale Figur der traditionellen tschetschenischen Ethik. Zunächst einmal hat er sich streng an alle traditionellen Verhaltensregeln zu halten. Es ist ein permanentes Training des Aushaltens und der Selbstbeherrschung.
Zweitens ist der Konach für die Schwächeren verantwortlich. Vor allem anderen muss er sich um die Familie kümmern, aber damit müssen seine Aufgaben nicht zwangsläufig enden. Er kann sich selbst das Gelöbnis abnehmen, alle Nachbarn, Kinder, Frauen und einsame Alte zu verteidigen und noch einiges mehr. Einige legendäre Konachen übernahmen die Verantwortung für ganze Dörfer oder Taips. Das bedeutete, dass jeder mit der Bitte um Hilfe zu ihm kommen konnte. Und der Konach musste für ihn einstehen, so wie er für seinen leiblichen Bruder einstehen würde. Die wichtigste Eigenschaft des Konach, erklärte der Alte, ist die Bescheidenheit. Du nimmst Verantwortung auf dich, aber stellst es nicht zur Schau.
Um der Gewalt ein Ende zu setzen, konnte der Konach sich mit fremdem Blut besudeln, und selbst zum Subjekt der Rache werden. Aber die stärksten Konachen nahmen nicht nur die Verantwortung für alle um sich herum auf sich, sondern lehnten auch Gewalt ab. Der ehrbare Konach ist unbewaffnet, aber durch sein Verhalten rüttelt er das Gewissen der Täter wach. Ich habe nie mit Ojub darüber gesprochen, aber ich denke, dass er in eben diesem Koordinatensystem lebte.
Im Jahr 2002 wurde Ojub zum ständigen Mitarbeiter von Memorial in Gudermes. Zusätzlich zum Monitoring von Morden und Entführungen stießen sie auch soziale Projekte an. Sie organisierten Kurse zur Beseitigung des Analphabetismus. Gemeinsam mit dem Komitee Zivile Zusammenarbeit halfen sie den Betroffenen der vom Krieg ruinierten Bergdörfer.
Das Gesundheitssystem war vollständig zerstört. Es gab weder Krankenhäuser noch Ärzte. Dafür jedoch eine riesige Zahl an Kranken und zu Krüppeln gewordenen Menschen. Zuerst mussten diese Menschen gefunden werden, denn die Bergbewohner hatten vergessen, was der Begriff „ärztliche Hilfe“ überhaupt bedeutete. Meine Schwester Aljona fuhr mit Ojub und Kollegen von Zivile Zusammenarbeit durch die Berge, sie befragten Einwohner, fahndeten nach Kranken, kauften Medikamente und transportierten Menschen zur Behandlung nach Moskau.
„Es war gefährlich da herumzufahren“, erzählte meine Schwester. „In den Bergen wurde weiter geschossen. Ich erinnere mich, als wir in einmal im Wedenski Rajon am Haus der dortigen Krankenschwester ankamen. Sie war so außer sich, ich wollte am liebsten direkt wieder gehen. Ich hatte Angst, dass mit ihr etwas passiert. Ihre Hände zitterten, sie kramte irgendwelche Heftchen und Krankenscheine hervor und sagte: ‚Ach je, lassen Sie, lassen Sie, besser wir sterben hier, alle zusammen.‘ Aber das war eine gute Arbeit, wir konnten viele retten. Insgesamt halfen wir ungefähr achttausend Menschen.“
Beinahe alle Schulen in den Bergen waren zerstört oder beschädigt. Im Krieg hatten beide Seiten hier gerne Stabsquartiere eingerichtet. Die Dorflehrer versuchten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu improvisieren, hielten Unterricht in unbeheizten Klassenzimmern ab, heizten mit Kanonenöfen. Auf Öfen und Elektroherden kochte man den Kindern Brei auf Wasserbasis oder aus der Milch der Kühe, die den Lehrern selbst gehörten. Ojub und Aljona pendelten zwischen den Bergen hin und her und kümmerten sich um die elementaren Dinge. Dazu kontaktierten sie Direktoren, Beamte, Einheimische und Arbeiter. Ojub setzte einen Finanzplan auf und kommunizierte mit den Bauarbeitern. Das Prozedere war ihm bekannt, er hatte es ja selbst durchstehen müssen. Irgendwo musste ein Dach repariert werden, eine Sporthalle, oder es mussten Leitungen verlegt werden, woanders baute man eine Brücke über eine Erdspalte auf dem Schulweg.
Jede dieser Reisen in die Berge war gefährlich. Jeden Moment konnte alles passieren. Menschen verschwanden regelmäßig, oder man fand sie tot am Wegesrand. Im April 2006 verließ der Fahrer des Versorgungsprogrammes, Bulat Tschilajew, sein Haus in Sernowodski. An einer Straßensperre stoppten Milizen des tschetschenischen Bataillons Sapadseinen Wagen. Sie zwängten Bulat in ihr Auto, seinen Beifahrer in den Kofferraum. Die beiden wurden nie wiedergesehen. Am wahrscheinlichsten ist, dass man sie direkt ermordet hat oder zu Tode folterte.
Viele Bergdörfer waren völlig verlassen. Den Föderalen war das ganz recht, denn so verloren die Milizen Essen und Unterschlupf. Die Soldaten sprengten die übrigen Häuser, damit die Leute nicht zurückkehrten. Viele Bewohner der kleinen Dörfer baten um Hilfe beim Wiederaufbau von Betrieben. Zivile Zusammenarbeit kaufte Traktoren für die Dörfer, um die Wege auszubessern und Vieh für einige Familien. Ojubs Leben war damals gänzlich ausgefüllt von all den Kühen und Traktoren. Es scheint, als wäre das trotz all der Widrigkeiten eine glückliche Zeit für ihn gewesen.
In dieser alten tschetschenischen Welt, aus der er kam, konnte man seine Schuld bereinigen und die Welt zurück ins Gleichgewicht bringen. Wer jemanden tötete, der zahlte mit Blut oder mit Hilfeleistung und Demut, wie sein Vater. Ojub fühlte sich schuldig für den Tod seiner Schüler und empfand es als seine Pflicht, andere Menschen zu retten, die unter den Folgen des Krieges litten. Er versuchte das Gleichgewicht wiederherzustellen in einer Welt, die vor seinen Augen zerbrach.
Kapitel 9 Natascha
Zum zweiten Wendepunkt in Ojubs Leben wurde der Tod Natascha Estemirowas, die ihn bei Memorial eingeführt hatte.
„Ojub saß in Kurtschaloi und Gudermes, den schlimmsten Gebieten in dieser Zeit. Er arbeitete dort still an gefährlichen Dingen“, erzählt Tatjana Lokschina. „Ich erinnere mich, dass Natascha sich sehr um ihn sorgte. Wenn sie jemanden an ihn vermittelte, betonte sie, dass man auf keinen Fall Aufmerksamkeit auf ihn lenken durfte.“
Natascha war aus völlig anderem Holz geschnitzt und kam aus einer anderen Welt. Ich habe erst vor Kurzem bemerkt, dass sie etwas gemeinsam hatten: Beide waren Lehrer. Aber wahrscheinlich ist das zentrale Motiv von Ojubs Geschichte der Kontrapunkt ihrer beiden Charaktere.
Natascha war ein äußerst emotionaler und temperamentvoller Mensch. Zur Hälfte Russin, war sie in der Oblast Swerdlowsk aufgewachsen und hatte anschließend im russischsprachigen Grosny gelebt. Sie arbeitete als Geschichtslehrerin. Als Menschenrechtlerin hatte sie sich schon vor dem Beginn des ersten Krieges betätigt. Während des zweiten kam sie dann zu Memorial und wurde zu einer großen Unterstützerin von Anna Politkowskaja. Alle nannten sie Natascha.
„Natascha war eine vollkommen europäische Frau“, sagt ihre Freundin Tatjana Lokschina. „Sie hatte den Gang und die Haltung einer Ballerina. Ungeachtet aller Geldnöte versuchte sie, sich stilvoll zu kleiden. Während irgendwelcher Dienstreisen ins Ausland kaufte sie sich von den letzten drei Kopeken alle möglichen wunderhübschen Tücher. Sie sprach schlecht Tschetschenisch und fühlte sich dort natürlich nicht ganz zuhause.“ „Viele denken, dass Natascha die Leiterin von Memorial in Grosny war. Aber das stimmt nicht. Mit ihren Eigenschaften eignete sie sich nicht als Chefin“, sagt der damalige Vorsitzende von Memorial, Oleg Orlow. „Sie war der Motor, das Herz.“
„Nataschka war ein sehr ambitionierter Mensch mit starkem Antrieb“, erzählt Lokschina. „Sie war sich der Gefahr völlig bewusst, aber sie konnte nicht aufhören. Sie bewegte sich an den gefährlichsten Orten, manchmal auf geradezu verrückte Art. Ungerechtigkeit konnte sie beinahe physisch nicht ertragen. Und es war ihr sehr wichtig, aus erster Hand berichten zu können: ‚Ich habe es gesehen, ich war da, man hat es mir erzählt.‘ Schweigen war für sie wie ein Messer an der Kehle. Endlos wurde auf sie eingeredetet: ‚Natascha, das sind sehr wichtige Informationen, bitte veröffentliche sie nicht unter deinem Namen. Du bist verrückt, du sitzt doch da mittendrin‘.“
Ojub gab niemals Interviews, Natascha dagegen schon. Die Kollegen waren sehr wütend. Aber Natascha war ein zutiefst öffentlicher Mensch. Sie sah sich als Journalistin. Sie war eine der stärksten Unterstützerinnen Politkowskajas. Nach Anna [Politkowskaja]s Tod wollte die Novaya Gazeta ihre Arbeit in Tschetschenien fortsetzen und sie schlugen Natascha vor, eine Kolumne zu schreiben.
„Natascha kam nach Moskau“, erinnert sich Lokschina, „und hat mir das in der Küche in völliger Ekstase erzählt. Aber die Leitung von Memorial entschied aus Sicherheitserwägungen, dass das nicht ginge. Sie machten mit der Redaktion der Novaya Gazeta aus, dass diese Kolumne nicht unter Nataschas Namen laufen solle, sondern unter Memorial. Sie wurde völlig hysterisch, war zutiefst verletzt und weinte.“
Die endlosen Überzeugungsversuche halfen nicht im Geringsten. „Natascha, komm, du lebst dort mit einem kleinen Kind! Die Menschen sorgen sich doch nur um deine Sicherheit!“ Um ihr Töchterchen hatte Natascha panische Angst, aber sie konnte einfach nicht im Untergrund leben.
„Als das mit der Kolumne nicht klappte“, fährt Lokschina fort, „fing sie an, Texte unter Pseudonym zu schreiben. Ich erinnere mich gut, wie sie anderthalb Jahre vor ihrem Tod wieder zu mir nach Moskau kam, ganz aufgekratzt und glücklich. Während ihres Fluges aus Grosny hatte sich ein Mitarbeiter des tschetschenischen Presseministeriums zu ihr gesetzt und ganz arglos zu ihr gesagt: ‚Natascha, hör mal, es gibt da diese Kolumne, in der Novaya Gazeta unter dem Namen Magomed Alijew. Ich erinnere mich an deine Texte im Grosnenski Rabotschi, die waren sehr ähnlich geschrieben. Sag mal, bist du das?‘. Und anstatt sofort in Deckung zu gehen: ,Na hör mal, wie kommst du denn darauf‘, blüht sie auf, und sagt mit einem breiten Lächeln: ‚Ach was? Du hast meinen Stil erkannt? Bin ich froh, dass ich gelesen werde.‘“
Ein Jahr vor ihrem Tod stauchte Kadyrow sie zusammen. Das war nach ihrem großen Interview bei REN TV darüber, dass Frauen gezwungen werden, Kopftücher zu tragen. Das war eine für Natascha schmerzliche Sache. In jenem Interview hatte sie erklärt, dass sie selbst eine Tschetschenin sei und dass, wenn sie bei Gedenkfeiern oder religiösen Leuten zu Gast war, ihren Kopf natürlich auch bedeckte. Aber niemand habe das Recht, eine Frau dazu zu zwingen.
„Kadyrow zitierte sie zu sich“, erinnert sich Lokschina. „Er brüllte sie zusammen und drohte ihr. Sie kehrte leichenblass zurück. Mir scheint, dass Kadyrow sie für eine Russin hielt, die als Angestellte von Memorial hier arbeitete. Aber aus dem Interview verstand er, dass sie eine Tschetschenin war, und dass er mit ihr machen konnte, was er wollte.“
Ich selbst habe nur einmal mit Natascha zu tun gehabt. Das war eine Woche vor ihrem Tod. Ich erinnere mich, dass sie sehr nervös war. Sie war mit einer Erschießung beschäftigt: Im Juli 2009 hatten Kadyrow-Milizen, die sogenannten Kadyrowzy, im Dorf Achkintschu-Borsoi öffentlich einen Bauern erschossen, weil er Rebellen einen Bock überlassen hatte.
„Sie warfen den krass Zusammengeschlagenen aus dem Auto, ein Haufen Fleisch. Er konnte praktisch nicht mehr sprechen, im Grunde konnte er gar nichts mehr“, erzählt Lokschina. „Sie erschossen ihn vor aller Augen, und sagten, dass so mit jedem verfahren würde, der den Rebellen hilft. Es spiele keine Rolle, ob du ein Schaf oder einen Brotkrumen gibst. Sie finden es heraus, und die Strafe wird fürchterlich sein.
Wir hörten von dieser Geschichte ausgerechnet über Ojub. Wir fuhren ins Dorf und unterhielten uns mit den Leuten, und Natascha gab dem Kawkaski Usel ein Interview.“
Natascha nannte die Namen der Mitarbeiter der Polizeibehörde, die die Erschießung durchgeführt hatten. Bald darauf ließ Ojub die Kollegen wissen, dass die Situation ausgesprochen gefährlich sei. Wegen mindestens dreier Fälle von Entführung, Mord und Folter, die Natascha in jenem Moment bearbeitete, waren die Kadyrowzy sehr wütend auf sie.
„Ich fuhr hin um herauszufinden, was da gerade passiert“, erzählt Swetlana Gannuschkina. „Natascha war voller Angst, also entschieden wir, dass sie da raus muss. Aber sie bat uns um eine Woche. Wir hätten sie zwingen müssen direkt am nächsten Morgen abzufahren. Aber wir machten mit dem Innenministerium aus, dass sie nach Stawropol geht, um da unsere Datenbank der Verschollenen mit ihrer zu vernetzen. Und das war’s. Natascha ging morgens aus dem Haus und bei dem Treffen mit den Beamten vom Innenministerium kam sie schon nicht mehr an.“
Das war der schrecklichste Morgen in der Geschichte von Memorial in Grosny.
„Wir fuhren los, um sie zu suchen, suchten die Gegend um ihr Zuhause ab“, erinnert sich Sokirjanskaja. „Und ausgerechnet die einzige Zeugin hatte gehört, wie ich mit den Marschrutka-Fahrern darüber sprach. Sie nahm mich zur Seite: ‚Fragst du nach Natascha?‘ Sie erzählte mir alles, zeigte mir den Ort, und stieg dann völlig verschreckt in eine Marschrutka.“
Sie hatten Natascha vor dem Haus abgefangen und sie in eine weiße Semjorka gezerrt. Es gelang ihr noch, zu schreien, dass man sie entführt. Mittags fand man Nataschas Körper mit Kugeln in Brust und Kopf in einem Waldstück nahe des inguschetischen Dorfes Gasi-Jurt.
„Ojub konnte damit einfach nicht leben“, sagt Lokschina. „Sie hatte ihn geschützt, für seine Deckung gesorgt. Und dann kam sie selbst um. Zurück blieb ein kleines Waisen-Mädchen.“
„Er wiederholte permanent: ‚Ich hätte an ihrer Stelle sein müssen‘“, erinnert sich meine Schwester. „Weil symbolische Phrasen absolut nicht seins waren, ist das wörtlich zu verstehen. Es gab einen konkreten Anlass. Man hatte sie für Informationen ermordet, die er ans Licht gebracht hatte.“
Grosny wurde enorm gut wieder aufgebaut. Es kann durchaus mit Moskau mithalten – nichts von wegen Regionalhauptstadt. Schöne Straßen, alles wie geleckt. Ich war vor zehn Jahren hier. Fast die ganze Stadt, außer entlang der Hauptstraße, bestand aus Ruinen. Es schien als gäbe es in ganz Tschetschenien keine Wand, die noch aufrecht steht. Sich jetzt vorzustellen, dass hier einmal Krieg war, ist absolut unmöglich.
Wie Russland sieht es hier nicht aus. Die Architektur erinnert an Ankara oder Dubai. Frauen laufen in bunten Hidschabs herum. Die Polizisten haben modische Uniformen, die an die der NATO erinnern, und alle tragen die gleichen Seemannsbärte. Russisch spricht auf den Straßen niemand, und russische Straßenschilder wirken ungewohnt vor dieser Kulisse.
Von den ersten Minuten an, den ersten Worten, der Intonation in Tschetschenien staune ich über diese Energie. Alles ist irgendwie gewaltig. Ein faszinierendes Volk, das ist sofort klar. Die Männer sind alle riesig, kantig, muskulös. Aber die Menschen sind höflich und entgegenkommend. Über den Putin-Prospekt, der in den Kadyrow-Prospekt übergeht, schlendern zwischen Wolkenkratzern Scharen russischer Touristen mit Reiseführern.
Dabei fühlt es sich sofort so an, als hätte sich irgendwas an der Atmosphäre stark verändert. Es ist ein anderes Tschetschenien. Früher, zwischen den Ruinen, als um einen herum unaufhörlich Menschen verschwanden, ließ es sich deutlich freier atmen.
„Während des Krieges, in den schlimmsten Momenten, kamst du in irgendein Dorf, und es stürmten sofort Leute auf dich zu, du wusstest nicht, wie dir geschieht“, erzählt Lokschina. „Man hat dich quasi auseinandergerissen, egal wer du warst – Journalist, Menschenrechtler, Moskauer, Ausländer. Hauptsache ein Mensch aus einer anderen Welt, dem kann man was erzählen. Die Menschen hatten ein unglaubliches Bedürfnis zu reden. Und danach, innerhalb der letzten sechzehn Jahre, ist das alles vor unseren Augen kollabiert. Die Menschen begannen, vorsichtiger zu reden und immer weniger. ‚Ich erzähle dir etwas, aber erwähne mich nirgendwo, nenne bitte nicht mal das Dorf. Ansonsten zählen die sofort eins und eins zusammen.‘ Oder: ,Hör mir zu, aber erzähle das niemandem weiter.‘ Irgendwann waren immer weniger Menschen bereit, überhaupt zu reden. Denn was wäre, wenn sich jemand verplappern würde.“
„Ich erinnere mich, wie einmal zwei Greise zu mir kamen, beide trugen eine Papacha“, erzählt Sokirjanskaja. „Sie kamen aus einem entfernten Dorf, früh am Morgen. Um was es ging, werde ich nicht konkretisieren. Sie erzählten mir lange ihre Geschichte. Und dann sagen sie: ‚Bitte veröffentlichen Sie nichts davon, das darf absolut nirgendwo erwähnt werden.‘ Ich sage: ‚Weshalb haben Sie dann so viel Zeit aufgewendet, hierher zu kommen?‘ ‚Wir wollten, dass Sie wissen, wie es hier tatsächlich zugeht. So wissen wenigstens Sie es.‘“
„Die Angst ist jetzt wesentlich größer als damals, als die Soldaten in die Dörfer kamen und sich alle der Reihe nach schnappten“, sagt der Memorial-Mitarbeiter Oleg Orlow. „Ich weiß noch, wie wir Anfang der 2000er wegen der Säuberungen rausgefahren sind. Ojub und ich wunderten uns: ‚Was machen die da?!‘ Sie pickten sich die nächstbesten Männer raus, warfen sie in die Zelle und verprügelten sie der Reihe nach. Dabei fragten sie: ‚Wo ist Schamil Bassajew?‘ Woher soll denn irgendein Bauer wissen, wo Schamil Bassajew ist? Sie stellten die idiotischsten Fragen, allen dieselben. Uns kam es vor, als wären sie einfach nur dumm und unkreativ. Und erst später wurde uns klar, dass das eine ausgeklügelte Taktik, beziehungsweise Strategie war. Sie wussten, dass sie von diesen Leuten keinerlei Information bekommen würden. Es ging darum, sie zu brechen.“
„Der Wahrheitsgehalt von Informationen interessierte sie gar nicht so sehr. Unter Folter schreist du irgendeinen Namen heraus: ‚Ja, ja, der ist ein Rebell!‘ In der Nacht holen sie diesen Menschen dann ab, und er verschwindet, während du und deine Familie von da an ihre Geiseln seid. Sie sagen dir: ‚So, Kumpel, du bist doch derjenige, der ihn angeschwärzt hat. Wir können ihnen das stecken, dann fließt nicht nur dein Blut, sondern auch das deiner Familie. Denk an deinen Sohn, an deinen Bruder, deine Neffen.‘ Auf diese Weise haben sie Anfang der 2000er ein Netz von Informanten aufgebaut“, erklärt Orlow. „Und dann die illegitime Gewaltausübung auf tschetschenische bewaffnete Gruppen übertragen. Gleichzeitig übergaben ihnen die Föderalen ein Netzwerk von Informanten. Über dieses Netzwerk konnten sie Stück für Stück, Jahr für Jahr eine ungeheure Atmosphäre der Angst etablieren. Heute verschwinden bedeutend weniger Menschen, aber die Angst ist größer als je zuvor. Jeder denkt, dass die Macht alles über ihn weiß.“
Vor zehn Jahren war Tschetschenien buchstäblich gespickt mit russischen Militärbasen. Überall waren Checkpoints, BTR Panzer, Stacheldraht, Sandsäcke und ausgeblichene Armeezelte. Jetzt ist all das wie vom Erdboden verschluckt. An ihrer Stelle wurden tschetschenische Bartträger herangekarrt, behangen mit teuren importierten Waffen, der Blick düster. Ramsan liebt es zu wiederholen, dass er über eine starke Armee verfügt. Das ist keine leere Prahlerei: Unter seinem Kommando stehen ungefähr 12.000 Silowiki. Formell dienen sie dem Innenministerium, aber sie führen ausschließlich die Befehle Kadyrows und seines Umfeldes aus. Wie schlagkräftig diese Armee wirklich ist, lässt sich schwer sagen, aber das Volk ist angesichts ihrer starr vor Angst. Den Namen ihres Chefs sprachen meine Gesprächspartner lautlos aus, mit einer bloßen Lippenbewegung.
Der damalige Chef von Memorial nannte Ramsan Kadyrow nach Estemirowas Tod einen Mörder.
„Weshalb sollte Kadyrow eine Frau umbringen, die niemandem etwas nützt? Sie hatte weder Ehre noch Würde noch Gewissen“, erwiderte Ramsan.
Weniger als zwei Monate nach Nataschas Tod entführten Sicherheitsorgane zwei Freunde der Memorial-Leute, Sarema Sadulajewa und Alik Dschabrailow. Sie waren Mitarbeiter der Organisation Wir retten eine Generation, die Kindern und Jugendlichen half, die Opfer des Krieges geworden waren. Am nächsten Morgen fand man ihre Leichen mit Foltermalen im Kofferraum ihres Autos. Das Büro von Memorial in Grosny wurde geschlossen, sein Leiter Schachman Akbulatow musste emigrieren.
Seine Ermittlungen zu den Morden beendete Ojub ziemlich schnell. Wir sahen uns wenige Monaten danach, und er kannte schon sämtliche Namen und Umstände. Aber die Untersuchungskommission hatte nicht vor, die Mörder zu suchen. Sie zu finden wäre nicht schwer gewesen. Natascha hatte mit ihren Entführern gekämpft, und unter ihren Fingernägeln waren DNA-Rückstände haften geblieben. Aber die Moskauer Fahnder dazu zu bewegen, Proben bei den Kollegen in Kurtschaloi zu nehmen, war unrealistisch. Einer Sache nachzugehen, die zu den Untergebenen von Kadyrow führen konnte, war ihnen verboten. Stattdessen versuchten die Fahnder die Beweise zu fälschen, und die Tat Rebellen unterzuschieben, die schon bald nach Nataschas Tod getötet wurden. Eine echte Ermittlung konnte Memorial nicht erreichen, aber Ojub und seine Kollegen sammelten unumstößliche Beweise für die Hinfälligkeit dieser Version. Die Untersuchungskommission war ratlos, die Ermittlungen liefen auf. Man untersucht den Fall bereits seit neun Jahren.
Keiner wusste, wie weiter. Die Arbeit von Memorial wiederaufzunehmen, bedeutete, bewusst das Risiko einzugehen, dass es noch mehr Opfer geben könnte. Aber die Kollegen in Grosny entschieden sich dafür.
„Ojub sagte, dass es in diesem Moment geradezu ein Verbrechen von unserer Seite gewesen wäre, die Arbeit einzustellen“, erinnert sich Orlow, „dass wir es Natascha schuldig seien, und dass all die Leute völlig hilflos wären, wenn wir aufhörten. ‚Wozu waren wir all die Jahre hier, wenn wir jetzt gehen?‘ Er setzte sich konsequent für die Offenhaltung des Büros ein und schließlich setzte er sich durch.“
Es stellte sich die Frage, wer die Leitung übernimmt. Niemand traute sich.
„Aber Ojub erklärte sich bereit, blieb dabei auch ganz ruhig“, erinnert sich ein Kollege, „obwohl er es weit hatte von Kurtschaloi. ‚Was soll’s, ich werde fahren.‘ Er kam morgens an, und abends fuhr er als einer der Letzten.“
„Ojub war schon früher äußerst motiviert, aber nach Nataschas Tod, glaube ich, wurde das zu Besessenheit“, sagt Lokschina.
Es ist kaum vorstellbar, wie schwer es Ojub damals gehabt haben muss. Er hatte doch die ganze Zeit Vergebung erfleht, jahrelang Steintafeln graviert. Und dann war schließlich ein Mensch aufgetaucht, der ihm half. Sie erfüllte sein Leben mit Sinn, lehrte ihn, etwas wahrhaft Wichtiges zu tun, womit er seine Schuld tilgen konnte. Er begann Natascha zu helfen, gab sich die größte Mühe. Und sie brachten sie um.
„Ich kam aus Dagestan und traf mich mit Ojub. Der Friedhof war neben der Straße, auf einem Hügel“, erzählt Sokirjanskaja. „Wir fuhren an ihrem Haus vorbei, liefen über den Friedhof. Man drückt die Handfläche in die Erde, hinterlässt einen Handabdruck, so machen die Tschetschenen das, und danach verlässt man den Ort wieder.“
„Zum Jahrestag von Nataschas Tod gab es diese tschetschenische Tradition des Sadaqa. Man schlachtet ein Tier, und das Fleisch wird den Armen gegeben“, erinnert sich Lokschina. „Ojub kümmerte sich um den Kauf eines Ochsenkalbes. An so einem traurigen Tag eine schwere Aufgabe, meint man. Aber es war geradezu erhellend, ihm zuzusehen. Wie er Geld sammelte, dann dieses Ochsenkalb aussuchte, allen Bildern davon schickte, was für ein tolles Kalb er für dieses Geld gekauft hatte. Darin war er ganz er selbst, er blühte geradezu auf.“
In Ojubs Welt konnte die Opfergabe Erleichterung bringen. Aber jene Welt gab es nicht mehr und das Ochsenkalb konnte daran nicht viel ändern. Den Großteil der Schuld hatte Ojub auf sich genommen. Er war bereit, die Verantwortung für alle zu tragen, und zum Objekt der Rache zu werden.
Kapitel 12 Per Anhalter durch Tschetschenien
Nachdem ich mit Freunden und Verwandten von Ojub gesprochen hatte, bereitete ich mich schon auf die Abreise vor. Aber dann spürte ich, dass mir irgendetwas fehlte. Ich hatte das echte Tschetschenien nicht gesehen, außerhalb der Politik und des vorliegenden Themas. Ich ließ meinen Computer bei Freunden zurück, schnappte mir ein altes Nokia mit lokaler SIM-Karte, stellte mich an den Straßenrand und hob den Daumen.
Per Anhalter durch Tschetschenien zu reisen ist wunderbar. In den Dörfern, besonders in den Bergen, atmet man sofort freier. Die Menschen sind wesentlich entspannter, keine dieser garstigen Blicke der Bärtigen, ohne diese trügerische, an Dubai erinnernde Atmosphäre und die teuren Karren, der Anschein des reichen Bergbewohners.
Man musterte mich mit freundlicher Verwunderung, denn Touristen kommen hier sonst nicht her. Meistens dachte man, ich sei ein Soldat, der auf seine Basis zurückkehrt. Einige Male erntete ich schiefe Blicke, aber die überwiegende Mehrheit der Menschen nahm meine Ankunft sichtlich erfreut auf. Und dabei geht es nicht nur um die Gastfreundschaft. In den Blicken und dem Lächeln stand etwas geschrieben: „Siehst du, am Ende haben wir uns doch noch versöhnt.“ So als wären wir noch in der Sowjetunion, als hätte es nie einen Krieg gegeben und die Menschen könnten einander einfach so besuchen.
Wenn du über Tschetschenien erzählst, spürst du als Reporter schnell deine eigene Eindimensionalität. Du fängst an über Entführungen, Folter und Mord zu erzählen und es kommt ein Horrorfilm über die Zeit des Tschetschenienkrieges dabei heraus. Und direkt neben dir steht eine schöne, moderne Stadt, in der alles wunderbar ist und normale Menschen leben. Wenn du über die Angst schreibst, lassen sich die hübschen Springbrunnen nur schwer erwähnen oder aber die Tatsache, dass sich die Menschen hier an der Ruhe erfreuen. Und wenn du dann von den Springbrunnen, den Kaffees und der Wohltätigkeit Ramsans erzählst, ist es schwer, sich daran zu erinnern, dass sich hinter all dem menschenverachtende Sklaverei verbirgt.
„Bei uns im Dorf gibt’s so einen Alleskönner, der machte früher LKW-Reparaturen. Bei ihm ist’s wunderschön. Es gibt Wald, Berge, Flüsschen. Zu ihm kommen die Leute häufig, um sich zu erholen. Er baute Häuser, unterhielt einen Gemüsegarten und ein bisschen Vieh. Der Ort gefiel jemandem aus Zentaroi, dem Heimatort der Kadyrows. Er bot ihm an, ihn zu kaufen, aber er lehnte ab. Als er gerade nicht auf dem Bauernhof war, kamen sie an, zerlegten alle seine Maschinen, nahmen sie mit und versetzten sie als Altmetall. Im Anschluss boten sie ihm noch einmal an zu verkaufen. Diesmal zu einem Drittel des Preises. Er sagt: ‚Nehmt ihn euch doch einfach so, aber ich werde euch das niemals verzeihen.‘ Da kamen sie und schlugen ihn zusammen. Er hatte Glück, dass er am Leben blieb.“
„Man hat entschieden, ein Einkaufszentrum im Dorf zu bauen. Dazu nahmen sie mir einfach mein Grundstück. Keinerlei Kompensation, was denkst du denn! Sie haben eine Abmachung mit der lokalen Führung, mehr brauchen sie nicht. Ja, vor welches Gericht denn!? Weißt du, diese Typen kommen an, sacken dich ein und schlagen dann das gesamte Gericht kurz und klein.“
„Ein Verwandter von mir ist ein hohes Tier in der Verwaltung. Ungefähr 60 Millionen Rubel [etwa 790.000 Euro – dek] zahlen sie jedes Jahr an Chosi-Jurt, unser Bezirk ist klein. Alle zahlen: Institutionen, Organisationen, sämtliche Abteilungen aller Bezirksämter. Sie rechnen fiktive Pensionen ab, Kompensationen, halten Karteileichen in den Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten.“
„Ende April 2018 hielt Kadyrow eine Sitzung ab, auf der er an der Arbeit der Stadtplanung und Haushaltversorgung auf Kosten der Bevölkerung Kritik übte. Das Volk zuckte zusammen: Jetzt geht’s los. Buchstäblich am darauffolgenden Tag machten sie sich auf, um die Schulden für die Gasversorgung einzutreiben. Ein, zwei Kontrolleure, ein Schweißer und ein Polizist. Sie forderten die sofortige Begleichung irgendwelcher alter Rückstände laut fiktiver Rechnungen. Konnte man nichts vorlegen, wurde das Gas sofort abgedreht. Zahlte einer nicht, wurde das ganze Haus vom Netz genommen: ‚Bewegen sie ihren Nachbarn dazu zu zahlen, dann schalten wir wieder ein.‘ Und die Einschaltung erfolgte nur über das Bürgermeisteramt, entweder über einen Berg von Formularen, oder durch Bestechung.“
Offen redet selbstverständlich niemand über all das. Aber wenn man ein Weilchen mit dem Fahrer gequatscht hat, irgendwo zum „Tee trinken“ angehalten hat (das heißt: bis zum Erbrechen vollgestopft wurde), und zwischendurch eine unschuldige Frage à la „Für wie viel Geld kann man sich bei euch das Recht kaufen?“ stellt, dann wirst du mit größter Wahrscheinlichkeit einige solcher Geschichten zu Ohren bekommen.
Ist das wirklich noch Russland? Tatsächlich ist die Situation hier eine andere. Es handelt sich nicht so sehr um die totale Korruption, als um ein System der illegalen Besteuerung. Der Großteil des Geldes versinkt nicht in irgendwelchen Manteltaschen, sondern fließt nach oben, in den Achmad-Kadyrow-Fonds, eine Nebenkasse des Regimes. Dieser Fonds ist niemandem außer Ramsan unterstellt. Laut Kommersantexistiert in der Datenbank des Justizministeriums keine einzige Abrechnung seit Gründung des Fonds, obwohl nicht-kommerzielle Organisationen laut Gesetz zu ihrer regelmäßigen Bereitstellung verpflichtet sind. Zusätzlich verfügt der Fonds über gigantische Unternehmenswerte, ist Gründer der bedeutendsten Firmen von Grosny, und kontrolliert, wie der Kommersant schreibt, den Großteil tschetschenischer Immobilien.
Jeder Tschetschene gibt von seinem Einkommen monatlich seinen Anteil an den Fonds ab, zehn bis dreißig Prozent. Jedes Unternehmen, ob staatlich oder privat, muss dorthin eine gewisse Summe entrichten. Wie, das ist ihr Problem. Ramsan verteilt diese Gelder dann unter dem Anschein großer Barmherzigkeit an Bedürftige, oder staffiert seine Kämpfer damit aus.
Natürlich versickert davon auch etwas bei Mittelsmännern, sonst würde das System nicht funktionieren. Aber im Großen und Ganzen ist es Zentaroi, das sich um die Disziplin kümmert. Jeder weiß, was ihm bei Ungehorsam droht. Im besten Falle wird man sofort entlassen, im Schlimmsten kommen sie, sammeln dich ein, ketten dich an den Heizkörper und schlagen dich solange, bis deine Verwandten alles bezahlt haben, was du ihnen schuldest, oder noch mehr. (Wie dieses System funktioniert, hat Jonathan Littell sehr klar und ausgewogen in seinem Buch Tschetschenien. Jahr III beschrieben. Ich empfehle es jedem.)
De facto gelten die Gesetze der Russischen Föderation in Tschetschenien nicht. Das heißt jedoch nicht, dass es gar kein Gesetz gibt. Was existiert und strikt ausgeführt wird, ist der Wille Ramsans. Die Unterordnung des nominalen unter das reale Gesetz wird tagtäglich demonstriert, aber das vermutlich deutlichste Beispiel liegt zwei Jahre zurück. Kadyrow hatte dem Vorstand des Obersten Gerichtshofes der Republik, der von Moskau ernannt wird, befohlen, in den Ruhestand zu treten. Aber der stellvertretende Vorsitzende Tachir Murdalow weigerte sich, den Befehl auszuführen. Die Angelegenheit endete damit, dass Lord (Magomed Daudow, die rechte Hand Ramsans) persönlich zum Obersten Gerichtshof fuhr, und dessen Vorsitzenden öffentlich zusammenschlug.
Es gibt eine inoffizielle Abmachung: Moskau mischt sich nicht in die Regierungsangelegenheiten Tschetscheniens ein, im Austausch für die formelle Anerkennung der russischen Souveränität. Russland kann und will die hier begangenen Verbrechen nicht aufklären.
Auf der anderen Seite ist die Gruppe, die die Macht an sich gerissen hat, zur Geisel ihres eigenen Sieges geworden. Was bedeuten tausende Verschleppte, Gefolterte und Ermordete? Dass die Kadyrowzy tausende Todfeinde haben. Das erlaubt es dem Regime nicht, auch nur einen Moment zu schwächeln. Sie können sich nicht entspannen, Pfunde ansetzen oder ihre Kinder nach London schicken. Sie sind gezwungen, sich aneinanderzuklammern und die Atmosphäre der Angst in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, auf dass auch nicht nur ein Gedanke an Rache aufkommt. Sie können es sich nicht erlauben, die Macht abzugeben. Dabei verstehen sie, dass Moskau sie nur solange duldet, wie sie die Islamisten im Griff haben. Und diese Strömungen gibt es in Tschetschenien. Der staatliche Terror provoziert sie natürlich selbst und hält sie gleichzeitig davon ab, zu eskalieren. Was dabei herauskommt, ist ein alptraumhafter Knoten, der sich immer fester zuzieht.
Ramsan Kadyrow erklärte mehrmals, wenn Jugendliche in den Bergen verschwinden, um sich den Separatisten anzuschließen, dann müsse man ihre Familien dafür zur Verantwortung ziehen. Die tschetschenische Polizei ging dazu über, die Häuser von Verwandten niederzubrennen. Auf die Rufe der Menschenrechtler antwortete Moskau nicht. Und schon bald weitete sich das Prinzip der kollektiven Verantwortung auf alle aus.
„Jeden Monat erreichen mich dutzende Briefe aus Tschetschenien“, erzählt der Leiter des Komitees gegen Folter Igor Kaljapin. „Und jedes Mal kommt es zu ein und demselben Gespräch: ‚Ihr Sohn ist seit vier Tagen weg, das heißt, dass man ihn aller Wahrscheinlichkeit nach gerade foltert. Beim nächsten Mal werden Sie ihn im Gerichtssaal sehen, wo er sich zur Vorbereitung eines Terroranschlags bekennt. Wir können Ihnen einen Anwalt aus Zentralrussland schicken, der innerhalb eines Tages herausfindet, wo ihr Sohn steckt und ein Treffen mit ihm erwirkt.‘ Aber die Leute lehnen das ab. Sie haben Angst um andere Familienmitglieder. Warum sie mir schreiben, verstehe ich nicht.“
„Man hat eine Anzeige, die Zeugenaussage dieses Menschen“, sagt eine andere Memorial-Kollegin von Ojub, „auf Video. Aber dann sagt er plötzlich: ‚Nein, ich habe denen das nur vorgelogen, ich habe gar nichts gesagt, die haben sich das alles ausgedacht, um den ehrlichen Namen von Ramsan Achmatowitsch Kadyrow zu besudeln.‘“
„Weißt du, was für mich echt einschneidend war? Schon vor Ewigkeiten tauchten die Porträts auf – Ramsan, Achmad, der ganze Kram. Zuerst in den Büros, das ist klar, dann in den Läden, was schon der zweite Schritt ist. Aber dann sind wir bei einem Bekannten Zuhause zu Gast, und bei ihm an der Wand hängt ein Porträt von Kadyrow“, erinnert sich Lokschina. „Du kennst einen Menschen viele Jahre lang, seine Einstellung zu Ramsan Kadyrow ist dir ebenfalls wohlbekannt. Du schaust dir das Porträt an und fragst gar nicht erst. Aber er spricht es selbst an: ‚Du weißt, ich habe eine Familie, Kinder …‘“
Es ist schwer vorstellbar, was für tiefgreifende Veränderungen der kadyrowsche Terror in Tschetschenien hervorgebracht hat. Noch vor nicht allzu langer Zeit wusste jeder Tschetschene, dass er unter dem Schutz der Familie und des Taips stand. Und er selbst lebte nach ihren Interessen, verteidigte ihre Ehre, war bereit sein Fleisch und Blut zu verteidigen. Das war das grundlegende Weltbild, Selbstachtung, das ganze Leben. Der Zusammenbruch dieser Ordnung war für Ojub eine Tragödie. Die fundamentalen Gesetze seines Universums verloren vor seinen Augen ihre Wirkung. Die Menschen begannen, an etwas anderes zu glauben. Das Alte wurde überall ersetzt durch hohe Minarette und funkelnde Jeeps.
In Grosny ist all das natürlich schwer zu bemerken. Wo der Blick auch hinfällt, er trifft nur auf Wohlstand aus Glas und Beton. Was fühlen die Menschen dort? Ich vermute, alles zugleich: Erniedrigung, Angst, Liebe zum großen Bruder, Stolz auf seine Errungenschaften, Freude über das Leben in Frieden.
„Am Ende sind wir doch unverwüstlich!“, erzählt mir eine Bekannte aus Grosny. „Auch wir wollen leben, uns irgendwie am Leben erfreuen, anstatt die ganze Zeit ans Überleben denken zu müssen. Soll doch herrschen wer will, aber lasst uns einmal durchatmen.“
„Was soll man machen, wenn sich um einen herum alle mit dem abgefunden haben, was passiert?“, überlegt Tscherkassow. „Es hat sich gezeigt, dass schon das Sammeln von Informationen ein Weg ist, das Leben in diesem Irrsinn mit Sinn zu füllen.“
Kapitel 14 Hyperverantwortlichkeit
Nachdem er die Leitung von Memorial in Grosny übernommen hatte, veränderte Ojub die Arbeitsmethodik grundlegend. An erster Stelle stand nun die Sicherheit. Keiner der Mitarbeiter veröffentlichte mehr unter seinem Namen, keiner gab mehr Interviews oder trat irgendwo öffentlich auf. Sämtliche Informationen flossen ausschließlich nach Moskau. Die Mehrheit der Journalisten, darunter auch ich, wussten gar nicht, dass Memorial seine Arbeit vor Ort überhaupt fortsetzt. Nataschas Ära war vorbei, und es begann die Ära Ojubs. Die jetzt vermutlich auch vorbei ist.
„Wer nicht über kommunikative Weisheit verfügt, hat sich bei uns nicht lange gehalten“, sagt Sokirjanskaja. „Du musst in der Lage sein, manchmal mit hochrangigen Beamten zu kommunizieren, musst aber auch das Vertrauen einfacher Leute gewinnen. Und die schreien manchmal, ticken aus, stellen erstmal Forderungen, ziehen Anzeigen wieder zurück, oder lassen dich einfach im Stich. Die Situation ist gefährlich, alle riskieren etwas. Und Ojub war in dieser Hinsicht ein Virtuose. Er kann mit Menschen reden, sie beruhigen, den richtigen Ton treffen, man spürt, dass man ihm vertrauen kann.“
„Ojub machte seine Arbeit sehr leise, schweigend. Er rannte nicht mit dem Kopf durch die Wand“, erklärt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Er gab niemals Interviews. Denn ein Journalist ist ein Mensch von außerhalb, der die örtlichen Besonderheiten nicht kennt. Er tut, was er für richtig hält. Aus redlichen Absichten heraus denkt er, dass es am besten ist, zu publizieren. Aber tatsächlich kann die kleinste Information den Kadyrowzy von Nutzen sein.“
„Ojub sagte uns niemals, woher er was hatte. Er sagte einfach: ‚Ich hab’s raus.‘ Er telefonierte mit jemandem, sagte: ‚Wir müssen uns treffen‘, und fuhr los. Und natürlich vertraute er keinerlei Technik.“
Ojub war absolut frei von persönlichen Ambitionen. Ich denke, zum Teil deshalb, weil in der Bergwelt, aus der er kam, das Individuum überhaupt nicht wichtig ist. Der Mensch kümmerte sich um das Überleben seines Geschlechts und versucht selbst so zu leben, wie sein Vater und Großvater. Für Ojub war es von höchster Bedeutung, ein echter Tschetschene und guter Muslim zu sein. Aber persönliche Ambitionen lagen einfach außerhalb seiner Begriffswelt. Er war nicht frei von der Meinung der Gesellschaft, aber seine Gesellschaft war eine andere. Der Respekt der anderen Dorfbewohner hat ihn höchstwahrscheinlich sehr beschäftigt.
„Ojub achtete darauf, dass wir Mädels nicht alleine im Büro blieben“, sagt eine Mitarbeiterin von Memorial. „Er ging immer als letztes. Wenn er ging, sagte er den anderen: ‚Geht nicht, bevor die Mädels nicht weg sind.‘ Wenn sich jemand verspätete, rief er sofort an und fragte, was bei ihm los ist.“
„Zu behaupten, dass die Menschenrechtsarbeit meine Berufung und Leidenschaft ist“, schrieb Ojub vor kurzem in einem Brief an Soja Swetowa, „wäre nicht die Wahrheit. Ich empfinde mich nicht als glücklich, und ich gehe nicht meiner Leidenschaft nach. Ich würde viel lieber Kinder trainieren.“
„Normal zu arbeiten, also loszufahren und mit Leuten zu sprechen, wurde außerhalb der Grenzen deines Umfeldes praktisch unmöglich, die immer enger und enger wurden“, sagt Sokirjanskaja. „Du hast Angst um die Menschen, denn sie werden Probleme bekommen, und deine Freunde haben Angst um dich. Ojub ließ mich nicht mal im Büro allein, selbst aus dem Auto ließ er mich nicht aussteigen. Sehr sanft und unaufdringlich. Man würde ihm ja aus Respekt nicht widersprechen.“
Im Januar 2015 verwüsteten bewaffnete Maskierte das Büro von Memorial in Gudermes.
„Ich dankte Allah, dass Ojub in diesem Moment nicht auftauchte!“, sagt eine Mitarbeiterin. „Auch wenn es sieben Leute waren, er wäre garantiert auf sie losgegangen. Ich habe ihn direkt angerufen, nachdem sie weg waren. Er stand sofort vor der Tür. Es kam mir vor, als hätte er von Grosny hierher nur zwanzig Minuten gebraucht.“
Eins nach dem anderen beendeten die Memorial-Büros in Sernowodsk, Urus-Martan und Gudermes ihre Arbeit.
„Die Büros schlossen aus unterschiedlichen Gründen“, sagt Tscherkassow. „Unter anderem auch deshalb, weil irgendein Mitarbeiter ein schlechtes Bauchgefühl hatte. Es ist ja nicht schlecht, wenn ein Mensch versteht, dass unter diesen Zeichen keine Arbeit mehr möglich ist. Niemand zwingt dich zu Kamikaze. Naja, also war Grosny jetzt unsere letzte Bastion.“
Viele Mitarbeiter verließen Memorial und wechselten in andere Bereiche.
„Einer sagte, dass er nicht gegangen sei, weil er um sich selbst Angst hatte“, erzählt meine Schwester. „Memorial könne einfach nicht mehr so arbeiten wie früher. Er müsse von Kritik an den Machthabern absehen, vor Kadyrow kuschen. Er hatte das Gefühl, dass es keinen Sinn hat weiterzumachen.“
„Früher hast du die Resultate deiner Arbeit gesehen“, erzählt eine Memorial-Mitarbeiterin, „sie ließen jemanden frei, und man erreichte wenigstens ein wenig Gerechtigkeit. Aber in der letzten Zeit kann man gar nichts mehr machen. Direkt neben unserem Büro hielten sie einen Wagen an, schnappten sich einen jungen Kerl, und nahmen ihn mit. Es ist ein Teufelskreis: Es gibt einen Haufen Information, aber du kannst sie nicht verwenden.“
Ojub hatte aus irgendeinem Grund gar keine Zweifel. Und das obwohl er all die Jahre am Abgrund entlang balanciert war.
„Tatsächlich wurde Ojub mehrmals gewarnt“, sagt ein Kollege. „Sie gabelten ihn auf und nahmen ihn mit in die Polizeidienststelle. Ojub erzählte nie, mit was konkret sie ihn dort bedrohten, aber ich kann es mir vorstellen: ‚Entweder hörst du damit auf, gegen uns zu agitieren, oder dich gibt’s bald nicht mehr.‘ Er wusste ganz genau, dass sie Mörder sind, dass sie jeden Moment seine Kinder holen könnten. Damit hat er viele Jahre gelebt.“
„Ich hab’s irgendwann aus ihm herausgebracht, er hat’s mir erzählt“, sagt Sokirjanskaja. „Sie sagten ihm, dass sie ihn umbringen, dass er sein letztes Wort gesprochen hat. Aber damals wollte er das nicht erzählen. Selbst die Moskauer wussten davon nichts. Er hat es nicht erzählt, weil er Angst hatte, dass man Memorial in Tschetschenien schließen würde.“
„Es gab viele riskante Situationen“, erzählt Elena Milashina. „Aber ich hielt mich immer an das folgende Prinzip: Wenn Ojub ‚stopp‘ sagt, dann hören wir auf. Außer in einem einzigen Fall, dieser verfluchten Jahrhunderthochzeit. 2015 kamen Verwandte von Luisa Goilabijewa aus dem Dorf Baitarki auf mich zu. Der Chef der örtlichen Polizeibehörde, Naschut Gutschigow, wollte ein 17-jähriges Mädchen zu seiner zweiten Frau machen. Er war dreimal so alt wie sie. Ihre Familie bat uns, darüber zu schreiben. Sie baten Kadyrow, einzuschreiten, denn er hatte Ehen mit Minderjährigen verboten. Ich schrieb, aber Ramsan Achmatowitsch reagierte mit ‚Leck mich am Arsch!‘, und entschied, eine Show daraus zu machen: ‚Die Jahrhunderthochzeit‘. Aber ich musste mit diesem Mädchen sprechen, deswegen fuhr ich hin. Ojub war ja spezialisiert auf die bergigen Bezirke, die man nur schwer erreichte. Ich ging zu ihm. Er sagte: ‚Du kannst da nicht hinfahren‘. Ich sagte: ‚Ojub, ich verstehe, dass ich nicht sollte, aber ich werde zum ersten Mal nicht auf dich hören, weil ich muss.‘ Ich entschied über Dagestan zu fahren, weil es dort sicherer war und so eine Chance bestand, noch bei Tageslicht zurückzukehren. Morgens früh klingelte mein Telefon. Ojub stand schon am Posten zwischen Tschetschenien und Dagestan. ‚Ohne mich wirst du nicht fahren!‘“
„Ihm war klar, dass ich in jedem Fall fahren würde. Ein zweites Mal das durchmachen, was mit Natascha passiert war, das konnte er nicht“, fährt Milashina fort. „Wir aßen Fladenbrot und fuhren durch die wunderschöne Berglandschaft. Ojub hatte einen Plan. Naja, und der erste Mensch, an den wir uns in Baitarki diesem Plan entsprechend wandten, verriet uns an Kadyrow. Das war uns nach buchstäblich zwei Sätzen klar. Trotzdem fuhren wir zu den Goilabijews. Luisa rannte vor uns weg, ihr Vater ebenfalls. Wir sprachen mit ihrer Schwester und fuhren zurück. Da bemerkten wir, dass wir verfolgt wurden. Wie wir in diesem Lada Kalina die Serpentinen entlang gejagt sind! Es regnet, wir nehmen eine Kurve nach der anderen, und da kommt ein Abhang und Erde rieselt in einem fort hinunter. Nun ja, eine ziemlich lustige Fahrt war das mit ihm … Als wir in Grosny ankamen, war es bereits spät in der Nacht. Und Ojub bekam sofort Anrufe: Man warnte ihn, dass er sofort aus Tschetschenien verschwinden müsse.“
Nach der Sache in Baitarki blinkte der rote Alarmknopf wie verrückt. Ramsan und Lord rasten vor Wut. Memorial brachte Ojubs Frau und Kinder umgehend aus Tschetschenien weg, nach Moskau und dann nach Schweden. Ojub verbrachte dort drei Monate mit ihnen und kehrte dann zurück. Ein Leben außerhalb von Tschetschenien und seiner Arbeit konnte er sich nicht vorstellen.
In die Einzelheiten seiner Arbeit weihte Ojub seine Familie nie ein.
„Wir dachten, er macht einen ganz normalen Beamtenjob“, sagt seine Schwester. „Alles war so offiziell, die Organisation hatte einen guten Namen. Memorial arbeitet ja nicht nur in Tschetschenien, sondern überall. Deswegen waren wir nicht beunruhigt.“
„Die Familie war sich nicht bewusst, wie ernst die Lage war“, erklärt ein Kollege. „Ansonsten wären sie natürlich nicht zurückgekehrt. Ich erinnere mich an diese Unterredungen. Ojub sagte ihnen ‚Nein‘, aber sie verstanden nicht. ‚Du wohnst doch auch zu Hause. Das wollen wir auch.‘“
Ein halbes Jahr später kehrten sie zurück. Sie ließen einfach alles stehen und liegen, flogen zu Ojub und pfiffen auf ihren Flüchtlingsstatus.
Kapitel 16 Zwei Kapitäne
Dass das tschetschenische Memorial nach Nataschas Tod neun Jahre durchgehalten hat, ist ein echtes Wunder. Das hat zum Teil auch damit zu tun, dass an Ojubs Seite 2010 völlig unerwartet ein Mitkämpfer auftauchte.
Igor Kaljapin erinnert an eine Bulldogge – stämmig, ernst, furchtlos und mit eisernem Händedruck. Er hatte Physik studiert, wurde während der Perestroika aufgrund seiner Teilnahme an den Studentenprotesten aus der Universität ausgeschlossen und war in den 1990er Jahren als Geschäftsmann in Nishni Nowgorod tätig. Er wurde unter falschem Vorwand verhaftet, und unter schwerer Folter holte man ein Geständnis aus ihm heraus. Nach seiner Freilassung gründete Igor das Komitee gegen Folter und wurde als Menschenrechtler aktiv.
Stück für Stück wurde das Komitee zu schlagkräftigsten Organisation Russlands, die folternde Polizisten und Gefängniswärter hinter Gitter bringt. Das Komitee ist dafür bekannt, dass es strafrechtliche Ermittlungen auf sehr hohem, professionellem Niveau durchführt. Sie kennen sich hervorragend in der Strafprozessordnung aus und sind in der Lage, sich wie eine Klette an die Fersen der offiziellen Strafverfolger zu hängen und so zu verhindern, dass die aus der Ausübung ihrer Pflichten flüchten.
Nach der Ermordung Estemirowas, als klar wurde, dass die tschetschenischen Menschenrechtler in Tschetschenien unter tödlicher Gefahr arbeiteten, traf Kaljapin die überraschende Entscheidung, Memorial zu Hilfe zu eilen.
„Wir wendeten eine neue Methodik an“, erzählt er. „Je drei Leute wechselten sich ab. Sie saßen einen Monat in Tschetschenien und wurden dann abgelöst. Wir kopierten die Arbeit des Ermittlungskomitees. Die machen sich niemals mit weniger als drei Leuten an einen Fall ran. Zwei arbeiten, der Dritte beobachtet aus der Ferne, hält den Sichtkontakt, und überall sind Geräte, die alles dokumentieren. In Tschetschenien wusste man, dass wir einen Haufen Spezialtechnik haben, und davor haben sie gezittert. Obwohl das natürlich auch nicht vor Kugeln schützt.“
Ich glaube, Ojub erkannte in Kaljapin sofort den Profi. Das war natürlich nicht das Einzige, was sie verband. Sie sind sich überhaupt ähnlich. Beide sind sehr ernsthaft, starrköpfig und verfügen über eine ungewöhnliche Mischung aus Pragmatismus und Idealismus. Kaljapin hängte sich hinter acht Fälle von Entführung und Mord durch die Kadyrowzy.
„Ojub führte uns mit Geschädigten und Zeugen zusammen, und das nicht an den ungefährlichsten Orten. Aber seine Bedachtsamkeit hat er niemals, unter keinen Umständen verloren. Er ist ruhig wie ein Panzer“, sagt Kaljapin. „Ich zum Beispiel bin sehr schreckhaft. Wenn solche Sachen passieren, brauche ich erstmal ein paar Minuten, um mich zu beruhigen. Ich bin das reinste Nervenbündel. Aber Ojub macht den Eindruck, als gäbe es bei ihm keinerlei Reaktion auf den Schreck. Außerdem denkt er blitzschnell nach. Er kann sämtliche Umstände auf einmal erfassen. Das macht ihn zu einem erstklassigen Kundschafter. Ich hatte immer das Gefühl, dieser Mensch reflektiert sehr genau, so wie ich, nur dass ihn Emotionen dabei nicht stören. Unter anderem solche wie Wut oder Leidenschaft, die habe ich bei ihm überhaupt nie gesehen. Und er machte niemals den Anschein falschen Heldentums. Wir teilten das Risiko gerecht auf: Jetzt nimmst du mehr Risiko auf dich, jetzt ich. Grob gesagt, haben wir die Löcher gebohrt, und Memorial hat die Gräben gebuddelt.“
Ermittlungen in den Fällen, hinter die sich das Komitee gegen Folter gehängt hatte, gab es natürlich nie. „Wir haben permanent aufgezeigt, dass das dort ein anderer Staat ist. Wir sagen, dass russische Gesetze in Tschetschenien nicht gelten, und erklären, wie das geht. Beispielsweise will ein Ermittler aus Moskau bei einer Polizeistation vorbeischauen, in der man Leute, an die Heizkörper gefesselt, festhält. Die Wache am Tor lässt die Tür ins Schloss fallen und sagt: ‚Hau ab, oder ich mach dich fertig!‘ Dann holt der Ermittler aus Chankala Verstärkung, aber die russischen Sondereinheiten weigern sich einfach, aus den Bussen zu steigen. Sie haben Angst. Oder ein anderes Beispiel: Der Innenminister Alchanow ordnet auf unser Gesuch hin an, die Gefangenen freizulassen, und ein Mitarbeiter der Polizeibehörde sagt: ‚Ich pfeife auf die Anordnung von Alchanow, denn Alchanow ist ein einfacher General, aber ich bin ein Verwandter Ramsans!‘“
Wären sie Tschetschenen gewesen, so wären sie schon lange tot oder im Knast, aber es gab keine Genehmigung, Russen zu töten. Trotzdem riskierten die Leute aus Nishni Nowgorod wahnsinnig viel. Man hätte sie jeden Moment ohne jede Genehmigung ausschalten können, als Folge eines spontanen Impulses, und man hätte die Mörder niemals gesucht. Ich frage Kaljapin, weshalb er keine Angst hatte.
„Weißt du, ich musste mich schon einige Male von meinem Leben verabschieden. Erst haben mich die Bullen gefoltert, dann haben mich Gangster gefoltert und aufgehängt. Und ich weiß einfach, was man in solchen Momenten denkt. Ich bereute, dass ich das und das nicht gemacht habe, weil ich vor irgendwas Angst hatte. Aber vor was hatte ich Angst? Jetzt ist es doch eh scheißegal. Wahrscheinlich ist es die Erkenntnis, dass das Leben definitiv enden wird, die bei mir ausgeprägter ist, als bei einem normalen Menschen. Und Folgendes hat mich immer gewundert: Was ist so toll daran, in seinem Bett an einer Krankheit zu sterben? Was ist daran so toll, ich versteh’s nicht. Und sich deswegen in die Hosen machen? Irgendwas Wichtiges nicht tun? Dass sie einen umbringen, das schreckt mich absolut nicht. Es sind die Schmerzen der Folter, vor denen ich mich fürchte.“
Klar, das sind Igors Gedanken, aber auch zu Ojub, scheint mir, haben sie eine Beziehung.
Die Arbeit des Komitees gegen Folter hatte einen zweiten, geheimen Effekt, über den nur wenige Bescheid wissen. Kaljapin machte einen derartigen Lärm, dass er die ganze Aufmerksamkeit der Machthaber auf sich lenkte, während Ojub seine Arbeit im Stillen fortsetzen konnte. Einzig die Anwesenheit des Komitees erlaubte es Memorial, so lange in Tschetschenien durchzuhalten. Unter Ojubs Leitung half Memorial mehr als zweitausend Menschen.
Die Aktivisten aus Nishni Nowgorod waren permanenter Überwachung ausgesetzt. Im Dezember 2014 zertrümmerten Bewaffnete das Büro des Komitees in Grosny und brannten es anschließend nieder. Im Juni 2015 traten Maskierte die Tür ein und demolierten und plünderten das Büro erneut. Den Mitgliedern der mobilen Gruppe gelang es, aus dem Fenster zu flüchten. Im März 2016 wurde ein Bus des Komitees an der Grenze Tschetscheniens mit Inguschetiengestoppt. Ein maskierter Mob mit Baseballschlägern schleifte die Menschenrechtler, Journalisten und den Fahrer unter „Allahu Akbar“-Rufen heraus, schlug sie brutal zusammen und raubte sie aus. Den Bus übergossen sie mit Benzin, und zündeten ihn an. Gleichzeitig wurde das Büro des Komitees in Inguschetien von einem Dutzend Menschen mit Maschinenpistolen zerstört und geplündert.
„In schwierigen Situationen reichte es aus, einander anzusehen, um zu verstehen“, sagt Kaljapin. „Nachdem sie unseren Bus abgefackelt hatten, fuhr ich sofort nach Grosny, um bei Memorial nach dem Rechten zu sehen. Ich sagte: ‚Mädels, die U-Boot-Kapitäne müssen reden.‘ Ich ging zu Ojub, und ich sah schon die Frage in seinem Blick: Dir ist doch klar, dass sie dich jede Minute holen könnten? Ich sagte: ‚Mir ist alles klar, deswegen haue ich jetzt ab. Lass uns schnell reden.‘“
Noch am selben Abend überfielen sie Kaljapin. Es war klar, dass das Komitee seine Basis in Tschetschenien nicht länger würde halten können. Ojub war jetzt allein.
„Es gab Fälle“, sagt eine Mitarbeiterin von Memorial, „da bemerkten wir, dass uns ein Auto verfolgt. Aber am zweiten Tag war das Auto nicht mehr da und am dritten auch nicht. Also maßen wir dem nicht allzu große Bedeutung bei. Uns war klar, dass sie jedenfalls wissen, dass es uns gibt. Sie verstanden nur nicht so recht, was genau wir tun. In den letzten Jahren war zu jeder Zeit klar, dass alles passieren könnte. Selbstverständlich hat einen das nicht kalt gelassen. Aber wenn man ständig damit lebt, gewöhnt man sich daran.“
„Das ist merkwürdig“, sagt ein Kollege von Ojub. „Man versteht alles, aber gleichzeitig kommt es einem so vor, als würde man selbst drumrum kommen, solange man sich an die Sicherheitsvorkehrungen hält. Um andere sorgt man sich natürlich, aber selbst kann man nicht die ganze Zeit mit dieser Angst leben. Man hört einfach auf, darüber nachzudenken, schließt diese Option für sich aus. Das ist kein Ausweg, aber so läuft es eben.“
2016 startete die Kampagne gegen „Junkies“. „Diejenigen, die in der Republik Tschetschenien den Frieden stören, werden zum Teufel gejagt. Nichts ist von Bedeutung. Gesetz hin oder her … Es wird geschossen! Habt ihr verstanden? Salam Aleikum, Problem gelöst. So sieht das Gesetz aus!“, kündigte Kadyrow auf einer Versammlung an, die dem Kampf gegen Drogensucht galt. Die Polizei fing an, das in die Tat umzusetzen. Allein 2017 wurden laut Kadyrow eintausenfünfhundert Menschen verhaftet. Drogen hingen sie jedem an, der besoffen aufgegriffen wurde. Man schlug sie und forderte sie auf, Drogenbesitz zu gestehen. Man drohte, dass man ihnen andernfalls die Planung von Terroranschlägen oder die Mitgliedschaft in einer verbotenen paramilitärischen Organisation anhängen würde. Der Großteil der Fälle war identisch. „Der Angeklagte beschnitt und trocknete wild wachsendes Cannabis.“ Absolut alle Beschuldigten legten ein Geständnis ab und wurden in einem „Spezialverfahren“ verurteilt: Man brachte sie zum Gericht, wo das Urteil sofort verhängt wurde.
„Wen man einsperren kann, den sperr ein. Wenn die Möglichkeit besteht, jemandem etwas in die Tasche zu stecken, dann steck ihm was in die Tasche. Mach, was du willst, und töte, wen du willst! Der Herrscher hat gesagt, ich soll ihm das so übermitteln. Ich schwöre auf Allah, ich unterstütze das!“, sagte der erste Stellvertreter des Chefs des tschetschenischen Innenministeriums, Apti Alaudinow, auf einer Sitzung in Urus-Martan. Allgemein reden die Anführer der Republik auf Tschetschenisch äußerst offenherzig.
Im April 2016 wurde Schalaudi Gerijew entführt, ein tschetschenischer Korrespondent des Kawkaski Usel. Die Entführer zogen ihn aus einem Bus, schlugen ihm eins über den Schädel und drängten ihn in einen schwarzen Priora. Sie fesselten ihm die Arme mit Draht und brachten ihn in einen Wald. Dort schlugen sie ihn, würgten ihn mit Plastiktüten und drohten damit, ihn zu erschießen. Sie sagten ihm, dass er nur dann aus dem Wald zurückkehren würde, wenn er Drogenbesitz gesteht. Ansonsten würde er verschwinden. Im Untersuchungsgefängnis widerrief er sein Geständnis, aber selbstverständlich verurteilten sie ihn trotzdem. Er sitzt bis heute. (Vor ihm, im Jahr 2014, wurde nach dem gleichen Artikel der tschetschenische Dissident Ruslan Kutajew verurteilt, der es gewagt hatte, entgegen der Anweisung Moskaus und Kadyrows, dem 23. Februar als 70. Jahrestag der Deportation des tschetschenischen Volkes zu gedenken.)
Im Frühling und Sommer 2017 veröffentlichten Elena Milashina und Irina Grodijenko in der Novaya Gazeta ihre berühmte Recherche zur Jagd auf Homosexuelle und deren Ermordung im Januar des gleichen Jahres: In der Nacht auf den 26. Januar hatte es in Grosny auf einem Polizeirevier eine Massenerschießung gegeben. Ohne Gerichtsurteil waren mindestens siebenundzwanzig (möglicherweise gar doppelt so viele) Menschen erschossen worden, die man des Wahhabismus verdächtigte. Verwandte der meisten Opfer unterschrieben ein Papier: „Mein Sohn/Bruder hat die Republik Ende Februar gen Moskau verlassen. Es bestehen keine Ansprüche gegen die tschetschenische Polizei.“ Oder sie unterschrieben eine Erklärung, wonach ihr Sohn nach Syrien gegangen war, um zu kämpfen. Ojub half den Journalisten, die Information zu überprüfen. Das war eine seiner letzten Nachforschungen. Im Frühling begann in Tschetschenien die organisierte Ermordung von Homosexuellen. Hunderte Menschen wurden verhaftet, sehr viele gefoltert und ermordet. Die Angelegenheit wurde zu einem internationalen Skandal, sodass die föderale Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa sogar eine Untersuchungskommission mit der Überprüfung beauftragte. Ende des Jahres wurde Ramsan Kadyrow, nach Daudow und Anaudinow, auf die Magnitski-Liste gesetzt, „wegen der Beteiligung an verbrecherischen Gewalttaten, Folter und Menschenrechtsverletzungen“. Im Anschluss daran wurde Kadyrows Instagram-Account blockiert. Es ist schon beinahe lustig, dass ausgerechnet dies die heftigste Reaktion durch die tschetschenische Führung nach sich zog. „Kadyrow wurde nicht nur um sein liebstes Spielzeug gebracht. Das war auch sein persönliches Massenmedium mit einem Publikum von mehr als drei Millionen Abonnenten“, erläutert Tscherkassow, der Leiter von Memorial. Am 25. Dezember gab Magomed Daudow eine offizielle Erklärung ab, dass die Menschenrechtler die Schuld tragen an der Abschaltung des kadyrowschen Instagram: „Wenn die Todesstrafe in Russland nicht verboten wäre, hieße es für die Feinde des Volkes ‚Salam Aleikum‘, und das wars.“ „Ojub wartete darauf, dass man ihn holen würde“, erzählt Lokschina. „Ein halbes Jahr vor seiner Verhaftung reiste er in einer Sache nach Moskau und nahm mich vorher zur Seite. ‚Tanja, ich habe eine große Bitte an dich. Kannst du mir etwas versprechen?‘ ‚Naja, ich verspreche ungerne Dinge, bevor ich nicht weiß, was genau.‘ Für Ojub war so ein Gesprächsbeginn absolut untypisch. ‚Du musst mir versprechen, dass, falls mir etwas passiert, du Orlow und Tscherkassow überredest, unter keinen Umständen unser Büro zu schließen.‘ Ich sage: ‚Hör auf, ich werde mit dir solche Sachen nicht besprechen!‘ ‚Dir hören sie zu, sie respektieren dich. Das wäre das absolute Ende. Das wäre ein Verrat an Nataschas Andenken. Wo sollen denn die Leute hin?! Du musst es mir versprechen!‘ Naja, was sagt man ihm da?“ „Manchmal konnte man anhand einiger Sätze verstehen, worüber er nachdenkt“, sagt Sokirjanskaja. „Dann wurde einem bange. Schon davon, wie überaus bewusst er das alles tat. Das war derart tief in ihn eingesickert, er war derart erfüllt von den Geschichten all dieser Leute, all dem Leid, dass er einfach genau in die Schussbahn lief.“ „Ich erinnere mich, wir waren mit dem Monitoring beschäftigt“, erzählt eine Kollegin von Ojub. „Wir fuhren an irgendeiner Straße vorbei, und plötzlich kam er mit Einzelheiten zu einer Sache heraus: ‚Du musst wissen, dass hier ein Mensch wohnt, der an einem Verbrechen beteiligt war‘, mit unangenehmen Einzelheiten. Anfangs hörte ich geistesabwesend zu, ich war müde, schlief beinahe ein. Aber dann fing es langsam an, mir zu dämmern. Er war permanent darauf vorbereitet, dass er bald nicht mehr da sein würde. Also dachte ich mir, dass ich nachfragen muss. Ich hatte ja nicht alles gehört.“ Ojub konnte nicht aufhören. Er war schon alt, es war zu spät sich einzugestehen, dass nichts dabei herumgekommen war. Hinter ihm standen Menschen, um die er Angst hatte, aber er zog die Sache durch. „Ich habe ihn im Scherz gefragt: ‚Du bist ja mittlerweile quasi in die Sporthalle eingezogen. Du gehst jeden Tag hin, nicht?‘“, sagt Lokschina. „Er antwortet ‚Ja‘ und fügt ganz ernst hinzu: ‚Ich glaube einfach, wenn sie mich mitnehmen und mich foltern, dass es hilft, physisch gut in Form zu sein, um das auszuhalten.‘ Er sagte das ohne einen Anflug von Ironie, ohne auf Mitgefühl aus zu sein, auch nicht auf Mitleid. Es war eine Feststellung.“ „Bei den Tschetschenen gilt es viel, sich in Form zu halten“, erklärt meine Schwester. „Wenn ein Mann einen Bauch hat, dann ist das unschicklich und führt zu Geringschätzung ihm gegenüber. ‚Wie ein Kolchosenvorsteher‘ werden sie sagen. Ojub ist ja auch noch Sportlehrer. Aber er ist sechzig Jahre alt und geht jeden Abend in die Sporthalle. Ich fragte mich wofür. Wie sehr er sich auch aufpumpt, die Kräfte sind in keinem Fall gerecht verteilt. Die sind doch bewaffnet, jung und in der Überzahl. Aber dann erzählte einmal ein mir bekannter Lehrer von einem Dorfbewohner, den die Kadyrowzy in den Kofferraum eines Autos gezwängt hatten. Und Ojub hat gesagt: ‚Mich wird man lebend nicht in einen Kofferraum zwängen.‘ Das heißt, ihm ist es wichtiger, die Demütigung zu verhindern, als den Tod. Auf diesen Fall bereitete sich Ojub vor.“
„Er rief im Dezember 2017 an, es waren Winterferien, man hatte uns schon freigegeben“, erinnert sich eine Kollegin von Ojub. „Er sagt mir: ‚Wirst du über’s Wochenende in der Stadt sein? Geh beim Büro vorbei. Auf dem Schrank liegen Pakete, nimm die mit.‘ Ich ging vorbei und sah, dass da Geschenke für meine Kinder lagen. Das war unser letztes Gespräch.“
Am 9. Januar, dem ersten Arbeitstag im Jahr 2018, verließ Ojub sein Haus, um sich mit einem Freund im Dorf Maitrup zu treffen. Der Freund wartete etwa eine Stunde auf ihn, dann rief er bei Ojub an, aber der nahm den Hörer nicht ab. Unverrichteter Dinge machte sich der Freund auf den Weg und lief Ojub auf der Straße entgegen. Nach kurzer Zeit sah er Ojubs Lada Kaliva am Straßenrand und daneben Polizeiautos vom Typ Niva und UAZ-Patriot sowie Männer in Camouflage mit Ärmelstreifen der Spezialeinheit GBR. Der Freund hielt an und stieg aus seinem Wagen, aber Ojub gab ihm ein Zeichen weiterzufahren. Er wollte niemanden da mit reinziehen.
Der Freund fuhr weiter, wendete, aber Ojub gab ihm erneut ein Zeichen, dort nicht stehen zu bleiben. Beim dritten Mal waren Ojub und die Polizisten verschwunden, aber der Freund hatte verstanden, dass sie nach Kurtschaloi gefahren waren. Auf dem Hof der Polizeistation sah er Ojubs Wagen.
Man forderte Ojub auf, ein Geständnis bezüglich Drogenbesitzes zu unterzeichnen, wobei man ihm drohte, dass man ansonsten seinen Sohn wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen bewaffneten Organisation rankriegen würde. Ojub lehnte ab. Er sagte, dass die „gefundenen“ Drogen ohne Zeugen keinerlei Beweiskraft hätten. Das hatten die Polizisten nicht erwartet, zumal doch absolut alle „Junkies“ das Schuldeingeständnis unterschrieben. Man fuhr Ojub zurück zur Straße und inszenierte eine Festnahme durch eine Streife und die Beschlagnahmung von Drogen mit Zeugen. Die Kameras in der Polizeistation und in den Autos, die diesen ganzen Zirkus normalerweise hätten aufnehmen sollen, funktionierten natürlich nicht. Entlang des gesamten Weges, welchen die Polizeiwagen in Kurtschaloi zurücklegten, hatten gleichzeitig 15 weitere Videoüberwachungssysteme „den Geist aufgegeben“, darunter Kameras in Verwaltungsgebäuden und Banken. Ojubs abgeschlossener Wagen wurde auf dem Parkplatz der Polizeistation aufgebrochen und dessen Videoaufzeichnungen sowie Satellitennavigation gestohlen.
Nun galt es, ein Geständnis aus ihm herauszupressen. Aber das gelang ihnen einfach nicht. Nachdem er Ojubs Auto erkannt hatte, rief sein Freund bei Memorial an. In Kurtschaloi machte sich ein Anwalt auf den Weg, aber man ließ ihn nicht in die Polizeistation und behauptete, Ojub wäre nicht dort. Aber in Moskau hatten sie bereits ein Fass aufgemacht: Oleg Orlow war mit den Vertretern der Menschenrechtskommission, Michail Fedotow und Tatjana Moskalkowa, in Verbindung getreten. Abends war der Chef der Polizeibehörde gezwungen, offenzulegen, dass Ojub bei ihnen war, sowie, dass man ihn des Drogenbesitzes beschuldigte. In seinem Wagen hatte man vermeintlich 200 Gramm Marihuana gefunden.
Offenbar wurde Ojub nicht gefoltert. Aber man setzte ihn stark unter Druck und bedrohte seine Familie. Das wurde klar, als er nach drei Tagen seinem Anwalt einen Zettel mit einer Erklärung an den Vorsitzenden der Ermittlungsbehörde, Alexander Bastrykin, übergab:
„Am 09.01.2018 wurde ich durch Beamte der Polizei von Kurtschaloi festgenommen, und in meinem Wagen wurde Rauschgift platziert. Es wurde ein Strafverfahren gegen mich inszeniert. Die Beweise für meine Schuld sind zur Gänze manipuliert. Ich habe keinerlei Schuld eingestanden und werde dies auch nicht tun. Ich möchte Sie darauf hinweisen: Sollte ich mich der mir angehängten Taten in irgendeiner Weise schuldig bekennen, so bedeutet dies, dass man mich zu diesem Geständnis auf dem Wege physischer Einflussnahme oder Erpressung gezwungen hat.“
Wenn schon Ojub sich nicht mehr seiner sicher war, bedeutete dies, dass die Situation verzweifelt war.
Ramsan Kadyrow trat im tschetschenischen Fernsehen auf, nannte Titijew einen Drogensüchtigen und erklärte: „Sie [die Menschenrechtler] sagen Dinge, die nicht stimmen, und selbst wenn es so wäre und er darüber reden oder Zettelchen schreiben würde, bedeutete dies, dass er sich gegen sein Volk gestellt hat. Er ist ein Volksfeind. Sie haben keine Heimat, keine Nation, keine Religion. Ich wundere mich wirklich über diesen Menschen, der für die arbeitet und gleichzeitig behauptet, dass er ein Tschetschene sei. Deswegen sage ich euch, wir werden die Wirbelsäulen unserer Feinde brechen.“
In der Nacht auf den 17. Januar zündeten Maskierte das Büro von Memorial in Nasran an. Am 19. Januar fand im Büro von Grosny eine Hausdurchsuchung statt, in deren Verlauf angeblich zwei Zigaretten mit Rauschgift gefunden wurden. Am 22. Januar wurde in Machatschkala ein Dienstwagen des dagestanischen Memorial angezündet, dessen Mitarbeiter sich in Ojubs Sache eingeschaltet hatten. Eine SMS wurde an das Bürotelefon gesendet: „Euer Leben hängt am seidenen Faden. Macht den Laden dicht! Nächstes Mal verbrennen wir euch zusammen mit eurem Büro. Das Auto war eine Warnung.“
Die Polizeibeamten zuckten mit den Schultern: „Nach wem sollen wir da suchen? Das sind doch Kadyrowzy.“
Seinen Freunden war klar, dass es mit Ojub kein gutes Ende nehmen würde. Er hatte nicht vorgehabt zu verschwinden, und die einzige Alternative war der Tod. Als ich hörte, dass man Ojub Drogen untergejubelt hatte, war mein erster Gedanke: „Gott sei Dank!“
„Ich denke, hat vielleicht Allah das alles so eingerichtet, damit das Büro geschlossen wird?“, sagt eine seiner Kolleginnen. „Denn mittlerweile ist es ein Kampf gegen Windmühlen. Es ist schmerzhaft, sich das einzugestehen, aber es macht keinen Sinn gegen sie anzukämpfen, es werden nur noch mehr von unseren Leuten dahingerafft.“
„In diesem Moment empfanden wir alle nichts anderes als Dankbarkeit für das tschetschenische Innenministerium: Danke, dass er am Leben ist“, schreibt Elena Milashina.
Außer dem ihm untergeschobenen Paket wurde noch ein „Zeuge“ namens Amadi Baschanow organisiert, der gesehen haben will, wie Ojub am hellichten Tag auf der Straße Cannabis rauchte. Aber bei der Zeugengegenüberstellung gabs eine Panne. Der Anwalt Pjotr Saikin bemerkte, dass Ojub zu leicht von den Komparsen zu unterscheiden war: Er trug Latschen, während alle anderen mit Stiefeln bestückt waren. Und er bestand darauf, dass dieses Detail verändert wird.
Milashina beschrieb die Gegenüberstellung in der Novaya Gazeta so: „Der Zeuge zeigte alle Anzeichen eines Drogenrausches. Die Pupillen waren riesig, sodass die Iris kaum noch zu sehen war. Er bewegte sich sehr langsam. Er schwankte leicht und reagierte überhaupt nicht auf den Ermittler. Bekleidet war der Zeuge mit einer sauteuren Lederjacke, die eindeutig jemand anderem gehörte, und gleichzeitig einer zerrissenen Hose und zerschlissenen Schuhen ohne Schnürsenkel. Er kannte Ojub nicht, das war völlig offensichtlich.“
Der verärgerte Ermittler notierte im Protokoll zunächst die Wahrheit, dass der Zeuge Ojub nicht hatte erkennen können. Aber später erklärte er, dass er sich vertan hatte. Die Gegenüberstellung hätte zur Identifizierung geführt. Er hätte es lediglich falsch notiert.
Auf den Anwalt Saikin setzte man einen demonstrativen Spitzel an und setzte sein Auto in Brand. Ojubs anderer Anwalt, Aslan Telchigow, war aufgrund von Drohungen gezwungen, aus Tschetschenien zu fliehen.
Drei Wochen nach Ojubs Verhaftung erklärte Kadyrow: „Dass sie sich verkauft hat, haben wir erst im Nachhinein erfahren. Sie hat das Image unseres Volkes vor dem Westen und Europa diskreditiert. Wir erkannten erst, was für ein Miststück sie war, nachdem wir sie mit Drogen erwischten.“
Ramsan sprach von Ojub in der weiblichen Form, so wie er es zuvor mit dem ermordeten schwulen Sänger Selim Bakajew getan hatte. Frau und Kinder von Ojub flüchteten sofort nach seiner Verhaftung aus Tschetschenien. Aber im Mai erfüllte die Polizeibehörde von Kurtschaloi ihr Versprechen: Ein Neffe von Ojub wurde verhaftet. Man erhob Anklage gegen ihn wegen Drogenbesitzes.
Kapitel 19 Das Gericht
Ojub sitzt hinter den Gitterstäben und wirkt fast scheu. Es scheint, als wäre es ihm ein bisschen unangenehm, dass alle nur seinetwegen hergekommen sind. In der Pause dränge ich mich zu seinem Käfig durch und sage, dass ich in einer Woche mehr Gutes über ihn gehört habe, als jemals überhaupt über irgendjemanden. Ojubs Gesicht bleibt eine reglose Maske. Er ist offensichtlich verlegen.
„Für Ojub war Junkie ein schlimmes Schimpfwort“, sagt Lokschina. „Wenn er über tschetschenische Silowiki sprach, die besonders viel Dreck am Stecken hatten, presste er zwischen den Zähnen hindurch: ‚Junkie‘. Er konnte sich vermutlich nicht vorstellen, wie ein Mensch solche schrecklichen Dinge tun konnte, ohne dabei unter dem Einfluss irgendwelcher Substanzen zu stehen. Und dass nun ernsthaft jemand denken könnte, dass er selbst ein Junkie ist, ein Dealer, das muss für Ojub ungeheuerlich sein.“
In den ersten Reihen sitzen die Menschenrechtler, in den hinteren Bauern aus Kurtschaloi, Verwandte und Nachbarn von Ojub.
„Im Dorf glaubt kein Mensch, dass man Drogen bei ihm gefunden hat“, erzählt ein Nachbar. „Das kann einfach nicht sein. Als wir in der Schule waren, schimpfte er selbst mit dem Direktor und der Schulleitung, weil die rauchten. Und den Typen, den sie im Fernsehen hingestellt haben, der angeblich ein Nachbar ist, der ihn verleumdet hat, den kennt im Dorf niemand. Wenn ihn jemand kennen würde, gäb’s ihn längst nicht mehr, so wütend wie alle waren.“
„Hätten sie ihm eine Pistole untergeschoben, hätte das weitaus glaubwürdiger ausgesehen“, sagt ein Freund. „Aber Drogen – es weiß doch jeder, dass er nicht mal Rauch aushält. Ich bin sicher, für ihn wäre es leichter zu ertragen, wenn sie gesagt hätten, dass er einen Menschen getötet hat. Aber das ist bei ihnen schon ein altbewährtes Spielchen: Sie haben dieses Paket, 200 Gramm, das geht aus dem Safe hier- und dorthin und wieder zurück.“
„In der Moschee bei uns versammeln sich fünftausend Menschen“, sagt Jakub Titijew. „Jeder Einzelne von ihnen ist bereit für Ojub auszusagen. Die ersten Tage gab es zu Hause keine Ruhe. Alle kamen vorbei, um ihr Beileid auszudrücken.“
„Er hat mir diese Gebetskette hier gegeben.“ Ein Neffe zeigt mir eine lila Kette mit einer kleinen Quaste. Wie alles, was aus Ojubs Händen stammt, ist sie hervorragend gearbeitet. „Er hat sie im Gefängnis gemacht, aus Brot und Kaffee. Er schreibt immer: ‚Entschuldigt, dass all das wegen mir passiert, dass ihr im Gerichtssaal weint.‘ Meine Tante fragt immer: ‚Hast du gegessen? Hast du genug?‘ und er: ‚Mehr Fragen hast du nicht? Immer redest du über’s Essen. Jetzt gerade ist mir nicht nach essen zumute‘, und einen Tag später schreibt er dann: ‚Entschuldige, meine Liebe, ich wollte dich nicht beleidigen.‘ Ich bin auch vorbeigegangen: ‚Ojub, sag mal, was kann man dir bringen?‘ Er sagt: ‚Bring mir eine Cola.‘ Ich wundere mich: ‚Du trinkst doch gar keine Cola?‘ ‚Die mit mir in der Zelle sitzen aber schon.‘“
„Er hat im Traum seinen älteren Bruder gesehen, der verstorben ist“, sagt der Neffe, „und er sagte uns: ‚Ich habe meinen Bruder im Traum gesehen, er hat mich um Geld gebeten. Ist mein Gehalt angekommen? Verteilt es an die Armen.‘ Selbst jetzt will er noch allen helfen.“
Ich war nur an einem Verhandlungstag dabei, den Rest weiß ich aus dem Stenogramm und aus Texten von Kollegen, hauptsächlich von Elena Milashina.
Das Gericht befragt einen Zeugen nach dem anderen. Achtundzwanzig Mitarbeiter der Polizeibehörde von Kurtschaloi, die sich an nichts erinnern. Tschetschenische Gerichte sind absolut nicht anspruchsvoll, also ist die Arbeitserfahrung der Ermittler in der Regel dünn, und sie sind schlecht auf das Verfahren vorbereitet. Die Mitarbeiter der Polizeibehörde sind selbstverständlich instruiert worden. Ihre Aussagen, die sie in der Beweisaufnahme abgeben, sind Wort für Wort identisch: Titijew kenne ich nicht, habe ich noch nie gesehen, nicht festgenommen oder abgeführt.
Die Idee dahinter ist, Ojubs Aussage über die erste Festnahme zu widerlegen. Die Streifenpolizisten haben ihn auf der Straße angehalten und die Ermittler herbeigerufen, aber wir haben damit gar nichts zu tun! Offenbar hat man bei der Instruktion einfach nur alle zusammengerufen und ihnen befohlen: Ihr sagt „Das weiß ich nicht mehr“. Daran, dass die Anwälte unterschiedliche Fragen stellen, haben sie wohl nicht gedacht.
„Mit welchen Autos gehen sie auf Streife?“ „Das weiß ich nicht mehr.“ „Welche Farbe hat ihre Uniform?“ „Das weiß ich nicht mehr.“ „Wie lautet ihr Kennzeichen?“ „Das weiß ich nicht mehr.“
„Die Verteidigung versucht, die Zeugen zu veralbern!“, entrüstet sich der Staatsanwalt. „Ich beantrage, das im Protokoll festzuhalten!“
Wie viele Mitarbeiter die Einheit hat, wer die Leitung innehat, wie mit den Festgenommenen verfahren wird, wem gegenüber diese während der Ermittlungen Aussagen gemacht haben – keiner weiß es. Ein Zeuge nach dem anderen wiederholt, dass er Titijew nicht festgenommen hat und er ihm nicht bekannt ist.
Als die Reihe an denen ist, die unmittelbar an der Platzierung der Drogen beteiligt waren, ändert sich das Verhalten. Die Polizisten antworten aggressiv und viele lachen hinter vorgehaltener Hand. Nurid Salamow, der ehemalige zuständige Ermittler, der nach der Panne bei der Gegenüberstellung abgesetzt wurde, findet alles zum Lachen komisch: die Frage des Anwalts, welches Datum auf dem Schild stand, mit dem er Ojubs Wagen versiegelt hat, die Frage, ob Titijew Waffen bei sich hatte, der Versuch zu klären, welche Untersuchungen er durchführte.
„Ich bin nicht dazu verpflichtet, das zu wissen. Ich erinnere mich nicht, was ich da überprüft habe, es gab viele Untersuchungen. Meinen Sie“, lacht er, „dass ich nur eine Sache auf dem Tisch habe?“
Von dem bei Ojub „gefundenen“ Päckchen mit Marihuana nahm Salamow nicht einmal Fingerabdrücke.
Es ist ein endloses Ping-Pong, Variationen ein- und desselben Dialoges.
Anwalt: „Du kannst ja nicht einmal richtig lügen!“ Zeuge: „Und du wirst so oder so nichts rausfinden, leck mich!“
„Bist du gläubig?“, fragt plötzlich Ojub den Ermittler. „Ja …“ „Und welchen Glauben hast du?“ „Wie jetzt?“, antwortetet Salamow verwirrt, „Islam, natürlich.“ „Es kann ja sein, dass es ein Glaube ist, der dir erlaubt zu lügen. Aber im Islam ist das eine Sünde. Wenn man dir einen Fall übergibt, hast du, als gläubiger Muslim, was zu tun – die Wahrheit herauszufinden oder meine Schuld zu beweisen?“ „Die Wahrheit herauszufinden …“, antwortet Salamow sehr leise. „Und was hast du getan?“ „Angeklagter, Frage abgelehnt. Wir sind hier nicht in einem Scharia-Gericht!“
Am 22. August trat Ramsan Kadyrow vor tschetschenischen Polizisten auf. „Die käuflichen Taugenichtse aus allen Ecken der Welt, aus jedem Land, kommen in dieses Gericht. Als ob es bei uns in Russland oder in der Welt keine anderen Probleme gäbe außer einem Junkie“, sagte er. „Meine Rechte verteidigen sie nicht! Mich haben sie illegal auf die Sanktionsliste gesetzt, ohne jeden Grund meine Accounts blockiert. Sogar die Pferde haben sie mir weggenommen, ich kann sie nicht zurück nach Hause holen! Wenn ich nicht das Recht habe, nach Europa oder in den Westen zu reisen, sage ich: Menschenrechtler haben nicht das Recht, sich auf meinem Territorium zu bewegen! Ich habe Sanktionen gegen sie erlassen! Noch erlauben wir es, sollen sie kommen! Kommt nach Schali, nach Grosny, aber nach Prozessende war’s das! Hiermit erkläre ich den Menschenrechtlern offiziell: Nach dem Ende des Prozesses ist Tschetschenien für sie verbotenes Territorium, genauso wie für Terroristen und Extremisten.“
Allerdings warteten sie das Urteil gar nicht erst ab: Am 20. September beantragte der Staatsanwalt unerwartet, dass der Prozess gegen Titijew unter Ausschluss der Öffentlichkeit weitergehen sollte, da persönliche Daten von Polizeibeamten ein Staatsgeheimnis seien und ihre Veröffentlichung deren Sicherheit bedrohe. Das ist Feenstaub: Als Staatsgeheimnis gelten die persönlichen Daten der Angehörigen von Anti-Terror-Einheiten, aber nicht von Dorfpolizisten aus Kurtschaloi. Die von dieser Wendung verdutzten Anwälte Ojubs beantragten eine Unterbrechung, um Widerspruch einzulegen. „Sie werden tatsächlich Widerspruch einlegen? Was hat das für einen Sinn?“, wunderte sich die Richterin geradeheraus. In ihrer Entscheidung wiederholt sie schließlich Wort für Wort den Antrag des Staatsanwalts. Wir werden wohl nicht mehr zu Ojub ins Gericht gehen können. (Am 27. September, bereits nach der Veröffentlichung dieser Reportage wurde die Sitzung wieder für die Öffentlichkeit freigegeben. Anmerkung von Meduza)
Wie ist Ojub zu dem geworden, der er ist? Wahrscheinlich hatte er einfach Mitgefühl mit seiner Mutter. Sein ganzes Leben hat er versucht, das Richtige zu tun. Die Welt war anders, als die Großeltern ihm gelehrt hatten. Sie hatten gesagt, wenn man wie einer der Helden aus den Märchen ist, dann rettet man alle. Aber das hat nicht funktioniert. Die Schüler, die er liebte, starben, Natascha starb, die Sache, der er sein Leben gewidmet hat, ist zerstört. Sie sperrten ihn in einen Käfig und stellen ihn im Fernsehen als Drogendealer dar.
Nach der Verhandlung sitzen wir mit den Leuten von Memorial im Café Central Park, benannt nach der Serie Friends, auf dem Putin-Prospekt. An den Wänden hängen alte Fotos von New York, zwischen den Stühlen laufen hübsche Kellnerinnen in Hidschabs hin und her. Hier erreicht Tscherkassow eine Nachricht. „Es heißt, dass sie in Komsomolskoje auf der Polizeistation einen Typen umgebracht haben. Es gibt einen Namen und die Telefonnummer des Vaters.“ „Na dann, los geht’s“, sagt einer.
Wir schließen uns mit dem Moskauer Büro kurz.
„Ruft jetzt nicht an, das Telefon des Vaters wird mit Sicherheit abgehört. Fahrt ins Dorf, ruft von dort an, fragt nach der Adresse und lauft sofort hin.“
„Und wenn wir niemanden erreichen?“
„Dann könnt ihr einfach hinfahren und nach der Adresse fragen. In diesem Moment gehen alle vorbei, um ihr Beileid zu bekunden. Wenn ihr euch entsprechend einkleidet, werdet ihr keine Aufmerksamkeit auf euch ziehen.“
Die Mädels ziehen sich Kopftücher und Kleider an. Beide sind Russinnen, das ist erkennbar, aber was soll’s, auch unter Tschetscheninnen gibt es Unterschiede im Aussehen. Nur die Hipsterschuhe verraten ihre Trägerinnen auf hundert Meter Entfernung.
„Fahren wir mit Delimobil?“
Es stellt sich heraus, dass es in Grosny Carsharing gibt. Alles wie in Europa.
Wir kommen in Komsomolskoje an. Die Situation ist schlimm. Wir rufen an, aber niemand nimmt ab. Wir treffen eine Gruppe alter Männer, die vor einem Haus sitzen, und fragen, wo der Vater des Getöteten lebt. Sie starren uns verwundert an, aber erklären uns den Weg sehr genau. Auf dem Weg erfahre ich die Umstände: Die Polizei suchte den Mann, der sich, als er erkannte, was ihm bevorstand, versteckte. Aber sein Vater glaubte, dass sich die Sache klären und sie den Sohn wieder laufen lassen würden, also brachte er ihn persönlich zur Polizeistation. Einen Tag später brachten sie ihm eine Leiche zurück, die Spuren von Folter aufwies. Und sie nahmen direkt einen Mann aus der Nachbarschaft mit.
Das Dorf ist hervorragend wiederaufgebaut worden. Straße, Zäune, Tore, und im Kontrast dazu die angespannten Blicke der Jugend aus der Nachbarschaft. Der Vater ist nicht da, sie haben ihn vor drei Stunden aufs Revier geholt. In der Tür steht die Mutter, eine betagte Bäuerin mit gräulichem Gesicht. Höflich, leblos bedankt sie sich für die Beileidsbekundungen, dann sinkt sie auf eine kleine Bank nieder. Zum Stehen fehlt ihr die Kraft. Den Ermordeten hat man gestern bestattet, ohne Totenmahlzeit, wie es die Kadyrowzy befohlen haben, damit die Leute die Folterspuren nicht sehen und kein Lärm entsteht. Aus der sommerlichen Küche lugt die Witwe hervor, ein ganz junges Mädchen. Sie kocht etwas, das Gesicht versteinert, kreidebleich. Ihr restliches Leben wird sie entweder alleine mit zwei Kindern verbringen müssen, oder erneut heiraten, dafür aber die Kinder verlieren.
Der Vater erscheint. Man hat ihn aus dem Polizeirevier entlassen, wo man ihm erklärte, wie er sich zu verhalten habe. Ein durchschnittlicher Dorfmensch, mit schleppendem, etwas wackeligem Gang. Wir erklären, wer wir sind.
„Ich danke ihnen, danke. Alles gut, hier war nichts.“ „Aber ihr Sohn ist tot?“ „Stimmt, ist tot.“ „Weshalb?“ „Naja, hat einfach aufgehört zu atmen.“
Nachdem ich diese Reportage beendet hatte, habe ich sie Ojub ins Gefängnis geschickt. Als Antwort erhielt ich einen Brief. Er handelte fast ausschließlich von seinen verstorbenen Schülern. Nach dreiundzwanzig Jahren dachte er immer noch an sie:
„Sie sind nicht mit mir gegangen, wir sind uns gar nicht über den Weg gelaufen. So ein Idiot aus unserem Dorf hat sie mitgenommen. Jeder dieser Jungs hätte ablehnen können, und man hätte es keinem von ihnen zum Vorwurf gemacht. Überhaupt hatte damals niemand das Recht, jemand anderem Befehle zu erteilen. Alles war freiwillig. Die Gruppen haben sich selbstständig auf den Weg gemacht und Widerstand geleistet, wo sie konnten.
Ich wusste, dass sie gegangen waren, aber nicht, wohin. Man teilte sie ein auf dem leeren Feld einer Kolchose, und sie alle trafen die Entscheidung zu sterben. Meine Schuld liegt darin, dass ich ihnen nicht gefolgt bin, nicht bei ihnen war, sondern alles dem Zufall überlassen habe. Wenn ich bei ihnen gewesen wäre, hätte ich sie da ohne Widerstand rausgeholt. Neunzehn Menschen sind dort gestorben, die meisten ehemalige Schüler von mir, und drei Cousins und Neffen, die ich mit großgezogen habe. Am vierten Tag gelang es uns, elf Leichen da rauszuholen. Ich habe sie aufgesammelt, einige in Einzelteilen. Das ist schwer aus dem Gedächtnis zu streichen. Ich würde Vieles dafür geben, in diesem Moment an ihrer Seite gewesen zu sein, ihr Los zu teilen, um nicht sehen zu müssen, was aus Tschetschenien geworden ist.“
Schura Burtin Mitarbeit: Julia Wischnewezkaja und Sergej Bondarenko
Sie sollen sich in den US-Wahlkampf und auch in den deutschen Bundestagswahlkampf eingemischt haben, sie sollen versucht haben, in die OPWC in Den Haag einzudringen, und die Liste ließe sich noch fortsetzen. Die Rede ist von russischen Hackern. Daniil Turowski hat für Meduzanach den mächtigen Männern, die im Verborgenen und heute wohl meist für den Geheimdienst wirken, recherchiert und mit mehreren Informanten aus der Szene gesprochen. Die Geschichte geht zurück bis in die 1990er Jahre.
Am 8. August 2008 saß der Hacker Leonid Stroikow – im Internet nannte er sich meist Roid – zu Hause in seiner Wohnung in Chabarowsk, trank Bier und las bash.org, als plötzlich eine Nachrichten-Sondersendung im Fernsehen seine Aufmerksamkeit kaperte: Georgische Truppen, so wurde berichtet, hätten die südossetische Hauptstadt Zchinwali unter Beschuss genommen.
Erschüttert über diese Schlagzeilen machte sich Stroikow als erfahrener Hacker daran, in Websites georgischer Behörden und Medien nach Sicherheitslücken zu suchen, über die man sie angreifen könnte. Bald waren ein paar Websites georgischer Medien und Ämter gehackt. Es gab immer wieder Cyberattacken, solange der Konflikt währte – und auch danach. Mehrere russischsprachige Hacker meinten im Gespräch mit Meduza, dass gerade die Ereignisse in Georgien wie ein Katalysator die Zusammenarbeit der russischen Geheimdienste mit patriotisch gesinnten Hackern vorangetrieben hätten, deren Aktionen ihnen während des Konflikts auffielen. Seitdem würden regelmäßig Hacker engagiert – mal freiwillig, mal unfreiwillig: unter Androhung eines Strafverfahrens.
Hacker werden mal freiwillig, mal unfreiwillig engagiert: unter Androhung eines Strafverfahrens
Wie einer der Gesprächspartner Meduza erzählt, stellen die Geheimdienste nicht viel technisches Personal an, sondern beschäftigen lieber externe Mitarbeiter – die finden sie bei Gerichtsverfahren über Hackerangriffe und Kreditkartenbetrug oder in illegalen Profiforen. Ein anderer Hacker gibt an, im Verteidigungsministerium und im FSB gebe es „ein gängiges Schema zur Anwerbung und Förderung illegaler Hacker und zur Schaffung von Arbeitsbedingungen, um mit ihrer Hilfe an nützliche Informationen zu gelangen“. Einem Informanten von Meduza zufolge kommt es sogar oft vor, dass Hacker vom Geheimdienst in konspirativen Wohnungen versteckt werden – damit die Polizisten der Abteilung „K“ des Innenministeriums, die Cyberkriminalität verfolgen, sie nicht erwischen.
Hacker auf der Seite des Staates
Der zweite Tschetschenienkrieg war der erste Konflikt, in dem sich russische Hacker auf die Seite des Staates stellten und de facto gegen den Feind kämpften. Einige Studenten der Polytechnischen Universität Tomsk hatten die Sibirische Netzbrigade gegründet. Diese unternahm DDoS-Attacken auf Websites, auf denen tschetschenische Rebellen ihre Nachrichten und Interviews veröffentlichten – wobei die Cyberaktivisten bereits handelten, bevor der Konflikt in seine aktive Phase überging. Am 1. August 1999 hatten sie in die Homepage kavkaz.org eine Zeichnung eingefügt: der Dichter Michail Lermontow in Camouflage und mit einer Kalaschnikow. „Mischa war hier“, stand in den Farben der russischen Nationalflagge dabei. „Diese Website von Terroristen und Mördern wurde auf zahlreiche Bitten russischer Staatsbürger hin gesperrt.“ Außerdem schrieben die Mitglieder der Brigade amerikanische Hosting-Firmen an und forderten, dass diese ihre Dienste für Terroristen einstellen.
Ein paar Monate später begannen russischsprachige Hacker, massenhaft den Computervirus Masyanya (nach einem damals beliebten Internet-Trickfilm benannt) zu verbreiten. Es war zwar unschädlich für User, jedoch nahm ein infizierter Computer auf Kommando des Virus bei einer DDoS-Attacke auf Kavkaz Center teil.
Der Leiter von Kavkaz Center, Mowladi Udugow, war überzeugt, dass hinter den Hackerangriffen der FSB stand. Der FSB Tomsk gab eine öffentliche Erklärung ab, dass die Sibirische Netzbrigade die russischen Gesetze nicht verletze; die Handlungen ihrer Mitglieder seien „Ausdruck ihrer staatsbürgerlichen Haltung, die Respekt verdiene“ – obwohl es schon damals Artikel 272 des Strafgesetzbuchs über widerrechtlichen Zugriff auf Computerinformationen gab.
Ausdruck ihrer staatsbürgerlichen Haltung, die Respekt verdient
2005 brach in der Geschichte der patriotischen Hacker eine neue Epoche an – damals erschienen in den Profiforen die ersten Aufrufe, sich zusammenzuschließen, um Quellen von Extremisten anzugreifen.
Besonders aktiv rief zu solchen Projekten eine Person mit dem Nicknamen Petr Severa auf, damals einer der bekanntesten russischsprachigen Hacker und Spammer. Hinter diesem Namen verbarg sich Pjotr Lewaschow aus Sankt Petersburg – der Mann, der in den 2000ern Kelihos schuf, eines der weltweit größten Bot-Netzwerke, bestehend aus 100.000 infizierten Rechnern. In den USA wurde Lewaschow „King of Spam“ genannt.
Einige Bekannte von Lewaschow erzählten Meduza, er sei einer der ersten russischen Hacker gewesen, der mit den Geheimdiensten kooperierte. Später nutzte er sein Know-how zu politischen Zwecken: Sein Botnet steht unter Verdacht, während des Präsidentschaftswahlkampfs in Russland 2012 E-Mails versandt zu haben, in denen stand, der Kandidat Michail Prochorow sei homosexuell. Darin wurde auf Material mit einem angeblichen Zitat des Politikers verlinkt: „Wer mich kennt, weiß schon lange, dass ich ’ne schwule Sau bin.“ Außerdem gab Lewaschow an, er habe „ab 2007 für Einiges Russland gearbeitet, Informationen zu Oppositionsparteien gesammelt und dafür gesorgt, dass diese zur richtigen Zeit an die richtigen Leute gelangten“.
Ein Bekannter von Lewaschow alias Petr Severa gab an, der Hacker habe seinen Kollegen schon Mitte der 2000er-Jahre vorgeschlagen, Russland einen Dienst zu erweisen, indem sie den Staat im Internet unterstützen. Zuerst rief er dazu auf, Websites tschetschenischer Terroristen anzugreifen, dann Internetseiten der russischen Opposition. Sie machten das gratis. Darüber gibt es Berichte der Journalisten Andrej Soldatow und Irina Borogan, die viel zur Funktionsweise der russischen Geheimdienste recherchiert haben.
Nach dem Angriff der tschetschenischen Rebellen auf Naltschik im Oktober 2005 attackierten die Hacker nicht nur Kavkaz Center, sondern auch Medien, deren Berichterstattung über die Terroristen ihrer Meinung nach falsch war: Echo Moskwy, Novaya Gazeta, Radio Swoboda. Einen Monat später hackten sie die Website der (in Russland verbotenen) Nationalbolschewistischen Partei von Eduard Limonow. Danach wurden DDoS-Attacken auf oppositionelle Websites und Websites von Protestaktionen immer häufiger. Im Frühling 2007, als die estnischen Behörden beschlossen, das Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten aus dem Zentrum von Tallin zu entfernen, erfolgte ein Angriff patriotischer Hacker auf staatliche Websites in Estland.
DDoS-Attacken auf oppositionelle Websites
Im Sommer 2008 schließlich hatten die DDoS-Attacken auf Websites der georgischen Regierung zwei Wochen vor Beginn des Krieges angefangen – als die ständigen Schießereien an der Grenze zwischen Georgien und Südossetien losgingen.
Am 9. August – einen Tag nach dem Einmarsch der russischen Truppen in Georgien – launchten russischsprachige Hacker die Seite Stopgeorgia.ru. Darauf wurden Empfehlungen veröffentlicht, welche georgischen Websites man hacken soll, dazu Links auf die notwendigen Programme und Tipps für Anfänger. Im Forum der Seite tauschten sich rund 30 ständige User aus – in erster Linie Hacker, die ihr Geld mit Kreditkartenbetrug verdienten; Aufrufe, an dem Projekt teilzunehmen, tauchten im Forum des Magazins Chaker und auf anderen Plattformen für Programmierer auf, wie exploit.in, zloy.org oder web-hack.ru. Die Gründer der Website bezeichneten sich selbst als „Vertreter des russischen Hacker-Undergrounds“. „Wir lassen uns von Georgien keine Provokationen bieten, egal welcher Art“, erklärten sie in ihrer Vorstellung. „Wir wollen in einer freien Welt leben und uns in einem aggressions- und lügenfreien Web bewegen.“ Sie kündigten an, georgische Quellen zu hacken, „bis die Situation sich ändert“, und luden „alle, denen die Lügen auf den politischen Websites in Georgien nicht egal sind“, zum Mitmachen ein.
Es gab damals auch Cyberattacken auf russische Quellen: Angriffe auf RIA Nowosti und andere russische und ossetische Quellen; die Website Russia Today war nach einer DDoS-Attacke eine Stunde lang nicht erreichbar. Jemand machte eine Website mit Fakenews, die aussah wie die von einer ossetischen Nachrichtenagentur.
Die Spur führt ins Zentrum von Moskau
Später ergaben Ermittlungen, dass Stopgeorgia.ru beim Webhost Naunet registriert ist, der sich trotz behördlicher Anfrage weigert, die Daten der Betreiber herauszugeben. Die Organisation Spamhaus hat diese Firma längst in ihre Blacklist aufgenommen – denn sie bietet Spammern und Cybercriminals eine Plattform. Der Firmensitz von Naunet liegt unweit des Weißrussischen Bahnhofs im Zentrum von Moskau – das Gebäude teilt sich der Hoster mit dem Forschungsinstitut Etalon, einem staatsnahen Unternehmen zur Produktion von Informationssicherheitssystemen. 2015 wurde Etalon dem staatlichen Betrieb Rostec einverleibt, der sich seit vielen Jahren mit Programmen und Anlagen zur Durchführung von DDoS-Attacken beschäftigt.
Postadresse und Telefonnummer, auf die die Domain Stopgeorgia.ru registriert war, wurden mehrfach in den Foren von Kreditkartenbetrügern entdeckt – sie gehörten einem gewissen Andrej Uglowaty, der Datenbanken mit gestohlenen Kreditkartennummern und gefälschte Pässe und Führerscheine verkaufte (wahrscheinlich war der Name erfunden). Die IP-Adresse von Stopgeorgia.ru gehörte der kleinen Firma Steadyhost auf der Choroschewskoje Chaussee Nummer 88 – in einem Moskauer Stadtteil gelegen, in dem fast alle Häuser mit dem GRU in Verbindung stehen. Im Nachbargebäude Nummer 86 befindet sich das 6. Wissenschafts- und Forschungsinstitut des Verteidigungsministeriums, ein Zentrum für militärtechnische Informationen und Recherchen zum Kriegspotential ausländischer Staaten, das früher dem GRU unterstellt war. Die Anrainer nennen das vierstöckige, 1930 errichtete Gebäude „Pentagon“ – nicht wegen seiner Form, sondern wegen der strengen Geheimhaltung; die Institutsangehörigen gelten als die „bestinformierten Leute im GRU“, und der Institutsleiter ist Mitglied des Sicherheitsrats der Russischen Föderation.
Leonid Stroikow – aka Roid – hackte die georgischen Websites im Alleingang, ohne Hilfe von Kollegen und Hackergruppen. Zuerst nahm er sich regionale Medien und Suchmaschinen vor. Dann widmete er sich staatlichen Quellen. Bald tauchten auf der Homepage des georgischen Parlaments Fotos des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili auf, auf denen er mit Hitler gleichgesetzt wird. „Und enden wird er genauso …“, lautete der Text dazu. „Hacked by South Ossetia Hack Crew.“
Von seiner Attacke auf Georgien erzählte Stroikow später dem Magazin Chaker, wobei er meinte, Cyberwars seien „zum fixen Bestandteil realer Kriege mit Blutvergießen“ geworden. Was er seitdem macht, ist unbekannt; seinem Profil auf VKontakte nach zu urteilen, hat Stroikow ein Faible für Camouflage und geht mit Gewehr auf die Jagd. Auf die Fragen von Meduza gab er keine Antwort. In dem Sozialen Netzwerk hat der Hacker 36 Freunde, die meisten von ihnen aus Chabarowsk, wo er immer noch lebt.
Der erste Hacker mit Festanstellung beim Geheimdienst
Eine Ausnahme ist Dimitri Dokutschajew – ein FSB-Mitarbeiter, bekannt als Hacker Forb. Wie Stroikow schrieb auch Dokutschajew für das Magazin Chaker (dank dem viele Hacker einander überhaupt erst kennengelernt haben) – er war sogar Redakteur der Rubrik Vslom (dt. „Hackerangriff“). Einige russischsprachige Hacker sagten im Gespräch mit Meduza, Dokutschajew sei der erste Hacker gewesen, der eine Festanstellung bei einem Geheimdienst bekam. Möglicherweise war Dokutschajew auch der Drahtzieher hinter den Hackerangriffen auf die Infrastruktur der Demokratischen Partei während der US-Wahlen 2016.
Dokutschajew wurde in Kamensk-Uralsk geboren, einer armen Stadt eine Autostunde von Jekaterinburg entfernt. Seine Jugend verbrachte Dokutschajew vor allem in Internet-Cafés und spielte Videogames: Worms Armageddon, Need for Speed, Quake 3. Ziel seines ersten Hackerangriffs war das städtische Internet – um gratis ins Netz zu kommen. Nach der Schule studierte er am Polytechnikum in Jekaterinburg, am Institut für Informationstechnik; später arbeitete er als Systemadministrator an einem Lehrstuhl an einer Jekaterinburger Universität. Auf seiner (mittlerweile gelöschten) Website Dmitry’s homepage. The Best … gab er detailreich von sich Auskunft. Neben einem Abschnitt über entdeckte Software-Sicherheitslücken gab es hier auch Fotos von ihm: Ich auf dem Sofa (1997) (ein auf dem Sofa sitzender Teenager in kariertem Flanellhemd und Trainingshosen), an der Universität für Nuklearforschung, auf der Krim, in der Disko am Schwarzen Meer. 2004 war Dokutschajew als Kreditkartenbetrüger aktiv und hackte auf Bestellung Websites. Als seinen größten Erfolg feierte der Hacker einen Angriff auf eine Website der US-Regierung. 2006 zog er nach Moskau und begann, für das Magazin Chaker zu arbeiten.
Dokutschajew und seine Kollegen feierten und tranken gern zusammen, ab und an passierten ihnen irgendwelche Geschichten. „Wir standen mit einem Fuß in der kriminellen Welt, aber es war ein Mordsspaß. Auf allen Partys und Treffen war immer was los, langweilig war es nie“, erinnert sich einer von ihnen. Einmal machte ihm Dokutschajew im Suff die Räuberleiter, damit er eine Überwachungskamera auf drei Metern Höhe lahmlegen konnte. Daraufhin rannten sie vor den Bullen davon – und in einen FSB-Mann hinein, der dem Hacker „eins auf den Kiefer“ gab.
Bald kooperierte Dokutschajew selbst mit dem FSB – und dann nahm er dort eine Stelle an als Oberfahndungsbeamter in der 2. Abteilung der Betriebsverwaltung des Zentrums für Informationssicherheit des FSB. Das ist ein Referat für den Schutz des Staates vor Cyberkriminalität und für Ermittlungen in Hacker-Prozessen, in denen eine Gefährdung des Landes droht. Dort war er bis 2016 beschäftigt, bis er festgenommen wurde.
Dokutschajew kannte nicht nur Stroikow, sondern auch andere Hacker. Einer von ihnen kam wie Dokutschajew ursprünglich aus Kamensk-Uralsk. Und wie sein Kollege war auch Konstantin Koslowski rund um die Uhr in russischsprachigen Hacker-Foren unterwegs – damals, erzählt wieder ein anderer Kollege von Dokutschajew und Koslowski, war die vorherrschende Stimmung, „dass wir Russland helfen, unser Land verteidigen müssen und Banken in den USA und Europa hacken – dort ist das Geld ja sowieso versichert, und in Russland braucht man es nach den 1990ern dringender“.
Wir müssen unser Land verteidigen und Banken in den USA und Europa hacken
Ein paar Jahre später gründet Koslowski die Gruppe Lurk, die es auf die Infrastruktur nun schon russischer Banken abgesehen hat. Und als sie ihn verhaften, wälzt er die Verantwortung für seine Aktionen auf Dokutschajew ab. Koslowski behauptet, im Auftrag von Dokutschajew das Demokratische Nationalkomitee und andere Ziele in den USA gehackt zu haben. Dokutschajew, der zum Zeitpunkt dieser Aussage ebenfalls in U-Haft sitzt, dementiert diese Anschuldigung.
Die US-Geheimdienste glauben, dass Dokutschajew als FSB-Major jene Hacker koordinierte, die Angriffe auf Computernetze staatlicher und kommerzieller Strukturen in den USA durchführten. In Russland wirft man ihm offenbar vor, als Doppelagent den Amerikanern Informationen über russische Hacker geliefert zu haben.
Putins Antwort auf die Frage, ob er es für möglich halte, dass russische Hacker im Bundestagswahlkampf 2017 Falschinformationen verbreiten
Dokutschajew wurde zusammen mit einem leitenden Beamten aus dem Zentrum für Informationssicherheit des FSB, Sergej Michailow (dem sie bei der Festnahme effekthascherisch einen Sack über den Kopf stülpten), und Ruslan Stojanow vom Kaspersky Lab verhaftet; alle drei sind des Hochverrats angeklagt. Im April 2018 berichtete RBC, Dokutschajew habe ein außergerichtliches Teilgeständnis unterschrieben, Daten an ausländische Geheimdienste weitergegeben zu haben – angeblich habe der FSB-Mitarbeiter geglaubt, auf diese Weise zur Bekämpfung von Cybercrimes beizutragen.
Die russischen Geheimdienste werben offenbar weiterhin im Tausch gegen die Einstellung von Strafverfahren Hacker an. Im Juli 2018 stellte in Belgorod das Gericht einen Strafprozess gegen einen Ortsansässigen ein, der 545 Hackerangriffe auf die offizielle Website des FSB unternommen hatte. Die Einstellung des Verfahrens erfolgte auf Antrag eines Ermittlungsbeamten des FSB.
Im Runet hat dieser Auftritt für viel Spott und Häme gesorgt: Kaum hatte der britische Geheimdienst Fotos von den beiden Verdächtigen im Fall Skripal veröffentlicht, gaben die beiden RT-Chefredakteurin Margarita Simonjan ein Interview. Sie seien nur russische Touristen, versicherten sie, die die „englischen Gotik genießen“, die „berühmte Kathedrale von Salisbury“ besichtigen wollten. Ruslan Boschirow und Alexander Petrow seien ihre richtigen Namen.
Es waren vor allem russische Medien, The Insider und Fontanka, die weiter recherchierten: Demzufolge sind die beiden tatsächlich Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes GRU, die mit bürgerlichen Namen Anatoli Tschepiga und Alexander Mischkin heißen sollen. The Insider arbeitete dabei eng zusammen mit dem investigativen Recherchenetzwerk Bellingcat.
Wie genau sind die russischen Journalisten bei ihren Recherchen vorgegangen? Und: Die Ergebnisse dürften dem Kreml kaum gefallen haben – fürchten sie jetzt nicht um ihre Sicherheit? Diese und andere Fragen stellt Meduza dem Chefredakteur von The Insider Roman Dobrochotow.
Meduza: Dies ist nicht Ihre erste gemeinsame Recherche mit Bellingcat. Da gab es im letzten Jahr die Nachforschungen zur Verbindung Russlands mit dem Umsturzversuch in Montenegro und die Geschichte mit dem GRU-General, den Sie als Verantwortlichen für den Abschuss der Boeing MH-17 über dem Donbass nennen. Wie hat Ihre Zusammenarbeit angefangen?
Roman Dobrochotow: Ich erinnere mich nicht mehr genau, ob die ukrainische oder montenegrinische Untersuchung zuerst war. Irgendwann im Jahr 2016 machte ich Bekanntschaft mit einem der führenden Investigativjournalisten von Bellingcat, Christo Grozev, der unter dem Pseudonym Moris Rakuschizki publiziert.
Und dann war ich im selben Jahr zu einem Training von Bellingcat in Tbilissi und lernte dort einen weiteren Investigativjournalisten, Aric Toler, kennen. Mit denen arbeiten wir hauptsächlich zusammen, den Gründer von Bellingcat Eliot Higgins kenne ich kaum.
Wir sind immer bereit, mit Rechercheorganisationen zusammenzuarbeiten. Aber im vorliegenden Fall war die Zusammenarbeit besonders produktiv, weil sie in Russland dringend einen Partner brauchten. Es gibt vieles, was für russische Journalisten einfacher ist.
In Loiga [wo Alexander Mischkin, also Petrow, geboren wurde] gaben Einheimische unserem Korrespondenten gerne und bereitwillig Auskunft. Es ist richtig, dass die Bewohner auch mit Ausländern sprechen, nur insgesamt ist es für Leute von Bellingcat in Russland schwierig, denn niemand weiß, was hier womöglich mit ihnen passiert.
In all Ihren Untersuchungen kommen Mitarbeiter des russischen Militärnachrichtendienstes GRU vor. Ist das Zufall?
Anfangs war ich auch überrascht. Noch vor der Zusammenarbeit mit Bellingcat machten wir Recherchen über russische Hacker, die in den Briefwechsel von Emmanuel Macron eingedrungen sind. Das waren die gleichen Leute [vom GRU]. Es gelang uns zu beweisen, dass Fancy Bear, der auf amerikanische Server eindrang, mit dem GRU in Zusammenhang stand. Wir haben sogar die genaue Militäreinheit ausgemacht. Die Recherchen ergaben, dass bei allem, was wir anlangten, der GRU die Hände im Spiel hatte.
Die Recherchen ergaben, dass bei allem, was wir anlangten, der GRU die Hände im Spiel hatte
Eigentlich ist das durchaus verständlich. Denn uns wie auch Bellingcat interessieren die lauten Themen: Ukraine, Hacker, Skripal. Diese sind, sagen wir, mit der russischen Aggression nach außen verbunden, die seit 2014 zugenommen hat. Und es gibt nur diese eine Organisation, die sich mit der Annexion von Gebieten in Nachbarstaaten, Hackerangriffen und Giftanschlägen beschäftigt. Der FSB ist für Innenpolitik verantwortlich und der SWR für Spionage und Informationsbeschaffung.
Was war der Anhaltspunkt bei den Recherchen über Petrow und Boschirow? Das Interview der beiden mit Margarita Simonjan?
Nein, wir haben uns bereits früher für das Thema interessiert. Und zwar, als das britische Fernsehen die zwei Fotos zeigte, und der britische Geheimdienst MI-6 mitteilte, sie würden die richtigen Namen kennen, die Beweise jedoch würden fehlen.
Jetzt wussten wir, wonach wir suchen mussten. Wir begriffen, dass es sich um GRU-Spione handeln musste, wenn das sogar der britische Geheimdienst verlauten ließ. Die Namen waren gefälscht, irgendwo mussten die richtigen sein. Wir kannten die Täter der Story also bereits und mussten jetzt Informationen zu ihnen finden.
Als die beiden bei Simonjan auftraten, war sofort klar, dass man der russischen Bevölkerung nicht würde beweisen müssen, was von diesen beiden Liebhabern gotischer Architektur zu halten war. Wir mussten trotzdem Beweisdokumente finden. Wir fanden Passauszüge, und das war sehr wichtig.
Erzählen Sie, wie war die Aufgabenteilung. Soviel ich weiß, arbeiteten Sie mit offenen Quellen. Was den Zugang zu nicht öffentlichen Datenbanken betrifft, wie zum Beispiel die der russischen Pässe, war das Bellingcats Aufgabe. Wie kommt das?
Den Zugang zu nicht öffentlichen Datenbanken hatte Bellingcat erhalten. Wir arbeiteten mit offenen Datenbanken, wie zum Beispiel Rosrejestr. Bei offenen Quellen und Sozialen Netzwerken arbeiteten wir zusammen, und alles, was mit Anrufen und Reisen zu tun hatte, erledigten wir.
Warum aber hat ausgerechnet Bellingcat mit den nicht öffentlichen Datenbanken gearbeitet?
Da kamen zwei Dinge zusammen. Erstens wollten wir die Journalisten nicht zum illegalen Handeln ermuntern. Zweitens haben wir in der Tat keinen Zugang [zu Leuten mit Zugriff auf nicht öffentliche Datenbanken]. Und Bellingcat hat ihn. Also mussten wir nicht mal diskutieren: Sie kamen an die Informationen heran, mit denen wir dann wiederum weiterarbeiteten.
Gab es irgendwelche Quellen außer den öffentlichen Daten oder offiziellen Datenbanken? Zum Beispiel Informanten?
Es gab Leute, die uns Expertentipps gaben, zum Beispiel darüber, wo die Mitglieder des Militärgeheimdienstes ausgebildet werden. Aber das spielte keine so große Rolle.
Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten. Und hier herrscht auch dieser Hauch von Kindheit, es macht richtig Spaß
Der schwierigste Teil einer solchen Arbeit ist das Festlegen des Untersuchungs-Designs, wie Wissenschaftler es nennen. In diesem Fall war es das Recherche-Design. Sich ausdenken, wie man nach Informationen suchen wird: Da haben Sie also den Namen von jemandem, einen gefälschten Namen. Und jetzt? Wie suchen Sie den echten? Sie haben alle Datenbanken der Welt. Wo ist der kürzeste Weg von Punkt A nach Punkt B? Hier ist kreatives Denken gefragt.
Als Kind war ich Fan von Detektivgeschichten. Sherlock Holmes war mein erstes Buch, das ich von vorne bis hinten gelesen habe. Und hier herrscht auch dieser Hauch von Kindheit, es macht richtig Spaß.
In Ihren Artikeln werden die Recherchen Schritt für Schritt aufgezeigt. Dabei ist nicht immer klar, was hinter den Kulissen bleibt.
Zum Beispiel die Geschichte mit Petrow, der Mischkin ist. Die Hypothese war folgende: Angenommen, er hat nur den Familiennamen gewechselt und alle anderen Daten sind unverändert geblieben. Das war doch die erste Hypothese, die dann auch gleich stimmte, oder doch nicht?
Das war nicht die erste Hypothese, davor gab es andere, die nicht stimmten. Wäre uns dieser Geistesblitz gleich gekommen, dass ein Mitglied des Militärgeheimdienstes wie bei früheren Recherchen, zum Beispiel über Montenegro, nur den Familiennamen ändert, hätte uns das die Sache sehr vereinfacht, und die Recherche wäre viel früher publiziert worden.
Wir haben ziemlich lange dies und das probiert, angefangen mit der Suche nach dem Foto auf den Sozialen Netzwerken. Mir brannten die Augen, weil ich pro Tag tausende von Fotos von Absolventen der Militärgeheimdienstschulen in den Sozialen Netzwerken anschauen musste.
Mir brannten die Augen, weil ich einen ganzen Tag tausende von Fotos in den sozialen Netzwerken anschauen musste
Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert. Doch nach ungefähr einer Woche kam uns der Gedanke, wir könnten ganz einfach stumpf die Datenbanken durchkämmen nach Familiennamen, Vatersnamen und Geburtsdatum. Wir wurden sofort fündig. Schon der erste Auszug aus St. Petersburger Daten gab uns den Namen Mischkin.
Boschirow wurde meines Wissens anhand eines Fotos ausfindig gemacht. Sie haben es gefunden, als Sie den Zeitraum seines möglichen Abgangs von einer Militärgeheimdienstschule, die mit dem GRU zusammenhängt, eingegrenzt haben. Trotzdem mussten Sie wohl tausende oder zehntausende von Namen filtern?
Wären wir der Reihe nach vorgegangen, ja. Aber hier hatten wir sofort Glück. Erstens war die DWOKU auf der Liste der erstrangigen Schulen, die wir anschauten. Zweitens war auf einem Absolventen-Foto jemand zu sehen, der uns entfernt an Tschepiga erinnerte – ich weiß bis heute nicht, ob er es war oder nicht. Da schauten wir uns die DWOKU genauer an. Ich hatte dann noch mal Glück. Wir schauten uns all diese tausend Absolventen an und stießen dabei auf das Foto mit dem Ehrendenkmal und dort aufgelistet die Helden Russlands im Hof dieser Schule. In der DWOKU werden alle vor diesem Ehrendenkmal fotografiert. Und der Name Tschepiga prangte da die ganze Zeit in goldenen Lettern.
Der Recherchebericht von „The Insider“ – „Ziemlich lange haben wir in den Gängen dieses Labyrinths herumgestochert.“
Worin unterschied sich gerade dieser Name? Weil es keine Biografie dazu gab?
Um genau zu sein, hatten wir zwei Namen ohne Biografie. Bei dem einen stimmte das Alter nicht. Und Tschepiga passte. Es war also klar, dass es um ein Mitglied des Militärgeheimdienstes mit verdeckter Biografie ging, der irgendeine unglaubliche Heldentat begangen hatte. In der Passdatenbank stießen wir sofort auf ein Foto, was uns eine Menge Mühe ersparte.
Haben Sie irgendwie versucht, die Informationen, die Sie aus den geheimen Datenbanken hatten, zu verifizieren?
Nehmen wir zum Beispiel Mischkin. Es wurde uns klar, dass es nur eine Person mit einer solchen Kombination von Familien- und Vaternamen und Geburtsdatum geben konnte. Wir fanden heraus, dass er an einer Universität studiert hat und nach Moskau gegangen ist. Dass er in der Choroschewskoje Chaussee 76 registriert ist, wo sich das Hauptquartier des GRU befindet. Das allein ist schon ein seltsames Zusammenfallen von Umständen.
Weiter sichteten wir Dutzende andere Datenbanken: Mobiltelefone, Fahrzeugversicherungen, Fahrzeugregistrierung, Pässe und so weiter, und so weiter.
Wir fanden eine große Menge an Informationen, die bestätigten, dass die Person wirklich ein Mitglied des Militärgeheimdienstes war, und seine Biografie passt wie ein Puzzle-Teil zu der von Petrow.
Und später fanden wir in dieser Datenbank einen Scan des Passes und auf dieser Kopie stimmen alle uns bekannten Daten überein. Und wir wussten, dass die Person, die uns den Scan gegeben hat, nicht von sich aus auf uns zugekommen ist und den Scan vorher nachjustieren konnte. Es gibt keine Möglichkeit und keine plausible Hypothese, wie diese Daten hätten manipuliert werden können.
Wie schätzen Sie das Sicherheitsrisiko für die Journalisten ein? Verstehe ich richtig, dass sich Bellingcat freier bewegen kann, weil die russische Regierung nicht an sie herankommen?
Bedingt. Skripal war auch außer Reichweite. Wenn es um einen Mordanschlag geht, tragen alle mehr oder weniger ein Risiko. Ehrlich gesagt scheint mir, dass sich unsere Partner von Bellingcat in größerer Gefahr befinden als ich. Denn sollte mich hier jemand kaltstellen, muss gar keiner erst fragen „Wer hat das getan und warum?“.
Bei einem Mord an einem Investigativjournalisten von Bellingcat im Ausland würden die russischen Behörden immer sagen können, sie hätten nichts damit zu tun, das sei nicht auf ihrem Territorium geschehen.
Gab es für Sie oder andere Journalisten Gefahren?
Naja. Bei unseren Recherchen geht es ja nicht um Tschetschenen oder Banditen, die uns bedrohen oder anzeigen könnten.
Viele machen sich natürlich Sorgen, und in England bekam ich den Rat, unter keinen Umständen nach Russland zurückzukehren. Ich denke aber, solange wir im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sind die politischen Risiken solcher Handlungen, sei es eine Festnahme oder ein Mord, ziemlich hoch. Auch wäre der Gewinn nicht besonders groß, denn die Recherche ist publik.
Eigentlich ist Rap in Russland Teil der Massenkultur. Timati, der als reichster Rapper des Landes gilt, besang auch schon mal Putin. Ansonsten zelebriert er wie viele andere genau das, was auch europäische und US-amerikanische Rapper tun: einen Lifestyle mit Benz, Bitches und viel Bling-Bling.
Auch Face gehörte bis vor Kurzem dazu. Mit seinen sexistischen Texten fand er durchaus Anklang bei der russischen Jugend. Sein neues Album ist anders, es führt gewissermaßen back to the roots: Rap wird zur Gegenkultur, wie zu den Entstehungszeiten in den USA. Unzufriedenheit mit Politik kommt dabei zu Tage, Protest und Wut.
Meduza befragte Face zu seinem neuen Album und wie es dazu kam. Eschtschkere!
„Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben“. Foto: Alexander Anufriev / Meduza
Alexander Gorbatschow: Du hast gesagt, du würdest Meduza ein Interview geben, weil wir nicht übertrieben russophob sind. Was meinst du damit?
Iwan Face Drjomin: Es gibt einen Grad der Russophobie, der ist keine Russophobie, sondern gesunder Menschenverstand. In diesem Staat – und nicht nur in diesem, eigentlich in jeder Gemeinschaft – gibts das. Wenn du die Wahrheit sagst, wirst du unter Umständen sofort zum Gegner dieser Gemeinschaft, zum Oppositionellen. Es reicht doch schon zu sagen: „Es gibt Scheißbullen, die Geld abzocken.“ Wenn du eine mediale Person bist, kannst du sofort zum Volksfeind werden.
Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!
Gemeinschaften haben ihr Wesen, haben Regeln, die sie befolgen, damit es sich bequemer lebt und die Menschen nicht nachdenken müssen, denn Gedanken machen das Dasein zur Qual. Außerdem haben die Menschen eine sehr starke Bindung an ihre Eltern. Die Menschen wollen nicht genauer nachdenken, ob die Eltern ihnen Feind oder Freund sind, wollen sie nicht gleichsetzen mit anderen Menschen, die ihnen zum Beispiel Schmerzen zugefügt haben. Warum schalten die Leute nicht ihren Kopf an? Weil die Eltern das so gesagt haben.
Wie soll man einem Durchschnittsrussen zum Beispiel erklären, dass Afroamerikaner oder Afrorussen, Chinesen, Japaner, Usbeken Menschen sind? Ein banales Beispiel, aber das ist oft ziemlich schwer. Und dann denkst du, du hast es ihm erklärt, und er nickt, aber dann gehts von vorne los: „Überall laufen hier diese Tschurken und Neger rum, hahaha, hihihi.“ Von Schwulen darf man gar nicht erst anfangen. Hier wird man Homosexuelle wahrscheinlich nie als Menschen betrachten. Wieso hackt man auf diesen Menschen rum? Wieso frikassiert man sie, nur weil sie sind, wie sie sind? Leute, die Schwarze oder Schwule hassen – das sind verfickte Faschisten!*
Ist das ein russisches Problem oder ein allgemeines?
Ein allgemeines. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was besser ist: Seinen Hass zu verstecken oder ihn zu zeigen. Es ist natürlich schlecht, ihn auf radikale Weise zu äußern. Wenn man nur eine Meinung formuliert, ist das eher besser, würde ich sagen. In Europa ist es oft ziemlich verfickt: Viele hassen Minderheiten und Migranten und verstecken das. Hier würde ich Russland gern freisprechen – Russland verdient mehr Respekt als ein Land mit aufgesetzter Toleranz. Es gibt sicher auch Länder mit echter Toleranz. Die haben meinen vollsten Respekt. Ich will Bürger einer solchen Polis sein.
Mich würde deine persönliche Beziehung zu Gott interessieren. Das scheint in deinem neuen Album eine große Rolle zu spielen.
Als Kind war ich krass gläubig. Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist. Dir wird keine Wahl gelassen, du darfst nicht selber nachdenken. Du bekommst ein Kreuz umgehängt und fertig: Du glaubst!
Wir waren gehirngewaschen, weil unsere Mutter tief gläubig ist
Für mich ist das Faschismus. Psychische Gewalt. Das ist wie mit der Musikschule. Ich weiß nicht, was ich mit sechs machen wollte, aber ich musste zur Musikschule, und ich habe es verdammt gehasst. Genauso ist es mit der Kirche, wenn man da um 9 Uhr morgens hingeschleift wird, obwohl man nicht will. Dafür habe ich null Verständnis. Aber ja, als ich Molitwa [dt. „Gebet”] schrieb, dachte ich daran, wie ich als Kind gebetet habe. Und ich habe selbst ein Gebet geschrieben. Aber in dem Song geht es eigentlich um etwas anderes. Ich habe Gott geliebt, aber wir sind zu verschieden. Das ist die letzte Zeile auf der Platte.
„Ich habe den Herrgott geliebt, aber wir sind zu verschieden“ – Molitwa (dt. „Gebet“, 2018)
Vorhin hast du gesagt, die Gemeinschaft reagiert negativ, wenn man die Wahrheit sagt. Jetzt hast du ein Album veröffentlicht, auf dem du – in deinen Augen – die Wahrheit sagst. Gibt es negative Reaktionen?
Klar gibt es die. Es gibt Menschen, die sagen, was soll das, sing lieber über Burger. Dann gibt es welche, die sagen: „Fuck, sowas hab ich vor zehn Jahren schon gemacht, das Zentrum E hat mich auf den Index gesetzt, man bin ich krass.“ Warum sagen die das, wenn es um meinen Release geht? Weil sie sich auf Twitter feiern wollen. Aber so wie ich hat das noch niemand gemacht. Vor allem, wenn man mein Alter bedenkt und wer ich bin. Das war mutig, und ich bin stolz, dass ich dieses Album geschrieben und rausgebracht habe. Ich musste das einfach tun, um mich von meinen Kindheitstraumata zu befreien. Das habe ich gemacht – wie ich finde, erfolgreich.
Meine Wahrheit liegt im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche
Dann gibt es noch die Fraktion „Wieso erzählst du uns das? Wissen wir auch ohne dich“. Und so Clowns, die finden, ich wär russophob und würde auf die Heimat spucken, ein Volksfeind.
Gut, Hater gab es bei uns wohl schon immer. Was ist mit dem Staat? BBC berichtete von Anrufen aus der Präsidialadministration, in denen es um deine Tweets geht. Wenn sie die Tweets lesen, wird ihnen nicht ein ganzes Album entgangen sein?
Naja, es gibt schon Anfragen zu Konzerten, Gerüchte über Durchsuchungen, irgendwer hat von irgendwem irgendwas gehört … Aber ich versuche, das locker zu sehen, weil ich weiß, dass ich sauber bin. Ich sage meine Wahrheit, und die bewegt sich im Rahmen des Gesetzes. Nicht irgendein absurdes Gesetz, sondern das echte, menschliche. Aber auch im Rahmen des geltenden Gesetzes kann man mir nichts vorwerfen. Das würde ich auch nicht wollen. Wenn ich Krieg führen wollte, würde ich andere Wege gehen. Aber ich bin immer auf alles vorbereitet. Ich weiß, dass ich in dieser Situation nichts falsch gemacht habe und mache.
„Ich fahr zu Gucci in Sankt Petersburg // Sie frisst meinen Schwanz als wärs ein Burger“ – Burger (2017)
Wie ist die Musik zu Puti neispowedimy [dt. „Die Wege sind unergründlich”] entstanden? Sie ist etwas anders als früher – schwerer, ruheloser vielleicht.
Diese acht Songs sind das Ergebnis der letzten zwei, drei Monate und der seelischen Krisen, mit denen ich zu kämpfen hatte, ich habe viel gerungen und ausprobiert. Der Sound ist hundertpro Meek Mill. Und Drake. Gemischt mit gesellschaftskritischem Rap. Ziemlich originell. Aber ich betrachte rezitativen Rap nicht wirklich als Musik, deswegen will ich nicht damit rumprotzen, was für gute Musik ich geschrieben habe. Guten Rap – ja, auf jeden. Wer was anderes behauptet, der kann mir verfickt noch mal den Schwanz lutschen. Weil die Zeile „Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt“ genial ist. Nochmal, ich bin 21. Ihr alten Säcke könnt euch verpissen, zum Arsch.
Ein russischer Dichter, das ist einer, der eine spitze Feder trägt
Man kann meine lyrischen Triumphe abtun und sagen: Alles Hype, Show, Performance, Pose, zu einfach usw. Aber es ist viel schwieriger, einfach und genial zu schreiben als umgekehrt. Ich sage nicht, dass ich genial bin, aber das Album ist eine 1-, mindestens eine 2+. Es ist ein wirklich gutes Rap-Album, mit dem ich im Grunde zufrieden bin.
Warum nennen Sie keine Namen? Staatsbeamte, Putin meinetwegen?
Das würde die ganze Geste entwerten. Wenn ich das wegen Knete machen würde, hätte ich das gemacht, aber es war nicht wegen Knete. Ich glaube nicht, dass man mit Namedropping von Politikern ein cooles Album machen kann. Ich könnte das nicht. Das würde nur prollig klingen.
Wenn wir schon bei Kritik sind. Ich kenne Leute, die deine früheren Lieder als frauenfeindlich bezeichnen. Kannst du das nachvollziehen?
Natürlich, denn es ist so. Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Ich musste sie singen, um dank ihnen und ein paar anderen Umständen dahinterzukommen, dass Frauen wundervolle Wesen sind, die man lieben muss.
Diese Songs sind absolut frauenfeindlich. Das war meine Rache am weiblichen Geschlecht
Ich war aus meiner Kindheit traumatisiert, war unglücklich verliebt. Außerdem hat eine Rolle gespielt, dass wir meiner Mutter megascheißegal waren. Das kam alles zusammen, natürlich war ich ein Frauenhasser. Ich habe sogar eine EP gemacht, Revenge – das war meine Rache am weiblichen Geschlecht. Meine Idee war: Ihr habt mich nicht geliebt, und jetzt hüpft ihr um mich rum, weil ich Geld und Ruhm hab und das alles. Ihr könnt euch alle mal verpissen!
„Spiel nur keine Spielchen mit mir, du verlierst unter Garantie“ – Revenge (2017)
Wirst du deine alten Songs noch performen?
Ja, warum nicht? Die Leute sollen meine Entwicklung, den Weg sehen, den ich gegangen bin. Er soll sie dazu inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden und statt über irgendeinen Bullshit zu singen was Wichtiges erzählen kann. Aus einem einfachen Typen aus Ufa, der seine Songs selbst zusammengebastelt und mit dem Geld seiner Oma aufgenommen hat, kann jemand werden, der ein glückliches Leben führt, im Reinen mit sich ist und etwas tut, das tausenden von Menschen gefällt. Oder auch nicht, aber jedenfalls ist er im Reinen mit sich, es fehlt ihm an nichts.
Mein Weg soll sie inspirieren, dass man aus Scheiße zum Künstler werden kann
Ich schäme mich nicht für diese Songs, falls das irgendwer denken sollte. Ich versuche das so zu sehen – auch wenn ich mir das vielleicht zurechtbiege, weil mir diese Legende gefällt: In diesen Songs bin ich ein Spiegel der Jugend. Ich habe das erst viel später verstanden, aber genauso ist es. Das ist die Gesellschaft. Frauenfeindlichkeit liegt in der Luft, alle wollen sich aufblasen, was beweisen – ich bin so reich, so cool, so berühmt. Das ist normal. Ich habe mit solchen Songs angefangen, dann habe ich ein Album aufgenommen, um mir die Seele zu erleichtern, wie man das als Russe manchmal eben tun muss. Ein russischer Rapper hat einfach die Pflicht, ein Album über soziale Probleme zu schreiben.
Warum gibt es dann so wenig gesellschaftskritischen Rap?
Weil die Leute Angst haben. Erstens vor Problemen mit den Staatsorganen. Zweitens, Geld zu verlieren, weil Konzerte verboten werden. Drittens, Geld zu verlieren, weil keiner zum Konzert kommt. Viertens, Geld zu verlieren, weil sich alle abwenden. Daher kommt auch diese ganze Schulterklopf-Rhetorik. Eigentlich gibt es nur einen Menschen, auf dessen Meinung wir was geben.
Und wer ist das?
Oxxxymiron.
Warum ausgerechnet er?
Oxxxymiron ist ein wirklich guter Rapper, eine bedeutende Persönlichkeit. Wir haben ein Rap-Album gemacht, und uns interessiert die Meinung des einzigen bedeutenden Rappers, der technisch echt was draufhat, was von Lyrik versteht, der interessant ist, originell. Er ist gut in dem, was er tut. Sehr gut sogar.
Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe. Mich abgesetzt habe. Ich bin wirklich der einzige. Wenn mir irgendjemand künstlerisch nahesteht, dann ist das Oxxxymiron.
„Ich knocke den Westen aus, auf meinem Schwanz steht die gesamte Industrie der USA“ – Ja ronjaju Sapad (2017)
Früher gab es in deinen Songs Sex, Geld und keine Politik. Und jetzt gibt es nur Politik und keinen Sex. Haben diese Themen für dich nichts miteinander zu tun?
Was soll ich dazu sagen? Erstens habe ich seit einem Jahr nichts mehr veröffentlicht. In meinem Alter kann sich in einem Jahr viel verändern. Auf einmal war ich mit Geld und Popularität konfrontiert, einer ernsten Beziehung. Das alles hat mich geflasht, in ein emotionales Loch gestürzt, mich zum Nachdenken gezwungen. Ich habe bekommen, was ich wollte. Worüber habe ich früher gesungen? „Ich bin reich, ich bin berühmt“. Warum? Weil ich nicht reich und berühmt genug war, um darüber zu schweigen. Das habe ich jetzt geschafft. „Ich werd euch alle ficken, ficke alle“. Ich wollte einfach ein Mädchen kennenlernen. Ich war traurig, daher die Texte.
Und dann? Ich wusste nicht, worüber ich singen sollte. Darüber, dass es mir schlecht geht mit meiner Liebsten? Ne, es geht mir ja verfickt gut mit meiner Liebsten. Darüber, dass ich jetzt scheiße viel Geld habe, dass ich berühmt bin? Wozu? Ich bin ja wirklich berühmt, ich habe wirklich Geld.
Der hatte alles und keinen Schiss, es zu verlieren
Ich habe so eine Ahnung: Wenn sich irgendwann mal die Spreu vom Weizen trennt, werden die Leute nicht denken: „Erinnerst du dich an den Vollpfosten, der dieses eine Jahr so gehyped wurde?“ Sie werden in anderen Kategorien denken: „Weißt du noch, dieser Typ, der immer noch verfickt gute Mucke macht: Als der Die Wege sind unergründlich rausgebracht hat, und niemand hat auch nur annähernd mitgeschnitten, was das für eine Hammergeste war? Ich mein, der hatte verfickt noch mal alles und hatte keinen Schiss, das alles zu verlieren.“
„Ich fühle, dass ich mit diesem Album rausgegangen bin und mit Kreide eine Linie gezogen habe.“ Foto: Alexander Anufriev / Meduza
Ein anderer möglicher Kritikpunkt: Du hast schon erwähnt, dass du ein relativ gutes Leben hast. Du wohnst mitten in Moskau, hast eine tolle Wohnung, isst in teuren Restaurants – und singst von Abgründen und Hölle, obwohl dein Leben heute ein ganz anderes zu sein scheint.
Von den 21 Jahren meines Lebens hab ich nur das letzte Jahr so gelebt. Die 20 davor (und 17 davon – wirklich krass) habe ich gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden. Die, die sowas sagen, leben momentan im Durchschnitt schlechter als ich, und sagen: Du lebst hier dein Dolce Vita und lässt hier so nen Scheiß los. Aber den größten Teil ihres Lebens haben die besser gelebt als ich 20 Jahre. Das sind die von der Sorte: Wenn du nicht gesessen hast, bist du kein Russe. Du musst erst im Gefängnis gewesen sein, bevor du schreiben darfst, wie beschissen es den Leuten da drin geht.
Ich habe gelebt wie jeder andere und habe jedes verschissene Recht darüber zu reden
Es gab einen Moment, da hatte ich plötzlich, was ich wollte. Mir war alles scheißegal, das war alles ein einziges Meme für mich. Du kannst dir mein Interview mit [Juri] Dud angucken, da wird dir klar, dass das alles nur Memes für mich sind, Jokes.
Vor einem Jahr war also alles nur ein Witz – und was ist dann passiert?
Ich habe angefangen nachzudenken, als Bürger eine Haltung zu entwickeln. Und ich bedauere das nicht, denn je weniger Haltung du hast, desto weniger Sinn hast du im Leben. Du stehst für nichts ein, höchstens für das Stück Brot auf deinem Teller.
Ist etwas schlecht an politischen Aktionen?
Sie sind ein Instrument zur Einschüchterung und Kontrolle. Warum sind da so wenig Leute? Weil sie wissen: Du gehst hin und kriegst eins aufs Maul. Normalfall in Russland.
Die Welt ist nunmal so geschaffen. Und hier ist es ganz deutlich: Der Stärkere hat Recht, und alle scheißen drauf. In diesem Land wird alles über rohe Gewalt, Geld und Beziehungen entschieden. Sonst nichts.
Politische Aktionen sind ein Instrument zur Einschüchterung
So läuft das doch: Wenn du in der Schule einen auf Macker machst, dann musst du damit rechnen, dass du nach der Schule eins aufs Maul kriegst. Hier [auf den Demos] ist das genau so: Du läufst herum, schreist irgendwas und und wirst durchgenudelt. Die Leute gucken sich das an und sagen sich, warum soll ich da hingehen. Sie haben Schiss.
Du gehst auch nicht hin – hast du Schiss?
Wir haben keinen Schiss. Als ich dieses Album geschrieben habe, habe ich darüber nachgedacht, wie weit ich bei diesem Thema gehen kann. Und weißt du, ich bin ziemlich weit gegangen. So weit, wie es Sinn macht. Weiter wäre sinnlos. Es macht nur Sinn, sich auszudrücken und anderen diese Möglichkeit zu geben – wenn jemand sich die Songs zu Hause anhört und mit dem Kopf nickt. Zu mehr sind die Leute nicht im Stande.
Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben
Wenn du ein Held bist, macht es keinen Sinn, rauszugehen und im Namen der großen Gerechtigkeit zu sterben. Was für Gerechtigkeit überhaupt, wenn die Leute drauf scheißen? Wenn ich jetzt rausgehe und irgendwas mache, wofür ich in Schwierigkeiten komme, werden alle drauf scheißen.
Das heißt, wenn man versuchen würde dich einzusperren, würde sich niemand für dich einsetzen?
Ich bin zu folgendem Schluss gekommen. Wenn du Business machen willst und Geld verdienen, dann geh verfickt noch mal Geld verdienen, du musst nicht Musik machen. Wenn du Politik machen willst, geh und mach Politik. Wenn ich auf die Barrikaden gehen würde, wäre das so, als würde Nawalny ein Album machen. Das wäre doch völlig absurd, oder?
Überhaupt ist Russland ein einziges großes Meme. Genau deswegen stehen hier alle auf Meme-Interpreten und so Zeugs. Die Leute hier stehen auf billige Jokes. Das Leben ist viel zu kompliziert, und die Menschen nehmen das hin. Sie haben sich längst damit abgefunden, dass man nichts dagegen unternehmen kann, sie sind schwache, verängstigte Schäfchen.
Alles, was wir können, ist über Memes lachen und in allem einen großen Witz sehen. Wenn ein Typ in den Knast kommt – ist das ein Meme, Nawalny – ist ein Meme. Nawalny – der ist kein ernstzunehmender Politiker, weil er das mitmacht. Echt mal, ein Typ, der sein Logo von Supreme abgekupfert, wird niemals Präsident.
Ist es schlecht, dass Russland ein Meme ist? Oder hat das auch was Schönes?
Es hat Charme. Aber erstens kann man in allem das Schöne sehen. Zweitens, auf der menschlichen Ebene … Spaß hin oder her, aber die Leute denken nicht darüber nach: Einmal kann man über etwas lachen – aber wenn es einfach so weitergeht, dann muss man etwas tun. Kaum jemand von denen lacht doch über einen Behinderten ohne Beine? Aber das hier ist dasselbe! Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig. Und sie leben dieses verfickte Leben. Sie sind einfach nur schwach, richtig schwach. Das einzige, was denen noch bleibt, ist ne Psychowaffe.
Worüber die lachen, ist verfickt noch mal kein Stück witzig. Das Leben hier ist nicht witzig
Genau, wie man meine früheren Songs als Psychowaffe gegen dieses Scheißleben sehen kann. Das ist alles, was dir bleibt. Ich habe Mitleid mit den Leuten, genau wie ich Mitleid mit dem kleinen Jungen, dem jungen Erwachsenen habe, der ich war. Es sind krass unglückliche Menschen, bei denen alles so zum Kotzen ist, dass ihnen nichts mehr bleibt, als darüber zu lachen. Und genau deswegen lieben sie diesen ganzen Entertainmentscheiß.
Wie siehst du dich in einem anderen Land? Deine Songs schreibst du ja auf Russisch.
Vielleicht schreibe ich irgendwann auf Englisch. Aber es ist kein Problem, für Konzerte nach Russland zu kommen. Ich bin Russe, mit meiner Sprache bin ich in voller Harmonie und habe auch weiterhin vor, auf Russisch zu schreiben, egal wo ich mich befinde. Is okna [Aus dem Fenster] habe ich zum Beispiel in Japan geschrieben, im Bus nach Osaka. Ich glaube also nicht, dass das was ändern würde.
Gibt es schon konkrete Pläne?
Wir haben noch kein konkretes Land im Blick, aber sind dabei.
Ich finde, in dem Staat, in dem wir leben, ist das einzig Vernünftige, nicht auf die Barrikaden zu gehen, weil das einfach sinnloser Selbstmord ist, sondern ein Leben irgendwo anders auf unserem schönen Planeten zu suchen. Sich mit Leuten zu umgeben, die dir mit ihren Scheißvisagen zumindest nicht die Laune vermiesen und sich etwas Mühe geben, was gegen ihre sauren Fickfressen zu tun.
Ich fordere niemanden zu irgendetwas auf. Ich erkläre nur, warum ich emigrieren will. Wie soll ich das sagen? Die größte Revolution, die du machen kannst, ist die Revolution in dir selbst, als Persönlichkeit. Das ist alles, was du für die Gesellschaft tut kannst. Aber es ist sauschwer, sich weiterzuentwickeln, wenn du selbst in die Höhe wächst und die Leute um dich herum verfickt langsam wachsen, oder eben gar nicht. Das zieht mich runter. Außerdem hab ich die Schnauze verfickt voll von der Kälte und der wenigen Sonne. Das ist alles. Für mich, mit meinen Depressionen und psychischen Problemen, an denen ich arbeite (und an denen alle arbeiten müssen), ist es einen Versuch wert. Der Rest wird sich zeigen.
*Seit 2013 ist die Benutzung nicht-normativer Lexik (Mat) in russischen Medien gesetzlichverboten. Der stellenweise Gebrauch von Mat ist im Original durch Sternchen gekennzeichnet. ↑
Pussy Riot-Aktivist Pjotr Wersilow war einem internationalen Publikum unlängst beim Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft aufgefallen. Dort stürmte er das Spielfeld zusammen mit weiteren Aktivistinnen von Pussy Riot – „der Milizionär kommt ins Spiel” nannte sich die Aktion, mit der sie auf Allmacht und Willkür der russischen Polizei hinweisen wollten.
Am 11. September waren bei Wersilow plötzlich Sehstörungen und andere Symptome aufgetreten, nachdem er den ganzen Tag im Gericht in Moskau verbracht hatte, wo ein Urteil über die beiden Pussy Riot-Aktivistinnen Nika Nikulschina und Diana Dedenko gefällt wurde. Als er schließlich in der Berliner Charité behandelt wurde, sprachen auch die Berliner Ärzte von einer „hohen Plausibilität“ dafür, dass Wersilow vergiftet wurde.
Inzwischen ist Wersilow aus dem Krankenhaus entlassen, hält sich aber weiter in Berlin auf. Im Interview mit Iwan Kolpakow, Chefredakteur von Meduza, erklärt er, wen er hinter dem Giftanschlag vermutet. Und weshalb er den Grund dafür nicht in der Aktion beim WM-Endspiel, sondern bei Recherchen in der Zentralafrikanischen Republik sieht. Dort waren Ende Juli drei russische Journalisten unter ungeklärten Umständen ermordet worden. Sie hatten für das Online-Medium ZUR des Oligarchen Michail Chodorkowski an einem Film über die russische Söldner-Einheit Wagner gearbeitet. Diese Privatarmee wird Jewgeni Prigoshin zugeordnet – genauso wie die Nachrichtengentur RIA FAN. Über deren Mitarbeiter hatten die drei Ermordeten den Fixer Martin gefunden, berichtet Wersilow.
Treffen in einer Berliner Kneipe – Iwan Kolpakow, Pjotr Wersilow und Meduza-Herausgeberin Galina Timtschenko / Foto: privat
Meduza: Wie geht es dir? Pjotr Wersilow: Im Vergleich zur letzten Woche fühle ich mich insgesamt sehr gut.
Weißt du, wie und wann man dich vergiftet haben könnte? Die Ärzte haben mich zu diesem Tag, dem 11. September, sehr eingehend befragt. Natürlich ist das kompliziert: Ich habe eine Menge Cafés aufgezählt, wo wir Kaffee getrunken und Sandwichs gekauft haben. Damit kann man schwer arbeiten, weil es eine große Anzahl potentieller Punkte gibt [an denen man Wersilow hätte vergiften können – Meduza].
Und zu welcher Version neigst du? Es ist schwierig, irgendwelche Schlüsse zu ziehen, denn nach dem, was die Ärzte über diese rätselhafte Substanz gesagt haben … Sie sagen: Eine Eigenschaft der Substanz ist, dass die Wirkung sehr plötzlich einsetzt und sich dann weiter entfaltet. Wenn das stimmt, dann ist es irgendwann am 11. September passiert.
Was denkt eigentlich deine Mutter über das, was passiert ist? Meine Mutter kapiert ganz genau, dass das keine normale Lebensmittelvergiftung war, mit allem, was dann passierte. Meine Mutter glaubt nur nicht an Verschwörungstheorien.
Auf welcher Ebene wurde entschieden, dich zu vergiften, was meinst du? Ist für dich völlig klar, dass es die Machtelite war? Außer der russischen Machtelite kommt keiner in Frage. Welche Ebene? Mir scheint, es gibt auf jeden Fall einen gewissen Handlungsrahmen, innerhalb dessen sie tun können, was sie wollen. Und dieser Rahmen ist von höchster Ebene abgesegnet.
Außer der russischen Machtelite kommt keiner in Frage
Hast du jetzt gerade Angst um dein Leben? Nicht so richtig.
Wir sind in diesem Restaurant mit deinem deutschen Begleitschutz. Und du denkst trotzdem nicht: „Huch, vielleicht ist mein Leben tatsächlich in Gefahr?“ Nun, ich nehme das schon an. Aber wenn du dich in Russland bewusst entscheidest, so etwas zu machen, dann hast du keinen Anspruch darauf, zu sehr um diese Dinge besorgt zu sein. Sonst solltest du nicht in Russland leben und nicht solche Dinge tun.
Du sagtest bereits, du hast zwei Erklärungen [weshalb du vergiftet wurdest – dek]. Die eine hängt zusammen mit den Recherchen zur Zentralafrikanischen Republik, bei der anderen geht es um eine Rache für die Aktion Der Milizionär kommt ins Spiel. Zu welcher Version tendierst du eher? Natürlich ist die [erste – dek] Version mit dem GRU deutlich realistischer. Denn die Moskauer Polizei [die die Aktion von Pussy Riot beim WM-Finale nicht verhindern konnte – Meduza], das ist einfach nicht die richtige Organisation dafür. Die haben nicht das professionelle Rüstzeug für solche Sachen, das ist nicht deren Kompetenzbereich. Es ist äußerst zweifelhaft, dass die Moskauer Polizei eine solch heftige Geste wie diese Vergiftung hätte zulassen können.
Es ist äußerst zweifelhaft, dass die Moskauer Polizei eine solche Vergiftung hätte zulassen können
Lass uns über das Afrika-Thema sprechen. Das ist der rätselhafteste Teil der ganzen Geschichte. Frage Nummer eins: Stimmt es, dass du mit Rastorgujew in die Zentralafrikanische Republik fahren wolltest? Ja, das stimmt. Sascha [Rastorgujew] und ich haben in letzter Zeit an vielen unterschiedlichen Projekten gearbeitet, alten wie neuen. Er erzählte, dass sie diese Idee haben – [in die Zentralafrikanische Republik – Meduza] zu fahren. Ich hab quasi von mir aus angeboten mitzukommen. Es ist bekannt, auf wessen Kosten sie gefahren sind [die Reise wurde organisiert vom Kontrollzentrum für Investigatives ZUR, das Michail Chodorkowski gehört – Meduza]. Ich hatte von mir aus angeboten, mit ihnen aufzubrechen …
Warst du mit Rastorgujew befreundet? Ja. Sascha war ein ziemlich enger Freund. Wir kannten uns gut, über viele Jahre. Seit 2012 oder sogar 2011.
Woher kam die Idee mit der Zentralafrikanischen Republik? Von Rastorgujew.
Was hat er dir gesagt? Wir saßen im Café, er erzählte: Ich will ein Projekt machen, die Aktivitäten von Wagner untersuchen in der Zentralafrikanischen Republik, im Sudan und in Syrien.
Was hatte Rastorgujew davon? Ich versteh das nicht. Wagner, die Zentralafrikanische Republik – sowas ist doch überhaupt nicht seins. Sascha hatte viele solcher interessanten Geschichten. Er hat das alles völlig bewusst gemacht … Er hat erzählt, dass er vorhat, in den Sudan zu fahren, nach Syrien und so weiter. Obwohl er sowas nie zuvor gemacht hatte, war er voller Enthusiasmus und Interesse.
Glaubst du, er wollte einfach an einen Ort, wo die Hölle auf Erden ist? Nein, nicht in die Hölle auf Erden. Aber in seinem Kopf formte sich tatsächlich ein schöpferisches Narrativ, dass es interessant wäre, auch solches Material aufzunehmen und damit zu arbeiten. Auf Facebook und sonstwo gab es zahlreiche Kommentare wie: „Der arme Sascha wurde aus Geldnot gezwungen in die Zentralafrikanische Republik zu fahren, von Michail Borissowitsch Chodorkowski persönlich.“ Das ist völliger Käse. Sascha war tatsächlich dazu bereit, er war daran interessiert. Niemand hat ihn gezwungen zu fahren, er hat sich nicht aus irgendeiner schlimmen Geldnot heraus dazu bereit erklärt.
Niemand hat Sascha gezwungen zu fahren, er hat sich nicht aus irgendeiner Geldnot heraus dazu bereit erklärt
Mit den Finanzen war alles in Ordnung bei ihm? Vielleicht war nicht alles völlig in Ordnung, aber es war für ihn nicht der entscheidende Punkt, eindeutig.
Warum hast du entschieden, dass du auch dahin fahren musst? So albern das klingt, aber in erster Linie wollten wir dort über verschiedene zukünftige Projekte sprechen.
Das heißt, du hast dir das vorgestellt wie eine Urlaubsreise? Naja, nicht wie eine Urlaubsreise. Als ich hörte, was er erzählte, hab ich einfach gesagt, dass ich auch interessiert sei, mit ihnen zu fahren.
Was hat er erzählt? Was hat er gesagt? „Wir fahren dahin und machen …“ – machen was? „Wir machen einen Film über Wagner.“
Glaubst du auch, dass die Reise [von Rastorgujew, Dshemal und Radtschenko in die Zentralafrikanische Republik – Meduza] im Prinzip gut vorbereitet war? Nein, ich glaube, dass die Reise absolut greulich vorbereitet war. Das ist vor allem Saschas Schuld, nicht die der anderen. Denn er hat eine Reihe von Entscheidungen getroffen, die die Leute vom ZUR nicht ausreichend hinterfragt haben. Und diese Entscheidungen haben sie wir alle wissen wohin geführt …
Was für Entscheidungen? Die Entscheidung, sich dieser Gestalt namens Martin anzuvertrauen, der wahrscheinlich auch gar nicht in Afrika war.
Dass sie über den RIA FAN-Mitarbeiter Romanowski einen Fixer gefunden haben, gehört deiner Meinung nach auch zu diesen Entscheidungen? Ja. Das ist absolut irre, denn eigentlich liegt es auch an Romanowski, dass die Jungs tot sind. So stellt sich mir das Bild dar.
Sie hätten sich nie dieser Gestalt namens Martin anvertrauen dürfen, der wahrscheinlich auch gar nicht in Afrika war
Du verknüpfst ihre Ermordung damit, dass sie ihren Fixer über eine Person gefunden haben, die bei RIA FAN arbeitet? Habe ich das richtig so akzentuiert? Ja, genau genau genau. Absolut.
Aber zu dem Zeitpunkt, als sie vorhatten zu fahren, wusstest du nicht, wo sie diesen Fixer aufgetrieben haben? Nein. Als wir begonnen hatten, unsere [WM-Pussy Riot-]Aktion vorzubereiten, habe ich ihre täglichen Angelegenheiten etwas weniger verfolgt. Es fehlte einfach die Zeit. Unsere Aktion hatte von Anfang an Priorität für mich.
Wenn man annimmt, dass ihr Fixer Martin derjenige war, der den Hinterhalt auf sie koordiniert hat, scheint es bedeutungslos, wie die Reise organisiert war. Ich stimme dir völlig zu, dass da auch zehn Jeeps mit Begleitschutz hätten sein können. Ob nun zehn Jeeps oder nur eine Person – das spielt überhaupt keine Rolle.
Gab es einen Moment, in dem du auch nur eine Sekunde in Erwägung gezogen hast, dass es einfach ein Raubüberfall war? In den ersten Tagen war tatsächlich alles unklar und die Version eines Raubüberfalls schien möglich. Aber dann haben mir verschiedene Leute, mit denen ich gesprochen habe, gesagt, dass ein Mord an einem Weißen in der Zentralafrikanischen Republik etwas komplett Ungewöhnliches ist. Das letzte Mal starb dort eine französische Journalistin bei einem zufälligen, aber realen kriegerischen Schusswechsel vor vier Jahren. Es gibt da keine Tradition, weiße Menschen umzubringen.
In allen Beiträgen, die auf den Tod von Sascha, Orchan und Kirill folgten, wurde behauptet, dass sie zunächst nach Syrien fahren wollten und dann irgendwann ihren Plan geändert und entschieden haben, mit der Zentralafrikanischen Republik zu beginnen, weil sich das mit Syrien nicht ergeben hat. Völlig richtig, genau. Sascha hat eine Freundin in Berlin, die Romanowski bei irgendeiner Krankheit geholfen hat. Also waren sie in Kontakt. Diese Freundin hat Sascha gesagt, dass es einen Typen gibt, der viel in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik und anderswo arbeitet: „Sprecht mal mit dem, vielleicht versteht ihr euch.“ Sascha ist mit Romanowski in Kontakt getreten. Und darauf bauen alle weiteren Glieder der Kette auf.
Sascha ist mit Romanowski von RIA FAN in Kontakt getreten. Darauf bauen alle weiteren Glieder der Kette auf
Glaubst du nicht, dass das trotz allem eine ziemlich merkwürdige Sache ist? Jemand möchte an einen schrecklichen Ort fahren und ihm ist es gleich, ob nach Syrien oder in die Zentralafrikanische Republik. Das erklärt sich durch gewisse psychologische Besonderheiten von Sascha. Er hat die Verantwortung übernommen für eine Reise genau in diesem Stil. Außerdem war da Orchan, dessen Vorstellungen darüber, wie man sich an Brennpunkten zu verhalten hat, bekannt sind. Diese explosive Mischung von Rastorgujew und Orchan hatte zweifellos ihren Einfluss auf alles.
Was dachtest du, als du erfahren hast, dass sie umgebracht wurden? Ich habe natürlich Schmerz über Sascha empfunden. Das ist ein ganzes Spektrum von persönlichen Gefühlen, denn Sascha war schließlich nicht einfach nur ein Freund. Wir hatten so viele unmittelbar gemeinsame kreative Pläne … Darum war das ein Schlag für mich.
Hattest du nicht das Gefühl, dass du dort hättest sein müssen? Dass du dich gedrückt hast? Doch, das Gefühl hatte ich.
Und Schuldgefühle? Dass du das hättest verhindern können? Ende Juni, als ich etwas hätte machen können, hatten sie noch überhaupt nichts fertig. Da konnte man noch nichts verbessern und herausfinden.
Was passierte nach den Morden in der Zentralafrikanischen Republik? Wir wurden entlassen, und ich habe dann genauestens recherchiert, was da passiert war – und wer welche Untersuchungen durchführen kann. Um zu verstehen, was da vor sich geht. Als klar wurde, dass nicht besonders viel unternommen wird, haben wir ein kleines Team zusammengestellt …
Hast du Mediazona [dessen Herausgeber Wersilow ist – dek] vorgeschlagen, es zu machen? Nein. Journalisten sind dort komplett schutzlos. Wir brauchten Leute, die die Region sehr gut kennen, dort viele Jahre waren und eine Vorstellung haben, wie man in solchen Angelegenheiten recherchiert.
Und du hast ein solches Team zusammengestellt? Ja. Rund vier Tage nach den Morden.
Hast du die Arbeit geleitet? Eher koordiniert. Die Aufgaben haben die Jungs [das von Wersilow koordinierte Rechercheteam – dek] selbst festgelegt. Wir hatten ein gemeinsames Ziel: alles zu sammeln, was auch nur die geringste Bedeutung für das Geschehene haben könnte. Jetzt haben wir in gewissem Sinne die erste Etappe der Recherchen hinter uns. Sie überlegen, in welche Richtung man gehen kann, um die zweite Etappe zu starten.
Stimmt es, dass du am Tag deiner Vergiftung den ersten Bericht erhalten hast, den dein Team zusammengestellt hat? Das war schon ein paar Tage vorher.
Hattet ihr beschlossen, ihn zu veröffentlichen? Das hängt mit der zweiten Etappe der Recherchen zusammen. Uns ist wichtig sicherzustellen, dass die Veröffentlichung unserer Ergebnisse der zweiten Etappe nicht schadet.
Was kannst du erzählen von dem, was im ersten Bericht steht? Der Bericht zieht einen völlig sicheren, in Beton gegossenen Schluss: Das war eine professionelle, auf sehr hohem Niveau organisierte Operation.
Als die Jungs angefangen haben, die Figur Martin eingehender zu untersuchen, kam heraus, dass sein Anrufregister aus dem inneren System des Zentralafrikanischen Mobilfunkbetreibers gelöscht worden war. Es gibt keine Spuren von ihm in der Stadt, wohin die Jungs auch fuhren.
Das war eine professionelle, auf sehr hohem Niveau organisierte Operation
Unsere Jungs wurden, wahrscheinlich, in der Nacht vom 30. auf den 31. Juli ermordet. Genau 20 Minuten, nachdem der Fall öffentlich erwähnt worden war, hat Martin aufgehört zu antworten. Darüber hinaus hat er alle Apps, alle Chats, in denen Nachrichten mit ihm ausgetauscht worden waren, gelöscht und ist komplett verschwunden. Seine digitale Spur wurde sehr sorgfältig gesäubert.
Sind neben Martin irgendwelche neuen Beteiligten aufgetaucht? Ja, es gibt einen Protagonisten, über den ich nicht sprechen kann. Er war wahrscheinlich der Koordinator zwischen Martin, dem Fahrer und allen anderen. Ein Afrikaner.
Glaubst du, dass das [die Ermordung der russischen Journalisten – dek] von der Zentralafrikanischen Regierung organisiert wurde? Die Regierung Zentralafrikas, das sind dankbare Welpen, die ganz glücklich darüber sind, dass Wladimir Wladimirowitsch zugestimmt hat, sich ein wenig mit ihrer Region zu beschäftigen. Es wäre verrückt anzunehmen, dass diese Regierung entscheiden könnte, wie mit russischen Journalisten zu verfahren ist, die irgendwas recherchieren. Das ist eine komplett unwahrscheinliche Version.
Es wäre verrückt anzunehmen, dass die Zentralafrikanische Regierung entscheiden könnte, wie mit russischen Journalisten zu verfahren ist
Das heißt, deiner Meinung nach wurde die Entscheidung in Russland getroffen? Ja.
Und wer hier könnte dies entschieden haben? Ich halte nichts davon, immer die höchste Ebene zu beschuldigen, aber so wie ich die Psychologie des Geschehens hierzulande verstehe, sind solche Dinge ohne die Zustimmung der ersten Person nicht wirklich zulässig. Oder zumindest unter Beachtung einer allgemeinen Linie.
Eine Stammtisch-Reaktion darauf ist: Weshalb sollten Journalisten in Zentralafrika ermordet werden, wenn das sofort die Aufmerksamkeit auf das lenkt, was die Russen dort machen? Viele ähnliche Fälle – wie etwa der der Skripals – haben einen ziemlich demonstrativen Charakter. Wenn ihr das tut, tun wir jenes. Stellt euch darauf ein, dass ihr alle ermordet werdet.
Viele Fälle haben einen ziemlich demonstrativen Charakter: Wenn ihr das tut, tun wir jenes. Stellt euch darauf ein, dass ihr alle ermordet werdet
Das, was mit dir passiert ist, gehört für dich in diese Logik? Bei mir ist überhaupt nicht klar, was sie damit wollten. Aber, anscheinend, ja.
Und du glaubst, dass man dich umbringen wollte? Darüber würde ich am liebsten nicht sprechen. Glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass man mich umbringen wollte. Am ehesten, wenn man so darüber fantasiert, war das wohl ein Akt der Einschüchterung, oder so.
Hast du nach dem, was passiert ist, vor, in die Zentralafrikanische Republik zu reisen? Nach dem Vorfall haben wir sofort überlegt, ob eine [mögliche] Reise unsererseits, unsere Anwesenheit irgendeinen Nutzen haben könnte. Und haben dann entschieden, dass das nur zu einer höllischen Aufregung und einem seltsamem Hin und Her führen würde. Es würde nichts Konstruktives bei rauskommen. Die Aufgabe besteht darin, dass die Leute, die sowas professionell machen können, die Möglichkeit bekommen zu arbeiten.
Und wann wird euer Bericht über die Zentralafrikanische Republik veröffentlicht? Schwer zu sagen, wann der Moment gekommen sein wird, das seriös und öffentlichkeitswirksam zu tun. Wir müssen weiter graben.
Afrika ist einerseits ein Faß ohne Boden, andererseits nehmen die Leute dort die Ereignisse ganz anders auf; das könnte uns in die Hände spielen. Ich denke nicht, dass die Gruppe, die die Jungs ermordet hat, einfach so aus dem Tschad eingefallen und auf Kriegskamelen wieder in den Tschad zurückgaloppiert ist. Das sind wahrscheinliche Einheimische, die eine Verbindung zu irgendwelchen einheimischen Silowiki haben. Vielleicht sogar unter Kontrolle von Leuten von hier. Es gibt immer die Hoffnung, das mittels Recherchen noch Erkenntnisse darüber auftauchen, dass irgendwer ein Held Russlands ist.
Hast du vor nach Moskau zurückzukehren? Klar, auf jeden Fall.
Wann? Ich denke, in etwas mehr als einer Woche, irgendwie so. Vielleicht auch etwas später. Ist noch nicht klar.
Was machst du hauptsächlich? Das gleiche wie immer.
Allerlei Schandtaten? Tatsächlich würde ich wirklich sehr gerne irgendeinen Durchbruch bei den Recherchen zum Geschehen in Zentralafrika erreichen.