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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung

    QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung

    Die Stimmlokale sind geöffnet, rund 110 Millionen russische Bürger sind aufgerufen, bis einschließlich ersten Juli ihr Votum über die Verfassungsänderung abzugeben. Vorgelegt wird ihnen ein „Paket“ von Verfassungsänderungen: vom Gottesbezug über Tierrechte bis hin zur Nullsetzung der Amtszeiten von bisherigen Staatspräsidenten.

    Wegen der Pandemie musste die Abstimmung um mehr als zwei Monate verschoben werden. Da die wirtschaftlichen Probleme in dieser Zeit genauso gewachsen sind wie die Unzufriedenheit mit dem Seuchenmanagement, haben einige Beobachter schon gemutmaßt, dass der Kreml die Volksabstimmung ganz aufgeben würde – spiele sie doch eh nur eine symbolische Rolle, weil die Verfassungsänderung gesetzlich schon dingfest sei.

    Tatsächlich haben sich die Wahlberechtigten laut Meinungsumfragen zunächst kaum für die Abstimmung interessiert. Bis die Idee mit der Nullsetzung aufgeworfen wurde: Diese Frage spaltete laut Meinungsforschern von Lewada die russische Gesellschaft in nahezu gleiche Hälften. Die Gegner, so fanden die Soziologen heraus, zeigen sich aber weniger bereit, an der Volksabstimmung teilzunehmen. Das hat zur Folge, dass der Kreml durchaus das gemunkelte Wunschergebnis von mindestens 60 Prozent bekommen kann. Die gewünschte Wahlbeteiligung von 55 Prozent bleibt dabei aber fraglich.

    Für die Abstimmung gelten verschiedene Besonderheiten, um selbst unter Corona-Bedingungen eine hohe Wahlbeteiligung zu erzielen – schließlich geht es für den Kreml auch um symbolische Legitimität. Abstimmen können russische Bürger daher eine ganze Woche lang auch außerhalb des Wahllokals mit einer „mobilen“ Wahlurne oder – wie in Moskau und der Oblast Nishni Nowgorod – auch erstmals online.

    Zum Arsenal der Instrumente zur Wählermobilisierung gehört traditionell auch die Nutzung von Druckmitteln gegenüber Menschen in Abhängigkeitsverhältnissen. Wie Meduza rausfand, kommen dabei neuerdings IT-Innovationen zum Einsatz.

    Bei der Abstimmung über die Verfassungsänderungen ermöglicht ein elektronisches System die Kontrolle der Wahlbeteiligung von Mitarbeitern großer Firmen. Auf der Seite votely.ru können Chefs Listen ihrer Mitarbeiter hochladen und jedem einen eigenen QR-Code zuweisen. Während der „Volksabstimmung“ scannen Freiwillige in den Stimmlokalen die QR-Codes – unter dem Vorwand von Gewinnspielen und Verlosungen – um so Daten zur Wahlbeteiligung zu gewinnen.

    Meduza hat Zugriff auf eine Demoversion des Systems erhalten und die auf dem Portal veröffentlichten Anleitungen ausgewertet. „Die Zählung der im Wahllokal erschienenen [Mitarbeiter] erfolgt durch personengebundene QR- oder Strichcodes, die mittels einer speziellen App für Android oder iPhone ausgelesen werden“, heißt es in einer Präsentation auf votely.ru.

    Gewinnspiele und Lotterien

    Eines der Dokumente besagt, dass das Scannen der individuellen QR-Codes im Wahllokal als „Projekte zusätzlicher Abstimmungsformen“ durchgeführt wird. Dazu zählen laut Anleitung: „Quizspiele, [Abstimmungen über] die Verleihung des Status ,Stadt werktätigen Heldenmuts‘, über Projekte zur Steigerung der städtebaulichen Lebensqualität und andere regionale oder kommunale Befragungen über für die Bevölkerung relevante Themen.“ 

    In einigen Regionen Russlands wurden bereits verschiedene Gewinnspiele, Wettbewerbe und Lotterien für die Wähler angekündigt. In Barnaul, Nishni Nowgorod, Ishewsk und einer Reihe weiterer Städte findet während der Verfassungsabstimmung auch ein Votum statt, bei dem Menschen über die Verleihung des Status „Stadt werktätigen Heldenmuts“ entscheiden sollen. Die Zentrale Wahlkommission Russlands verkündete, dass sie gegen derartige Wettbewerbe und Gewinnspiele in Wahllokalen keine Einwände hat, sofern diese nicht den Abstimmungsprozess behindern. 

    Die Mobilisierungsverantwortlichen können die Wahlbeteiligung in Echtzeit verfolgen

    Die am Abstimmungstag „mobilisierungsverantwortlichen“ Unternehmens-, Branchen- und Regionalchefs sowie die Projektleiter selbst können die Wahlbeteiligung in Echtzeit verfolgen – unterteilt nach unterschiedlichen Unternehmen, Branchen und Regionen. Das geht aus der Dokumentation auf der Seite des Projekts hervor. Darüber hinaus lassen sich in der Datenbank die Telefonnummern all derer Mitarbeiter anzeigen, die nicht abgestimmt haben.

    Screenshot der Demoversion von votely.ru / © Meduza
    Screenshot der Demoversion von votely.ru / © Meduza

    In der Demoversion von votely.ru, in die Meduza Einblick bekommen hat, waren bereits einige Dutzend russische Großunternehmen gelistet. Neben der Russischen Post sind dies unter anderem Sibur, Severstal, Rostec, Rostelecom, die Russische Eisenbahn, Lukoil, AFK Sistema und andere. Informationen über die Anzahl ihrer Mitarbeiter und deren QR-Codes werden in der Demoversion jedoch nicht geliefert – dort sind nur die Namen der Organisationen angegeben.

    Einem Gesprächspartner von Meduza zufolge soll das IT-System votely.ru zur Kontrolle der Wahlbeteiligung in Großunternehmen der Oblast Jaroslawl und der Region Altai eingesetzt werden. 

    Du kommst in einen Wahllokal, zeigst einem Menschen deinen QR-Code, stimmst ab und gehst

    Vor einigen Tagen berichtete das Online-Portal Ura.ru über die geplante Verwendung von QR-Codes zur Kontrolle der Wahlbeteiligung bei Bjudshetniki in Jekaterinburg. Dabei beschrieb das Portal ein ähnliches Schema wie das von votely.ru: „Du kommst in einen Wahllokal, zeigst einem Menschen deinen QR-Code, stimmst ab und gehst“, so eine der Quellen von Ura.ru

    Schon 2018 im Einsatz

    Dem Portal votely.ru zufolge gibt es das System bereits seit einigen Jahren. 2018 hatte MBKh Media während der Präsidentschaftswahl berichtet, dass man in der Region Jaroslawl die Wahlbeteiligung kontrolliert, und dass E-Mails mit Daten zur Wahlbeteiligung von der E-Mail-Adresse robot[at]votely.ru versandt werden. 

    Wie Meduza herausgefunden hat, heißt der Schöpfer von votely.ru und von den Apps zum Scannen der QR-Codes Iwan Valentinowitsch Petrow, ein gebürtiger Rybinsker aus der Oblast Jaroslawl. Er lehnte es ab, mit Meduza über die Einzelheiten des Votely-Systems zu sprechen, da „er grundsätzlich unter keinen Umständen mit Journalisten spricht“. Wenige Minuten nach dem Anruf bei Petrow hat der Demozugang zu votely.ru nicht mehr funktioniert.


    Update: Am 26. Juni hat Meduza eine weitere Recherche veröffentlicht darüber, dass die Plattform votely.ru über Server staatlicher Organe in Russland betrieben werden.

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  • Datenleaks: Hetzjagd auf Corona-Patienten

    Datenleaks: Hetzjagd auf Corona-Patienten

    Hetzjagd in Sozialen Medien: Durch Leaks wurden russlandweit Daten von Corona-Patienten öffentlich. Namen, Adressen und Beschimpfungen kursieren im Netz. Wie konnte das passieren? Eine Recherche von Meduza.

    Hetzjagd in Sozialen Medien – durch Datenleaks bei Polizei, Ärzten und Behörden wurden Adressen von Corona-Patienten öffentlich / Foto © Piqsels unter CC BY-SA 0
    Hetzjagd in Sozialen Medien – durch Datenleaks bei Polizei, Ärzten und Behörden wurden Adressen von Corona-Patienten öffentlich / Foto © Piqsels unter CC BY-SA 0

    Am 13. April hörte Angela Tschernobajewa Geräusche im Treppenhaus und schaute durch den Türspion: Es war das Rascheln von Einkaufstüten, die jemand ihrer Nachbarin vor die Tür stellte. Als die Nachbarin die Tüten hereinholte, hatte sie einen Mundschutz um, berichtet Angela Viktorowna beruhigt. „Und sie ist gleich wieder zurück in die Wohnung – gut so, sie hält sich an die Vorschriften. Ich mache mir nämlich sehr viel Gedanken, dass sie rausgehen könnte“, sagt Tschernobajewa gegenüber Meduza

    Dass sie ihre Nachbarn jetzt im Auge behalten soll, weiß Angela Viktorowna aus den Sozialen Netzwerken der Kleinstadt Susemka in der Oblast Brjansk: Als dort die kompletten Daten eines älteren Ehepaares, das an Corona erkrankt war, veröffentlicht wurden, erfuhr Angela Viktorowna, dass sie Tür an Tür mit deren Tochter wohnt – bei der nun auch der Verdacht einer Covid-19-Infektion besteht. „Jetzt warte ich auf ihre Testergebnisse, damit ich weiß, ob ich weiter Angst haben muss oder nicht“, teilt Angela Tschernobajewa ihre Sorge mit uns.

    Die persönlichen Daten des an Covid-19 erkrankten älteren Ehepaares waren unmittelbar nach der Diagnose ins Netz gelangt: Am 11. April tauchten auf der größten öffentlichen VKontakte-Seite der Stadt Adresse, Telefonnummern und sogar Informationen zu Kontaktpersonen auf. Insgesamt elf Personen waren von dem Datenleak betroffen – vom Partner der Tochter bis zur Ex-Schwiegertochter. „Und als die Liste mit den Namen [von der VK-Seite] verschwand, haben sich alle aufgeregt: ‚Die verbreiten hier diese Seuche, da müssen wir doch ihre Namen kennen! Was, wenn wir jetzt auch gefährdet sind?‘“, erinnert sich Angela.

    Datenleak: Liste mit Namen von Covid-19-Patienten

    Die im Netz veröffentlichte Liste sei von einem Polizeibeamten zusammengestellt worden, erklärt Alexej, der Sohn des betroffenen Ehepaares, gegenüber Meduza. „Ich wurde von einem Polizisten ausgefragt, und dann ist das offizielle Dokument im Internet aufgetaucht – wer hat das gemacht? Die Polizei, das Krankenhaus?“, empört sich unser Gesprächspartner. Die Informationen seien für den Verbraucherschutz Rospotrebnadsor des Bezirks Susemsk bestimmt, hatte es in dem Dokument geheißen. 

    Veröffentlicht wurden nicht nur die Namen, sondern auch die Adressen und Telefonnummern aller Familienmitglieder. „Zwei Tage lang hat mein Telefon keine Ruhe gegeben“, schildert Alexej die Folgen. „Man behandelt uns wie Aussätzige, als hätte ich mir die Beulenpest eingefangen.“

    Wissen Sie, dass Sie an Covid-19 erkrankt sind?

    In den vergangenen Wochen waren bereits weit größere Mengen personenbezogener Daten von Menschen mit Verdacht auf Covid-19 aus dem Innenministerium ins Netz gelangt. Im April bekam Artjom aus Orenburg einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Die Stimme habe „merkwürdig unhöflich“ geklungen, erinnert sich Artjom, der Anrufer war „seltsam aufdringlich“, rief mehrfach mit derselben Frage an: „Wissen Sie, dass Sie an Covid-19 erkrankt sind?“

    Artjoms Privatnummer hatte der anonyme Anrufer aus folgendem Datenleak: Anfang April war im Internet eine Tabelle mit 277 Namen aufgetaucht – die Überschrift lautete: „Personen, die als potentielle Covid-19-Träger unter Bewachung stehen“. Artjom ist überzeugt, dass die Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern echt ist: Seine Familie sei nach einem Auslandsaufenthalt tatsächlich „unter Beobachtung“ gestellt worden, die Polizei war persönlich bei ihm zu Hause, um die Daten aufzunehmen. „Soweit wir sie überprüfen konnten, stimmen alle Angaben überein“, berichtet Artjom. „Dass die Informationen im Netz aufgetaucht sind, ist grob fahrlässig und kriminell.“

    „Angesichts der Tatsache, dass die Behörden nach einer Totalüberwachung streben, habe ich keine Zweifel, dass Informationen über Infizierte an die Gesundheitsbehörden, an die Polizei und an alle möglichen ‚operativen Stäbe‘ übermittelt werden“, sagt Damir Gainutdinow. Der Jurist der Moskauer Menschenrechtsorganisation Agora beschäftigt sich derzeit  auch mit dem Datenleak in Orenburg. „Die Polizei, aber auch das Gesundheitssystem, der Rospotrebnadsor – auf allen diesen Ebenen sind Sicherheitslücken denkbar.“

    Sanitäter postet Testergebnis im Netz

    12. April, Ortschaft Schadrinsk, östlich des Ural: Ein älterer Herr mit Mundschutz und Handschuhen betritt ein Lebensmittelgeschäft. Als die Verkäuferinnen ihn sehen, verschwinden sie in einem Nebenraum und tauchen nicht mehr auf; der Mann steht alleine im Laden. 

    „Mein Vater hat angefangen zu zittern“, erzählt Marina Makruschina, die kurz vorher positiv auf das Coronavirus getestet worden war. „Er hat nichts gekauft, ist einfach wieder gegangen.“

    In der Nacht zuvor war Marina Makruschina, die Tochter des älteren Herrn,  mit dem Notarztwagen von Schadrinsk ins Gebietskrankenhaus nach Kurgan gebracht worden: Auf der zweistündigen Fahrt gelangte das positive Testergebnis der Patientin auch an die Ohren des Sanitäters. Dieser postete am nächsten Morgen auf der VK-Seite Mitgehört in Schadrinsk, es gebe einen ersten Corona-Fall in der Stadt.

    Als in den Kommentaren zum Post Marina Makruschinas persönliche Daten inklusive Adresse und Foto auftauchten, zeigte die junge Frau den Sanitäter bei der Polizei an. Wegen der Offenlegung ihrer Daten verdächtigt sie die Ärzte. „Um der Stadt  zu demonstrieren, dass sie arbeiten, haben sie meine Daten weitergegeben“, sagt Makruschina. „Und jetzt sagen alle: ‚Marina Makruschina aus der Straße des Friedens hat das Coronavirus.‘“ (Auf Meduzas Nachfrage zu den Umständen des Datenleaks reagierte das Gesundheitsministerium nicht.)

    Hetzjagd in Sozialen Medien

    Die Hetzjagd, die nach dem ursprünglichen Post bei VKontakte begann, ging in den anderen Sozialen Netzwerken und Messengern der Stadt weiter. „In privaten Nachrichten und Gruppenchats – über die Arbeit, die Schule – werden meine Fotos geteilt, mit dem Kommentar: ‚Die hat das hier eingeschleppt‘. Man beschuldigt mich, dass ich absichtlich hergekommen sei, um meine Heimatstadt anzustecken!“, sagt Makruschina.

    Einige dieser Nachrichten sind Drohungen, die mit mehrdeutigen Grab-Emojis versehen sind. „Mein Telefon hört nicht auf zu klingeln. Auch meine Eltern bekommen ständig Anrufe. Meine Freunde warnen mich: ‚Pass auf dich auf, wenn du zurückkommst: Die warten hier auf dich.‘ In der Stadt schreiben sie, dass man mich steinigen will, dass man sie [die Infizierten] ‚verbrennen‘ und mich ‚in eine Irrenanstalt stecken‘ sollte“, erzählt Makruschina. „So einer Horde ist alles zuzutrauen.“

    Gesundheitsministerium schweigt zu den Vorwürfen

    In Selenograd [im Norden von Moskau] wurde das positive Ergebnis eines Corona-Schnelltests gleich von dem Arzt verbreitet, der die Familie des Infizierten zu Hause besucht hatte. „Als er aus dem Haus ging, sagte er zu der Frau am Empfang: ‚In Wohnung Nr. 11 gibt es ein positives Ergebnis.‘ Ab da ging es los“, erzählt Jewgenija (Nachname ist der Redaktion bekannt). „Später hat der Chefarzt angerufen und sich entschuldigt.“

    Jewgenija erstattete Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, sowohl gegen den Arzt als auch gegen die Empfangsdame, die das Testergebnis jedem mitteilt, der das Haus betritt. „Wenn die Nachbarn nach Hause kommen, sagt sie ihnen direkt ins Gesicht: ‚In Nr. 11 gibt es Corona‘“, erzählt Jewgenija.

    Das Gesundheitsministerium wollte sich zu den Umständen der Leaks nicht äußern; unbeantwortet blieb auch Meduzas Frage, welche Maßnahmen das Ministerium ergreife, um die Patientendaten während der Coronavirus-Pandemie zu schützen.

    Streit über ärztliche Schweigepflicht

    „Uns wurde nahegelegt, die ganze Familie samt Hund zu vernichten“, erzählt Aljona aus Ust-Kut (Nachname ist der Redaktion bekannt). Von dieser Hetzjagd in der Oblast Irkutsk hatte  die Komsomolskaja Prawda am 13. April berichtet: Nur 20 Minuten, nachdem die Familie selbst von dem Verdacht auf Covid-19 erfahren hatte, hatten Unbekannte die Nachricht von einem positiven Testergebnis verbreitet. Aljona vermutet, dass die Nachbarn dahinterstecken: „Über Instagram, Whatsapp, Odnoklassniki und VKontakte – überall wurde es geteilt“, erzählt unsere Gesprächspartnerin, die im März im Ausland gewesen ist. „Verbrennen, umbringen, erschießen sollte man diese Mutter! Nicht nur, dass die selbst unbedingt dahin musste, sie hat auch noch die Kinder mitgeschleppt!“

    In den Nachrichten „über die Familie, die vor kurzem aus Thailand zurückgekommen ist“ werden die vollständigen Angaben zu den beiden Kindern, Aljonas Mann und ihrem Vater genannt. „Die ganze Familie erschießen“, heißt es in den Kommentaren bei Instagram. „Erschießen und verbrennen.“ Alle Testergebnisse, die die Familie am 15. April zurückbekommen hat, sind negativ.

    Einen Streit über die ärztliche Schweigepflicht entfachten viele Posts, die einen Link zur Karte der Infektionen in Moskau geteilt hatten. Seit Ende März veröffentlicht die Internet-Plattform Mash, die von ehemaligen Mitarbeitern des Medienkonzerns Life gegründet wurde, Informationen darüber, „wo jemand in Moskau mit einer Covid-19-Diagnose herkommt“. Woher diese Daten stammen und wie die interaktive Karte aktualisiert wird, ist unbekannt. In den Sozialen Netzwerken werden die Adresslisten rege kommentiert: Die Nutzer tauschen sich über Auslandsreisen ihrer Nachbarn in betroffene Gebiete aus, teilen Kontaktdaten der Infizierten oder vervollständigen die Adressen – zum Beispiel mit dem konkreten Hauseingang, aus dem die Menschen mit dem Krankenwagen abgeholt wurden.

    Die Leute sollen sehen, wie schnell sich die Krankheit ausbreitet

    „Ich kann nicht ausschließen, dass es auch Trolling geben wird, aber ich will hoffen, dass es nicht zu Handgreiflichkeiten kommt“, sagt Mash-Projektleiter Maxim Ixanow. „Meine Idee war hauptsächlich, dass die Leute sehen sollen, wie schnell sich die Krankheit ausbreitet, und dass sie zu Hause bleiben.“ Woher die Daten in den Karten stammen, legt Mash nicht offen. „Wir sammeln aus verschiedenen Quellen. Viele Informationen erreichen uns über unseren Telegram-Kanal“, erklärt Ixanow. Ob unter den Informanten auch Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden oder Ärzte sind, sagt er nicht.

    Der Chef-Epidemiologe der Oblast Wologda hat bereits dazu aufgerufen, Hetzjagden zu unterlassen. „In einer Gefahrensituation unterscheidet sich unser Verhalten nicht im Geringsten von dem von Herdentieren“, sagt Denis Moskwitschenko vom Lehrstuhl für klinische Psychologie an der Moskauer Universität für Zahnmedizin. „Wir beginnen die Interessen derer zu verteidigen, die uns am nächsten stehen: unsere Familienmitglieder, die Gemeinschaft. Das ist ein Schutzinstinkt, der Versuch, eine Situation, die uns gefährlich erscheint, unter Kontrolle zu bringen.“

    Nach der Epidemie werden viele gerichtlich gegen solche Datenleaks vorgehen, ist sich Maxim Slobin, Gründer der Agentur für Imagemanagement ISN, sicher. „An uns hat sich zum Beispiel jemand gewandt, der am Coronavirus erkrankt ist und dessen private Daten in einer der Mitgehört-Gruppen veröffentlicht wurden. Die Situation erinnert an eine absurde Hetzjagd – es ging so weit, dass im Hausflur jemand an die Wand schrieb, er sei ‚ein Mörder‘, der ‚uns alle anstecken‘ würde“, erzählt Slobin. „Wenn die Geschichte mit dem Coronavirus vorbei ist, werden Menschen, nach denen sonst kein Hahn kräht, beim Googeln Dinge über sich finden wie ‚Iwan Petrow ist ansteckend und seine ganze Familie böse‘.“

    Kaum juristische Handhabe

    Ob es gelingen wird, persönliche Daten, die während der Pandemie ins Internet gedrungen sind, per Gerichtsbeschluss entfernen zu lassen, kann Meduza niemand genau beantworten. „Vor dem Coronavirus scheiterten 90 Prozent der Kläger an dem Versuch, ihre persönlichen Daten aus den Suchergebnissen entfernen zu lassen“, erklärt Slobin. 

    „Laut Artikel 152.2 des Zivilgesetzbuches können Sie zwar verlangen, dass private Informationen aus dem Internet entfernt werden. Aber grundsätzlich ist es sehr schwer, etwas aus dem Internet zu löschen. Solche Dinge werden außerdem in den meisten Fällen über die Sozialen Netzwerke geteilt. Man kann zwar einen Gerichtsbeschluss erwirken, aber die Durchsetzung ist sehr viel schwieriger“, meint auch Gainutdinow.

    An eine ordentliche Untersuchung dieser Vorfälle glaubt Gainutdinow nicht. „Als im August 2019 die gesammelten Daten der Teilnehmer an den Moskauer Protesten im Internet verbreitet wurden, leitete das Untersuchungskomitee die Beschwerden der Betroffenen an die Polizei weiter, die Polizei wiederum antwortete, es sei alles ‚okay‘, man sehe ‚keine Hinweise auf einen Straftatbestand‘“, erinnert sich der Jurist. „Auch von Roskomnadsor kam eine formelle Antwort. Deshalb bin sehr skeptisch, was die Erfolgsaussichten auf nationaler Ebene angeht – vor allem, weil der Staat offensichtlich wenig Interesse daran hat, diesen Fällen nachzugehen.“

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    Corona-Kreuzzug in der Kirche

  • Corona-Kreuzzug in der Kirche

    Corona-Kreuzzug in der Kirche

    Zum orthodoxen Osterfest am kommenden Sonntag hat Patriarch Kirill die russischen Gläubigen dazu aufgefordert, nicht in die Kirche zu gehen, sondern zu Hause zu bleiben. Ostern ist das höchste Fest in der Orthodoxen Kirche, es ist mit zahlreichen, auch öffentlichen, Ritualen und Traditionen verbunden. 
    Meduza hat versucht herauszufinden, warum es manchen Gläubigen und auch Würdenträgern so schwer fällt, sich an das Kirchgang-Verbot zu halten.

    Segnung am Karsamstag in Kaliningrad, 2019. Dieses Jahr wird es solche Bilder nicht geben / Foto © Westpress Kaliningrad archive, image #/CC-BY-SA 4.0
    Segnung am Karsamstag in Kaliningrad, 2019. Dieses Jahr wird es solche Bilder nicht geben / Foto © Westpress Kaliningrad archive, image #/CC-BY-SA 4.0

    Der Gottesdienst am Palmsonntag – einem der wichtigsten orthodoxen Feiertage – war nun der letzte, bevor alle Kirchen über die Karwoche und Ostern schließen [in der Orthodoxen Kirche wird das Osterfest in diesem Jahr am 19. April gefeiert – dek]. Das erfuhren viele Moskauer Kirchgänger erst aus einem Text, den die Priester vergangenen Sonntag im Anschluss an ihre Predigt verlasen.

    In dieser Botschaft werden die Gläubigen im Namen von Patriarch Kirill „schweren Herzens“ aufgefordert, die Anweisungen der Gesundheitsbehörden zu befolgen und zu Hause zu bleiben – an den Ostergottesdiensten solle man per Videoübertragung teilnehmen. 

    Zu diesem Zeitpunkt galten in den Moskauer Gemeinden bereits noch nie dagewesene Sicherheitsvorkehrungen, die sich nach den Empfehlungen der Heiligen Synode der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) vom 17. März 2020 richteten. So wurde beispielsweise der Fußboden der Spiridon-Trimifuntski-Kirche im Bezirk Koptewo im Moskauer Norden im Abstand von anderthalb Metern mit weißen Punkten markiert, auf die sich die Gläubigen während der Messe stellen sollten. Sobald alle Markierungen besetzt waren, wurden die Türen geschlossen. Die Gläubigen mussten außerdem einen Mundschutz tragen, und das Abendmahl wurde unter maximal sterilen Bedingungen abgehalten – soweit dies überhaupt möglich ist. 

    In der Kirchenverfassung steht nichts von einem Mundschutz. Aber auch von einem Coronavirus steht da nichts!

    Schon bei ihrer Einführung hatten diese Maßnahmen für rege Auseinandersetzungen gesorgt, sowohl unter der orthodoxen Priesterschaft als auch unter den Gläubigen. Bei dem Versuch, der ratlosen Gemeinde die Ernsthaftigkeit der Situation zu vermitteln, rief der Vorsteher der Spiridon-Trimifuntski-Kirche, Sergij: „Viele von euch waren unzufrieden, als sie die Kirche nur mit Mundschutz betreten durften – in der Kirchenverfassung stehe ja nichts von einem Mundschutz. Aber auch von einem Coronavirus steht da nichts!“

    Sie müssten die Entscheidungen der weltlichen Behörden akzeptieren und den Kirchen fernbleiben, erklärte Vater Sergij den Gläubigen und sagte, das sei eine einmalige Gelegenheit, sich auf die wahre Bedeutung des Osterfestes als Auferstehung Christi zu konzentrieren – frei von äußeren, weltlichen Attributen wie Kulitschi und Ostereiern.

    Manche Amtsträger der Russisch-Othodoxen Kirche widersetzten sich jedoch offen den behördlichen Empfehlungen sowie Patriarch Kirills Aussagen zu den Hygienemaßnahmen angesichts der Corona-Pandemie – die Positionen reichen dabei von der Leugnung der Pandemie als solches bis hin zu Aufrufen, die Entscheidungen der weltlichen Regierung zu sabotieren.

    So erklärte Erzbischof Pitirim von Syktywkar und Komi-Syrjansk auf seiner Vkontakte-Seite, die Anordnung des Rospotrebnadsor sei verfassungswidrig, und kündigte an, die orthodoxe Öffentlichkeit der Region werde gerichtlich dagegen vorgehen. Ähnlich äußerte sich Erzpriester Andrej Tkatschow in seiner Sendung Vater Andrej. Antworten im TV-Kanal Zargrad: „Wir sind weder Aufständische noch Revolutionäre, wir wollen keinen Krieg in der Kirche, und die Kirchenleitung muss respektiert werden. Doch es gibt andere Dinge, eine weltliche Macht, die uns einfach schließen will, und es gibt Christus, der auferstanden ist. Es ist schwer vorstellbar, wie man das zu Hause feiern soll.“ 

    Zugleich bezweifelte Tkatschow, dass die Bedrohung überhaupt real sei: „Den Zahlen nach ist das doch keine Pandemie!“, echauffierte sich der Erzpriester, der Ende März Berühmtheit erlangt hatte, weil er in Gasmaske zum Gottesdienst erschien und erklärte, man müsse nur den Fernseher ausschalten und schon gebe es keinen Coronavirus mehr.

    Mit Gasmaske zum Gottesdienst

    Während die Behörden in anderen orthodoxen Ländern unmittelbar nach den ersten bekannt gewordenen Corona-Fällen die Kirchen geschlossen hatten (so hatte Zypern bereits Anfang März Massenveranstaltungen untersagt, einschließlich öffentlicher Gottesdienste), zögerte die Führung der ROK zunächst, derart drastische Maßnahmen zu ergreifen. Die ersten Aufrufe, den Kirchen fernzubleiben und stattdessen in den eigenen vier Wänden zu beten, kamen von staatlicher Seite – und stießen prompt auf aktiven Widerstand bei der orthodoxen Gemeinde und der geistlichen Führung. Erst am 29. März forderte schließlich auch Patriarch Kirill die Gläubigen dazu auf, zu Hause zu beten. 

    Das System bröckelt sichtlich

    Den Worten von Diakon Andrej Kurajew zufolge, ist einer der Hauptgründe, warum die Episkopen und Priester zum Kirchgang aufrufen, ihre „schlechte Bildung“. Der Priester ist heutzutage „ein Psychotherapeut für die Armen – ein paar gängige Zitate aus der Heiligen Schrift dienen der Antwort auf die meisten Fragen. Wir haben es mit Verstand auf Ammenmärchen-Niveau zu tun, wo die höchste Bekundung des Glaubens darin besteht, in die Kirche zu gehen, eine Kerze anzuzünden und eine kleine Spende dazulassen“, erklärt der Geistliche.

    Andrej Desnizki, Philologe, Bibelwissenschaftler und Professor an der Russischen Akademie der Wissenschaften, erklärte gegenüber Meduza, dass der Kirchgang für viele Vertreter der Geistlichkeit und Gläubige „einer der zentralen Werte“ sei. „Das wurde [den Gläubigen] über Jahrzehnte hinweg eingetrichtert. In die Kirche zu gehen war die Antwort auf alle Fragen: ‚Stimmt etwas nicht? Dann geh in die Kirche! Du verstehst kein Kirchenslawisch? Dann geh in die Kirche!‘ Und jetzt bekommen sie plötzlich zu hören: ‚Geh nicht in die Kirche!‘ Das klingt für sie wie ‚Es gibt keinen Gott!‘ Man kann das finden, wie man will, aber für die meisten hat der Kirchgang höchsten Wert“, erklärt der Fachmann.

    Andrej Kurajew dagegen lehnt diese Sichtweise als „kirchenzentriert“ ab: „Gott wohnt nicht in den Holzbalken, sondern in uns; es gibt andere Wege, seine Identität als Christ unter Beweis zu stellen.“ Dabei bezeichnet er die „Starrheit des Denkens“ als das „höhere Motiv“, das von einem „niederen“, praktischeren, begleitet werde: Mit den finanziellen Einnahmen aus dem Massenzustrom der Gläubigen an den Feiertagen müssen alle Kirchen die Diözesanbeiträge bestreiten, aus denen sich das Gesamtkirchenbudget zusammensetzt.

    Kurajew rechnet nicht damit, dass den Geistlichen, die trotz der Pandemie zum Kirchgang aufrufen, Strafen von kirchlicher Seite drohen – denkbar wäre das nur, wenn die weltlichen Behörden unzufrieden sind, meint der Würdenträger. Andrej Desnizki schließt wiederum nicht aus, dass Bischöfen und Priestern, die sich der gemeinsamen Linie des Patriarchats widersetzen, Konsequenzen drohen. „Aber das hängt von der konkreten Person und ihrem Verhältnis zur Obrigkeit ab. Das System bröckelt sichtlich, und diese Entwicklung wird zunehmen, die Priesterschaft in den Regionen wird die Anordnungen des Patriarchats immer öfter ignorieren“, prognostiziert Andrej Desnizki.

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  • Welcher Gott, um Gottes willen?!

    Welcher Gott, um Gottes willen?!

    „Russland, vereint durch eine tausendjährige Geschichte, wahrt das Andenken der Vorfahren, die uns Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben sowie die Kontinuität in der Entwicklung des russischen Staates. Es erkennt die historisch begründete staatliche Einheit an und bittet, ihm nicht noch mehr Alkohol nachzuschenken.“

    Anekdoten dieser Art kursieren derzeit im Runet und lenken die Aufmerksamkeit auf Fragen, über die sich aktuell viele in Russland den Kopf zerbrechen: Warum hat Wladimir Putin am 2. März der Duma eine vielen so skurril anmutende Verfassungsänderung zur Abstimmung vorgelegt? Bleibt es bei den in der Anekdote oben zitierten Worthülsen oder sollen diese Begriffe tatsächlich mit Sinn gefüllt werden? Warum soll das Volk überhaupt am 22. April über die Verfassungsänderung abstimmen – wenn sie sowieso wirksam wird, nachdem das Parlament sie angenommen und Putin seine Unterschrift daruntergesetzt hat? 

    Um diese Rätsel zu lösen, hat Kommersant FM den Kremlsprecher Dimitri Peskow befragt. Meduza hat einen Ausschnitt aus dem Gespräch abgetippt, über den auf Social Media viel gelacht wurde.

    Kommersant FM: Gerade wurden Putins Änderungen an der von ihm vorgelegten Verfassungsänderung bekanntgegeben. Da gibt es zum Beispiel die Formulierung über das „Andenken der Vorfahren, die uns die Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben“. Wessen Vorfahren meint Wladimir Putin denn?

    Dimitri Peskow: Die Änderung in welchem Paragraphen meinen Sie?

    Die, die Wjatscheslaw Wolodin verkündet hat. Meines Wissens ist das die Präambel.

    Jetzt möchte ich Ihnen mal was sagen – da stimmen einfach nicht alle Informationen mit der Realität überein. Die Informationen entsprechen einfach nicht dem, was der Präsident eingebracht hat. Das heißt, das, was da gestern groß und breit veröffentlicht wurde, entspricht nicht dem, was ist. Machen wir schon mal weiter. Ich suche derweil.

    Machen wir schon mal weiter. Ich suche derweil

    Aber kann man denn nicht auf der Website des Kreml oder in den Medien irgendwas veröffentlichen, damit wir wenigstens nachvollziehen können, was Wolodin denn nun gesagt oder was Putin da eingebracht hat?

    Solche Texte werden gewöhnlich nicht veröffentlicht. So etwas nennt sich „amtliche Vorlage“. Aber selbstverständlich werden sie früher oder später veröffentlicht. Ich kann Ihnen nur nicht sagen, wann. Derzeit läuft die Arbeit in den Arbeitsgruppen und in der Duma und in entsprechenden Ausschüssen. Experten und Juristen – alle arbeiten daran.

    Nun ja, nur haben wir alle gestern aus der Duma die Erklärung vernommen, dass Putin das und das vorgeschlagen hat, und jetzt stellt sich heraus, dass er nicht das und auch jenes nicht vorgeschlagen hat.

    „Nicht das und auch jenes nicht“ hat niemand gesagt, und „das und das“ hat auch niemand gesagt. Es ist hier einfach sehr wichtig, sich an die konkreten Formulierungen zu halten. Einige Meldungen, die gestern zu diesem Thema in den Medien waren, entsprechen schlichtweg nicht der Realität. Jetzt wird es lange dauern, herauszuarbeiten, welche Meldungen das waren und inwiefern sie abwichen.

    BOG (russ. Gott) taucht nicht nur in Putins Reden immer häufiger auf, sondern bald womöglich auch an prominenter Stelle in der russischen Verfassung.  
    Welche Begriffe sonst noch Konjunktur hatten oder haben beim russischen Präsidenten, könnt ihr demnächst in unserem Putin-Special erforschen – stay tuned!

    Vielleicht haben Sie die Stelle ja doch gefunden, der Vorschlag beginnt mit dem Satz „Die Russische Föderation, die vereint ist durch eine tausendjährige Geschichte, die das Andenken der Vorfahren wahrt und uns die Ideale und den Glauben an Gott hinterlassen hat, und auch die Kontinuität in der Entwicklung des Russischen Staates, bekennt sich zu einer historisch begründeten Einheit“. Existiert dieser Satz in den Änderungsvorschlägen von Wladimir Putin?

    Ich bin hier immer noch am Suchen, der Text ist recht umfangreich.

    […]

    (Er hat das Zitat gefunden.) Schauen Sie, ja, tatsächlich „die uns die Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben“. Ja, diesen Satz gibt es tatsächlich.

    Welche Vorfahren meint Wladimir Putin denn?

    Unser aller Vorfahren. Die Vorfahren derer, die in der Russischen Föderation leben.

    Schauen Sie, ja, tatsächlich ‚die uns die Ideale und den Glauben an Gott weitergegeben haben‘. Ja, diesen Satz gibt es tatsächlich

    Und welche Ideale haben uns diese Menschen weitergegeben?

    Unsere gemeinsamen. Nun, das ergibt sich aus dem Text.

    Und welchen Gott meint Wladimir Putin?

    Ich nehme an, das wird zu gegebener Zeit geklärt.

    Wie das? In einem gesonderten Gesetz?

    Nein. Ich kann diese Frage jetzt nicht beantworten.

    – Und welchen Gott meint Wladimir Putin?
    – Ich nehme an, das wird zu gegebener Zeit geklärt

    Ist unser Staat dann weiterhin überhaupt noch ein säkularer Staat? Und wie wird sich der Staat gegenüber Atheisten verhalten, wenn diese Änderung angenommen wird?

    Auch diese Frage kann ich jetzt nicht beantworten. (Pause) Doch ganz offensichtlich wird der Staat in gar keiner Weise seinen säkularen Charakter verlieren.

    Die Frage zu der Mehrdeutigkeit von Gott und den Vorfahren – wie soll die geklärt werden und wann?

    Zu gegebener Zeit, mehr kann ich nicht sagen.

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  • Nachruf auf den Don Quichote der russischen Bildungslandschaft

    Nachruf auf den Don Quichote der russischen Bildungslandschaft

    Teodor Shanin war neun Jahre alt, als sein Heimatland Polen von Deutschland und der Sowjetunion überfallen wurde. Als er zehn war, wurde seine Heimatstadt Wilno (heute: Vilnius) Teil der Sowjetunion. Die Familie wurde inhaftiert und nach Sibirien deportiert, von wo aus sie nach Usbekistan umsiedelte. Kälte, Hunger, Krankheiten, Zersplitterung der Familie – das war der Hintergrund seiner Jugend, die ihn hätte zerstören können. „Ich habe aber nie Angst gehabt“, sagte er in einem seiner letzten Interviews. 

    Nach dem Krieg durfte die Familie die Sowjetunion verlassen. Shanin war in Polen und Frankreich, kämpfte in Israel mit der Waffe in der Hand für die Entstehung des israelischen Staates und machte eine steile akademische Karriere in Großbritannien. 

    Jahrzehnte später kehrte er nach Russland zurück, in ein Land, dem er nichts schuldete. Dort gründete er 1995 The Moscow School of Social and Economic Sciences, von seinem Namen abgeleitet vor allem als Schaninka bekannt – eine russisch-britische private Hochschule, die zu den besten und renommiertesten des Landes zählt. 

    Teodor Shanin war ein intellektueller und kultureller Grenzgänger zwischen Ost und West, der in den dunkelsten Zeiten des 20. Jahrhundert aufgewachsenen ist. „Sei Realist, fordere das Unmögliche“ – das war Shanins Lebensmotto. Am 4. Februar 2020 ist er im Alter von 89 Jahren gestorben. dekoder bringt einen Nachruf von seinem Nachfolger an der Schaninka Anatoli Kasprshak. 

    Teodor Shanin war ein zielstrebiger, unbeirrbarer und bemerkenswert sanftmütiger Mensch / Foto © Alexander Utkin
    Teodor Shanin war ein zielstrebiger, unbeirrbarer und bemerkenswert sanftmütiger Mensch / Foto © Alexander Utkin

    [bilingbox]Ich bin ein glücklicher Mensch. Warum bin ich glücklich? Weil mein Leben immer interessant war. Ich habe gemacht, was ich wollte. Habe viel gemacht, was niemand von mir erwartet hat. Also betrachte ich, was meine Biographie betrifft, die Dinge sehr optimistisch. Was die weltweite Entwicklung angeht, bin ich ein Pessimist. Im Laufe des letzten Jahrzehnts oder auch der letzten 20 Jahre ist die Welt in ein Horrorkarussel hineingeraten. Wenn vor zehn oder 20 Jahren irgendjemand meinen Freunden oder mir gesagt hätte, dass es in nächster Zukunft mehr und nicht weniger Kriege geben wird, dass Armut die Norm bleibt, dass ein Teil der Bevölkerung selbst in den reichsten Ländern Hunger leiden wird, hätte ich gesagt, der spinnt. Und dass ausgerechnet mein persönliches Leben so gut gelaufen ist, gibt mir ein Schuldgefühl. Dass mich übrigens seit jeher begleitet hat. ~~~Я — счастливый человек. Почему счастливый? Потому что мне всегда было интересно. Я делал только то, что хотел. Сделал много такого, чего от меня не ждали. Так что с биографической точки зрения я — оптимист. С точки зрения развития мира я — пессимист. В течение последнего десятилетия (а то и двадцатилетия) мир начал сползать в какую-то чехарду ужасов. Если бы кто-нибудь десять-двадцать лет тому назад сказал моим друзьям и мне, что в ближайшем будущем войн будет больше, а не меньше, что бедность останется нормой, что часть населения будет голодать даже в слишком богатых странах, я бы сказал, что он сумасшедший. И то, что лично у меня жизнь получилась, дает мне чувство вины. Которое, между прочим, сопровождало меня всегда.[/bilingbox]

     

    aus: Alexander Archangelski, Nessoglasny Teodor (dt.: Der trotzige Teodor), Kapitel 5

    Zu fast jedem Geburtstag bekam Shanin kleine Don-Quijote-Figuren geschenkt oder solche, die ihn selbst als Don Quijote zeigten. Und es stimmt: So einer war er. Er löste Probleme, die man nicht lösen konnte. Sein Geheimnis war, dass er alle Hindernisse überwand, wenn er fest daran glaubte, dass seine Sache rechtens war. Er war einerseits extrem zielstrebig und wusste genau, wie er dieses Ziel erreicht, andererseits hatte er etwas sehr Naives. Man konnte ihn oft weinen sehen oder sehen, wie er feuchte Augen bekam, weil jemand offensichtlich ungerecht behandelt wurde. Und das war keine Alterssentimentalität. Als ich ihn kennenlernte, war er vielleicht Anfang 60, schon da war das so. Er war ein zielstrebiger, unbeirrbarer Mensch mit einem bemerkenswert sanftmütigen Charakter, wie man ihn eher bei Kindern als bei Erwachsenen findet.

    Nach Russland kam Shanin als einer der Leiter der heute verpönten Soros-Stiftung, die damals innovative Schulen unterstützte und Bücher verlegte. Er war einer von denen, die George Soros davon überzeugten, dass Russland noch mehr zu bieten hatte außer Ballett, Waffen und Raketen – nämlich Bildung. Und wenn wir Russland als Teil der zivilisierten Welt behalten wollten, müssten wir die Menschen unterstützen, die das Bildungswesen und die Forschung auf ihren Schultern tragen, aber an den Rand der Existenz gedrängt werden. Shanin hat dafür gesorgt, dass diese Menschen leben konnten.

    Ich glaube, dass es nicht leicht war, Soros davon zu überzeugen, solche gewaltigen Summen in die Unterstützung von Lehrern und Gelehrten in Russland zu stecken, ihre Bücher zu verlegen oder die Stiftung Kulturnaja inizijatiwa zu gründen (heute ist das die Stiftung Otkrytoje obschtschestwo, dt.: Offene Gesellschaft). Aber genau das war die rechte Sache, an die Shanin glaubte und an die er andere glauben machte.

    Allein die Gründung der Moskauer Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die heute Schaninka genannt wird, war für Russland eine Sensation. Stellen Sie sich vor, da kommt Anfang der 1990er Jahre so ein seltsamer Ausländer mit Akzent ins Kulturministerium und behauptet, Russland brauche eine Hochschule für Geisteswissenschaften. Er sagte, in Sachen Physik und Mathematik seid ihr zwar ausgezeichnet, aber bei den Geisteswissenschaften macht ihr etwas falsch. Dazu muss man wissen, dass die Universität für Geisteswissenschaften Anfang der 1990er Jahre aus den ehemaligen Parteischulen des Komsomol bestand, die jetzt zwar anders hießen, aber im Kern noch dieselben waren. Insofern kann man getrost behaupten, dass Shanin in diesem Moment die [erste] Universität für Geisteswissenschaften in Russland gegründet hat.

    Wenn wir heute Bibliotheken mit öffentlichem Zugang, Wahlkurse und Sprechstunden mit Professoren für selbstverständlich halten, nichts, worüber sich Studenten wundern, dann war das damals ein Modell aus dem Westen, das Shanin dazu nutzte, die besten Hochschulen Russlands aufzubauen. Die Hochschule für Wirtschaft und Handel, wie wir sie heute kennen, zum Beispiel: Die kleine beschauliche Schaninka hatte einen riesigen Einfluss auf sie, weil sie gezeigt hat, dass man in Russland eine geisteswissenschaftliche Elite-Universität aufbauen kann.

    Ebenfalls elementar und für viele führende Hochschulen bis heute ein Novum und eine bildungstechnische Offenbarung ist, dass die Lehrenden nicht die Arbeiten der Studierenden korrigieren. Denn genau daher kommt ja die Unterwürfigkeit des Schülers vor dem Lehrer. Shanin hat dieses Verfahren an der Schaninka gleich Mitte der 1990er Jahre eingeführt. Das war eine Revolution im Bewusstsein von Dozenten und Professoren, es veränderte ihren Blick auf das Wesen der Bildung.

    Shanin hat das westliche Modell nicht eins zu eins übertragen, sondern gezeigt, dass sich diese Modelle mit den besten Methoden der russischen Pädagogen verbinden lassen. Es wäre leicht gewesen, Harvard oder Oxford einfach zu kopieren, aber Shanin wusste genau, dass das nicht funktionieren würde. Stattdessen hat er die besten Traditionen des russischen und des westlichen Bildungssystems miteinander in Einklang gebracht. Er hat nicht einfach das West-Modell übergestülpt, sondern das Beste daraus genommen und mit dem Besten verknüpft, was das russische Bildungswesen zu bieten hatte. In diesem Sinne führen Shanins Schüler, die heute an zahlreichen Hochschulen des Landes tätig sind und die gesehen haben, dass seine Sache rechtens ist, diese Sache jetzt fort.

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  • Delo Seti – Protokolle von Willkür- und Folterjustiz

    Delo Seti – Protokolle von Willkür- und Folterjustiz

    Sie hätten „geplant, Terrorakte zu planen“ – so lautete die Anklage der russischen Staatsanwaltschaft gegen sieben jungen Männer im sogenannten Fall Set (dt. Netzwerk). Am 10. Februar wurden sie in der Stadt Pensa, 550 Kilometer südöstlich von Moskau, schuldig gesprochen. Die Richter folgten mit den sechs- bis 18-jährigen Haftstrafen in vollem Umfang der Forderung der Staatsanwaltschaft. Set gehört nun neben IS und Taliban zu den in Russland „verbotenen terroristischen Organisationen“. Dabei ist nicht mal klar, ob es diese Vereinigung wirklich gab, ob sich die einzelnen Verurteilten überhaupt untereinander kannten.

    Die meisten der Verurteilten haben keinen Hehl aus ihren linken und antifaschistischen Überzeugungen gemacht, außerdem spielten sie gerne Airsoft, ein Geländespiel mit Softairwaffen. Viele Menschenrechtler in Russland bringen die Strafen allerdings nicht damit zusammen, sondern halten sie schlicht für drakonische Abschreckungsmaßnahmen: Die Verhaftungen seien willkürlich, der Fall selbst konstruiert, um die Menschen im Land einzuschüchtern, so der Tenor. 

    In der Tat ist die Beweislage dünn – es gibt auch keine belastbaren Hinweise darauf, dass die Verurteilten einen terroristischen Anschlag während der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 „geplant [haben] zu planen“. Bei Hausdurchsuchungen wurden Waffen gefunden – doch konnte deren Herkunft nicht nachvollzogen werden. Demgegenüber gibt es aber Hinweise, dass sie den Männern untergeschoben wurden.

    Zahlreiche Hinweise gibt es auch darauf, dass die 23- bis 31-jährigen Männer ihre „Geständnisse“ unter Folter abgelegt haben. Die Menschenrechtsorganisation Memorial etwa, listet die Verurteilten als „politische Gefangene“, deren Aussagen unter Folter erzwungen wurden. Massive Verletzungen sind zwar genauso dokumentiert wie die Aussagen der Angeklagten, sie wurden bei dem Prozess aber nicht als Beweise der Verteidigung zugelassen. Diese Aussageprotokolle finden sich nun allerdings auf Meduza – zur Verfügung gestellt von Mediazona-Journalist Jegor Skoworoda. Drei davon hat dekoder übersetzt.

    Die sieben jungen Männer im sogenannten Delo Seti wurden zu bis zu 18 Jahren Strafkolonie verurteilt. / Foto © 7×7

    Dimitri Ptschelinzew – verurteilt zu 18 Jahren Strafkolonie unter verschärften Haftbedingungen

    „Einer von ihnen trug weiße medizinische Gummihandschuhe. Er nahm eine Dynamomaschine und stellte sie auf den Tisch, kratzte zwei Kabel mit einem Cuttermesser, forderte mich auf, den großen Zeh auszustrecken. Der zweite tastete am Hals meinen Puls, das machte er die ganze Zeit immer wieder, er kontrollierte meinen Zustand. Er wunderte sich, dass ich so einen ruhigen Puls hatte und nicht aufgeregt war – das kam daher, dass ich anfangs nicht wusste, was geschah.

    Dann begann der mit den Handschuhen die Kurbel der Dynamomaschine zu drehen. Der Strom drang bis zu den Knien, meine Wadenmuskeln krampften zusammen, Lähmungsschmerz packte mich, ich schrie los, schlug mit Rücken und Kopf gegen die Wand. All das dauerte ungefähr zehn Sekunden, doch während der Folter erschien es mir wie eine Ewigkeit […] Sie wiederholten hartnäckig: ‚Du bist der Anführer.‘ Damit sie mit der Folter aufhören, antwortete ich: ‚Ja, ich bin der Anführer.‘ ‚Ihr hattet vor, Terroranschläge zu verüben.‘ ‚Ja, wir hatten vor, Terroranschläge zu verüben.‘”

    Diesen Bericht über seine ersten Tage nach der Inhaftierung – die Beschuldigten waren ihren Worten zufolge noch in Untersuchungshaft von FSB-Mitarbeitern gefoltert worden – übergab Dimitri Ptschelinzew seinem Anwalt Anfang Februar 2018, ein halbes Jahr nach seiner Festnahme. Schon am 14. Februar 2018 zog er seine Aussage zurück – wie sich später herausstellte, aufgrund neuerlicher Folter. Ptschelinzew erinnert sich:

    „Sie zogen mir meine Socken aus, Hose und Unterhose wurden mir bis zu den Knien runtergezogen. Sie stülpten mir etwas eng Anliegendes über den Kopf, so etwas wie eine Sturmhaube, und befestigten sie unter meinem Kinn. Ein Begleitmann wickelte mir Drähte um die großen Zehen. Sie versuchten, mir einen Knebel in den Mund zu stecken, aber ich hielt ihn geschlossen, also haben sie den Knebel mit Klebeband befestigt. Beim vorigen Mal waren mir durch den Knebel eine Menge Zähne abgebrochen. Während sie auf mich eindroschen haben wir kaum gesprochen. Als sie aufhörten, mir ins Gesicht und in den Magen zu schlagen, bekam ich Stromschläge. […]

    Nach ein paar weiteren Elektroschocks sagten sie mir: ‚Zieh die Aussage zurück: Sag, dass das mit der Folter gelogen war. Künftig wirst du das tun, was der Ermittler sagt. Wenn sie dir weiß zeigen und dir sagen, dass es schwarz ist – dann sagst du schwarz. Hacken sie dir den Finger ab und sagen, du sollst ihn essen – dann isst du ihn.‘ Dann haben sie mir noch ein paar  Stromschläge verpasst, damit ich’s mir merke.“

    Vor Gericht hat Dimitri Ptschelinzew ausführlicher über die Folter gesprochen und wie er danach mit den FSB-Mitarbeitern sein Geständnis verfasste.

    Andrej Tschernow – verurteilt zu 14 Jahren Strafkolonie unter verschärften Haftbedingungen

    Laut seinen eigenen Worten wurde Tschernow nicht mit Strom gefoltert, allerdings wurde er auch geschlagen und eingeschüchtert. Vor Gericht sagte er:

    „Die FSB-Mitarbeiter haben mich aus der Werkhalle geführt und ins Auto gesetzt. Der Fahnder Schepeljow und zwei Mitglieder der Spezialeinheit haben mich verhaftet. Schepeljow hat sich auf den Beifahrersitz gesetzt, die Spezialkräfte links und rechts neben mich. Noch bevor wir das Fabrikgelände verließen, gleich nachdem die Autotüren zugefallen waren, haben sie angefangen, mich zu schlagen. Ein paar Mal ins Gesicht. Ohne Umschweife schlugen sie mir dann in den Bauch, mit den Ellbogen auf den Rücken und auf den Kopf. Den ganzen Weg ging das so. […]

    Ich habe nicht verstanden, was los ist, und habe gesagt, dass ich einen Anwalt brauche. Schepeljow hat mir auf der ganzen Fahrt gedroht, dass man meinen ‚Bruder einbuchten, allen Verwandten kündigen und die Finger abhacken wird.‘ Er hat gesagt: ‚Dein Leben ist vorbei, du wirst sterben.‘ […] 

    Anfangs wusste ich nicht, wo sie mich hinbrachten. Erst später, als ich zur ersten Vernehmung gefahren wurde, war mir klar, dass es das FSB-Gebäude ist. Ich wurde reingeführt, immer wieder wurde ich von den Spezialkräften getreten. Dann kam ich in den Raum, wo die  Zellen waren, da war auch schon Ptschelinzew. In einer solchen Verfassung hatte ich ihn noch nie gesehen, er war völlig verschreckt, auf der linken Gesichtshälfte hatte er eine Schürfwunde oder eine Prellung. Wir durften nicht miteinander reden. Das einzige, was Ptschelinzew mir sagen konnte, war: ‚Brauchst nicht mal versuchen, es auszuhalten – du wirst es nicht schaffen.‘“ 

    Wassili Kuksow – verurteilt zu neun Jahren Strafkolonie unter allgemeinen Haftbedingungen

    Während der Urteilsverkündung trug Kuksow einen Mundschutz – in Untersuchungshaft hatte man bei ihm eine offene Tuberkulose diagnostiziert, ihn aber trotzdem im selben Gefängniswagen wie die übrigen Beschuldigten transportiert und ihn im Gerichtssaal in dasselbe Aquarium gesetzt [ein Glaskasten, in dem die Angeklagten während des Prozesses sitzen – dek]. Im Laufe des Prozesses erinnerte er sich an seine Verhaftung: 

    „Es war ein Wochentag. Ich kam nach der Arbeit mit einer Marschrutka nach Hause. Ging in den Laden und kaufte Milch und Brötchen. An meinem Hauseingang stand ein Mann in Zivil. Er hatte ein Telefon in der Hand oder ein Foto und verglich mich mit dem Bild. Dann sah ich drei Männer auf mich zurennen, mit Tarnuniformen, Masken und Maschinengewehren. Sie schlugen mich nieder, schlugen mir in den Magen und auf die Nase. Sofort strömte Blut. Sie zogen mir die Kapuze über den Kopf und schleppten mich zum UAZ Patriot. Ich weiß noch, dass ich schrie: ‚Leute, helft mir!‘ Ich dachte, es sei ein Traum oder eine Verarschung.

    Auf dem Weg schlugen sie mir auf die Wirbelsäule und sagten: ‚Jetzt bist du dran, dein Leben ist vorbei‘. […] Sie brachten mich in ein Gebäude, führten mich nach oben. Ich machte einen Schritt ins Büro und bekam sofort einen Schlag auf den Solarplexus. Ich höre jemanden sagen: ‚Sachte, sachte, das ist übertrieben.‘ Dann legten sie mich mit dem Gesicht auf den Boden und schlugen mit einem Metallgegenstand hart neben mein Ohr. Sie sagten: ‚Du hast sowieso nur noch eine halbe Stunde zu leben. Wenn du die Fragen beantwortest, dann anderthalb Stunden.‘ 

    Sie sagten irgendwelche Namen, ich kannte nur Sorin und Schakurski. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits eine Blutlache gebildet. Sie wollten mir den Finger abhacken, hatten meine Hand schon hingelegt, haben ihn dann aber doch nicht abgehackt. Und erst dann sagten sie mir: ‚Du bist beim FSB, Wassili. Beschuldigt wegen Terrorismus.‘“

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  • „In diesen Kreisen kenne ich mich aus“

    „In diesen Kreisen kenne ich mich aus“

    Um Konstantin Bogomolow hat sich in Russlands liberalen Kreisen eine heftige Debatte entzündet. Bogomolow gilt neben Kirill Serebrennikow als einer der wichtigsten Theaterregisseure des Landes. Er hat außerdem die erste russische Serie gedreht, die Amazon für die Kategorie Originals and Exclusives kaufte und seit Dezember auch auf Deutsch zeigt.

    Zwar nimmt sich die Filmkritik zu Sodershanki (Russian Affairs, dt.: Mätressen) nicht so überschwänglich aus wie üblicherweise die Theaterkritik zu Bogomolows Inszenierungen, insgesamt sind die Rezensenten aber wohlwollend. Mit viel Sex erzählt die erste Staffel vom Glamour-Milieu der russischen Hauptstadt: Intrigen und Machtspiele sind hier demnach genauso an der Tagesordnung wie Geldgier und Zynismus.

    Ähnliches werfen nun einige auch Bogomolow selbst vor: Noch 2013 hatte er gegen Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin und die Ergebnisse der Moskauer Bürgermeisterwahl protestiert, 2018 aber plötzlich im Wahlteam für Sobjanin getrommelt. Bogomolow habe sich verkauft, so der häufige Vorwurf. Meduza hat mit dem Regisseur über Sodershanki gesprochen und ihn mit dem Vorwurf konfrontiert. 

    Konstantin Bogomolow / © Dmitriy Dubinskiy
    Konstantin Bogomolow / © Dmitriy Dubinskiy
    Alexandra Serkalewa: Warum haben Sie beschlossen, eine Serie über die Moskauer High Society zu drehen? Was macht das Thema gerade jetzt aktuell und interessant für Sie?

    Konstantin Bogomolow: Ich wähle Themen nicht nach ihrer Aktualität aus. In diesem Fall wollte ich mich in der Filmbranche ausprobieren, ich habe noch nie eine Serie gedreht. Ich habe mich mit den Produzenten zusammengesetzt, und gemeinsam sind wir mögliche Themen durchgegangen. Am Ende waren wir uns einig, dass eine Serie über das moderne Leben in Moskau, innerhalb einer gewissen Moskauer Bourgeoisie, genau das Richtige für ein Debüt wäre. In diesen Kreisen kenne ich mich mehr oder weniger aus, kann mehr oder minder glaubwürdig, auf jeden Fall ehrlich, darüber berichten. Das ist alles. Dann kam das Drehbuch.

    Ich habe nur die erste Folge gesehen, darin gibt es sehr viel Sex, und der ist für russische Verhältnisse ziemlich realistisch dargestellt. Man hört von vielen russischen Schauspielern und Regisseuren, bei uns seien weder die Zuschauer noch die Filmemacher Sex auf der Leinwand gewohnt. Hatten Sie keine Schwierigkeiten damit?

    Nein. Ich finde, das ist ein echtes Problem im russischen Film und unter russischen Schauspielern. In dieser Hinsicht ist uns vielleicht sogar eine Art Durchbruch gelungen. Es stimmt, in der ersten Folge gibt es viele erotische oder explizite Szenen; in der siebten Folge gibt es eine fantastische Sex-Szene, die Seltenheitswert für den russischen Film hat.

    Ich wollte, dass man die Erotik spürt, die Schönheit, den Sex

    Mir ging es darum, diesen natürlichen, wesentlichen, schönen Teil des menschlichen Lebens nicht in diesen verschämten Bildern zu zeigen, bei denen sie auf ihm sitzt, schnell runterklettert, und dann liegen beide erschöpft da. Oder die Lippen berühren sich, seine Hand wandert irgendwohin – und dann wird abgeblendet. Ich wollte, dass man die Erotik spürt, die Schönheit, den Sex. Ich finde, das ist uns auch gelungen: Man hat wirklich das Gefühl von echtem Sex.

    Wenn es im russischen Film schlecht um den Sex bestellt ist, dann findet er im russischen Theater überhaupt nicht statt.

    Im Theater Sex darzustellen ist witzlos. Das Theater ist nicht die Kunstform, die das braucht. Ich bin prinzipiell gegen zu viel Körperlichkeit, zu viel physische Nacktheit auf der Bühne.

    Warum?

    Weil auf der Bühne niemand lebt und niemand stirbt. Aber damit wären wir bei ästhetischen Überlegungen, die ich ungern im Interviewmodus bespreche. Das Theater ist eben die Kunst des Bedingten, nicht des Unbedingten, verstehen Sie? Im Theater mit körperlicher Freizügigkeit zu schocken, ist dumm. Einfach dumm, so sehe ich das.

    Im Westen gibt es die #MeToo-Bewegung und im Kino den Superheldinnen-Film Captain Marvel, während bei uns zur selben Zeit der Film Ljubownizy (dt. Liebhaberinnen) und die Serie Sodershanki an den Start gehen. Ist das die russische Filmversion von starken Frauen?

    Ich denke nicht in diesen Kategorien, ganz ehrlich. Ich finde diesen ganzen Kontext furchtbar langweilig, diese ganzen Genderrollen, Feminismus und so weiter.

    Dabei haben Sie jüngst in einem Interview gesagt, Frauen seien – sowohl als Protagonistinnen sowie als Schauspielerinnen – heutzutage viel spannender als Männer.

    Ja, so ist die Zeit. In den 1970ern waren Männer spannender als Frauen. Es gab sehr unterschiedliche Protagonisten, viele komplexe Männerfiguren auf der Leinwand. Jetzt gerade gibt es sehr viel mehr energetisch interessante Frauen als Männer.

    Und womit hängt das zusammen?

    Vielleicht damit, dass in den 1970er Jahren die Vorkriegsgeneration nachwirkte, heute die Nachkriegsgeneration. Krieg, Revolution, Emigration und so weiter – das hat vor allem die männliche Linie getroffen. Die Opfer des 20. Jahrhunderts waren überwiegend Männer, deshalb ist die weibliche Linie besser erhalten. Vielleicht hat es damit zu tun. Vielleicht ist es auch nur eine Kulturperiode.

    Also sehen Sie keinen Zusammenhang zu gesellschaftlichen Bewegungen?

    Ich bitte Sie, womit soll das zusammenhängen, mit welchen gesellschaftlichen Bewegungen? Soll der Feminismus etwa dafür gesorgt haben, dass es weniger energetische Männer gibt? Nein.

    Oder gibt es wegen des Feminismus mehr energetische Frauen? Das hat nichts mit gesellschaftlichen Bewegungen zu tun. Ich glaube, der Qualitätsverfall der männlichen Bevölkerung ist eine Phase, die entweder mit den Genen oder mit gesellschaftlicher Nachfrage zu tun hat.

    So eine Art Winterschlaf der männlichen Gemeinschaft. Jeder muss sich mal ausruhen

    So eine Art Winterschlaf der männlichen Gemeinschaft. Jeder muss sich mal ausruhen. Das ist normal. Wie bei einem Tischgespräch, da will man auch mal schweigen. Vielleicht ist das so eine Phase, in der die Männer eben beschlossen haben, den Mund zu halten.

    Sie sind aktiv in Sozialen Netzwerken, schreiben auf Facebook und Instagram. 2018 haben Sie eine Reihe von Beiträgen veröffentlicht, wie sehr sich Moskau zum Besseren verändert habe. Kurz darauf gaben Sie bekannt, dass Sie Sobjanin als Vertrauensmann [bei der Bürgermeisterwahl – dek] unterstützen. Warum haben Sie sich dafür entschieden?

    Weil ich seine Arbeit in Moskau unterstütze. Ich finde, er ist ein sehr effektiver Manager, Moskau hat Glück mit diesem Mann, er hat die Stadt wieder zu einem neuen Leben erweckt, er hat sie reanimiert und vor dem Kollaps bewahrt. Einem atmosphärischen Kollaps, sozusagen. Es wurde irgendwann unerträglich, sich in der Stadt aufzuhalten. Sobjanin und seine Leute haben das Blatt gewendet, die Stadt ist wieder eine Stadt für die Menschen geworden, nicht nur Steine, ohne Grün, ohne Gehwege, ohne irgendein urbanes Leben.

    Wir sind dauernd genervt, das ist die Natur der Russen – immer genervt sein, immer mosern und meckern

    Verstehen Sie, irgendwann ist man genervt vom Genervtsein. Wir sind dauernd genervt, das ist die Natur der Russen – immer genervt sein, immer mosern und meckern. Da, ein kaputter Gehweg – der perfekte Grund für einen spitzfindigen Instagram-Post mit Foto, oder? Aber die Bäume auf der Twerskaja, die sind wohl kein Grund. Ganz objektiv nicht: Niemand postet ein Foto von den Bäumen auf der Twerskaja. Aber ich erinnere mich, dass da in meiner Kindheit Bäume standen, ich weiß noch, wie sie unter Lushkow zerstört und abgeholzt wurden. Und jetzt sehe ich die Twerskaja meiner Kindheit wieder.

    Aber wenn kurz vor den Wahlen auf Instagram 50 Posts mit dem Hashtag erscheinen, wie schön jetzt alles ist, dann hat das etwas Künstliches.

    Das ist wohl eher eine Frage an die Macher der Kampagne. Wahrscheinlich hätte man das Ganze komplexer gestalten sollen.

    Aber es war Ihnen nicht unangenehm, da mitzumachen?

    Nein, warum? Ich habe da aus Überzeugung mitgemacht. Mir waren meine gesellschaftlichen Aktivitäten noch nie unangenehm. Sie fragen mich ja auch nicht: War es Ihnen nicht unangenehm, gegen die KPdSU oder für Jelzin auf die Straße zu gehen? Das habe ich gemacht, ja.

    Sie sind auch 2012 auf die Straße gegangen.

    2011, 2012 und 2013, für [Alexej] Nawalny. Ja, das bin ich, ich habe kein Problem damit. Wenn mir etwas in dem Moment richtig erscheint, tue ich das aus Überzeugung.

    Würden Sie heute nicht mehr für Nawalny auf die Straße gehen?

    Nein.

    Haben Sie keine Angst, wenn Sie als Kunstschaffender Ihre Überzeugungen ändern und heute zum Beispiel die Regierung unterstützen, morgen die Gunst der Herrschaft aber in einen Zorn der Herrschaft umschlagen und man Ihnen das alles nachtragen könnte?

    Ich bitte Sie, welche Gunst der Herrschaft? Habe ich denn ein Theater? Auf welche geheimnisvolle Weise ergoss sich die Gunst der Herrschaft über mich? Wenn ich etwas mache, das mit dieser Regierung zu tun hat, dann, weil ich es für richtig halte und nicht, weil ich dafür Zuckerbrot bekomme.

    Aber Sie können sich durchaus vorstellen, dass Sie Ihre Meinung vielleicht in drei Jahren wieder ändern?

    Hören Sie, meine Ansichten verändern sich ständig, jetzt sehe ich das so, morgen vielleicht anders, heute betrachte ich Europa und Russland auf diese Weise, gestern war es eine andere. Ich kann heute mit dem Sender Spas reden, und gleichzeitig gebe ich Ihnen ein Interview. Gestern habe ich mit Doshd gesprochen. Ich habe kein Problem damit, überall das zu sagen, was ich denke. Auf Spas rede ich darüber, dass ich nicht getauft und ziemlich kirchenfern bin. Und bei Doshd sage ich, dass mir diese ganze liberale Clique auf den Geist geht, sie ist dumm und untalentiert. Ich habe kein Problem damit, zu sagen, was ich denke. Ob das jemandem gefällt oder nicht, ob man was anderes von mir erwartet oder was anderes gewohnt ist – das ist nicht mein Problem.

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  • „Je schlimmer meine Zukunft, desto breiter mein Lächeln“

    „Je schlimmer meine Zukunft, desto breiter mein Lächeln“

    „Je schlimmer meine Zukunft, desto breiter mein Lächeln“, so hat der 21-jährige Jegor Shukow am 4. Dezember 2019 sein Schlusswort vor Gericht in Moskau beendet. Heute wurde sein Urteil gefällt: Schuldig, drei Jahre Haft auf Bewährung. Er kommt aus dem Hausarrest, seinen Youtube-Kanal Blog Shukowa darf er allerdings nicht mehr betreiben, die Administratoren-Rechte wurden ihm entzogen. [Redaktioneller Hinweis: Die Information, dass er das Internet zwei Jahre lang nicht nutzen dürfe, hatte sich in vielen Medien verbreitet und war auch von dekoder aufgegriffen worden. Shukow hat dies inzwischen auf Twitter berichtigt: Richtig sei, dass er keine eigenen Seiten erstellen und verwalten darf — dek]
    Das Urteil wird in Sozialen Medien als „Präzedenzfall“ bewertet: „Das freie intellektuelle Beurteilen von Politik in Russland ist wieder strafbar“, kommentiert etwa Gleb Morew, Literatur-Chef beim unabhängigen Kulturportal Colta.
    Shukow ist einer von zehn Demonstranten, die nach den Protesten vor der Wahl der Stadtduma im Sommer nun in dem sogenannten Moskowskoje Delo verurteilt wurden, gegen 13 weitere Protestteilnehmer laufen Ermittlungen oder Strafverfahren [Stand Redaktionsschluss, 6.12., 10 Uhr]. 
    Shukow wurde wegen „Aufruf zum Extremismus“ verurteilt. Als Beweis diente dabei unter anderem ein Video des Bloggers auf Youtube – sein Kanal hatte damals rund 10.000 Abonnenten –, in dem er zu Protest aufgerufen habe mit dem Satz „tut nushno chwatatsja sa ljubyje formy protesta“ (dt. „Es ist nötig, zu allen möglichen Protestformen zu greifen“). Damit habe er, so die Anklage, „politischen Hass und Feindseligkeit gegenüber der bestehenden Verfassungsordnung in der Russischen Föderation“ gezeigt, sein Ziel sei, „die sozialpolitische Situation im Land zu destabilisieren“. 

    Mit dem Studenten der renommierten Higher School of Economics hatten sich zahlreiche Menschen in Einzelpikets solidarisch gezeigt, die Vizerektorin seiner Hochschule hatte angeboten, für ihn zu bürgen, was jedoch abgelehnt wurde.

    Vor Gericht hielt der Angeklagte Shukow am 4. Dezember 2019 nun sein Schlusswort. Solche Schlussworte richten sich in Russland meist nicht unbedingt an die Richter – das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit ist sehr gering –, sondern an eine breite Öffentlichkeit und ähneln manchmal auch kleinen Manifesten. So wurde etwa auch das Schlusswort von Maria Aljochina von Pussy Riot 2013 weit verbreitet. Das Schlusswort Shukows wurde mehrfach abgedruckt, auch von Meduza, und in den Sozialen Medien tausendfach geteilt. 

    Bei der Gerichtsverhandlung, die jetzt gerade läuft, geht es vor allem um Worte und ihre Bedeutung. Wir haben über konkrete Sätze, Formulierungsnuancen, Interpretationsarten gesprochen, und ich hoffe, dass wir dem verehrten Gericht beweisen konnten, dass ich kein Extremist bin – sowohl nach linguistischen Kriterien als nach gesundem Menschenverstand.  

    Nun komme ich zu fundamentaleren Dingen als dem Sinn von Worten. Ich möchte über meine Handlungsmotive sprechen, zumal auch der Sachverständige sich dazu geäußert hat. Meine Motive sind aufrichtig und tiefgründig. Sie bringen mich dazu, mich mit Politik zu beschäftigen. Es sind Motive, aufgrund derer ich unter anderem das Video für den Kanal Blog Shukowa aufgezeichnet habe.

    Beginnen möchte ich mit Folgendem: Der russische Staat positioniert sich heute als letzter Verteidiger traditioneller Werte. Viel Aufmerksamkeit, so sagt man uns, liegt dabei auf der Institution Familie und dem Patriotismus. Als zentraler traditioneller Wert wird der christliche Glaube genannt. Euer Ehren, mir scheint, das ist vielleicht sogar gut. Die christliche Ethik umfasst Werte, die mir wahrhaft nahe sind. 

    Die christliche Ethik umfasst Werte, die mir wahrhaft nahe sind

    Da ist erstens die Verantwortung. Dem Christentum zugrunde liegt die Geschichte eines Menschen, der sich dazu entschloss, das Leid der ganzen Welt auf sich zu nehmen. Die Geschichte eines Menschen, der Verantwortung übernahm, im größtmöglichen Sinne dieses Wortes. Im Kern nämlich ist die zentrale Idee der gesamten christlichen Religion die Idee von persönlicher Verantwortung.

    Zweitens, die Liebe. „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, das ist der wichtigste Satz der christlichen Religion. Liebe ist Vertrauen, Mitgefühl, Humanismus, gegenseitige Hilfe und Sorge füreinander. Eine Gesellschaft, die auf einer solchen Liebe gründet, ist eine starke Gesellschaft, womöglich die stärkste überhaupt mögliche.

    Doch um die Motive meiner Handlungen zu verstehen, genügt es, einen Blick darauf zu werfen, wie unser heutiger russischer Staat – der sich stolz als Beschützer des Christentums und somit seiner Werte hervortut – diese Werte tatsächlich schützt. 
    Bevor wir beginnen, über Verantwortung zu sprechen, muss zunächst die Frage beantwortet werden, was die Ethik eines verantwortlichen Menschen an und für sich ist, welche Worte er sich im Leben immer wieder sagt. Es könnten vielleicht die folgenden sein: „Siehe, dein ganzer Weg wird voller Schwierigkeiten sein, mitunter unerträglichen. Alle dir Nahestehenden werden sterben. Alle deine Pläne werden scheitern. Du wirst betrogen und verlassen. Und dem Tod wirst du nicht entkommen. Leben ist Leiden. Finde deinen Frieden damit. Doch wenn du deinen Frieden damit gefunden hast, mit der Unausweichlichkeit des Leidens, lade dennoch das Kreuz auf deine Schultern und folge deinem Traum, denn sonst wird alles nur schlimmer. Werde zu einem Beispiel, werde einer, auf den man sich verlassen kann, unterwirf dich keinem Despoten, kämpfe für die Freiheit des Körpers und des Geistes und bau ein Land auf, in dem deine Kinder glücklich werden können.“

    Bringt man uns das etwa bei? Lernen die Kinder bei uns in der Schule etwa eine solche Ethik? Ehren wir etwa solche Helden? Nein. Die Situation im Land, wie sie ist, vernichtet jegliche Möglichkeiten des menschlichen Aufblühens. 10 Prozent der wohlhabendsten Russen halten 90 Prozent des Vermögens des Landes in ihren Händen. Unter ihnen gibt es natürlich höchst ehrenwerte Bürger, aber der Großteil dieses Vermögens stammt nicht aus ehrlicher Arbeit zum Wohle der Menschen, sondern aus banaler Korruption.

    Unsere Gesellschaft ist durch eine undurchdringliche Schranke in zwei Ebenen unterteilt. Das gesamte Geld ist oben konzentriert, und von dort gibt niemand etwas ab

    Unsere Gesellschaft ist durch eine undurchdringliche Schranke in zwei Ebenen unterteilt.
    Das gesamte Geld ist oben konzentriert, und von dort gibt niemand etwas ab. Unten hingegen – und das ist nicht übertrieben – herrscht nur noch Ausweglosigkeit. In dem Bewusstsein, dass sie mit nichts mehr rechnen können, in dem Bewusstsein, dass sie sich abstrampeln können, wie sie wollen und dass sie sich und ihren Familien trotzdem nicht zu Glück verhelfen können, lassen russische Männer ihren ganzen Zorn an den Frauen aus und saufen, oder bringen sich um. 
    Bei der Selbstmordrate von Männern pro 100.000 Einwohner steht Russland an erster Stelle. Das Ergebnis ist, dass ein Drittel aller Familien in Russland alleinerziehende Mütter mit Kindern sind. So also, möchte man fragen, schützen wir die traditionelle Institution Familie? 

    Miron Fjodorow [alias Oxxxymiron] war öfter bei meiner Verhandlung anwesend und hat sehr ehrlich und zu Recht gesagt: Bei uns ist Alkohol billiger als ein Lehrbuch. Der Staat schafft alle Voraussetzungen dafür, dass ein Russe, der die Wahl hat zwischen Verantwortung und Verantwortungslosigkeit, sich immer für Letzteres entscheiden wird.

    Und nun zur Liebe. Liebe ist nicht möglich ohne Vertrauen. Echtes Vertrauen entsteht aus gemeinsamem Handeln. Aber erstens ist gemeinsames Handeln in einem Land, in dem Verantwortungsbewusstsein nicht entwickelt ist, eine Seltenheit. Und zweitens: Wenn es doch irgendwo zu gemeinsamen Handlungen kommt, so wird das von den Gesetzeshütern gleich als Gefahr aufgefasst. Ganz gleich, was du tust: ob du Inhaftierten hilfst, für Menschenrechte eintrittst, die Umwelt schützt – früher oder später wirst du entweder zum „ausländischen Agenten“ erklärt, oder man sperrt dich einfach so weg.

    Ganz gleich, was du tust – früher oder später wirst du entweder zum „ausländischen Agenten“ erklärt, oder man sperrt dich einfach so weg

    Der Staat gibt klar zu verstehen: „Leute, verkriecht euch in eure Löcher, aber fangt nicht an, gemeinsam zu handeln. Mehr als zwei Leute dürfen sich nicht auf der Straße treffen, sonst buchten wir euch fürs Demonstrieren ein. Zusammenarbeit bei sozialen Themen ist verboten, sonst erklären wir euch zu ,ausländischen Agenten‘.“ 
    Woher sollen in einer solchen Umgebung Vertrauen und letztlich Liebe kommen? Keine romantische, sondern eine humanistische Liebe von Mensch zu Mensch.

    Woher sollen in einer solchen Umgebung Vertrauen und letztlich Liebe kommen? Keine romantische, sondern eine humanistische Liebe von Mensch zu Mensch

    Die einzige Sozialpolitik, die der russische Staat konsequent betreibt, ist die Politik der Atomisierung. So entmenschlicht uns der Staat in den Augen der jeweils anderen. In den Augen des Staates sind wir sowieso schon längst entmenschlicht. Wie soll man sonst sein barbarisches Verhältnis zu den Menschen erklären? Ein Verhältnis, das jeden Tag unterstrichen wird mit Gummiknüppel-Prügeln, Folter in den Strafkolonien, dem Ignorieren der HIV-Epidemie, der Schließung von Schulen und Krankenhäusern und so weiter.

    Lasst uns in den Spiegel schauen. Wer sind wir geworden? Wie konnten wir es zulassen, dass es so weit mit uns kommt? Wir sind eine Nation geworden, die verlernt hat, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind eine Nation geworden, die verlernt hat, zu lieben. Vor über 200 Jahren schrieb Alexander Radischtschew auf seiner Fahrt zwischen Petersburg und Moskau: „Ich blickte um mich, und meine Seele wurde wund unter den Leiden der Menschheit. Ich wandte den Blick in mein Inneres, und ich erkannte, dass die Not des Menschen vom Menschen kommt.“[1]

    Wo sind heute solche Menschen? Menschen, deren Seele derart leidet wegen der Geschehnisse im eigenen Land? Warum gibt es solche Menschen kaum noch?

    Die Sache ist die, dass der heutige russische Staat nur eine einzige traditionelle Institution wahrhaft in Ehren hält und stärkt – und das ist die Autokratie. Eine Autokratie, die es darauf anlegt, einem jeden das Leben zu zerstören, der aufrichtig das Gute für seine Heimat will, der sich nicht schämt zu lieben und Verantwortung zu übernehmen. 
    Schließlich mussten die Bürger unseres leidgeprüften [Landes] gründlich lernen, dass Initiative bestraft wird, dass die Obrigkeit immer recht hat, einfach weil sie die Obrigkeit ist, und dass Glück vielleicht auch hier möglich ist, aber leider nicht für sie. Und nachdem sie das begriffen hatten, begannen sie nach und nach zu gehen. Laut einer Statistik von Rosstat verschwindet Russland allmählich – mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von etwa minus 400.000 Menschen im Jahr. 
    Hinter den Statistiken sind die Menschen nicht zu sehen. Aber schaut sie doch mal an! Vor Kraftlosigkeit saufen sie sich zu Tode, in ungeheizten Krankenhäusern erfrieren sie, werden umgebracht von irgendwem, bringen sich selbst um, Menschen … solche wie du und ich. 

    Schließlich mussten die Bürger gründlich lernen, dass Initiative bestraft wird, dass die Obrigkeit immer recht hat, einfach weil sie die Obrigkeit ist, und dass Glück vielleicht auch hier möglich ist, aber leider nicht für sie

    Die Motive meines Handelns sind inzwischen wohl klar geworden. Ich wünsche mir wirklich, bei meinen Mitbürgern diese zwei Eigenschaften zu sehen: Verantwortung und Liebe. Verantwortung für sich selbst, für die Menschen um einen herum, für das ganze Land. Liebe zu den Schwachen, zum Nächsten, zur Menschheit. Dies ist mein Wunsch – und ein weiterer Grund, Euer Ehren, warum ich nicht zur Gewalt hätte aufrufen können. Gewalt, entfesselt, führt zu Straflosigkeit und damit auch zur Verantwortungslosigkeit. Und genauso führt Gewalt auch nicht zu Liebe. 
    Und dennoch, trotz aller Hindernisse, zweifle ich nicht eine Sekunde daran, dass mein Wunsch in Erfüllung geht. Ich blicke nach vorn, hinter den Horizont der Jahre, und sehe ein Russland voll verantwortungsvoller und liebender Menschen. Das wird ein wahrhaft glücklicher Ort sein. Möge sich jeder ein solches Russland vorstellen. Und möge dieses Bild Sie in Ihrem Handeln leiten, wie es auch mich leitet.  

    Zum Abschluss möchte ich Folgendes sagen: Wenn das Gericht heute dennoch entscheidet, dass ein wirklich gefährlicher Verbrecher diese Worte vorträgt, dann werden die nächsten Jahre meines Lebens voller Entbehrungen und Mühsal sein. Aber ich schaue auf die Menschen, mit denen mich Moskwoskoje Delo zusammengebracht hat, auf Kostja Kotow, auf Samariddin Radshabow, und sehe das Lächeln auf ihren Gesichtern. Ljoscha Minjailo und Danja Konon haben sich während unseres kurzen Kontaktes in Untersuchungshaft nie erlaubt, über das Leben zu klagen. Ich bemühe mich, ihrem Beispiel zu folgen. Ich bemühe mich, mich darüber zu freuen, dass mir die Chance zugefallen ist, durch diese Prüfung zu gehen im Namen der mir nahestehenden Werte. Im Endeffekt, Euer Ehren: Je schlimmer meine Zukunft, desto breiter mein Lächeln, mit dem ich ihr entgegen gehe. Danke! 


    1.Radischtschew, Alexander Nikolajewitsch: Reise von Petersburg nach Moskau, Übersetzung von Günter Dalitz/Versübertragung von Bruno Gutenberg (Verlag Philipp Reclam jun,, Leipzig 1982) 

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  • Bullshitting Russia

    Bullshitting Russia

    Fast die Hälfte der Artikel in der ausländischen Presse berichteten „negativ“ über Russland – zu diesem Schluss kommt Oktopus-1, eine Studie von Rossija Sewodnja. Darin wurden knapp 80.000 Artikel von Medien aus G7-Ländern untersucht, die von Januar bis Ende Juni 2019 erschienen sind. Das Ergebnis der Studie schlägt in die Kerbe, das Ausland würde schlecht über Russland reden, und hat somit auch eine politische Dimension: So ließen offizielle Reaktionen nicht lang auf sich warten. Die russische Gesellschaftskammer jedenfalls nahm die Studie zum Anlass, um eine öffentliche Diskussion über die Rechte ausländischer Medien und Journalisten in Russland anzuregen. Bereits Ende 2017 wurden einzelne Auslandssender wie Golos Ameriki (Voice of America) und Radio Swoboda (Radio Liberty) in Russland zu „ausländischen Agenten“ erklärt. 

    Die Mitarbeiter des Exilmediums Meduza machte all das hellhörig. Alexej Kowaljow, Leiter des dortigen Investigativressorts, war einst Chefredakteur von InoSMI – InoSMI gehört zu Rossija Sewodnja und übersetzt westliche Presse ins Russische. Kowaljow sah sich die Studie genauer an und fand heraus: Die Untersuchung von Rossija Sewodnja stützt sich vor allem auf britische Medien (die mehr als ein Drittel der gesamten Studie ausmachen). Auffällig viele der untersuchten Artikel in diesen wiederum haben laut Meduza denselben Autor. 

    Er heißt Will Stewart. Unter seinem Namen, so Meduza, werden allerdings vor allem Geschichten veröffentlicht, die Themen aus russischen Boulevardzeitungen aufgreifen. Allein im ersten Halbjahr 2019 hat Meduza auf den Seiten der Daily Mail knapp 220 Artikel gezählt, die unter dem Namen Will Stewart veröffentlicht wurden. 

    Das bedeutet nicht nur, dass die „negative“ Berichterstattung, die die Studie beklagt, in Teilen sogar aus russischen Medien übernommen wurde. Es wirft auch die Frage auf: Wer ist Will Stewart und wenn ja, wie viele? Meduza hat sich auf Spurensuche begeben.

    William Stewarts Identität ist selbst für die Veteranen unter den Auslandskorrespondenten in den Moskauer Büros ein Rätsel. Nicht ein einziger der von Meduza befragten, zum Teil seit Jahrzehnten in Russland tätigen Journalisten hat ihn je persönlich getroffen oder weiß, wer er ist.

    Nicht einmal im Außenministerium der Russischen Föderation scheint man das genau zu wissen – obwohl Stewart offiziell in Russland akkreditiert ist und auf den Seiten des Außenministeriums als Chef des Moskauer Büros der britischen Zeitung Daily Express genannt wird.

    Dabei ist William Stewart eine ganz reale – wenn auch ziemlich verschlossene – Person. Er taucht nicht in den sozialen Netzwerken auf; in keiner einzigen Zeitung, für die er arbeitet, ist ein Foto von ihm zu finden. Dafür gelang es Meduza, im britischen Handelsregister eine Firma zu entdecken, als deren Geschäftsführer Stewart fungiert: East2West Limited, eingetragen im Januar 1996. Zur selben Zeit taucht sein Name erstmals in den Akkreditierungslisten der in Moskau tätigen Auslandskorrespondenten auf.

    Stewart selbst, den Meduza nach mehreren Anfragen per E-Mail erreicht hat, gab an, seit 1992 in Moskau zu arbeiten. Viele seiner Beiträge, die von ausländischen Medien übernommen werden, nennen die Agentur als Quelle.

    Anfang 2019 tauchte auf der Internetplattform Reddit die Frage auf: „Kennt hier jemand die russische Nachrichtenagentur East2West? Falls ja, wie vertrauenswürdig ist sie? Ich bin auf einen Bericht über einen grausamen Mordfall gestoßen, aber alle Versuche, die Originalquelle zu finden, führen auf Seiten aus Russland, die auf East2West verweisen. Merkwürdig, dass gleich mehrere Internetseiten auf eine völlig unbekannte Agentur verweisen.“

    Ein anderer Nutzer antwortete: „Ich war auch sehr enttäuscht, als mehrere vermeintlich vertrauenswürdige Nachrichtenseiten in Brasilien, wo ich lebe, einen Bericht über ein Mädchen übernommen haben, das angeblich bei der Explosion eines Mobiltelefons gestorben war. Alle berufen sich auf russische Quellen, die ebenfalls auf diese merkwürdige Phantom-Agentur verwiesen. Ich finde das beängstigend.“

    Killermäuse in den Kremltürmen

    Will Stewarts beeindruckende Produktivität lässt sich damit erklären, dass die unter seinem Namen veröffentlichten Artikel das Produkt eines ganzen Kollektivs von russischen Journalisten sind, die für seine Agentur East2West News arbeiten. Unter ehemaligen Mitarbeitern hat Meduza endlich Menschen gefunden, die Stewart persönlich kennen. Stewart selbst hat nicht beantwortet, wie viele russische Mitarbeiter für seine Agentur tätig sind, er sagte nur, er arbeite ausschließlich mit „erstklassigen Freelancern aus Russland, den Ländern der ehemaligen UdSSR und Osteuropa zusammen“.

    Eine ehemalige Mitarbeiterin, die bis 2011 für die Agentur tätig war, hat Meduza erzählt, wie die Vorbereitungen zu einer Nachrichten-Ausgabe abliefen: „Wir waren mehrere freie Mitarbeiter, am Morgen ging es los mit dem Monitoring: das Wichtigste aus der Welt der Politik, amüsante Ereignisse, Persönlichkeiten, die in Großbritannien von Interesse sind – wie Arschawin, Abramowitsch, der damalige [Premierminister] Tony Blair, Nasarbajew. Und Trash à la Killermäuse in den Kremltürmen. Will wählte die interessantesten Themen aus, ging ihnen nach. Sehr sorgfältig, mit Liebe zum Detail. Mehrere Tage lang, manchmal sogar Wochen, bis sich die Fakten zu einer Geschichte fügten.“

    Die ehemaligen Mitarbeiter von East2West News, mit denen Meduza gesprochen hat, lobten Stewarts Professionalität, journalistische Sorgfalt und seine tiefe Russland-Kenntnis. Dabei unterscheiden sich die ersten Reportagen, die Stewart in den 1990ern in Moskau veröffentlichte, deutlich von seinen heutigen Arbeiten: Im Oktober 1992 brachte der Daily Express eine Analyse zum Konflikt zwischen Boris Jelzin und Ruslan Chasbulatow, 1996 folgte ein großes Porträt über Alexander Lebed, der damals als möglicher Jelzin-Nachfolger gehandelt wurde.

    Andere Journalisten, die mit seiner Arbeit vertraut sind, bewerten sein Verhältnis zu den Fakten kritischer. Oliver Carroll, der für die britische Zeitung The Independent in Moskau schreibt, machte auf einen Artikel aufmerksam, der am 26. Juni 2019 in der Daily Mail erschien: „Ich war sein Futtervorrat – Russe gleicht Mumie nach einem MONAT in Bärenhöhle. Das Raubtier hatte ihm die Wirbelsäule gebrochen und als Futter in seine Höhle verschleppt.“ Unter Berufung auf eine Meldung des Nachrichtenportals EADaily berichtete Stewart von dem in der Überschrift genannten Schicksal eines Mannes aus Tuwa namens „Alexander“. Die ursprüngliche Nachricht versah er mit neuen schockierenden Details: Demnach musste der Held den eigenen Urin trinken, um zu überleben.

    Der Daily Mail-Artikel war ein Hit in den sozialen Medien: Der Zähler auf dem Internetauftritt der Daily Mail zeigt 72.000 Reposts an. Daraufhin drehte die Geschichte eine zweite Runde durch die russischen Medien, diesmal unter Berufung auf die Daily Mail und Will Stewart. Oliver Carroll veröffentlichte im Independent einen Gegenbericht: Er entlarvte die Story mit der Bärenhöhle als Fake und den ausgemergelten Mann im Video als einen Patienten aus Kasachstan, der an einer schweren Form von Schuppenflechte leidet. Daraufhin änderte die Daily Mail den Inhalt und die Überschrift des Artikels. In der neuen Version beruft sich Stewart auf die Agentur East2West News, die mit dem Gesundheitsministerium in Tuwa gesprochen und herausgefunden habe, der Mann sei in Wirklichkeit Psoriasis-Patient. Dass die Agentur ihm selbst gehört, wird dabei nicht erwähnt.

    Westliche Medien berichten

    Stewarts Artikel, die auf russischen Quellen basieren, werden oft von genau diesen Quellen wieder aufgegriffen und neu belebt – dann mit dem respekteinflößenden Verweis auf „westliche Medien“. So brachte beispielsweise [die russische Nachrichtenagentur] Regnum 2016 eine Meldung unter folgender Überschrift heraus: „Mirror: Putin will Sibirien per Zeppelin erschließen“. Darin heißt es, unter Berufung auf einen Artikel von Will Stewart in der Daily Mail: „‚Putin setzt wieder auf den Zeppelin, so die britische Zeitung The Daily Mirror.“ (In Wirklichkeit ist in Stewarts Artikel keine Rede davon, dass Putin „auf den Zeppelin setzt“.) 

    Weiter berichtet Regnum: „Der russische Sicherheitsrat unter dem Vorsitz von Wladimir Putin hat ein Projekt zum Bau eines Luftschiffs bewilligt, das der Erschließung Sibiriens dienen soll. Die Kosten für einen dieser futuristisch anmutenden Zeppeline (Arbeitsname: East2West) belaufen sich auf rund 23 Millionen Pfund.“

    Natürlich existiert überhaupt kein futuristischer Zeppelin, der East2West heißen und den Hohen Norden mit der Transsibirischen Magistrale verbinden soll. Der Autor des Regnum-Artikels hat die Bildunterschrift im Daily Mirror, wo der Urheber genannt wird, fälschlicherweise für den Namen des Luftschiffs gehalten: East2West – William Stewarts Agentur.

    Dabei stammen die Bilder im Daily Mirror gar nicht von ihm. Die umgekehrte Bildersuche bei Google führt auf die Internetseite Siberian Times, die – am selben Tag wie der Daily Mirror – einen fast identischen Bericht über gemeinsame Pläne des Sicherheitsrates und der Russischen Akademie der Wissenschaften herausbrachte, abgelegene Gebiete mithilfe von Heißluftballons zu erkunden. Die Illustrationen auf der Seite der Siberian Times sind mit RosAeroSystems unterschrieben.

    Das Phänomen Siberian Times

    Das Internetportal Siberian Times sitzt in Nowosibirsk und veröffentlicht Artikel in englischer Sprache, die Will Stewart in seinen Beiträgen häufig zitiert. Obwohl auf der Seite das Impressum fehlt, ist die Chefredakteurin der Siberian Times bekannt: eine gewisse Swetlana Skarbo, Absolventin der Londoner City University und ehemalige Mitarbeiterin des Daily Express.

    Im britischen Handelsregister taucht Swetlana Skarbo als ehemalige Geschäftsführerin der Agentur East2West auf (im Juli 2018 übergab sie die Geschäfte offiziell an William Stewart). Verschiedene Quellen behaupten, Siberian Times sei ein Projekt von Stewart persönlich, der es mit den Honoraren für seine Artikel bei den führenden britischen Zeitungen betreibt – in denen er wiederum auf seine eigene Webseite als Quelle verweist. Stewart selbst wollte sich zu seiner Verbindung zu Siberian Times oder Swetlana Skarbo nicht äußern und riet, sich mit allen Fragen direkt an sie zu wenden. Eine Antwort liegt der Redaktion bislang nicht vor. 

    Von der Politik zum Boulevard

    Der britische Journalist und Propagandaforscher Peter Pomeranzew ist einer der wenigen, die Stewart persönlich kennen. 2008, als Pomeranzew ebenfalls in Moskau arbeitete, half Stewart bei den Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm von Channel 4 über den „dicksten Jungen der Welt“ – Dshambulat Chachotow aus Kabardino-Balkarien. Pomeranzew erklärt Stewarts Werdegang – weg von ernsthaften gesellschaftspolitischen Themen hin zur Regenbogenpresse – mit dem Wandel in der Redaktionspolitik des Daily Express selbst: „Er [William Stewart] war damals so etwas wie der politische Redakteur des Daily Express. Aber da war das Blatt auch noch eine halbwegs ernstzunehmende Zeitung für die Mittelschicht, sie gehörte nicht zur Kategorie der Red Tops wie The Sun oder der Daily Mirror.“ Aber irgendwann sei auch der Daily Express zu diesem Format übergegangen, meint Pomeranzew, wobei der reißerische Charakter der Schlagzeilen vergleichbare Blätter bald noch übertrumpfte.

    Stewart selbst äußerte gegenüber Meduza, er beziehe das Ergebnis der Studie von Rossija Sewodnja nicht auf sich. Die darin erwähnten Artikel hätten es wegen ihrer „exotischen“ Überschriften hineingeschafft, für die aber nicht er verantwortlich sei, sondern seine Redakteure. Außerdem sagte Stewart: „Überall auf der Welt wird Auslandskorrespondenten negative Berichterstattung und Voreingenommenheit vorgeworfen. Wie Sie wissen, passiert das russischen Journalisten, die in Großbritannien arbeiten, genau so.“

    Auf die Frage, warum es in seinen Beiträgen von blutigen Details und entstellten Kindern wimmelt, reagierte Stewart mit Unverständnis: „Wenn Sie den Artikel über das Mädchen meinen, das ohne Gesicht geboren wurde, dann bin ich froh, dass ich mit Hilfe der Leser wenigstens einen kleinen Teil der Summe sammeln konnte, die für die Behandlung in Russland und Großbritannien nötig war.“

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  • Der Wortwichser am Abend

    Der Wortwichser am Abend

    Ein älterer Herr mit Bart und Sonnenbrille sitzt auf einer efeuumrankten Treppe und trällert zu einfachen Gitarrenakkorden ein paar muntere Zeilen. So weit, so Youtube. Doch bei dem älteren Herrn handelt es sich um die russische Rocklegende Boris Grebenschtschikow und seine munteren Zeilen handeln unzweideutig von einem Propagandamacher aus dem Fernsehen, der als wetscherni mudoswon (dt. etwa: Wortwichser am Abend) besungen wird. 

    Wenig später erreicht das Lied im Internet ein Millionenpublikum, gewichtige Gestalten aus dem russischen Staatsfernsehen melden sich zu Wort, allen voran der für seine aggressive Rhetorik bekannte TV-Moderator Wladimir Solowjow. Das Bellen eines getroffenen Hundes? Meduza mit einer Kurz-Chronik des bizarren „Ich bin's nicht!“-Rummels.

    Samstag, 28. September

    Boris Grebenschtschikow, Bandleader von Aquarium, veröffentlicht auf seinem Youtube-Kanal ein Video zum Lied Wetscherni M [Wetscherni Mudoswon, dt. etwa: Wortwichser am Abend]. Darin geht es um einen „echt emsigen Kopf unserer Zeit“ – einen Propagandisten vom russischen Fernsehen: „Er alles sagt, was bestellt wird, seine Antworten bleiben nie aus.“ Namen nennt Grebenschtschikow keine. 



    Ich wandle mein Leben lang durch die Weiten / Und bin bereit, das noch weiter zu tun. / Wen du auch fragen willst, alle rauschen im Taxi vorbei. / Und niemand wird dir beibringen, wie man leben soll. / Doch im Zentrum der Weiten gibts einen Ort, wo es hell ist und wo alle hinschauen. / Dort bringt man nach bestem Wissen und Gewissen allen bei, wie es läuft in der Welt, / allen Kindern, den Alten und Jungen.
     
    Wortwichser am Abend! / Du echt emsiger Kopf, / Wortwichser am Abend / er ist ehrlicher, aufrichtiger und besser als alle, / der Wortwichser am Abend. / Er erklärt dir alles, was du willst, / gibt auf jede Frage eine Antwort. / Das Volk hat eine Seele, ist aber arm wie eine Kirchenmaus, / Dafür haben sie allen eins auf die Nase gegeben!
     
    Er strahlt wie ein druckfrischer 50iger / Er trieft vor Pomade und Lack, / Und wenn der Pöbel Jesus vermöbelt, / erklärt er uns, warum genau Jesus der Feind ist.

    Sonntag, 29. September

    Die russischen Medien greifen das Lied auf. Der Wetscherni M wird in den sozialen Netzwerken fleißig geteilt. Und die User rätseln: „Auf wen ist der Song wohl gemünzt?“ Mutmaßungen kommen auf, der anonyme Propagandist könnte Wladimir Solowjow sein, der Moderator der Sendung Der Abend mit Wladimir Solowjow.

    Montag, 30. September

    Solowjow reagiert per Twitter und Telegram auf Grebenschtschikows Lied: Der Leader von Aquarium sei „vom Dichter zum Coupletsänger verkommen“. Wobei der Moderator auch anmerkt, dass ihn der Song überhaupt nicht kränke. Zumal es darin, wie ihm scheine, um Iwan Urgant  gehe. Der hatte ihn mit seinen Späßen über „Nachtigallscheiße“ schon mal beleidigt. „In Russland gibt es eine Sendung, die das Wort ‚Abendlicher‘ im Titel hat – Sie wissen nicht zufällig, welche?“, fragt der Moderator.

    Am selben Tag

    Boris Grebenschtschikow beteiligt sich an der Diskussion. Der Musiker hinterlässt unter seinem Youtube-Video folgenden Kommentar: „Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich feststellen, was ohnehin klar ist: Zwischen Wetscherni U und Wetscherni M liegt eine unüberwindbare Distanz – wie zwischen Würde und Schande.“     

    Dienstag, 1. Oktober

    Solowjow kommt mit einer neuen Version. Im Gespräch mit dem TV-Sender 360 hält er es durchaus für möglich, dass mit dem umstrittenen Song in Wirklichkeit der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky gemeint ist: „Es kann natürlich auch sein, dass Herr Grebenschtschikow sein Lied dem Präsidenten der Ukraine gewidmet hat … Was derzeit ein großes Thema in den amerikanischen Medien ist.“

    Am selben Tag

    Eine Agentur für Satire-News namens Panorama veröffentlicht eine Fake-Meldung über Solowjow, wonach dieser versuche, Urgant gegen Grebenschtschikow zu verteidigen. Man beachte das ausgedachte Solowjow-Zitat: „Das Lied handelt natürlich nicht von mir, aber ich halte seine weitere Verbreitung oder Wiedergabe für unzumutbar.“ 

    Am selben Tag

    Iwan Urgant kommentiert Grebenschtschikows Lied live auf dem Ersten Kanal, wobei er sich über sich selbst lustig macht – mehr noch allerdings über Solowjow (wieder ohne ihn namentlich zu nennen): „Wir hätten liebend gern Boris Borissytsch eingeladen, dieses Lied live bei uns zu singen, doch aus firmenethischen Gründen können wir im Ersten Kanal keine Lieder über Mitarbeiter anderer Sender bringen.“ 



    […] Ich habe gerade noch in der Garderobe das neue Lied von Grebenschtschikow gehört. Nun, einige haben es schon gehört, andere noch nicht. Wieder andere haben es sich schon sehr sehr oft angehört …
    Jedenfalls gibt's da gerade einen total bescheuerten Skandal: BG hat ein Lied auf Youtube gestellt. Es heißt Wetscherni M, und es geht darin um den Moderator einer Abendshow. Und im Grunde weiß keiner … , wen er meint …
     
    Können wir mal reinhören?
    Nein, das geht leider nicht wegen des Wortes mudoswon/Wortwichser“, das darin vorkommt.
     
    Also, wegen des Titels ist klar, dass es um einen Talkmaster geht. Der eine Abendshow moderiert. Also, der Kreis wird immer enger, um wen es gehen kann.
    Aber wir Abendshowmaster halten zusammen wie eine Familie […].
    Und wir zerbrechen uns den Kopf: Über wen hat BG geschrieben? Wen konkret tunkt er da ein, in sein Aquarium? Er nennt ja keine Namen, nichts. Und dann ist mudoswon noch dazu ein russisches Wort, also ist von einem Russen die Rede und da können ja wir wieder alle gemeint sein […]

    2. Oktober

    Wladimir Solowjow (den Grebenschtschikows Lied überhaupt nicht kränkt) nimmt die Version mit Iwan Urgant wieder auf. Im Gespräch mit dem Telegram-Kanal Podjom wiederholt er die Idee aus der Meldung von Panorama und verspricht, den Kollegen gegen die Angriffe des Aquarium-Leaders zu verteidigen: „Es gibt in unserem Fernsehen eine ganz konkrete Sendung, die mit ‚Abendlicher‘ beginnt, und ich finde, Boris Borissowitsch hat völlig zu Unrecht einen wunderbaren, feinsinnigen, klugen Moderator des Ersten Kanals beleidigt. Ich habe ihn gegen diese unfairen Anfeindungen verteidigt und werde das auch weiterhin tun.“


    Fortsetzung folgt.

    Ergebnisse der Meduza-Leserumfrage: Wem ist das Lied Wetscherni M gewidmet?

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