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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Absolut böse und absolute Gesetzlosigkeit“

    „Absolut böse und absolute Gesetzlosigkeit“

    Zwei Jahre und acht Monate Haft für Alexej Nawalny. Was Geschäftsleute, Politikwissenschaftler, Schauspieler und Fußballer zum gestrigen Urteil sagen – Meduza hat Stimmen gesammelt.

    Alexander Larjanowski, geschäftsführender Partner der Online-Sprachschule Skyeng im Interview mit The Bell:

    [bilingbox]Ich denke, schlechter als jetzt kann das Business-Klima in Russland nicht mehr werden. Einfach, weil es kein Schlechter mehr gibt. Über lange Zeit hinweg hat jegliches Handeln der Regierung zu einer Verkümmerung dieses Klimas geführt. Sie handelt schon lange nicht mehr proaktiv, sondern reaktiv, sie reagiert auf diese oder jene äußeren Reize.

    Die Haftstrafe für Nawalny ruft in der Gesellschaft vermutlich Unruhen und Untergangsstimmung hervor, mehr aber nicht. Folglich wird es sich auch nicht auf das Geschäft von Skyeng auswirken – es wird wohl kaum mehr Menschen geben, die eine Fremdsprache erlernen und vor dem Hintergrund der Ereignisse das Land verlassen wollen.

    Westliches Kapital wird in den kommenden Jahren auch nicht wiederkommen. In Russland ist das Business-Klima schon längst bei minus 140. ~~~Я думаю, хуже, чем сейчас, бизнес-климат в России уже не станет — просто потому, что хуже уже некуда. На протяжении долгого времени любое действие власти приводило к увяданию этого климата. Она уже давно действует не проактивно, а реактивно, реагируя на те или иные внешние раздражители.

    Реальный срок для Алексея Навального, вероятно, вызовет волнения и упаднические настроения в обществе, но не более того. Следовательно, на бизнесе Skyeng это тоже никак это не отразится — вряд ли резко увеличится число людей, которые захотят выучить язык и на фоне этого события уехать из страны.

    Западный капитал в ближайшие годы к нам тоже не вернется. У нас в стране в плане бизнес-климата давно минус 140.[/bilingbox]


    Wladimir Melnikow, Eigentümer von Gloria Jeans im Interview mit VTimes:

    [bilingbox]Das ist ein großer, großer Schmerz für uns und ein erschütterndes Anklageplädoyer gegen die gesamte Regierung. Verzeihen Sie, mehr kann ich nicht sagen, ich kann nur noch Mat fluchen. Ich muss erstmal wieder zu mir kommen.~~~Это большая-большая наша боль и потрясающая обвинительная речь всей власти. Простите, больше ничего не могу сказать, могу только матом ругаться. Мне нужно прийти в себя.[/bilingbox]


    Dimitri Nawoscha, Gründer von Sports.ru und Tribuna Digital im Interview mit The Bell:

    [bilingbox]Die Haftstrafe für Nawalny wird sich negativ auf das Geschäftsklima im Land und auch auf unser kleines Unternehmen auswirken. Im ersten Fall werden Investoren noch weniger Anlässe haben, in russische Firmen einzusteigen. Viel Geld wird verloren gehen, viele Möglichkeiten werden verpasst und viele Projekte nicht realisiert werden.

    Angesichts dessen, was vor sich geht, werden viel mehr Leute das Land verlassen. Das bedeutet, es wird weniger kaufkräftige Kunden geben, weniger Perspektiven auf aktives Wachstum. Überhaupt kann man sich kaum vorstellen, dass irgendein Privatunternehmen nach dem, was passiert ist, besser und nicht schlechter über die Runden kommen wird.
    Öffentliche Unruhen und Demos werden sich ebenfalls auf die Wirtschaft auswirken, wenn auch weniger offensichtlich. Klar, die Festnahmen bei uns sind nicht ganz so massenhaft wie in Belarus, aber einer unserer wichtigsten Vertriebsmitarbeiter ist derzeit in U-Haft, was unsere Arbeit stark erschwert. Und überhaupt, wenn neben einem eine solche himmelschreiende Ungerechtigkeit geschieht, dann ist es schwer, an die Arbeit zu denken und produktiv zu sein.~~~Реальный срок Навальному негативно повлияет и на бизнес-климат в стране, и на наш небольшой бизнес. В первом случае у инвесторов будет еще меньше поводов идти в российские компании. Будет недополучено много денег, упущено много возможностей, не построено много проектов.
    Люди, видя, что происходит, будут активнее уезжать из страны, а значит, у нас будет меньше платежеспособных клиентов, меньше перспектив для активного роста. Вообще сложно представить частную компанию, которой после случившегося будет житься лучше, а не хуже.
    Общественные волнения и митинги менее очевидно, но тоже повлияют на экономику. Понятно, что у нас задержания не такие массовые, как в Белоруссии, но у нас, например, сейчас в СИЗО одна из ключевых сотрудниц сейлз-команды, что сильно затрудняет нашу работу. И в целом, если рядом с вами происходит что-то вопиюще несправедливое, сложно думать о работе и быть продуктивным.[/bilingbox]


    Wladimir Gelman, Politologie der Europäischen Universität in Sankt Petersburg auf Facebook

    [bilingbox]Für das politische System Russlands ist das wichtigste Ergebnis der vergangenen Wochen weder Nawalnys Heimkehr und seine anschließende strafrechtliche Verfolgung noch die Geschichte mit dem Palast und auch nicht die Protestwelle. Weitaus wichtiger ist, dass der Kreml mehr denn je gezwungen ist, sich auf die Silowiki zu stützen. Und zwar nicht als Ergänzung zur Legitimität des Regimes, sondern anstelle der Legitimität. 
    Das Problem ist nicht nur, dass es sich auf Bajonetten nicht gemütlich sitzt auf Dauer. Wenn sich das Regime ausschließlich auf den Apparat der Silowiki stützt, wird das diesen Apparat immer mehr dazu anregen, sich von der schwächelnden politischen Führung zu befreien und selbst zu regieren. Das heißt nicht, dass gleich morgen ein Putsch droht (vielen Autokraten gelingt es, diese Risiken mit unterschiedlichen Mitteln zu vermeiden). Aber an Putins Stelle würde ich mich gleich morgen um personelle Umbesetzungen kümmern, solange es noch nicht zu spät ist.~~~Главным итогом последних недель для российского политического режима стало не возвращение Навального в Россию и его последующее уголовное преследование, не история с «дворцом» и даже не волна протестов. Гораздо важнее то, что Кремль теперь куда больше, чем прежде, вынужден опираться на силовой аппарат не в качестве дополнения к легитимности режима, а в качестве замещения легитимности. Проблема здесь не только в том, что на штыках сидеть неудобно. Опора режима исключительно на силовой аппарат чем дальше, тем больше стимулирует этот самый силовой аппарат к тому, чтобы избавиться от слабеющего политического руководства и рулить самостоятельно. Это не значит, что прямо завтра нас ждет путч (многим автократам удается избегать этих рисков разными способами). Но на месте Путина я бы на всякий случай прямо завтра занялся бы кадровыми перестановками, пока не поздно.[/bilingbox]


    Pawel Gushikow, Gründer des Unternehmens Dengi Wperjod im Interview mit The Bell:

    [bilingbox]Ich finde, dass der heutige Prozess – die Art, wie er organisiert wurde, sein Inhalt, seine Details – das russische Rechtssystem unmittelbar abwertet. Wie Ruslan Bely ganz richtig sagte: „Wozu brauche ich einen Anwalt? Das Geld wird im Gefängnis sehr nützlich sein.“
    Das russische Gericht hat heute klar und deutlich gezeigt, was es von der internationalen Gemeinschaft hält, und wie der Trend des judikativ-exekutiven Systems für die kommenden Jahre ausschaut.~~~Я считаю, что сегодняшний судебный процесс — и его организация, и его суть, и детали — моментально девальвируют судебную систему России. Как верно сказал Руслан Белый: «Зачем мне адвокат? Деньги в тюрьме пригодятся.» […]
    Сегодня, на мой взгляд, российский суд четко и демонстративно показал свое отношение к международному сообществу и тренд развития судебно-исполнительной системы на ближайшие годы. […][/bilingbox]


    Nadeshda Pak, Mitbegründerin der Café-Kette Rezeptor im Interview mit The Bell:

    [bilingbox]Am 31. Januar, als zum zweiten Mal die Demos zur Unterstützung Nawalnys stattfanden, hatten wir wegen der Schließungen im Stadtzentrum nur ein Viertel der üblichen Einnahmen. Ich bin überzeugt, dass die Menschen das heutige Urteil nicht einfach so hinnehmen. Es stehen Unruhen bevor. 

    Ich bin nicht besonders politisch, aber ich glaube, dass es auch globale Folgen geben wird. Zum Beispiel, dass der Rubel weiter fällt und ausländisches Kapital abfließt. Doch am schnellsten wird es sich negativ auf die kleineren Unternehmer wie uns auswirken, denn die Menschen werden vor dem Hintergrund der Ereignisse nicht mehr in Cafés gehen wollen – oder man lässt sie einfach nicht, indem man die ganze Innenstadt sperrt.~~~31 января, когда был второй митинг в поддержку Алексея Навального, из-за перекрытий центра наша выручка упала в четыре раза от обычных показателей. Я уверена, что люди сегодняшний приговор просто так не оставят и волнения еще будут. 

    Я не сильна в политике, но думаю, что будут и глобальные последствия. Например, еще более сильное падение рубля, отток иностранного капитала. Но самый быстрый негативный эффект испытают небольшие предприниматели вроде нас, потому что людям на фоне происходящего не будет хотеться ходить в кафе — или им просто не дадут этого сделать, перекрыв весь центр.[/bilingbox]

     


    Alexander Lossew, Generaldirektor des Finanzdienstleisters Sputnik im Interview mit VTimes:

    [bilingbox]Die Entscheidung des Simonowski-Gerichts mag vielleicht den Westen dazu bringen, Russland mit neuen Sanktionen zu belegen, doch wie die letzten sechs Jahre gezeigt haben, betreffen Sanktionen vor allem Einzelpersonen und haben im übrigen eher symbolischen Charakter. In der derzeitigen Weltwirtschaft ist es unmöglich, Russland aus der globalen Wertschöpfungskette auszuschließen. Business und Märkte sind sehr zynisch.~~~Решение Симоновского суда хотя и может запустить процесс принятия Западом новых санкций в отношении России, но, как показала практика последних шести лет, санкции, как правило, персональные, а вот во всем остальном носят декоративный характер. В существующей мировой экономической системе Россию нельзя вычеркнуть из глобальных цепочек создания добавленной стоимости. Бизнес и рынки очень циничны.[/bilingbox]


    Tatjana Lasarewa, Schauspielerin, auf Facebook:

    [bilingbox]Leider ist das, was da gerade passiert, absolut böse und absolute Gesetzlosigkeit. Und es ist umso trauriger, weil es in unserem Land passiert.~~~К сожалению, то что происходит сейчас, — это абсолютное зло, абсолютное беззаконие. И это тем более печально, что это происходит в нашей с вами стране.[/bilingbox]


    Alexandra Bortitsch, Schauspielerin, auf Instagram:

    [bilingbox]Wisst ihr, was das ist? Das ist ein Versuch, uns Angst einzujagen. Uns zu sagen: Schau, mit dir wird genau dasselbe passieren. Mit jedem und jeder wird genau dasselbe passieren. Aber die Wahrheit ist, dass es nicht möglich ist, alle einzusperren. Man kann nicht das ganze Land einsperren. Und ja, auch ich habe Angst. Doch Wahrheit und Liebe sind größer als Angst. Gemeinsam sind wir stärker.~~~Знаете что это? Это попытка напугать нас. И сказать — смотри, с тобой будет то же самое. С кем угодно будет то же самое. Но правда в том, что действительно нельзя посадить всех. Нельзя посадить всю страну. И да, мне тоже страшно. Но правда и любовь сильнее этого страха. Мы все вместе — Сильнее.[/bilingbox]


    Wassili Beresuzki, Fußballer, zitiert Orwell auf Instagram:

    [bilingbox]‚Willst du dir ein Bild von der Zukunft machen, dann stell dir einen Stiefel vor, der auf ein  menschliches Gesicht tritt.‘~~~Если вам нужен образ будущего, вообразите сапог, топчущий лицо человека — вечно.[/bilingbox]

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  • „Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“

    „Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern“

    Der Oppositionelle Alexej Nawalny muss für mehr als zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Ein Gericht in Moskau hat heute entschieden, eine Bewährungsstrafe des Politikers in eine Haftstrafe umzuwandeln – weil er gegen die Bewährungsauflagen verstoßen habe.

    2014 waren Alexej Nawalny und sein Bruder Oleg im Fall Yves Rocher zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Während sein Bruder ins Gefängnis kam, erhielt Alexej Nawalny die Strafe zur Bewährung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte das Urteil 2017 für „willkürlich und deutlich rechtswidrig” befunden, Russlands Oberstes Gericht bestätigte es dennoch.
    Von den dreieinhalb Jahren werden nun zehn Monate Hausarrest abgezogen, die Nawalny bereits abgesessen hatte, so dass er für zwei Jahre und acht Monate in Haft kommt. Nawalnys Anwältin kündigte Berufung an. Zahlreiche westliche PolitikerInnen kritisieren das Urteil. Noch am Dienstagabend, 2. Februar, versammelten sich Demonstrierende und auch zahlreiche Sicherheitskräfte in Moskaus Innenstadt. Im Laufe des Tages sind laut OWD-Info mehr als 900 Menschen festgenommen worden, die aus Solidarität mit Nawalny zum Moskauer Stadtgericht gekommen sind oder nach der Urteilsverkündung im Moskauer Zentrum protestiert haben.

    Meduza hat Nawalnys Schlusswort transkribiert – dekoder bringt es in deutscher Übersetzung.

     
    „In Russland gibt es derzeit viele gute Dinge. Aber das beste sind jene Menschen, die keine Angst haben / Foto © Sputnik

    Ich würde gern mit der juristischen Frage beginnen, die mir am wichtigsten erscheint und die bei dieser Anhörung bisher irgendwie übersehen wurde. Denn das alles wirkt ein bisschen merkwürdig, oder? Also da sitzen zwei. Der eine meint: „Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er nicht montags, sondern donnerstags (zur Bewährungsstelle) gekommen ist.“ Der andere meint: „Ach, lass uns Nawalny dafür einbuchten, dass er, nachdem er aus dem Koma erwacht ist, nicht sofort hergekommen ist und sich gemeldet hat.“ Und dann läuft die Anhörung, alle reden über Montage, Donnerstage, wann und wohin man welche Papiere schicken muss und so weiter. Doch ich möchte ein paar Worte über den kleinen Elefanten hier im Raum sagen.

    Man will mich in einem Fall hinter Gitter bringen, in dem ich schon als unschuldig anerkannt bin. Ein Fall, der schon als konstruiert anerkannt wurde. Das ist nicht meine persönliche Meinung: Wir können jedes beliebige Lehrbuch für Strafrecht aufschlagen – ich hoffe, euer Ehren, dass Sie das einige Male in Ihrem Leben gemacht haben – und werden sehen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Teil des russischen Rechtssystems ist, unter anderem, weil Russland Mitglied des Europarats ist. Es gibt bindende Entscheidungen. Und ich habe, nachdem ich den ganzen Prozess durchlaufen habe, den EGMR angerufen. Und der EGMR hat eine Entscheidung gefällt, in der schwarz auf weiß geschrieben steht, dass nicht mal ein Straftatbestand vorliegt.

    Man will mich in einem Fall hinter Gitter bringen, in dem ich schon als unschuldig anerkannt bin

    Der Fall, aufgrund dessen ich, warum auch immer, in diesem merkwürdigen Käfig sitze, ist vollständig konstruiert. Mehr noch, die Russische Föderation hat diese Entscheidung sogar anerkannt. Denn man hat mir eine Entschädigung gezahlt und damit die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt. Nichtsdestotrotz hat mein Bruder für diese Sache dreieinhalb Jahre im Gefängnis gesessen und ich stand ein Jahr unter Hausarrest.

    Ein wenig Mathematik: 2014 wurde ich verurteilt, bekam dreieinhalb Jahre und jetzt haben wir das Jahr 2021, aber ich werde immer noch wegen dieses Falls verurteilt. Dabei wurde ich bereits für unschuldig erklärt, ein Straftatbestand liegt nicht vor, und dennoch: Mit der Verbissenheit eines Besessenen fordert unser Staat, mich in diesem Fall ins Gefängnis zu bringen.

    Aber warum ausgerechnet in diesem Fall? Es gibt ja sicherlich keinen Mangel an Strafverfahren gegen mich, oder? Erst kürzlich wurde noch ein weiteres eingeleitet. Nichtsdestotrotz wollte jemand, dass ich bei meiner Rückkehr nicht einen einzigen Schritt als freier Mensch in das Staatsgebiet unseres Landes mache. Von dem Moment an, als ich die Grenze überschritt, war ich ein Gefangener. Und wir wissen, wessen Gefangener. Wir wissen, weshalb das passierte. Der Grund für all das sind der Hass und die Angst eines einzelnen Menschen, der im Bunker lebt. Weil ich ihn zutiefst kränkte, indem ich überlebte, nachdem man versucht hatte, mich auf seinen Befehl hin umzubringen.

    Der Grund für all das sind der Hass und die Angst eines einzelnen Menschen

    Ich habe ihn zutiefst gekränkt, indem ich überlebte. Dank guter Menschen – Piloten und Ärzte. Und dann habe ich ihn noch mehr gekränkt, weil ich ich mich, nachdem ich überlebt hatte, nicht versteckte, nicht unter Personenschutz in einem etwas kleineren Bunker lebte, den ich mir hätte leisten können. Und danach wurde es ganz schlimm. Nicht nur, dass ich überlebt hatte, nicht nur, dass ich keine Angst hatte und mich nicht versteckte – ich habe auch noch an den Recherchen bezüglich meiner eigenen Vergiftung mitgearbeitet. Und wir haben gezeigt und bewiesen, dass es Putin war, mittels des FSB, der diesen Mordversuch durchgeführt hat. Und ich war nicht der Einzige. Und jetzt wissen es die Menschen und werden noch viel mehr erfahren. Und genau das macht dieses kleine diebische Menschlein in seinem Bunker verrückt. Genau diese Tatsache – dass alles rauskam, verstehen Sie?

    Wir haben gezeigt und bewiesen, dass es Putin war, mittels des FSB, der diesen Mordversuch durchgeführt hat

    Da ist nichts mit hohen Umfragewerten, oder gewaltiger Unterstützung. Nichts dergleichen. Weil klar wurde: Um mit einem politischen Gegner fertig zu werden, der weder das Fernsehen noch eine politische Partei hinter sich hat, muss man einfach versuchen ihn mit mit einem chemischen Kampfstoff umzubringen. Und natürlich wird Putin da verrückt. Weil sich alle davon überzeugen konnten, dass er einfach ein kleiner Beamter ist. Den man zufälligerweise auf den Posten des Präsidenten gestellt hat. Der weder an Debatten noch an Wahlen teilgenommen hat. Und dessen einzige Kampfmethode der Versuch ist Menschen zu töten. Und wie sehr er sich auch darstellen wollte als großartiger Geopolitiker, großartiger Leader der Welt, so ist in Bezug auf mich seine schlimmste Kränkung nun, dass er in die Geschichte als Giftmörder eingehen wird.

    Wisst ihr, es gab Alexander den Befreier. Jaroslaw den Weisen. Und nun kommt Wladimir der Vergifter der Unterhosen. Als der wird er eingehen in die Geschichte.

    Nun kommt Wladimir der Vergifter der Unterhosen. Als der wird er eingehen in die Geschichte

    Ich stehe hier, schon von der Polizei bewacht, die russische Nationalgarde ist aufmarschiert, halb Moskau ist abgesperrt aus dem einzigen Grund, weil ein kleiner Mann im Bunker durchdreht. Weil wir bewiesen und gezeigt haben, dass er sich nicht mit Geopolitik beschäftigt, sondern Beratungen abhält, auf denen er entscheidet, wer politischen Opponenten die Unterhosen klaut, sie mit chemischen Kampfstoffen einreibt und versucht sie zu töten.

    Entscheidend in diesem Prozess ist gar nicht, wie er für mich endet. Mich einzusperren ist keine Kunst, ob nun in diesem oder einem anderen Fall. Entscheidend ist, wozu das passiert – zur Einschüchterung einer riesigen Menge von Menschen. Das funktioniert genau so: Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern.

    In Russland leben 20 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Und dutzende Millionen leben ohne die geringste Perspektive. In Moskau lässt es sich noch mehr oder weniger leben. Aber sobald man 100 Kilometer rausfährt, trifft man auf absoluten Stillstand. Unser ganzes Land lebt in diesem absoluten Stillstand, ohne jegliche Perspektive. Von 20.000 Rubel [etwa 200 Euro – dek]. Und alle schweigen sie, man versucht ihre Mäuler zu stopfen mit genau solchen Schauprozessen.

    Das funktioniert genau so: Einen einsperren, um Millionen einzuschüchtern

    Ich hoffe sehr, dass die Leute diesen Prozess nicht als Signal auffassen dafür, dass sie noch mehr Angst haben sollen. Das ist keine Demonstration von Stärke, das ist eine Demonstration von Schwäche. Millionen und Hunderttausende kann man nicht einsperren. Und ich hoffe sehr, dass die Leute sich dessen mehr und mehr bewusst werden. Und wenn sie sich dessen bewusst geworden sind – und dieser Moment wird kommen – dann wird das alles in sich zusammenfallen. Denn ihr werdet nicht das ganze Land einsperren.

    All die Menschen, denen ihr die Perspektiven und die Zukunft genommen habt, leben in einem extrem reichen Land und bekommen Null ab von den nationalen Reichtümern. Bei uns mehrt sich nur die Anzahl der Milliardäre, alles andere schrumpft, verstehen Sie das? Ich sitze in meiner Zelle und höre Reportagen darüber, dass die Butter teurer geworden ist, dass Nudeln teurer geworden sind, dass Eier teurer geworden sind. Im Jahr 2021! Eine Exportnation von Öl und Gas.

    Alles, was sich sage, drückt meine Einstellung zu der Theatervorstellung aus, die Sie hier aufführen. Es kommt vor, dass Gesetzlosigkeit und Willkür das Wesen eines politischen Systems ausmachen. Und das ist schlimm.

    Aber es geht noch schlimmer, nämlich wenn Gesetzlosigkeit und Willkür sich in die Roben von Staatsanwalt und Richter hüllen. Es ist die Pflicht eines jeden Menschen, sich weder Ihnen noch solchen Gesetzen zu unterwerfen.

    Ich kämpfe, wie ich nur kann

    Ich kämpfe, wie ich nur kann. Und ich werde das fortsetzen, auch wenn ich völlig unter der Kontrolle derer stehe, die leidenschaftlich alles mit chemischen Kampfstoffen einreiben wollen. Mein Leben ist wohl keine drei Kopeken mehr wert. Und trotzdem rufe ich alle dazu auf, keine Angst zu haben und alles zu tun, damit das Gesetz siegt. 

    Ich grüße und danke allen Mitarbeitern des Fonds für Korruptionsbekämpfung, die derzeit unter Arrest stehen. Und allen im ganzen Land, die keine Angst haben und auf die Straße gehen, denn sie haben die gleichen Rechte wie Sie. Denn unser Land gehört denen genauso wie Ihnen und allen anderen. Wir sind ebensolche Bürger. Und wir fordern eine normale Rechtsprechung, dass man uns anständig behandelt, an Wahlen teilnehmen lässt und an der Verteilung der nationalen Reichtümer.

    In Russland gibt es derzeit viele gute Dinge. Aber das beste sind jene Menschen, die keine Angst haben, die nicht den Blick senken und den Tisch anstarren. Die niemals unser Land abgeben werden an das Häuflein käuflicher Beamter, das unsere Heimat gegen Paläste, Weingüter und Aqua-Discos eintauscht.

    Ich fordere sofortige Freiheit für mich und alle anderen Inhaftierten. Ich erkenne Ihre Vorstellung nicht an – sie ist illegal und voller Lüge.

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  • „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

    „Die Belarussen sind wirklich aufgewacht!“

    Allein am vergangenen Sonntag, beim Marsch der Volksmacht, hat der Machtapparat von Alexander Lukaschenko über 1000 Menschen festgenommen, wie Menschenrechtsorganisationen berichten. Insgesamt wurden mehr als 18.000 Menschen seit dem Tag der Präsidentschaftswahl am 9. August und der nachfolgenden Proteste in Gewahrsam genommen oder inhaftiert. Die Belarussen demonstrieren seit über drei Monaten gegen die exzessive Gewalt, für ihre Grundrechte und für Neuwahlen.

    Auch Jelena Lewtschenko verbrachte 15 Tage im Okrestina Gefängnis von Minsk. Sie wurde für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“ verurteilt. Die 37-Jährige gehört als Basketballerin zu den berühmtesten Sportlerinnen des Landes. Am 30. September war sie am internationalen Flughafen von Minsk festgenommen worden. Wie sie kritisieren mittlerweile auch zahlreiche andere bekannte Sportler und Sportlerinnen die Gewalt gegen die Demonstranten und Demonstrantinnen und fordern Neuwahlen. Das Regime reagiert darauf nicht nur mit Haft- und Geldstrafen, sondern auch mit Kündigung der staatlichen Unterstützungsleistungen. Viele verlieren ihren Platz in den Nationalteams.

    Über die alltäglichen Formen der Erniedrigung und der Manipulation in der Haft, darüber, wie sich die Insassen versuchen zu widersetzen, warum Jelena Lewtschenko selbst infolge der Proteste derart politisiert wurde – darüber sprach sie mit dem russischen Nachrichtenportal Meduza

    Alexandra Siwzowa: Wo sind Sie zur Zeit?

    Jelena Lewtschenko: Vor ein paar Tagen bin ich in Athen angekommen. Ich wollte schon im September hierher fliegen, bin aber am Flughafen verhaftet worden. Ich mache hier eine Reha, und es gibt die Möglichkeit, mit einem Team zu trainieren.

    Wie wurden Sie verhaftet?

    Ich hatte es noch nicht mal bis zum Check-in geschafft. Ich war gerade dabei, meine Taschen in Folie zu packen – da bemerke ich, wie mir jemand auf die Schulter klopft. Ich sehe zwei Milizionäre. Sie grüßen und sagen, dass sie mich wegen der Teilnahme an nicht genehmigten Kundgebungen verhaften müssen. Ich hatte das erwartet – aktuell ist es das Gängigste, wofür man in Belarus festgenommen wird.

    Haben Sie geahnt, dass man Sie verhaften könnte?

    Wenn sie gewollt hätten, hätten sie mich schon frühmorgens festnehmen können, oder auch am Vorabend. Ich habe es also nicht direkt erwartet. Ich war unter Schock, aber ich habe sie angelächelt. Ich habe sofort gebeten, meinen Anwalt und meine Mutter anrufen zu können. Schon als ich auf das Flughafengelände fuhr, war mir ein Auto der Miliz aufgefallen. Es stand entgegen der Fahrtrichtung, so konnten sie beobachten, wer in den Flughafen fuhr. Wie mir später klar wurde, wurde dann weitergegeben, wer das Gelände betrat. Ich fragte mich: „Warum haben die das nicht schon früher gemacht? Damit wenigstens das Gepäck nicht vollends eingewickelt würde.“ Offensichtlich haben sie den letzten Moment abgewartet – die Verhaftung war demonstrativ: Immerhin mussten sie 45 Kilometer zum Flughafen fahren, und dann dieselbe Strecke wieder zurück.

    Ich war ja noch nie im Gefängnis –

    Gott bewahre, dass das noch mal geschieht

    Sie wurden dann sofort in das Gefängnis in der Uliza Okrestina gebracht? 

    Nein, zuerst zum RUWD, dem Revier der Miliz im Leninski Rajon. Dort sprach ein Mann namens Iwan Alexandrowitsch Skorochodow mit mir – seine Position ist mir nicht bekannt; aber später stellte sich heraus, dass er Zeuge war in meinem Fall, obwohl er nicht vor Gericht erschien.
    Ich bat ihn, meinen Anwalt zu kontaktieren. Er sagte, dass er das noch nicht machen könne. Als ich dann ins Okrestina Gefängnis kam, bot er mir an, den Anwalt anzurufen, wenn ich denn die Tastensperre aufheben, die Nummer wählen und es ihm sofort reichen würde. Ich lehnte ab, weil ich wusste, dass er das Telefon hätte einstecken können – und ich es nicht mehr wiedergesehen hätte. 

    Beschreiben Sie Ihren ersten Tag in der Haft.

    Am ersten Tag [im Revier] kam ich in eine Zelle für zwei Personen. Es war bereits eine Frau dort. In der Zelle stand ein Etagenbett, Matratzen gab es nicht, dafür bekam ich Bettwäsche. Man sagte, dass ich wahrscheinlich einen Tag hierbleiben würde, ich würde eine Geldstrafe zahlen müssen und würde dann entlassen. Erst später habe ich herausgefunden, dass sie das allen sagen. Der Prozess fand am selben Tag statt. Als ich so dalag und auf den Beginn der Verhandlung wartete, hörte ich plötzlich, wie Frauen in anderen Zellen begannen, Grai und Kupalinka zu singen. Ich stimmte ein und weinte natürlich augenblicklich los. Es war so berührend, ich hatte das Gefühl, dass wir – sogar im Gefängnis – alle zusammen sind. 
    Als wir zu Ende gesungen hatten, klatschten alle los. Das werde ich nie vergessen. Dann kam der Prozess, ich bekam 15 Tage, und am nächsten Tag wurde ich in die Haftanstalt [in der Okrestina Straße] verlegt – in eine Vierer-Zelle, wo ich zwei Wochen verbrachte.

    Wie haben die 15 Tage Sie geprägt?

    Ich konnte mich nochmals vergewissern, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich sehe, wie grausam diese Menschen sind. Demütigung ist ihre Spezialität. Das Okrestina ist ein schwarzer Fleck, viele Tränen, viel Schmerz. Alles, was dort in den Tagen nach der Wahl passiert ist, ist irrsinnig. Jetzt gibt es dort nicht mehr so viel physische Misshandlung, nicht so viele Schläge, aber alles, was dort jetzt geschieht, bezeichne ich als psychische Gewalt und moralischen Druck. Die grundlegenden Menschenrechte werden verletzt.

    Wie waren die Haftbedingungen?

    Wir waren zu dritt in einer Zelle. In der ersten Nacht hatten wir Matratzen, Wasser, die Klospülung funktionierte. Doch am 2. Oktober ging es los. Nach dem Frühstück kam ein Mann herein und befahl uns, die Matratzen zusammenzurollen. Wir rollten sie ein; wir dachten, wir hätten vielleicht etwas falsch gemacht. Über die Regeln in der Haft hatte man uns nicht aufgeklärt. Ich war ja noch nie im Gefängnis – Gott bewahre, dass das noch mal geschieht. Doch wenn es Regeln gibt, muss man auch sagen, welche – aber nichts da. Es gab lediglich ein Papier, auf dem stand, dass man täglich 13,50 Rubel [etwa 4,50 Euro – dek] für die Verpflegung zahlen muss.

    Wann haben Sie die Matratzen zurückbekommen?

    Zunächst dachten wir, man habe sie eingesammelt, um sie zu säubern, um Läuse und Bettwanzen zu entfernen. Aber wir haben sie gar nicht zurückbekommen.

    Haben Sie denn versucht, sie zurückzubekommen?

    Ja, noch am selben Tag. In der Zelle gab es einen Knopf für Notfälle – den drückten und drückten wir. Lange hat niemand reagiert; dann kam ein wütender Wächter. Er öffnete die Zelle, packte die Frau, die ihm am nächsten stand, und führte sie heraus. Fünf Minuten später kam sie zurück. Er hatte ihr gesagt: „Sag den alten Schachteln, dass sie sich beruhigen sollen, Matratzen gibts nicht.“ 
    Am selben Tag wurde uns das warme Wasser abgestellt und auch die Spülung, dann wurden zwei weitere Personen zu uns in die Zelle gesteckt – in einer Vierer-Zelle waren wir dann zu fünft. 
    Wir wussten nicht, wie man so schlafen soll. Also haben wir Zeitungen und Kleidung ausgebreitet. Als Größte habe ich mich auf eine Bank gelegt, eine andere Frau auf den Tisch. Zwei lagen zusammen im Bett, denn es war sehr kalt, die Heizung wurde nicht warm.

    Innerhalb von 15 Tagen durften wir

    nur fünfmal an die frische Luft

    Was bekamen Sie als Antwort, als Sie darum baten, das Warmwasser und die Heizung einzuschalten? 

    Die Antworten waren immer dieselben: „Wir wissen nichts, wir entscheiden nichts, ihr müsst die Leitung fragen, das hängt nicht von uns ab.“ Oder wir wurden einfach ignoriert.

    Wie lange ging das im Endeffekt so?

    Die ganze Zeit, die ich dort war. Keine Matratzen, warmes Wasser gab es erst am vorletzten Tag. Wir baten um eine Waschmöglichkeit, aber in den 15 Tagen konnten wir nicht ein einziges Mal duschen. Innerhalb von 15 Tagen durften wir nur fünfmal an die frische Luft.

    Wer saß zusammen mit Ihnen ein?

    Die meisten im Okrestina Gefängnis hatten an den friedlichen Protesten teilgenommen. Ein Mädchen war aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko. Es gab eine Belarussin, die in der Schweiz lebt – sie war nach Belarus gekommen, weil sie nicht gleichgültig zusehen konnte, was hier vor sich geht. 
    Mittlerweile ist mir klar, dass die Bedingungen, unter denen wir inhaftiert waren, dass das alles Absicht war.

    In den Zellen herrschten also unterschiedliche Bedingungen?

    Gegenüber von uns gab es eine Zelle mit jungen Männern. Wenn das Essen gebracht wurde, ließen die [Wachen] manchmal die Klappe auf und wir konnten einander zuwinken. Ich dachte, dies sei eine gute Gelegenheit, sie nach dem Wasser zu fragen. Mit großen Buchstaben schrieb ich diese Frage auf: „Habt ihr warmes Wasser?“, dann schob ich den Zettel rüber. Die Jungs haben es zuerst nicht gesehen; und als ich es noch einmal versuchte, sahen sie es schließlich und nickten. Da wussten wir Frauen, dass irgendetwas nicht stimmt.

    Haben Sie am Ende herausgefunden, warum es in Ihrer Zelle diese Bedingungen gab?

    Ja. Einen Abend durften wir rauf in einen tollen Raum mit Stühlen, Tischen und einem Fernseher. Irgendwann sahen wir einen Mann in Uniform – es war der Leiter der Haftanstalt, Jewgeni Schapetiko. Er stellte sich vor und sagte, dass wir die Polizei vielleicht nicht mögen, dass es für die Polizisten aber auch schwer sei. Dann wurde ein Film eingeschaltet. Später haben mir die Mädels erzählt, dass ihnen ein Kerl in Sturmhaube aufgefallen sei. Der hatte mit dem Telefon gefilmt, wie wir den Film anschauen.

    Was war das für ein Film?

    Ein regierungsfreundlicher Film aus dem belarussischen Fernsehen. Darin wurden verschiedene Bilder gezeigt – von Leuten, die Telefonnummern von Milizbeamten an Telegramkanäle schickten. Davon, wie jemand einen alten Mann angriff. Dann gab es Filmmaterial aus dem [Zweiten] Weltkrieg und wie die Großväter gekämpft haben. Dann noch von Kundgebungen und wie wir faschistische Flaggen tragen. Die Zielrichtung der Propaganda: Wir [Demonstranten] würden uns nur für unsere Handys interessieren, aber nicht fürs Kinderkriegen.
    Dann war der Film vorbei. Der Chef der Haftanstalt sagte, er werde so etwas in seiner Stadt nicht zulassen. Dann fing er an, über Gesetze zu reden. 

    Was hat er gesagt?

    Er sei hier für die Haftbedingungen verantwortlich: „Es läuft alles so, dass ihr nie wieder herwollt.“ 
    Er fragte: „Wie habt ihr euch das denn vorgestellt?“ Die jungen Männer entgegneten geschickt, dass sie sich das so vorgestellt haben, wie es in unserem belarussischen Fernsehen gezeigt wird. Kurz zuvor hatte der Sender CTV einen Beitrag gebracht, wie schön und gut doch alles in der Okrestina sei.

    Waren denn bei denen, die den Mund aufgemacht haben, die Bedingungen ähnlich schlecht?

    Eine Frau aus meiner Zelle hat den anderen nach dem Film diese Frage gestellt. Die Jungs verneinten. Dann hielten wir Schapetiko vor, dass man in der Okrestina offensichtlich Menschenrechte verletzen würde. Der Leiter der Haftanstalt entgegnete nur, dass er über diese Sache nachdenken werde, dann ging er zum Ausgang, und es änderte sich nichts.

    Die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben,

    kann ich nicht verzeihen

    Hat Sie im Gefängnis jemand erkannt?

    Die Milizionäre haben mich erkannt. Einmal kamen wir von einem Spaziergang zurück, und der Wächter fragte: „Lewtschenko, rauchst Du etwa? Hast ja sehr um den Spaziergang gebettelt.“ Und ich fragte zurück: „Darf man nicht spazierengehen wollen?“ 
    Meinen Nachnamen kannten sie. Wenn eine neue Frau in die Zelle kam, war es immer amüsant: „Und Sie sind wirklich Jelena Lewtschenko? Sind Sie Jelena Lewtschenko? Du bist tatsächlich Jelena? Ich hätte nie gedacht, dass ich dich in der Okrestina treffe.“ Nun, was soll ich darauf antworten? So was passiert eben. Machen wir uns also bekannt!

    Was haben Sie in der Zelle so gemacht?

    Jemand, der vor uns gesessen hatte, hatte ein Damespiel auf ein Blatt gezeichnet. Wir haben uns aus Weiß- und Schwarzbrot Figuren gebastelt und gespielt. Wir haben uns bemüht, Witze zu machen, haben Lieder gesungen und uns unterhalten. Und jetzt, wo ich durch die Sozialen Netzwerke surfe, sehe ich tatsächlich Nachrichten von den Jungs, die in der Zelle nebenan waren. Die schreiben da: „Wir haben gehört, wie ihr gesungen habt, wir haben euch applaudiert.“ Irgendwo in einer anderen Zelle gab es eine Frau, die jeden Abend sehr schön sang. Richtige Konzerte gibt es in der Okrestina.

    Nach 15 Tagen Haft wurden Sie erneut festgenommen – wiederum wegen der Teilnahme an Protesten. Aber dann bekamen Sie eine Geldstrafe und wurden entlassen. Warum?

    Ich denke, dass das alles eine große zusammenhängende Geschichte ist, „ein demonstrativer Vorgang“ sozusagen. Anderen Sportlern und Menschen sollte Angst gemacht werden, man wollte so demonstrieren, dass es jeden erwischen kann. Aber ich habe gar nicht erwartet, dass man mich gehen lässt, ich habe keine Gnade von denen erwartet. Eine Geldstrafe – bedeutet das in deren Verständnis nicht sogar Gnade? Doch die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben, kann ich nicht verzeihen.

    Was für eine Grausamkeit?

    Ich habe erst am Vorabend erfahren, dass ich am nächsten Morgen einen weiteren Prozess haben würde. Was bedeutete, dass man mich nicht entlassen würde. Aber darüber wurden meine Familie und Freunde nicht informiert. Sie brachten meine Mama und meinen Vater dazu, um sechs in der Früh zur Okrestina zu kommen und auf mich zu warten. Das Foto, das durch alle Medien ging, werde ich nie vergessen: wie Mama an Papas Schulter weint.

    Haben Sie keine Angst davor, sich zu äußern?

    Wenn die mir an den Kragen wollen, werden sie das sowieso tun. Wir sind in keiner Weise geschützt. Seien wir ehrlich: Ich habe keine Gesetze gebrochen oder Verbrechen begangen. Aber das spielt heute in Belarus keine Rolle, denn menschliches Leben hat keinen Wert. Das ist der rechtliche Normalzustand, und der ist das Einzige, was aktuell in Belarus zählt. Deshalb ist alles, was wir tun können, die Wahrheit zu sagen und davon zu berichten, was wir erleben.

    Unterhalten Sie sich mit Sportlern aus Belarus?

    Jeden Tag.

    Wie reagieren die auf die Proteste?

    Weltklasse-Athleten schweigen leider und kommentieren die Situation überhaupt nicht. Manchmal posten sie etwas, was sich gegen Gewalt richtet, aber Gewalt ist ja nur die Folge. Über den eigentlichen Grund sprechen sie nicht.

    Was halten Sie von Menschen, die in der aktuellen Situation nicht den Mund aufmachen?

    Es scheint, als säßen die im Gefängnis, und wir sind – im Gegenteil dazu – frei. Anfänglich war ich schon empört: Ich wollte, dass die Athleten reden – vor allem die berühmten. Doch darauf darf man sich nicht versteifen. Das soll jeder machen, wie er will. Hauptsache, es geht weiter. Wir sind viele. Bis heute haben bereits 998 Athleten einen offenen Brief mit Forderungen an die Machthaber unterschrieben.

    Sie waren bis 2020 ein unpolitischer Mensch, richtig?

    Ja, ich war unpolitisch – im Jahr 2020 habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gewählt. Die Belarussen sind wirklich aufgewacht! Früher waren wir überzeugt, dass sich nichts ändern würde, wenn wir [gegen Lukaschenko] stimmen. Es war Teil der Mentalität. Man wird vergiftet – man tut so, als sei alles in Ordnung. Alles, was man tun kann, ist, alles runterzuschlucken. Das ist nicht nur mit der Politik so. Das betrifft alles.

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  • „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    „Großmächte brauchen einen Großfeind“

    Joe Biden ist designierter US-Präsident – was ändert sich für Russland? Als US-Präsident Trump vor vier Jahren ins Amt kam, fürchteten viele, er könne eine Marionette Russlands werden. US-Sicherheitsdienste berichteten über russische Einmischung im Wahlkampf. Joe Biden dagegen gilt als sehr kritisch gegenüber dem Kreml, bezeichnete Trump im Wahlkampf als „Putin's puppy“, „Putins Schoßhündchen“.
    Putin versicherte kürzlich, Russland werde mit jedem US-Präsidenten zusammenarbeiten, kritisierte aber Bidens „antirussische Rhetorik“.

    Was ist aus der erwarteten Annäherung zwischen den USA und Russland unter Trump tatsächlich geworden? Und was bedeutet ein US-Präsident Joe Biden für Russland? Diese Fragen stellt Meduza drei russischen Experten für die russisch-amerikanischen Beziehungen: Andrej Kortunow, Ivan Kurilla und Dimitri Trenin.
    dekoder stellt eine weitere Analyse der Politologin Nina Chruschtschowa dazu, die Projekt veröffentlichte.

    „In Russland selbst hat sich nichts zum Guten geändert“

    Ivan Kurilla, Historiker, Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg

    Die Regierungszeit Trumps wurde zu einer Enttäuschung, da die russische Seite etwas anderes erwartet hatte. Man hatte auf warmherzige Beziehungen zwischen den USA und Russland gesetzt – oder zumindest auf eine Verbesserung im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren unter Präsident Obama.

    Doch besser wurde es nicht, aus zwei Gründen: In Russland selbst hat sich in dieser Zeit nichts zum Guten geändert, es blieb alles beim Alten. In den USA war das „russische Thema“ während der Präsidenschaft Trumps äußerst heiß. Die ersten zwei Jahre beschuldigte man ihn, ein russischer Agent zu sein. In den Beziehungen zu Russland etwas in Bewegung zu bringen, wurde für ihn unmöglich. Bestraft wurde so im Endeffekt nicht Russland, sondern Trump.

    Die Sanktionen gegen Russland liefen über den Kongress. Das ist viel schlimmer, als wenn sie über die Regierung laufen – die kann Sanktionen schnell erlassen, aber auch aufheben. Damit der Kongress auch nur zur Prüfung der Aufhebung von Sanktionen schreitet, braucht es großen Druck, was äußerst unwahrscheinlich ist.    

    Auch der Druck der USA auf Europa bedeutete großen Druck auf Russland. Der Baustopp von Nord Stream 2, weil die USA Sanktionen gegen die Firmen androhten, die daran beteiligt sind, war ein noch größerer Hieb als die direkten Sanktionen. Dieser indirekte Einfluss über Europa versetzte der russischen Wirtschaft einen herben Schlag. 

    Der Druck der USA auf Europa bedeutete auch großen Druck auf Russland

    Die künftigen Beziehungen zwischen den USA und Russland werden von den Beratern abhängen, die der neue Präsident auswählt. Biden wird im Unterschied zu Trump bei wichtigen Fragen auf kollektive Entscheidungen setzen. Mit Sicherheit wird es eine aktivere Außenpolitik geben als bei Trump. Trump hatte im Gegensatz dazu Amerika aus verschiedenen Regionen der Welt abgezogen und war aus internationalen Abkommen ausgetreten. Die Demokraten werden wiederkommen. 
    Der Präsidentenwechsel bedeutet ein kleines Fenster neuer Möglichkeiten. Vielleicht wird Russland innerhalb der USA nicht mehr als Schreckgespenst benutzt. Die Sackgassen, in die unsere Beziehungen geraten sind, könnten durchbrochen werden. Aber große Hoffnungen habe ich da nicht, weil sich auf russischer Seite nichts geändert hat, und das würde jeder US-Präsident zur Voraussetzung machen.


    „Es wird auch neue Möglichkeiten geben“

    Andrej Kortunow, Leiter des Russischen Rats für internationale Angelegenheiten

    Russlands Hoffnungen in Bezug auf die USA, die vor vier Jahren aufkamen, wurden nicht erfüllt. Unsere Beziehungen mit den USA haben sich in dieser Zeit vielmehr verschlechtert, quantitativ wie qualitativ. Unter Trump wurden die russisch-amerikanischen Summits quasi abgeschafft. Wenn früher ein neuer US-Präsident gewählt wurde, gelang es schnell, ein Treffen auf höchster Ebene zu organisieren. Das war nötig, damit die Räder der schwerfälligen Staatsmaschinen in Gang kamen. In Trumps Fall gab es gerade mal ein Treffen in Helsinki 2018, das die Beziehungen nur verschlechtert hat. Gleich darauf folgten Sanktionen und Kritik an Trump dafür, dass er sich angeblich Putin ergeben habe.

    Der Hauptpfeiler in den Beziehungen zwischen den USA und Russland war immer die Rüstungskontrolle. Auch wenn sich beide Seiten über alles Mögliche stritten, auch wenn sich die Beziehungen verschlechterten, die USA und Russland waren stets der Meinung, dass die Kontrolle strategischer Waffen das ist, was ihre Beziehung so einzigartig macht auf der ganzen Welt und dass man das bewahren müsse. Unter Trump wurde all das zerstört. Die US-Administration ist aus dem INF-Vertrag ausgestiegen und hat praktisch jegliche Versuche abgelehnt, den New-Start-Vertrag zu verlängern. Das heißt: Der Grundpfeiler unserer Beziehungen ist zerstört.

    Die Rhetorik gegenüber Russland wird sich erheblich verändern

    Biden wird nun Präsident, und dies wird die Rhetorik gegenüber Russland erheblich verändern. Sie wird hart und kritisch sein, im Gegensatz zu Trump wird Biden Putin keine Komplimente machen. In einigen Bereichen wird Biden ein schwierigerer Partner sein als Trump. Er wird einen Akzent auf Menschenrechte in Russland setzen, vielleicht wird die Magnitski-Liste erweitert oder Neues beschlossen, wie zum Beispiel eine Nawalny-Liste. Intensiviert wird die Unterstützung für die Ukraine, Georgien – Staaten, die mit Russland in Konflikt stehen. Biden wird sich bereit zeigen, die Opposition in Belarus zu unterstützen und die Mittel für oppositionelle Menschenrechtsbewegungen im postsowjetischen Raum aufzustocken. Bidens Politik wird darauf abzielen, das transatlantische Bündnis wiederherzustellen und den Spielraum für russische Manöver einzuschränken. Er wird versuchen, die ruinierten Beziehungen zu den europäischen Partnern wiederherzustellen. 

    Es wird aber auch neue Möglichkeiten geben: Biden wird mehr Interesse an Rüstungskontrolle zeigen, da er die Entscheidung von Trump, sich aus dem INF-Vertrag zurückzuziehen, nicht unterstützt hat. Die wichtige Frage ist: Inwieweit ist Biden bereit, die Sanktionen gegen Russland auf ein qualitativ anderes Niveau zu heben? 


    „Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören“

    Dimitri Trenin, Politikwissenschaftler, Leiter des Moskauer Carnegie-Zentrums

    Unter Trump haben die Beziehungen zwischen den USA und Russland einen neuen Negativ-Rekord erreicht. Seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre war das Niveau nie so schlecht wie heute. Doch die Grenze oder der Tiefpunkt sind noch nicht erreicht, wir bewegen uns weiter in diese Richtung. Präsident Putin bezeichnet den Handel als ein Plus, doch der findet in beiden Richtungen nur noch minimal statt. Außerdem haben die US-amerikanischen Sanktionen den Handel russischer Firmen mit ihren wichtigsten Partnern behindert.

    Dafür sind wir in keine direkte Auseinandersetzung mit amerikanischen Streitkräften geraten, obwohl das nicht unwahrscheinlich war. 
    Sehr unerfreulich war für Russland, dass es während der vergangenen vier Jahre zum Objekt der amerikanischen Innenpolitik wurde. Wer Verbindungen zu Russland unterhielt, wurde zum Prügelknaben – vor allem die Republikaner mussten dafür einstecken. Aber auch sie verhielten sich hart gegenüber Russland, um mit den Kollegen mitzuhalten.

    Unter Biden wird die Konfrontation nicht aufhören und noch heftiger werden.

    Das Unangenehmste für Russland, was unter Biden geschehen könnte: Durch ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag könnten die USA in Europa riesige Raketen aufstellen, die auf die Zerstörung strategischer Zentren und Objekte in Russland zielen. Wichtige Stützpunkte und das russische Atomwaffenarsenal selbst wären dann drei bis fünf Flugminuten von Polen entfernt. Auf US-amerikanische Raketen zu reagieren wäre praktisch unmöglich. Das kann gefährlich sein und könnte dazu führen, dass Russland zur Ausarbeitung eines Präventivschlags übergeht. Im Ernstfall wird Russland nicht warten, bis eine Rakete fliegt, sondern wird als erstes zuschlagen, was die Situation auf der ganzen Welt angespannt macht. Das ist die größte militärische Gefahr. 

    Das Gute ist, dass die Rhetorik von der russischen Einmischung verstummen könnte. Sie wird nicht ganz verschwinden, aber sie wird nicht mehr so im Vordergrund stehen. 


    „Beide Länder verstehen sich als Imperien – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung“

    Nina Chruschtschowa, Politikwissenschaftlerin, New School, New York, Original

    Die Probleme in den russisch-amerikanischen Beziehungen sind deutlich gravierender als die Beziehungskrise zwischen den Länderchefs, unabhängig von ihrer persönlichen Politik. Beide Länder verstehen sich als Imperien, die im Zentrum des Weltgeschehens stehen – für dieses Problem gibt es keine einfache Lösung.

    Amerika – die strahlende „City upon a Hill“, die „große Demokratie“ und so weiter (Trumps Verkünden der amerikanischen Überlegenheit war keineswegs etwas Neues) – braucht es, dass alle die USA als überlegen anerkennen und so werden wollen wie sie. Russland besteht seit Jahrhunderten darauf, dass es eine Weltmacht und keine Regionalmacht ist (Obama hat Putin mit dieser Bezeichnung nach der Krim-Annexion schwer verletzt), und wird hinter niemandem herlaufen. Kopieren ja, wenn es um politische Formeln, Kino, Food Courts und so weiter geht. Aber die amerikanische Überlegenheit anerkennen – auf keinen Fall.

    Alle „Großmächte“ brauchen einen „Großfeind“. Für Russland ist das Amerika – und umgekehrt genau so.

    Ich habe viele Jahre als wissenschaftliche Assistentin für George Kennan gearbeitet, den berühmten amerikanischen Diplomaten, der US-Botschafter in der UdSSR und Philosoph des Kalten Kriegs war. Der hat gesagt, dass Russland und die USA Spiegelbilder seien. Beide Länder leiden unter einem Größen- und Heilsbringer-Komplex.

    In seiner Siegesansprache hat Biden gesagt, dass er die „Seele Amerikas heilen“ will. Diese Seele war unter jeder Administration die eines Messias. Der mit fast 78 Jahren gewählte Präsident Biden wird wohl kaum seine außenpolitischen Ansichten ändern, die sich in Zeiten der Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA geformt haben. Und Putin ist selbst genug Messias, mit ebensolchen internationalen Ambitionen.

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  • Sound des belarussischen Protests

    Sound des belarussischen Protests

    „Kak oschtschuschtschenija?“ (dt. „Wie ist die Stimmung?“) rufen die Demonstranten in Richtung des belarussischen Präsidentenpalastes und tanzen zu den Beats von DJ Papa Bo – inmitten eines riesigen Protestmarsches. Diese Frage greift auch die Band Rasbitaje serza pazana (dt. Das gebrochene Herz eines Homies) in ihrem neuen Kultclip auf. Dort singt sie in Anspielung auf die bizarren Bilder von Lukaschenko mit Sturmgewehr: „Hubschrauber gelandet, wollte alle abknallen; Kolja in Kampfmontur; Stimmung: geht so!“ 

    Auch an diesem Sonntag, dem 13. September, marschierten wieder über hunderttausend Menschen nicht nur in der Hauptstadt von Belarus – und das trotz massiven Gewalteinsatzes seitens der Silowiki und zahlreicher Festnahmen bereits vor dem eigentlichen Beginn. Am Vortag des geplanten Treffens zwischen Lukaschenko und Putin in Sotschi zeigten die Demonstranten, dass von einem Abflauen der Proteste nicht die Rede sein kann.

    Mit dabei waren zahlreiche Musiker mit Trommeln und anderen Instrumenten. Musik spielte in der belarussischen Protestkultur schon immer eine zentrale Rolle. Meduza hat einen aktuellen Soundtrack der Revolte zusammengestellt.

    Der musikalische Protest-Slogan in Belarus ist und bleibt – wie übrigens die letzten dreißig Jahre im gesamten postsowjetischen Raum – Viktor Zois Song Peremen (dt. Veränderung). Doch auch die belarussische Musikszene, die sich über all die Jahre unter ein und demselben autoritären Regime entwickelt hat, hat etliche Helden und Hymnen hervorgebracht, die das Volk zusammenschweißen. Wir haben hingehört, worüber Belarus derzeit singt, und können nur bestätigen: Veränderung ist gefragt wie noch nie.  

    Max Korzh: Wremena (Zeiten), Teplo (Wärme)

    Als in Minsk massenhafte und unverhältnismäßig brutale Festnahmen in vollem Gange waren, appellierte der berühmteste Rapper von Belarus Max Korzh etwas ungeschickt auf Instagram, die Protestierenden sollten bitte aufhören. Später erklärte er: nur für einen Tag, um Blutvergießen zu verhindern. Er wurde zu wörtlich genommen und kritisiert. Parallel dazu veröffentlichte Korzh gleich zwei neue Lieder. Ohne direkte Aussagen, aber die Anspielungen sind klar. In Wremena singt er, dass „die Freiheit jetzt teurer als Gold“ sei, und in Teplo von einem alten Weisen, der den Menschen die Sonne wegnimmt, damit „gar niemand erst ein Problem sieht und alles seine Ordnung hat“. Am 15. August kam der Musiker zum Gefängnis Okrestina, wo Demonstranten, die auf Protestaktionen verhaftet wurden, festgehalten (und grausam misshandelt) werden, und er nahm am Abschied von Alexander Tarajkowski teil, der bei der Auflösung der Demonstration an der U-Bahnstation Puschkinskaja umgekommen war.



    Petlja Pristrastija (Schlinge der Leidenschaft): Norma (Norm)

    Eine der großartigsten belarussischen Rockbands der Gegenwart zeichnet klarer als viele andere die stillen Grässlichkeiten des postsowjetischen Alltags und hat sich noch nie durch einen besonders optimistischen Blick auf die Welt hervorgetan („Ich glaube an Gomorrha, ich glaube an Sodom, an ein besseres Morgen glaub ich aber kaum“). Erst im Frühling haben sie die erschreckende Antiutopie der heranrollenden totalitären Gesellschaft in einen Song verpackt. Damals wurde das Lied eher in Verbindung mit der Coronavirus-Pandemie gebracht, jetzt wird es zur Unterstützung der Protestbewegung verwendet.

    Naka featuring Dzieciuki, Petlja Pristrastija, Rasbitaje Serza Pazana (Das gebrochene Herz eines Homies) und Rostany: Wam (Für euch)

    Der Leader von Petlja, Ilja Tscherepko-Samochwalow, machte auch bei einem Projekt der Minsker Gruppe Naka mit: bei einem Lied zum Gedicht des dissidentischen Lyrikers Wladimir Nekljajew, in dem dieser zornig alle anprangert, die dem Regime dienen. Diese Zeilen wurden schon 2010 verfasst, als Nekljajew eine Kandidatur als Präsident von Belarus riskierte (allerdings wurden sie erst zehn Jahre später unters Volk gebracht). Sofort nach der Abstimmung wurde Nekljajew verprügelt, der Organisation von Massenunruhen beschuldigt und verhaftet. Für seine Befreiung setzten sich die EU und die USA ein. In der Folge wurde die Anklage gegen Nekljajew abgemildert, er wurde zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.

    Dai darohu! (Aus dem Weg!): Baju-bai (in etwa: Heia popeia)

    Die Punkband aus Brest singt dieses Lied, eine Reaktion auf die Festnahme der oppositionellen Präsidentschaftskandidaten, aus der Sicht eines Bullen, dessen Ziel es ist, den Gefängnistransporter vollzukriegen – sein schlimmster Albtraum ist ein Machtwechsel. Der Clip sieht aus wie die Zombie-Apokalypse: Der Bulle jagt im Mähdrescher friedliche Bürger übers Feld, OMON-Männer verprügeln eine Rentnerin und führen teuflische Tänze auf, und am Ende ergeben die gemähten Streifen im Feld ein infernales Porträt des Batka.  
    In der Nacht auf den 16. August wurde der Leader von Dai dorogu!, Juri Stylski, in Brest verhaftet – er hatte tags zuvor eine Kolonne von mehreren tausend Menschen angeführt, die durch die ganze Stadt marschierte, und das live auf Instagram gesendet.

    Sirop (Sirup): Rodina (Heimat), Spasibo, Sascha (Danke, Sascha)

    Der Rapper Alexej Sagorin, ehemaliger Wiederholungstäter und Gründungsmitglied der Band Ljapis Trubezkoi, macht kein Hehl aus seiner oppositionellen Haltung zur Staatsmacht. Vor den Präsidentschaftswahlen nahm er einen Track auf mit Motiven aus Juri Schewtschuks Rodina. Im Videoclip zieht Sirop als Tod verkleidet durch Minsk, in dem das Volk demonstriert, und bleibt vor dem Präsidentenpalast stehen. Danach folgte der Song Spasibo, Sascha, in dem der Musiker von seinem schweren Leben in Belarus erzählt. 

    Tor Band: My ne narodez (Wir sind kein Völkchen)

    Die junge Rockband aus Rogatschew schreibt geradlinige und simple, aber ins Schwarze treffende Agitationslieder mit den klassischen Losungen Uchodi (Geh weg) und Shiwe (Es lebe). Mit diesem Lied reagieren die Musiker auf eine der kränkendsten Beleidigungen seitens des Präsidenten, der die Belarussen als Völkchen bezeichnete, als sie wegen Gerüchten über einen möglichen Wertverlust massenhaft Devisen aufkauften.

    Naviband: Inschymi (Als andere)

    Ein Eurovision-Teilnehmer aus Belarus: 2017 war Naviband die erste Gruppe in der Geschichte des Wettbewerbs, die ein Lied in belarussischer Sprache sang. Xenija Shuk und Artjom Lukjanenko betonen immer, dass sie mit Politik nichts am Hut haben. Aber jetzt sind auch sie „als andere aufgewacht“. „Wir können diese Brutalität und Gewalt gegen ganz normale Menschen nicht fassen. Wir kriegen Angst. Dazu kann man nicht mehr schweigen!“, kommentierten die Musiker ihre neue Single.

    Steny ruchnut (Mauern stürzen ein)

    Der Song, mit dem jede Veranstaltung von Swetlana Tichanowskaja endet, hat eine lange Protestgeschichte. Er wurde 1968 vom katalanischen Sänger Lluís Llach als Reaktion auf die Franco-Diktatur geschrieben. Zehn Jahre später übersetzte ihn der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski, und unter dem Namen Mury wurde er zur Hymne der Solidarność. Die belarussische Version stammt vom Musiker Dimitri Woitjuschkewitsch und dem Dichter Andrej Chadanowitsch und wurde erstmals bei den Dezemberprotesten nach der Präsidentschaftswahl 2010 auf dem Unabhängigkeitsplatz präsentiert. Es gibt auch eine russische Version, 2012 von der Moskauer Band Arkadi Koz geschrieben. Auf Tichanowskajas Kundgebungen hört man sowohl die russische, als auch die belarussische Version. Wobei es von zweiterer eine Aufnahme mit der Stimme von Tichanowskajas Mann Sergej gibt, der bei den Wahlen kandidieren wollte und während des Wahlkampfes festgenommen wurde. Um die Hymne zu modernisieren, gab die Postpunk-Band Akute aus Mahiljou kürzlich ein Cover von Mury mit neuer Musik heraus. 



    Sergej Michalok: Woiny sweta (Krieger des Lichts), Grai (Spiel)

    Paraphrasiert man einen alten sowjetischen Witz, dann ist Alexander Lukaschenko ein unbedeutender Politiker in der Ära Sergej Michalok. In der Regierungszeit des belarussischen Präsidenten hatte Michalok schon drei verschiedene Bands (Ljapis Trubezkoi, Brutto, Drezden) und wechselte mehrmals gründlich sein Image, doch blieb er immer ideeller Gegenspieler von Lukaschenko. Schon vor zehn Jahren nannte er nach den Wahlen den Präsidenten unverblümt einen Lügner, Dieb und Hinterwäldler, wofür er von der Staatsanwaltschaft vorgeladen wurde und emigrieren musste.  
    Belarus Freedom, Woiny sweta, Grai, Soratschki (Sternchen), Ne byz skotam! (Kein Vieh sein!) – die Lieder Michaloks sind längst fest im kulturellen Code der belarussischen Nation verankert.



    N.R.M.: Try tscharapachi (Drei Schildkröten)

    N.R.M. ist eine weitere, für die belarussische Kultur extrem wichtige Rockband aus Minsk, die nicht nur einmal auf den schwarzen Listen der Behörden landete. Ihr Name ist die Abkürzung für Nesaleshnaja Respublika Mroja – unabhängige Traumrepublik.   
    Der bekannteste Hit der Band handelt von drei Schildkröten und erklingt regelmäßig bei Protestaktionen. Vor Kurzem trafen sich die Bandmitglieder, die zehn Jahre nicht miteinander gesprochen hatten, wieder in ihrer klassischen Besetzung im Studio und spielten dieses Lied. „Wir haben die Solidarität des belarussischen Volkes gesehen, den inspirierenden Zusammenhalt der Menschen als Antwort auf Ungerechtigkeit. Wir haben Leute gesehen, die auf den Straßen Try tscharapachi sangen und beschlossen, auf unsere Art Einheit zu demonstrieren“, erzählte der ehemalige Frontman von N.R.M., Lavon Volski.




    N.R.M.-Gitarrist Pit Paulau „stürmt“ den Präsidentenpalast in Minsk

    Peremen

    Noch mal zurück zu Zoi. Peremen ist im belarussischen Radio seit vielen Jahren verboten. Umso häufiger wird der Song von Autofahrern aufgedreht und von Straßenmusikern gesungen. Am wirkungsvollsten war seine Verwendung für den Wahlkampf 2020 bei einer regierungsfreundlichen Veranstaltung am 6. August auf dem Kiew-Platz in Minsk, die anberaumt wurde, um eine geplante Kundgebung von Tichanowskaja zu vereiteln. Als Zeichen des Protests drehten die Tonmeister Kirill Galanow und Wladislaw Sokolowski plötzlich eine Aufnahme der Band Kino auf und hielten weiße Bänder hoch. Das Publikum reagierte auf ihre Zivilcourage mit Beifall. Nach ungefähr einer Minute machte der Vorsteher des Minsker Stadtbezirks Zentralny Dimitri Petruscha den Ton aus. Am nächsten Tag bekamen die jungen Männer je zehn Tage Haft für minderschweres Rowdytum und Ungehorsam gegen Amtspersonen.



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  • „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    „Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden“

    In Deutschland wurde Regisseur Ilja Chrshanowski bekannt, als er 2018 für die Premiere seines Filmprojekts Dau die Berliner Mauer temporär wieder errichten wollte. Das Projekt scheiterte, zwei Dau-Filme wurden in Deutschland schließlich im Februar 2020 auf der Berlinale gezeigt, ohne wiedererrichtete Mauer. 
    Aber auch in Russland und in der Ukraine polarisiert der international erfolgreiche Künstler und Filmemacher, der derzeit an einem Konzept für das Museum von Babyn Jar arbeitet, wo 1941 knapp 33.000 Jüdinnen und Juden von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
    Im Interview mit Meduza spricht Ilja Chrshanowski über seine Kindheit unter Künstlern und Dissidenten, über „sowjetischen Geruch”, den die russische Gesellschaft bis heute ausströme, und das Museum als Ort einer emotionalen Erfahrung.  

    Meduza: Erzählen Sie von Ihrer Familie und der Umgebung, in der Sie aufgewachsen sind.

    Ilja Chrshanowski: Geboren bin ich in der Familie des Filmregisseurs Andrej Chrshanowski und der Philologin Maria Nejman. Ich war ein spätes Kind, für sowjetische Verhältnisse sogar extrem spät – meine Eltern waren 35 und 36 Jahre alt.   
    Und offenbar hatten sie so lange auf mich gewartet, dass sie sich dann nicht mehr von mir trennen wollten und mich überallhin mitnahmen – was für mich natürlich ein absolutes Glück war. Das war mir schon damals klar, aber jetzt schätze ich das noch mehr. Weil ich die ganze Zeit mit meinen Eltern verbrachte, hatte ich bis 13 praktisch keine eigenen Freunde, sondern war vor allem mit den Freunden meiner Eltern befreundet. Wenn ich heute auf diese Situation zurückblicke, verstehe ich es als riesiges Geschenk, von diesen wunderbaren Menschen umgeben zu sein, etliche von ihnen wahre Größen ihrer Zeit, und dadurch habe ich eine andere Beziehung zu Zeit. 

    Ich war vor allem mit den wunderbaren Freunden meiner Eltern befreundet

    Mein Taufpate, der Schriftsteller Sergej Alexandrowitsch Jermolinski, wurde 1900 geboren. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und schrieb einen Brief an Lew Tolstoi, der, wie Sie wissen, ziemlich viele Briefe bekam. Doch Tolstoi antwortete ihm und erklärte dem 10-Jährigen lang und breit, warum er doch besser kein Schriftsteller werden solle, was das für eine schwere und schwierige Arbeit sei. Trotzdem wurde Sergej Alexandrowitsch Schriftsteller und einer der ersten sowjetischen Drehbuchautoren. Viele Jahre lang war er eng mit Bulgakow befreundet. 
    Das alles wurde ihm zum Verhängnis: Er wurde verhaftet, man verlangte von ihm, Bulgakow zu denunzieren, gegen seine Freunde auszusagen, doch er unterschrieb nichts und lebte noch sehr lange. Er und seine Frau Tatjana Alexandrowna Lugowskaja, die Schwester des Dichters Wladimir Lugowski, waren mit meinen Eltern befreundet. 
    Im Haus von Jermolinski und Lugowskaja wurden gern Feste gefeiert – Namenstage und Geburtstage, dort fanden sich immer illustre Gäste ein: die Kulturszene und die echte Intelligenzija jener Zeit. 

    Ihre Begegnung mit dem Millionär Sergej Adonjew – ist das die Fortsetzung einer Reihe von nützlichen und wichtigen Bekanntschaften, die in Ihrer Kindheit begonnen hat, oder ist das eine eigene Geschichte?

    Na ja, das Leben nahm seinen Lauf, und man begegnet verschiedenen Menschen unter unterschiedlichen Umständen. Sergej Adonjew lernte ich zufällig kennen. Mein Freund, der Restaurantbetreiber Iljuscha Demitschew, der seit ein paar Jahren in London lebt und dort fabelhafte Restaurantprojekte vorantreibt, hat im Wissen, dass es bei dem Film Dau Finanzierungsschwierigkeiten gab, einer gemeinsamen Bekannten davon erzählt – Uljana Zejtlina. Und die wiederum hat Sergej Adonjew getroffen, und als im Gespräch der beiden das Thema Kunstförderung, Kulturförderung aufkam, erzählte sie ihm von Dau. Sergej sagte, er habe den Film 4 gesehen, der habe ihm gut gefallen und er wolle mich kennenlernen. 

    Sergej Adonjew unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung

    Sergej ist ein außergewöhnlicher, geradezu genialer Mensch, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Denn ich habe in meinem Leben schon viele Genies gesehen, Gott sei Dank, als Kind, aber auch als Erwachsener. Sergej hat eine enorme persönliche Gabe, diese Welt zu sehen und zu spüren. Er ist ein einflussreicher Mann und hat einen besonderen Einfluss. Er wirkt auf das Bewusstsein der Menschen, die in seine Nähe kommen. Das Leben dieser Menschen verwandelt sich dann irgendwie, verändert sich. Dass Sergej über Geldsummen verfügt, ohne die Dau und viele andere Kulturprojekte in Russland undenkbar wären, ist gar nicht das Entscheidende. Er unterstützt einzigartige Projekte – und die Leute, die mit ihm arbeiten, gewinnen obendrein Inspiration aus dieser Beziehung. Ich bin überzeugt, dass wir uns der Bedeutung von Sergejs Einfluss auf die heimische Kultur in Zukunft noch bewusst werden.  

    Führen Sie Ihre Zusammenarbeit mit Adonjew also auf einen Zufall zurück und nicht auf die Tatsache, dass Sie in bestimmten Kreisen reicher Menschen verkehrten?

    Natürlich, weil ja die Intelligenzija, wie Sie wissen, nie Berührungspunkte mit der Welt der sogenannten Reichen hatte. Schon zu Tschechows Zeiten wurden Geschäftsleute von der Intelligenzija verachtet, und in der Sowjetunion wuchs sich der Spalt zwischen Intelligenzija und Geschäftswelt zu einem Abgrund aus. 
     
    Was hat Sie an der Persönlichkeit Lew Landaus so beeindruckt, dass Sie beschlossen, ihm einen Film und in weiterer Folge ein ganzes Projekt zu widmen? Kann man sagen, dass die Zeit, in der die Handlung von Dau angesiedelt ist, 1938 bis 1968, gewissermaßen eine wichtigere Rolle spielt als die Figur Landaus? 

    Es fügte sich alles ineinander: Mich hat schon immer das Phänomen des sowjetischen Bewusstseins interessiert, des sowjetischen Menschen, des sowjetischen Genotyps. Nach der Katastrophe des Jahres 1917 wurde ein bestimmter Genotyp des Sowjetmenschen entwickelt, dem wir alle mehr oder weniger angehören. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist, ist es schwer, damit umzugehen und – wie ein berühmter Schriftsteller es nannte – Tropfen für Tropfen diesen Sklaven aus sich herauszupressen. Anders schafft man es nicht, ihn aus sich herauszupressen. Man darf nicht so tun, als hätte man ihn nicht in sich. Ich finde das Thema des sowjetischen mentalen Sklaventums sehr interessant.

    Man darf nicht so tun, als hätte man man den sowjetischen Sklaven nicht in sich

    Hinzu kommt der Eindruck, den Landau bei mir als Kind hinterlassen hat, als ich ein Buch über ihn las, und später als Jugendlicher die Memoiren seiner Frau Kora. An alldem faszinierte mich in erster Linie dieser absolut freie und interessierte Mensch, der sein Leben abgesehen von der Wissenschaft der Frage widmete, was Glück ist und wie das Glück des Einen das Unglück des Anderen sein kann. 
    Landau war ein Mensch, der alles hatte, von Kind an wusste er, dass er ein Genie war, und auch alle anderen wussten, dass er ein Genie war. Er war immer sehr erfolgreich – bis auf eine dramatische Episode, wo er ein Jahr im Gefängnis saß, aber auch daraus wurde er befreit, konnte sich retten. Er wurde von den Frauen geliebt und von allen bewundert. Was ist Glück für so einen Menschen? Was ist Freiheit für so einen Menschen, für so einen Persönlichkeitstyp? Das war der Ausgangspunkt. 
    Doch dann kamen wir davon ab, Landaus Biografie zu verfilmen, weil es unmöglich ist, einen historischen Film zu machen, ohne ihn sich auszudenken, und wir wollten ihn uns nicht ausdenken, wir wollten ihn gewissermaßen herausbilden. Deswegen gibt es in diesem Projekt zwar einige Motive aus dem Leben Landaus und anderer Physiker, doch hat das alles nichts zu tun mit ihnen.  

    War Ihre Familie vom Stalinistischen Terror betroffen?

    Natürlich. Es gibt keine Familie, die nicht betroffen war.

    Das passierte auf verschiedene Arten. Wurde Ihre Wahrnehmung der damaligen Zeit innerhalb der Familie geprägt oder waren es die unzähligen Freunde Ihrer Eltern, die Ihnen ihre Erinnerungen mitgeteilt haben?

    Ich habe bereits meinen Taufpaten erwähnt, der inhaftiert gewesen war und sein Leben lang Angst vor der Polizei hatte. Und mein Vater hat eben jahrelang nicht gearbeitet, weil man ihm das verboten hatte. 
    1968 machte er den Film Die Glasharmonika und fuhr damit just an dem Tag, an dem unsere heldenhaften Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten, zu Goskino. Mit dem Ergebnis, dass der Film verboten wurde. Sie stellten ihn ins Regal, die erste Version vernichteten sie einfach, indem sie sie im Hinterhof des Filmstudios mit einer Axt in Stücke schlugen. Und Papa schickten sie, „damit er das Volk näher kennenlerne“, für zwei Jahre zur Marineinfanterie an Kampfschauplätze. Und das waren schon eher vegetarische Zeiten. Die Brüder meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters, saßen an die 20 Jahre in sowjetischen Gefängnissen. 

    Die Angst vor dem KGB war immer Teil des Lebens der Intelligenzija

    Meine Großeltern sind in der Kommunalka gestorben, in der nebenan Spitzel wohnten, Amateurspitzel oder tatsächliche Sicherheitsbedienstete von Stalin. Mein Großvater ist niemals irgendwelchen Vereinigungen von Künstlern, Schauspielern oder Theaterleuten beigetreten, zu denen er eingeladen wurde, weil er mit dem sowjetischen System nichts zu tun haben wollte. Er hatte bei Filonow, Malewitsch und Petrow-Wodkin gelernt und war ein absolut freier Mensch, aber eben frei auf dem abgesteckten Gebiet seines persönlichen Lebens und seiner Seele.
    Wir alle sind mit diesem Leben fest verbunden. Ich weiß noch, wie sie mir als Kind auf der Straße den Ermittlungsbeamten Chwat zeigten, der Meyerhold gefoltert hat. Und wir alle kennen Meyerholds berühmten Brief, in dem er beschrieb, was sie im Gefängnis mit ihm machten. Ein sehr enger Freund meines Großvaters war Erast Pawlowitsch Garin, ein Lieblingsschüler von Meyerhold, der sein Leben lang litt und die Tragödie um Meyerhold nicht überwinden konnte. Die Angst vor dem KGB in seinen verschiedenen Ausformungen war immer Teil des Lebens der Intelligenzija.

    Wie ist der Genotyp des Sowjetmenschen, den Sie mit Dau erforschen, entstanden und wie hat er sich etabliert?

    Er ist über all die Jahre hindurch herangereift. Das ist ein langer Prozess – das ist ja das Entsetzliche. Nazideutschland existierte nur 13 Jahre, und sie sind noch immer damit beschäftigt, es hinter sich zu lassen. Die Sowjetmacht war 70 Jahre am Ruder. Bürgerkrieg, Repressionen, Terror, Emigration, Großer Terror, Zweiter Weltkrieg, wieder Terror, Emigration, Emigration – alles Gute in diesem Land wurde vernichtet, es war ein Genozid am eigenen Volk.  
    Diejenigen, auf die unsere Kultur jetzt stolz ist, wurden in diesem Land vernichtet und misshandelt: Denken Sie nur daran, wie Sacharow gejagt wurde, was mit Solshenizyn passierte, wie Anatoli Efros gehetzt und hereingelegt wurde, wie Pasternak, Achmatowa, Soschtschenko, Sabolozki und viele andere sekkiert wurden, was sie mit Schostakowitsch machten, dass der Arme sogar zum Parteibeitritt gezwungen wurde, in so einer Angst lebte er und freute sich noch, dass sie ihn nicht einsperrten. Und wer hat all diese Schriftsteller und Künstler angeschwärzt? Ihre Kollegen! Und genau das ist der Genotyp. Das haben nicht irgendwelche anderen Leute gemacht, das haben dieselben Leute gemacht, die dann überlebten und stolz waren auf ihre Errungenschaften. Das ist alles ein Teil unserer gemeinsamen Geschichte, des Leids und des Traumas. 
    Und dieser sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus. Und um ihn loszuwerden, müssen wir verstehen, was da war. Dau ist ein Teil der Erforschung dieses Genotyps.

    Sie haben die Arbeit an Dau mit 30 Jahren begonnen und waren die nächsten 15 Jahre mit diesem Projekt beschäftigt. Generell ist das eine der aktivsten und produktivsten Phasen im Leben eines Menschen. Hätten Sie diese Jahre besser verbringen können?

    Nein, besser hätte ich sie nicht verbringen können. Ich bin absolut glücklich über die Möglichkeit, dieses Projekt zu machen, wie schwierig es auch sein mag, welche Reaktionen es auch immer hervorgerufen hat und welche Schwierigkeiten es mitunter in mein Leben bringt. Es ist ein absolutes Glück, dass mir die Möglichkeit zuteil wurde, dieses Projekt zu machen, dass mir das Glück zufiel, die Menschen zu treffen, mit denen ich dieses Projekt gemeinsam gemacht habe. Zum einen war es eine große Mühe, zum anderen ein großes Glück. 

    Der sowjetische Geruch ist noch nicht verschwunden, wir riechen immer noch danach, strömen ihn aus

    Und ich bin mir sicher, dass es, egal wie es jetzt aufgenommen wird, ein langes Leben haben wird. Es wird eine gewisse Bedeutung haben für jene, die etwas erfahren wollen über das Leben, über die Zivilisation, über die Mechanismen, in denen wir heute leben. 

    Wer hat Ihnen angeboten, das Projekt des Museums Babyn Jar zu leiten und warum?

    Von diesem Projekt hat mir Michail Fridman erzählt. Und ich war eine der Personen, mit denen die Mitglieder des Aufsichtsrats besprachen, wie man diese tragische Geschichte erzählen und emotional vermitteln kann, welche Sprache es dafür braucht. 
    Diese Geschichte ist mir nicht fremd. Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie, erst recht in jeder jüdischen, war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama – nämlich aufgrund dessen, was mit Leuten passiert ist, die das Gedenken dieser Tragödie aufgreifen wollten. Der Schriftsteller Viktor Nekrassow etwa war einer, der damit begann, sich für dieses Gedenken einzusetzen, und so wie viele andere musste er dafür büßen. Übrigens, der Vorsitzende unseres Aufsichtsrats, [der Bürgerrechtler] Natan Schtscharanski, wurde erstmals auf dem Weg zu einer Kundgebung im Rahmen von Babyn Jar verhaftet. 

    Meine Mutter wurde in der Ukraine geboren, überlebte durch ein Wunder den Holocaust, und auch ich war einige Zeit in der Ukraine, für mich ist das kein fremdes Land. Deswegen habe ich, wie mir scheint, das Recht, dieses Projekt in Augenschein zu nehmen, mir Gedanken darüber zu machen. Zuerst fuhr ich dort allein hin, dann auf Einladung des Aufsichtsrats zusammen mit einem hervorragenden Schriftsteller, dem Autor des Romans Die Wohlgesinnten, Jonathan Littell, um das Projekt genauer kennenzulernen und zu besprechen, wie es weitergehen soll. So begann mein regelmäßiger Kontakt zu Mitgliedern des Aufsichtsrats. 

    Und dann begann eine Art freies Gespräch, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln könnte: Wie kann man ein Museum gestalten, das die Leute auch in 20, 50 und in 100 Jahren Jahren sehen wollen – wie seltsam das in Bezug auf einen derart tragischen Ort auch klingen mag –, um etwas zu klären und zu entdecken über sich selbst, für sich selbst, sich selbst zu erlauben, durch den Schmerz zu gehen. Schmerz und Leid sind nicht unbedingt ein sadistischer, quälender Akt, wie das in der physischen Welt so ist. Die Bereitschaft, Anteil zu nehmen an fremdem Schmerz und fremdem Leid, ist ein Weg zu seelischer Gesundheit, darauf bauen zumindest die meisten Religionen der Welt auf. 

    Im Leben jeder beliebigen zur Intelligenzija gehörigen Familie war Babyn Jar nicht nur eine Tragödie aus Kriegszeiten, sondern auch ein anschließendes Drama

    Allmählich gab es immer mehr Gespräche, ich redete mit anderen Kulturschaffenden, Künstlern, Philosophen über das Projekt. Dann stellte sich uns noch eine Frage: Was wird das Museum in Zukunft darstellen? Wenn man davon ausgeht, dass es in fünf, sechs Jahren gebaut wird, dann ist es in 30 Jahren immer noch ein neues Museum. Und schon jetzt muss man eine Sprache finden, die in der Zukunft gehört wird und aktuell ist. Unser Ziel war es, ein lebendiges Denkmal zu schaffen, nicht ein Denkmal im sowjetischen Sinn dieses Wortes. 

    Warum dieses Projekt Sie interessiert und Ihnen wichtig ist, ist klar, aber warum hat Michail Fridman Sie ausgewählt? Kannten Sie ihn schon?

    Mich hat nicht Fridman ausgewählt, sondern der Aufsichtsrat. Ja, wir kannten uns. Um genau zu sein, hat Fridman sich an mich gewandt. Und davor hat er, soweit ich weiß, meine Kandidatur mit dem Aufsichtsrat besprochen, von dem ich einige Mitglieder auch schon kannte. Fridman kenne ich aus London, wo ziemlich viele reiche Leute russischer Herkunft leben, während russischsprachige Menschen, die sich wirklich für Kultur interessieren, ja nicht so dicht gesät sind.  
    Fridman ist ein großer Kulturkenner, sehr interessiert. Als gründlicher Mensch verfügt er über ein enzyklopädisches Wissen über Literatur, Musik, Geschichte, und beim Film kennt er sich zum Beispiel viel besser aus als ich.  
    Natürlich war das Projekt Dau einer der Gründe, warum ich dorthin eingeladen wurde – immerhin ist das ein großer Teil meines Lebens. Wobei man hinzufügen muss, dass ich fast nie fremde Projekte gemacht habe, sondern immer nur meine eigenen. Aber hier war klar, dass das nicht einfach irgendein Projekt ist, sondern ein großes, komplexes, öffentliches Projekt, das man wie sein eigenes behandeln muss, während man gleichzeitig eine Riesenmenge Regeln aller Art beachten muss. 
    Im Endeffekt ist der Aufsichtsrat zu dem Schluss gekommen, dass ein solches Projekt eine künstlerische Leitung braucht. Mir wurde angeboten, mir Gedanken über die kreative Umsetzung zu machen. 

    Hat sich an der umstrittenen Reputation des Projekts Dau keines der Aufsichtsratsmitglieder gestoßen? Gab es welche, die gegen Ihre Kandidatur eintraten? Waren Sie mit irgendeiner Art Widerstand konfrontiert?

    Soweit ich weiß, wurde ich einstimmig ernannt. Man muss wissen, dass Dau in Europa, in England, Frankreich, Deutschland, in den USA einen gewissen Ruf als einzigartiges Kunstprojekt hat – bei allen Skandalen, die es rund um das Projekt gab.

    Was wird die hauptsächliche interaktive Methode des Museums Babyn Jar sein?

    Die grundlegende Methode hängt damit zusammen, dass es für jeden Besucher ein individuelles Erlebnis werden soll. Die Menschen sollen dort etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine, in Osteuropa wurde praktisch komplett vernichtet. Zu Beginn der 1940er Jahre war in Kiew jede vierte Familie jüdisch, somit wurde ein riesiger Teil des Lebens einfach ausgerottet und vernichtet.  

    Das heißt, die Welt, die jetzt existiert, ist eine andere: Kinder wurden nicht geboren, Wissen wurde nicht generiert, Werke wurden nicht erschaffen, wissenschaftliche Entdeckungen wurden nicht gemacht, es riecht nicht mehr so wie damals, das ganze Ökosystem menschlichen Lebens existiert nicht mehr. Das heißt, diese verlorene Welt muss man wahrnehmen, man muss sie spüren und lieben. Man kann nicht etwas lieben, ohne es wahrzunehmen, und man kann nicht mitfühlen, ohne zu lieben. 

    Die Menschen sollen im Museum von Babyn Jar etwas spüren und erfahren. Sie sollen ein Gefühl für diese Welt bekommen, die zerstört wurde – das jüdische Leben in der Ukraine

    Dafür muss eine Sprache, dahin muss ein Weg gefunden werden. Lieben, fühlen, erleben kann man nur durch Berührung. Und Berührung muss für ein 10-jähriges Kind anders aussehen als für einen 35-jährigen Erwachsenen oder einen 85-jährigen Greis, weil jeder von ihnen mit seiner eigenen Erfahrung ins Museum kommt. Dabei helfen uns moderne Technik und sogar sogenannte Big Data, mithilfe derer wir zu jedem in einer ihm verständlichen Sprache über das sprechen können, wozu er aufnahmebereit ist. 
    Mir schwebt vor, dass es die Aufgabe dieses Museums ist, den Menschen ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit der Welt zu vermitteln.

    Mit welchen Instrumenten wird das umgesetzt? Wie wollen Sie diese Erfahrung für Erwachsene und Kinder personalisieren? Wie werden die Big Data gesammelt?

    Beim Kauf der Eintrittskarte wird der Besucher im System registriert und wählt aus, in welchem Umfang er Zugriff auf seine Daten gewähren möchte. Das erlaubt es uns, seinen Rundgang individueller zu gestalten. Derzeit verfolgen wir die Idee, dass das Auswählen eine wichtige Rolle im Museum spielen wird. Während des Rundgangs dann wird der Besucher immer wieder Entscheidungen treffen und selbst bestimmen, was ihm als Nächstes begegnet. Die Geschichte dieses Museums ist eine Geschichte der Entscheidungen, denn in der ganzen Menschheitsgeschichte geht es um Entscheidungen. Manchmal um sehr kleine, unbedeutende, wo man gar nicht dazu kommt, [seinen Schritt] zu reflektieren, doch genau diese kleinen Entscheidungen ergeben zusammen eine große. 

    Bei der Präsentation bekommt man den Eindruck, dass die Museumsbesucher nicht nur Zuschauer und Beobachter bleiben, sondern an manchen nachgestellten Ereignissen unmittelbar teilnehmen. 

    Ja, aber man muss bedenken, dass wir in der Zeit des immersiven Theaters leben, der immersiven Projekte, Installationen, Performances, der Hologramme und Virtual Reality – all das ist eine Sprache der modernen Realität, und, in der Folge, Kultur. Die Wahrnehmung des Menschen hat sich verändert, das muss man sich eingestehen. Damit etwas in der Zukunft funktioniert, darf man es nicht nach den Mustern der Vergangenheit bauen. Sonst werden wir immer Autos der Marken WAS und SAS herstellen, und selbst wenn wir sie Lada oder Tawrija nennen, wird daraus kein Tesla. Stellen Sie sich einfach vor, dass das hier der Tesla der Museumswelt wird.

    Ich möchte, dass Sie verstehen: Mein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass ins Museum Babyn Jar Millionen von Menschen kommen. Wenn sie nicht kommen, heißt das, dass das Konzept nicht aufgegangen ist. Millionen Menschen kann man nicht dazu zwingen, irgendwo hinzukommen, sie müssen einen Grund und den Wunsch haben, das zu tun, und sie müssen wiederkommen wollen. 

    Stellen Sie sich einfach vor, dass Babyn Jar der Tesla der Museumswelt wird

    Ich glaube, es gibt solche Momente, solche Gelegenheiten, wo man etwas Originelles machen kann und soll, und nicht irgendetwas nach Schema F, einfach um es abzuhaken. Niemand wird in ein Museum gehen, in dem ihm in verstaubter Sprache erzählt wird, wie viele gute Juden von den bösen Deutschen getötet wurden. Das wird niemanden interessieren. Und das bedeutet, dass diese Lektion der Geschichte nicht verinnerlicht wird. 

    Es wird aber auch niemand in ein Museum gehen, in dem er ein psychisches Trauma erleiden kann. 

    Wie können Sie in einem Museum ein psychisches Trauma erleiden?

    Wenn Sie von Auswahlmöglichkeiten für die Besucher sprechen, die werden wahrscheinlich wählen müssen, für wen sie den nächsten fiktiven Zug machen: für einen Ordnungspolizisten, ein Opfer oder einen SS-Offizier. Ist das die Wahl, die man treffen muss?

    Nein, solche Entscheidungen sind gar nicht gefragt, sondern die Leute können schauen, wie bei ihnen selbst psychologische Mechanismen funktionieren. Ich glaube nicht, dass das traumatisieren kann, sondern das zeigt jedem, wo sich in seiner Seele jene Grenzen befinden, die er nicht überschreiten darf.  

    In Deutschland passierte der Völkermord nach der Weimarer Republik – nach einer freien, wunderbaren, großartigen Zeit. Auch die Menschen damals waren wunderbar, religiös, gläubig, kulturell gebildet. Was war da mit ihnen geschehen innerhalb weniger Jahre? Wie wurden sie zu jenen deutschen Jungs, die in ein paar Tagen zigtausende Menschen erschossen und ihren Opfern dabei in die Augen sahen? Was waren das für Ausgeburten der Hölle? Wie ist das passiert, wie passiert so etwas? Wie wurden wir zu jenem Volk oder jenen Völkern, die Millionen von Denunziationen schrieben? Wie wurden wir zu denen, die schwiegen? Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert.       

    Andererseits muss man versuchen, in sich selbst die komplizierte Mechanik des Verständnisses für das Andere und des Zugeständnisses der Rechte des Anderen zu entfalten. 

    Wie wurden wir zu denen, die das zuließen? Diese Mechanismen muss man vor allem in sich selbst erkennen, damit das nicht wieder passiert       

    Wir sehen, was jetzt in einer großen Anzahl sehr demokratischer europäischer Länder vor sich geht: An die Macht kommen Rechtsradikale. Man darf nicht vergessen dass auch Hitler demokratisch gewählt wurde, und Stalin wurde geliebt, während Sacharow im ganzen Land angefeindet wurde und nur wenige es verweigerten, Briefe gegen ihn zu unterschreiben. Und wieder ein paar Jahre später kamen hunderttausende Menschen zu seinem Begräbnis, und jetzt stellen sie ihm Denkmäler auf. 

    Wir kennen leider viele solcher Geschichten, aus diesen Geschichten ist auf jenem Territorium, das Sowjetunion hieß, das Leben gewebt. Deswegen glaube ich, dass die Konfrontation mit sich selbst, mit den eigenen Entscheidungen, kein Trauma ist. Ein Trauma ist es, wenn du in einer Situation bist, wo du ein Trauma, das du schon in dir trägst, nicht verarbeiten kannst, wo du ein zukünftiges Trauma nicht abwenden kannst. Darin liegt vor allem die Gefahr, weil dann die nächste Generation mit diesem Trauma zu tun haben wird.   

    Diese Übersetzung wurde gefördert mit Mitteln der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

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  • Weiß-Rot-Weiß ist der Protest

    Weiß-Rot-Weiß ist der Protest

    Die Flagge des belarussischen Protests ist weiß-rot-weiß. Warum? Woher kommt sie? Ein Überblick von Dmitry Kartsev, Meduza.


    Foto © tut.by

    Woher kommt die weiß-rot-weiße Flagge?

    Die weiße Flagge mit dem roten Streifen in der Mitte war einige Jahre die offizielle Flagge von Belarus. Anfang des 20. Jahrhunderts verwendeten die ersten belarussischen nationalen Kreise und Vereinigungen ein Fahnentuch mit ähnlicher Farbgebung. Einige zeitgenössische Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass belarussische Einheiten schon zu Zeiten des Großfürstentums Litauen und Polen-Litauens unter Bannern mit derartigen Farben gekämpft hätten.

    Die russische Februarrevolution 1917 gab der belarussischen Nationalbewegung einen enormen Schub. Erstmals tagten nationale Organisationen legal unter dieser Fahne.

    Im März 1918 wurde die Belarussische Volksrepublik ausgerufen, das weiß-rot-weiße Banner wurde zur Staatsflagge. Die Volksrepublik existierte nur wenige Monate, ein Großteil des Staates wurde von Deutschen okkupiert, doch die Fahne etablierte sich endgültig als nationales Symbol. Die danach entstehende Belarussische Sowjetrepublik hatte offiziell zunächst eine rote Flagge, später eine rot-grüne mit einem Ornament auf der linken Seite. Doch in Emigranten-Kreisen wurde die weiß-rot-weiße Flagge weiter verwendet.

    Nach dem Zerfall der UdSSR wurde die weiß-rot-weiße Flagge erneut zur Staatsflagge des unabhängigen Belarus. Im Referendum von 1995 stimmte jedoch eine Mehrheit für die Wiedereinführung der Flagge der Belarussischen Sowjetrepublik, allerdings ohne Hammer und Sichel und mit anderen kleineren Veränderungen.

    Warum wählt die Opposition diese Flagge?

    Das Referendum von 1995 war für Alexander Lukaschenko, der gerade ein Jahr im Amt war,  ein wichtiger Schritt zur Festigung seiner Alleinherrschaft. Neben der Flaggenfrage und der Festschreibung des Russischen als zweite Amtssprache stimmten die Bürger auch für das Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, und für eine angestrebte Integration mit Russland. Lukaschenko nutzte aktiv die damalige Sowjetnostalgie und sah die größte Bedrohung für sich im belarussischen Nationalismus. Mit einem weiteren Referendum im Folgejahr wurde Belarus praktisch zur superpräsidentiellen Republik (die EU und andere westliche Länder haben die Ergebnisse des Referendums nicht anerkannt).  
    Seitdem wird die weiß-rot-weiße Flagge von der Opposition verwendet, zunächst aus der national-patriotischen Richtung, mit der Zeit jedoch von allen, die sich gegen Lukaschenko positionieren. Nach der Wahl 2020 ist die Opposition auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit seit dem Amtsantritt von Lukaschenko. Daher ist es kein Wunder, dass die Flagge zum Symbol des Protests wurde. Interessanterweise sieht man – anders als bei den beiden ukrainischen Maidanprotesten oder den Protesten nach der belarussischen Präsidentschaftswahl 2010 – in diesen Tagen neben den weiß-rot-weißen Flaggen keine EU-Fahnen.

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    Der Crowdsourcing-Protest

    In der dritten Nacht in Folge ist es in Minsk zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. Der österreichische Osteuropa-Korrespondent Stefan Schocher berichtet auf Facebook, dass schwere Armee-Einheiten ins Zentrum verlegt worden sind: „Ob das eine Eskalations-Stufe ist oder eine Machtdemonstration auf verlorenem Posten, ist unklar“, so Schocher. „Es gab bereits starke Anzeichen, dass die Loyalität der Armee zum Regime in Frage steht. Die Armee einzusetzen, könnte sich für Lukaschenko also als Bumerang erweisen – die meisten Soldaten sind Präsenzdiener, Jungs aus dem Volk.“ So wie Schocher berichten auch zahlreiche Augenzeugen, dass die Sicherheitskräfte bemüht waren, kleinere Protestansammlungen immer wieder schnell zu zerschlagen. Es kam zu zahlreichen Festnahmen, die Menschenrechtsorganisation Viasna zeigt Bilder von Menschenmassen vor einem Minsker Gefängnis, die versuchen, etwas über den Verbleib von Angehörigen herauszufinden.

    Wie organisiert oder unorganisiert sind die Proteste – auch im Vergleich zum Protest nach der Wahl 2010? Und haben die Demonstranten wirklich eine Chance – wie lange wird Lukaschenko noch an der Macht bleiben? 

    Meduza hat darüber mit verschiedenen belarussischen und russischen Experten gesprochen. Und zeigt außerdem Fotos von der ersten Protestnacht in Minsk.

    Foto © Maxim S.
    Foto © Maxim S.

    Auch 2010 war die Opposition nach der belarussischen Präsidentschaftswahl zu Protesten auf die Straße gegangen, die aber von den Sicherheitskräften schnell niedergeschlagen wurden. Warum ging es dieses Mal nicht genauso glatt?

    Rygor Astapenja, Politologe, Stipendiat der Robert-Bosch-Stiftung bei Chatham House (London) und Forschungsdirektor am Zentrum für neue Ideen (Belarus)
    Seit 2010 hat sich die Protestplanung stark verändert. Jetzt sind die Proteste unorganisiert, autonom, man könnte sagen, wie Crowdsourcing. Das Regime wiederum musste plötzlich erkennen, dass seine Ressourcen begrenzt sind und es nicht alle Kräfte zusammen einsetzen kann. Es war genötigt, erst auf den einen Protestherd zu reagieren, dann auf den nächsten, dann wieder den nächsten … Die Regierung war einfach nicht auf diese Art von Protesten vorbereitet, bei denen die Sicherheitskräfte über ganz Minsk verteilt werden müssen; und außerdem muss man sich nicht nur um Minsk kümmern, sondern um viele Städte in ganz Belarus.

    Jetzt sind die Proteste unorganisiert, autonom, man könnte sagen, wie Crowdsourcing

    Daher fiel die Reaktion des Regimes in mehrfacher Hinsicht sogar noch brutaler aus als früher. Wasserwerfer, Blendgranaten, Gummigeschosse – das hat es früher nicht gegeben. Doch letztendlich hat das den Unterschied zur Situation 2010 nur deutlicher gemacht: Lukaschenko ist nicht mehr der allgemein anerkannte, populäre Führer, vor allem seit gestern [dem Wahltag 9.8.2020 – dek] nicht mehr.

    Foto © Maxim S.
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    Artyom Shraibman, politischer Beobachter aus Minsk
    2010 hatten es die Sicherheitskräfte einfacher, weil sich die Unzufriedenen alle an einem Ort im Minsker Stadtzentrum versammelt hatten, neben dem Parlamentsgebäude. Als die Demonstration aufgelöst werden sollte, hatten zwei Drittel der Menschen den Ort schon verlassen. 

    Diesmal waren die OMON-Einheiten und anderen Sicherheitskräfte nicht nur über Minsk verteilt, sondern im ganzen Land. Viele waren damit beschäftigt, die Menschen von den Wahllokalen wegzujagen, die dort eine ehrliche Stimmauszählung forderten. Der Widerstand war diesmal stärker: Ich kann mich nicht erinnern, dass 2010 ernsthaft versucht wurde, sich zu widersetzen. Jetzt liegen einige Dutzend Angehörige der OMON-Einheiten im Krankenhaus, auf vielen Videos ist zu sehen, wie Demonstranten andere Protestierende verteidigten oder sie den Sicherheitskräften wieder entrissen. Und wenn es mehr Demonstranten als OMON-Leute gab, gingen erstere zum Gegenangriff über: Als Antwort auf die Schlagstöcke flogen Flaschen.

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    Die organisierte Opposition steht nur in mittelbarer Verbindung zu diesen Protesten. Die meisten Oppositionsführer sind schon vor den Wahlen hinter Gitter gewandert, der Wahlkampfstab von Swetlana Tichanowskaja nahm nicht Teil, koordinierte nicht, organisierte nicht und hat sich den Protesten jetzt nicht direkt angeschlossen. Wenn die Unzufriedenen auf die Straße gehen, dann folgen sie vor allem Aufrufen von Bloggern über Telegram. Die meisten Autoren dieser Kanäle haben das Land verlassen, also ist es nur schwer vorstellbar, dass sich diese Opposition neu organisiert, weil es eben keine Organisation gegeben hat. Es gibt Menschen, aber keine Strukturen. Also kein Szenario wie in der Ukraine.

    Insofern wird jetzt alles davon abhängen, wie und mit welcher Brutalität sich die Ereignisse weiter entwickeln werden, davon, ob es zu [weiterem] Blutvergießen kommt oder nicht. Wenn ja, könnte das dem Verhalten der Nomenklatura und der Radikalisierung der Bürger eine neue Dynamik geben. Bislang sieht es so aus, dass das Regime genügend Kraft hat. Und wenn die Opposition nicht noch einen beträchtlichen Erfolg erringt (schwer zu sagen, was das sein könnte, außer vielleicht der Besetzung eines Verwaltungsgebäudes), dann werden die Proteste wohl einfach allmählich niedergeschlagen.

    Foto © Maxim S.
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    Margarita Sawadskaja, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Europäischen Universität in Sankt Petersburg
    Das Wichtigste ist, dass es jetzt über Minsk hinaus Proteste gibt. In diesem Jahr gibt es ein Crowdsourcing, die Proteste stehen für sich, ohne Anführer. Selbst der gute Herr Lukaschenko hat eingestanden, dass er nicht versteht, wer hier gegen ihn kämpft. 2010 hatten die Proteste noch ausschließlich in der Hauptstadt stattgefunden und waren enger auf einen belarussischen Nationalismus ausgerichtet. 

    Jetzt ist es eine breitere Koalition, die aktiv ist, und alles wird davon abhängen, wie sehr der Oppositionsstab das Vorgehen erfolgreich koordiniert und wieviele Menschen auf der Straße sein werden. In den kleineren Städten waren Erfolge zu beobachten, als die OMON vor den Protestierenden zurückweichen musste. Das ist ein wichtiges Signal, dass vielleicht noch nicht alles entschieden ist, selbst wenn die Prognose der Experten dahin geht, dass das Regime sich noch eine gewisse Zeit halten wird.

    Das ist eine einzigartige Situation, Netflix sollte eine Serie darüber drehen

    Der Begriff Opposition ist jetzt weit gefasst und unscharf. Die Infrastruktur der Opposition ist potenziell sehr machtvoll: Es gibt die Telegram-Kanäle und das Bedürfnis der Menschen nach neuen Oppositionsführern. 2010 musste man sich um das Vertrauen der Bürger bemühen, musste Programme schreiben – 2020 ist das nicht mehr nötig. Jetzt muss man standfest und überzeugt sein und offen sagen, dass man einen Regimewechsel will. Das hat [Swetlana] Tichanowskaja getan: Sie hat kein Programm, keine politische Erfahrung, ist aber zu einem Symbol geworden. Wahrscheinlich haben am Wahltag die meisten Belarussen für sie gestimmt. Wir können das zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber wenn wir davon ausgehen, dass in einigen Wahllokalen ehrlich ausgezählt wurde und Tichanowskaja dort gesiegt hat, hat sie wahrscheinlich überall gesiegt. Das ist eine einzigartige Situation; Netflix sollte eine Serie darüber drehen.

    Foto © Maxim S.
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    Wird Lukaschenko noch lange an der Macht bleiben?

    Margarita Sawadskaja
    Viele Experten sind sich einig, dass dies Lukaschenkos letzte Amtszeit sein wird, auch wenn die Statistik darüber, wie lange autoritäre Regime überleben können, bislang für ihn spricht. Solche Regime sind gewöhnlich langlebig. Politologen unterscheiden drei Typen moderner autoritärer Regime: Militärjuntas, Einparteiensysteme und personalistische Diktaturen. Letztere stellen in der jüngsten Geschichte die überwiegende Mehrheit, und sie leben am längsten, weil die Eliten koordiniert werden im Umfeld einer Person, der sie alle vertrauen. Es kommt nicht so sehr darauf an, über welche individuellen Fähigkeiten diese Person verfügt, die Qualitäten ändern sich mit der Zeit oder verlieren ihre Bedeutung. Für die Eliten ist es wichtig, Gewissheit über die Zukunft zu haben, insbesondere in autoritären Regimen, in denen formale Regeln keine sonderlich große Rolle spielen.

    Diese Regime sind in der Regel auf die Lebenszeit des Diktators beschränkt. Für den Diktator und seine Umgebung ist das alles sehr unsicher, da das Regime für sie praktisch die einzige Option darstellt. Selbst wenn der Diktator sehr amtsmüde werden sollte, wird er sich bis zum Schluss an seine Macht klammern, weil sonst niemand für seine persönliche Sicherheit garantieren kann. Kommt es dann zu einem Regimewechsel, geht die Gefahr von der Elite aus. Sogar in Belarus gibt es ein Urbild hiervon: Schließlich sind [Waleri] Zepkalo und [Viktor] Babariko ihrem Profil nach typische systemtreue Liberale und keineswegs Revolutionäre, sondern Menschen, die sehr wohl wissen, wie das Regime funktioniert. Es wäre verfrüht, das aktuelle Geschehen in Belarus als Spaltung innerhalb der Eliten zu betrachten, aber: Solche Regime beginnen zusammenzubrechen, wenn sich Teile jener Elite abspalten, auf die sich die Diktatoren stützen.

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    Jedes autoritäre Regime muss sich zur Stabilitätssicherung auf eine breite Basis in der Gesellschaft stützen; Lukaschenko selbst hat diesen Rückhalt jetzt geschmälert. Man darf das Volk nicht als „Völkchen“ bezeichnen, insbesondere dann, wenn der Wohlstand breiter Gesellschaftsschichten immer weniger garantiert wird. Allem Anschein nach stützt sich Lukaschenko jetzt allein auf die Sicherheitskräfte und die Bürokratie. Das ist keine allzu breite Basis, auch wenn der staatliche Sektor in Belarus sehr umfangreich ist. Doch auch dort sind Lebensstandard und Karriereaussichten in Gefahr.

    Das nennt sich Lahme-Enten-Syndrom, wenn nämlich von einem Diktator das Signal ausgeht, dass er politisch handlungsunfähig ist. Erscheint er mit einem Katheter, ist das ein direkter Hinweis auf gesundheitliche Probleme. Für personalistische Regime ist es extrem wichtig, einen gesunden politischen Führer zu haben, der Tatkraft zeigt und angemessene Entscheidungen trifft. Das bedeutet eine Erleichterung für die Eliten, die ja wissen wollen, auf wen sie sich zu stützen und mit wem sie sich zu arrangieren haben.

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    Politische Trends in Belarus

  • „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

    „Ich hoffe, wir werden das nie verzeihen“

    Schon in der Nacht nach dem Wahlsonntag gingen die Menschen in ganz Belarus auf die Straße. Am gestrigen Abend und in der Nacht hielten die Proteste an. Tausende demonstrierten im ganzen Land gegen Wahlfälschung, sie riefen „Geh weg“, „Wandel“ und „Es lebe Belarus!“. Das Regime reagierte mit Härte, erneut kamen Gummigeschosse und Blendgranaten zum Einsatz. Es gab zahlreiche Festnahmen, staatlichen Angaben zufolge kam ein Demonstrant ums Leben, als er einen Sprengkörper auf die OMON-Truppen habe werfen wollen.

    Unterdessen hat die oppositionelle Präsidenschaftschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja das Land verlassen und ist in Litauen. Beobachter gehen davon aus, dass sie zu diesem Schritt gezwungen wurde. Der Protestbewegung fehlt ein politischer wie organisatorischer „Kopf“, vielmehr sind es viele kleine und dezentrale Protestaktionen. Da das Internet größtenteils blockiert ist und auch Messengerdienste nicht funktionieren, bekommen die Menschen in Belarus kaum Informationen über Ausmaß und Ablauf der Proteste. So stimmen sich die Protestierenden – die aus ganz unterschiedlichen Altersklassen und sozialen Gruppen kommen – über Mund-zu-Mund-Propaganda oder das Telefon ab.

    Nach der ersten Protestnacht hat Meduza mit Demonstranten im ganzen Land gesprochen: darüber, wie sie den Wahltag und die anschließenden Proteste erlebt haben, über ihre Wut und ihre Hoffnung.

    Maxim Solopow, Meduza-Korrespondent in Minsk, wird unterdessen vermisst. Die Redaktion hatte zuletzt am Montagmittag Kontakt zu ihm. Augenzeugen berichten, dass er am Montag von der Polizei angegriffen, zusammengeschlagen und festgenommen worden sei. Die Redaktion hat derzeit keinen Kontakt mehr zu ihrem Mitarbeiter und keine Nachricht über seinen Verbleib.

    „Das Furchtbarste ist die Gesetzlosigkeit“

    Elisaweta aus Minsk

    Ich bin in das Wahllokal in dem Gymnasium gegangen, in dem ich vor 20 Jahren selbst zur Schule ging. Ich war mit meiner Schwester da. Es war schon gegen 16 Uhr, mit uns ging eine weitere Person rein, dann sah ich noch eine … war nicht voll.

    Nachdem ich gewählt hatte, fuhr ich in eine Wohnung direkt im Zentrum in der Uliza Saslawskaja, um mich mit Freundinnen von der Uni zu treffen. Wir tauschten uns aus, wer wie wo gewählt hatte. Gewonnen hat die Geschichte, wo der Wahlzettel schon angekreuzt war – ratet mal, wo das Kreuz war? Gegen 20 Uhr gingen wir zum Wahllokal einer Freundin und warteten auf die Bekanntmachung des Wahlprotokolls. 

    Gegen 22 Uhr traten drei Menschen aus der Schultür und brummelten, dass es „kein Protokoll geben wird!“. Jemand der Wartenden sagte, dass die Wahlzettel schon aus dem Hintereingang rausgebracht worden seien. Später las ich auf [der unabhängigen belarussischen Internetseite – dek] tut.by über dieses Wahllokal, dass das wirklich so abgelaufen ist … 

    Gegen 22 Uhr gingen wir dann weiter, hinunter ins Zentrum zu dem Obelisken, um zu schauen, was in der Stadt los ist. Es wurden immer mehr Menschen, die meisten liefen in dieselbe Richtung, den Prospekt Mascherow entlang. Bald stießen wir auf die erste Menschenansammlung, die in die andere Richtung rannte, weg von dem Obelisken. Instinktiv wollten wir ihnen folgen und fragten einen Jugendlichen: „Warum rennt ihr weg?“ Er antwortete: „Die haben gesagt: Rennt!“ So eine Panikwelle gegen den Strom gab es dann später nochmal. 

    Wir liefen in die andere Richtung, den Hügel hinauf, um zu sehen, was bei dem Obelisken los war. Wir trafen Freunde auf Fahrrädern … die erzählten auch, dass sie weggerannt seien … Langsam ergab sich ein Bild: Menschen gingen Richtung Zentrum und bekamen Angst eingejagt. Wir sahen Gefangenentransporter und Leuchtfeuer – als gäbe es ein Feuerwerk mit Knallkörpern, die die Leute unweigerlich in die andere Richtung laufen ließen, eine mehr oder weniger große Anzahl von Menschen. Einen Schritt vor, zwei zurück … Das erinnerte alles mehr und mehr an das Treiben von Vieh, es wurde ekelig. Wir beschlossen abzuhauen und am nächsten Tag wiederzukommen [10. August].

    Das Furchtbarste ist die Gesetzlosigkeit. Dass man sich auf nichts verlassen kann, dass die einzig sinnvolle Taktik mittlerweile die Flucht aus dem Land ist. Meine Verwandten und Freunde haben entweder selber vor, mit der ganzen Familie auszureisen oder zumindest die Kinder zum Studium wegzuschicken. Das sind kluge, friedliche, arbeitsame Menschen. 


    „Wir saßen einfach alle da, alle unter Schock“

    Juri aus Mogiljow (belarus. Mahiljou)
     
    So etwas wie in Minsk hatten wir hier nicht. Sondern bei uns waren etwa tausend friedliche Menschen auf dem Platz in der Nähe des Einkaufszentrums Atrium, aber sie waren da nicht zur selben Zeit, und es haben auch nicht alle Tausend „Es lebe Belarus“ skandiert. Richtig aktiv waren nur so 500 von diesen Leuten. Von Seiten der staatlichen Organe kamen immer mehr und mehr, aber ich würde sagen, am Ende waren es 200 bis 300. Das war genug, denn die Menschen waren nicht auf Zusammenstöße mit der Polizei aus, sie sind einfach nur deswegen rausgegangen, um friedlich für ihre Wählerstimme einzutreten. 

    Dann gingen die Fangspiele los: Diejenigen, die Flaggen hatten, wurden zuallererst in die Gefangenentransporter gebracht – rund zehn Menschen haben die verhaftet. Wenn du ein weißes Bändchen trägst oder ein weißes Armband, dann kommen die einfach mit einem Schlagstock auf dich zu, quasi um klar zu machen, dass du nach Hause gehen sollst. Du rennst dann weg vor denen. Dann haben sich die Menschen in Cafés und Einkaufszentren versteckt. Zwischen neun und zehn Uhr abends haben sie alle vertrieben. Wie es weiterging, weiß ich nicht, wir sind alle nach Hause gefahren. Es ist nur so, dass die Medien von 120 Menschen schreiben, die in Mogiljow festgenommen wurden. Ehrlich gesagt, so viele festgenommene Menschen hab ich nicht gesehen. Vielleicht ging das aber nach 22 Uhr noch weiter.

    Dass die einen so mit Schlagstöcken verprügeln wie in Minsk, das hab ich nicht gesehen. Manche wurden geschnappt – solche die am aktivsten waren, laut skandiert haben oder die mit Flaggen – die haben sie einfach in den Gefangenentransporter gesteckt. Ich glaub, irgendwann wird es Videos davon geben, die Leute haben sich schon VPN eingerichtet. 

    Zwischen fünf Uhr abends und zehn Uhr morgens hatten wir einen kompletten Internet-Ausfall. Im Jahr 2020! Nichts ging, wir konnten nur rätseln, was gerade in Minsk los war. Die gewöhnlichen VPNs funktionierten nicht, da braucht man schon was Solideres. Die Leute haben sich dann gegenseitig mit Anwendungen über Bluetooth versorgt, Download geht ja nicht – weder aus dem AppStore noch aus dem PlayMarket. Wenn du das dann installiert hast, dann hast du Internet: Die Leute gucken dann auf Telegram, auf YouTube. Als ich das gesehen habe, war’s echt ein Schock, voll krass. 

    Es gibt keine Möglichkeit, nach Minsk reinzukommen: Gestern ab vier Uhr standen die da am Stadteingang mit Schusswaffen und haben entschieden, ob sie einen in die Stadt lassen oder nicht. Wenn du nicht in Minsk registriert bist, dann kommst du nicht rein. Keine Ahnung, ob man mit der Bahn oder in Marschrutkas reinkommt. Noch sind nicht alle wieder online, ich schätze so zehn Prozent: nämlich die, die schon vorher VPN hatten, sich darauf vorbereitet haben. 

    Unsere Clique hier ist echt im Schock, ich hab keine Ahnung, was ich tun soll. Wir haben uns gestern kurzgeschlossen, sind ins Schulstadion gegangen, da gibt es Bänke. Um nicht zu lügen, es waren so 200 Menschen im Stadion, die sind mit Autos gekommen. Haben Musik gehört, Zoi und so, und saßen da einfach, alle unter Schock.


    „Wer diese Menschenmassen gesehen hat, wird nie den offiziellen Zahlen glauben“

    Andrej aus Minsk

    Ich bin erst gegen 22 Uhr demonstrieren gegangen, bis dahin hatte ich versucht durch die abgeriegelte Stadt zu meiner Freundin zu gelangen. Einen Teil des Wegs konnte ich noch per Metro zurückzulegen, aber die Umsteigestation war geschlossen. Später machten sie noch mehr Stationen dicht. Sogar zu Fuß kam man nicht überall voran: Die Polizei sperrte Kreuzungen und ließ die Menschen nur in eine Richtung laufen. Wobei die Beamten freundlich waren, einer erklärte mir, welchen Umweg ich nehmen sollte. 

    Meine Freundin und ich gingen dann zu zweit los und hörten schon von weitem Lärm. Das war das Wahllokal in einer Schule, in der Tichanowskaja mehr Stimmen als Lukaschenko bekommen hatte, und alle freuten sich sehr darüber. An allen Wahllokalen hielten Leute Wache und forderten eine ehrliche Stimmauszählung – hier hatte das offensichtlich geklappt.

    Auf der Storoshowskaja Uliza waren schon viele Menschen und vor allem: ein Hupen von allen Seiten. Autos mit Belarus-Flaggen fuhren vorbei, Menschen zeigten das Victory-Zeichen und eine Faust. Dann zogen wir weiter zum Starostinski Slobida Park. Hier war eine kleine Brücke, die die OMON-Kräfte blockiert hatten, daneben noch eine, die von Menschen blockiert war, in Richtung Obelisk. 

    Die OMON stand uns zugewandt, aber als die Demonstranten die Taschenlampen ihrer Smartphones anschalteten, wurde klar, dass wir mehr sind als wir dachten und dass wir sie von allen Seiten umstellen. Die Menschen riefen „Es lebe Belarus“, „Polizei beim Volk dabei“, „Schande“ und Standartslogans mit Klatschkonzert.

    Immer wieder wurden wir mit Leuchtgranaten beworfen, so Schreckschussgeschosse, nicht gefährlich, wie mir schien. Erst am nächsten Tag sah ich auf einem Foto einen Jugendlichen, der durch so eine Granate seine Ferse verloren hatte.

    In der Menge traf ich zwei ältere Leute, die ihren Sohn suchten. Der war ohne Telefon aus dem Haus gegangen, damit man nichts bei ihm findet, sollte er gefasst werden. Ich hoffe, da ist alles gutgegangen.

    Dann begannen sie, die Protestierenden zurückzudrängen, es kam wohl ein Wasserwerfer zum Einsatz: Ich sah spritzendes Wasser, als alle wegliefen. Auf der Straße sahen wir, wie die Autofahrer mit den Verkehrspolizisten stritten, die die Straße absperrten. Die Polizisten zogen sich unter Applaus nach einer Weile zurück. 

    An der Ecke Dauman und Mascherow stießen wir wieder auf den Protestzug. Die Menschen versuchten die OMON-Einheiten davon zu überzeugen, die Schilde niederzulegen. Wir waren zahlenmäßig erheblich im Vorteil, regelmäßig verteidigten wir unsere Leute, wenn sie versuchten, sie sich zu schnappen. 

    Die OMON-Truppen setzten Granaten ein, ich glaube, auch mit Reizgas: Ich stand in der Nähe des Epizentrums und musste husten, neben mir haben mehrere andere Menschen gehustet. Das Gas schien aber keine ernsthaften Folgen zu hinterlassen. Nach einer der Explosionen wurde ein Mann verletzt, wir haben seine Wunde mit Wasserstoffperoxid gespült. Er weigerte sich, einen Verband anzulegen, weil die Wunde oberflächlich war. Bei den Protesten helfen sich die Menschen gegenseitig: Sie geben einem etwas zu Trinken, erzählen, was sie über andere [Protest-]Orte wissen.

    Nach einer Weile haben die angefangen, auch diesen Platz zu räumen, höchstwahrscheinlich weil da immer mehr Menschen hingeströmt sind. Die Miliz kam gleichzeitig aus drei Richtungen auf uns zu. Alle haben dann schnell die Flucht ergriffen. Wir trafen eine Gruppe im Park, sie gaben uns Wasser mit, weil sie mehrere Flaschen hatten. Wir haben mit allen, die wir getroffen haben, Informationen ausgetauscht. Alle waren bereit, morgen auf die Straße zurückzukehren.

    Wir haben dann keine weiteren Protestgruppen mehr gefunden. Einige Leute sagten, es sei schon vorbei, es war auch schon so gegen zwei, drei Uhr morgens. Ich hab eine SMS gekriegt, dass die OMON-Einheiten nun hinter kleineren Gruppen her sind. Uns wurde klar, dass es auf der Straße nichts mehr zu holen gibt, also haben wir versucht, nach Hause zu kommen.

    Da hatte ich schon den Verdacht, zu Hause war es mir dann aber ganz klar, dass die OMON-Einheiten einfach den Macker raushängen ließen, dass sie jeden verprügelten, der ihnen über den Weg lief. Sie wurden von der Kette gelassen und durften tun und lassen, was sie wollten. Ich hatte echt Angst um die Frau, mit der ich dort war. Ohne Internet kann man kein Taxi rufen, der öffentliche Nahverkehr ging nicht mehr. Wir sind dann zu Fuß nach Hause, über die Höfe, haben uns vor den Autos versteckt. Alle, die wir auf dem Weg getroffen haben, haben wir vor der Gefahr gewarnt. 

    Ich bin echt maximal beeindruckt vom Protest. Wer auf der Straße war, diese Menschenmengen gesehen hat, das Autogehupe gehört – als würde die Welt untergehen –, der wird nie den Zahlen glauben, die die Zentrale Wahlkommission erdichtet hat. Er wird nie glauben, dass die Belarussen sich das gefallen lassen werden. Das ist jetzt die wichtigste Etappe auf dem Weg zu einem neuen Selbstverständnis der Belarussen: Wir haben Initiativen, um denjenigen zu helfen, die wegen ihres bürgerschaftlichen Engagements ihre Arbeit verloren haben, wir retten die Menschen buchstäblich aus den Fängen des Staates, die Bürger wissen, dass es jemanden gibt, der sie unterstützt. Wir zerstören keine Geschäfte und plündern nicht wie unsere Freunde und Nachbarn. Unser Hauptfeind aber – der saugt den Lebenssaft unseres Landes aus. Ich habe kein Mitgefühl mehr für die OMON-Einheiten, die Lukaschenko beschützen. Das sind Verräter ihres eigenen Volkes, ich hoffe, wir werden das nie verzeihen.

    Ich werde auf jeden Fall zu Protesten gehen, es ist sehr wichtig dort zu sein – dann sind die Menschen mutiger und spüren die Stärke und Unterstützung. Sie halten jetzt Geiseln fest, die sie zu Prügelknaben machen werden – deshalb haben wir kein Recht aufzugeben. Lukaschenko hasst definitiv dieses Land und sein Volk, ich bin sicher, dass er in den Bürgerkrieg ziehen wird, um auf dem Thron zu bleiben.

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  • „Das Erinnern beenden? Das wird so nicht gelingen!“

    „Das Erinnern beenden? Das wird so nicht gelingen!“

    Dreieinhalb Jahre verschärfte Lagerhaft – auf den ersten Blick scheint das Urteil für Juri Dmitrijew vergleichsweise milde, schließlich hatte die Staatsanwaltschaft 15 Jahre gefordert. Da er bereits über drei Jahre in der Untersuchungshaftanstalt verbracht hat, wird der Historiker voraussichtlich schon im November freigelassen. Dmitrijew wurde des sexuellen Missbrauchs an seiner Pflegetochter für schuldig befunden – nachdem er 2018 bereits von der Herstellung von Pornographie freigesprochen worden war.

    Zahlreiche internationale Intellektuelle, Wissenschaftler und Menschenrechtler halten die Vorwürfe gegen Dmitrijew für politisch motiviert. In jahrzehntelanger Arbeit hatte er nach Opfern des Großen Terrors in Karelien gesucht, Gräber entdeckt, Namen recherchiert und darüber auch Bücher verfasst. Den Prozess verstehen viele als Versuch, ihn mundtot zu machen. Irina Galkowa etwa, Leiterin des Memorial-Museums in Moskau, wirft dem Gericht vor, entlastende Zeugenaussagen nicht zuzulassen und Experten zu beschäftigen, die „bestellte” Gutachten erstellten. 

    In seinem Schlusswort vor Gericht am vergangenen Montag, 20. Juli 2020, zeigte sich Juri Dmitrijew unerschrocken – dekoder bringt daraus einen Ausschnitt:

    Wertes Gericht! 

    Nun trete ich schon zum zweiten Mal in diesem endlosen Prozess mit einem Schlusswort auf. Und würde gern meine Position – wenn sie dem Gericht noch nicht klar ist – dazu deutlich machen, warum ich der bin, der ich bin, warum ich mich so verhalte und wie ich in diesen Käfig geraten bin. 

    [….]
    Derzeit gibt es bei uns den Trend … das ist doch im Trend, oder? … über Patriotismus zu sprechen. Doch ich bitte Sie – Patriotismus ist nicht das Sprechen darüber. Wer ist ein Patriot? Ein Patriot ist ein Mensch, der sein Heimatland liebt. Bei uns ist es merkwürdigerweise derzeit so, dass man nur auf die militärischen Erfolge stolz ist. Entschuldigung, die Heimat ist doch eine Mutter. Und es kommt vor, dass Mama krank ist, dass sie irgendetwas nicht schafft. Und hören wir in solchen Zeiten auf, sie zu lieben? Nein. Und ich weiß nicht, ob glücklicher- oder unglücklicherweise: Mein Weg hat mich dahin geführt, dass ich Menschen aus dem Vergessen zurückgeholt habe, die verschwunden waren. Menschen, die durch Schuld unseres eigenen Staates zu Unrecht bezichtigt, erschossen, in Wäldern verscharrt wurden, wie streunende Tiere. Kein Hügel, kein Hinweis, dass hier Menschen begraben sind.

    Vielleicht hat Gott mir dieses Kreuz auferlegt, doch Gott gab mir auch das Wissen. Und so gelingt es mir – nicht oft, aber manchmal – Orte zu finden, an denen es menschliche Massentragödien gab. Ich verknüpfe sie mit Namen und versuche an diesem Ort einen Ort der Erinnerung zu schaffen, denn Erinnerung ist das, was den Menschen zum Menschen macht.

    Zum „Kriegspatriotismus“ möchte ich folgendes sagen. Mein Vater war an der Front, wir begingen den 9. Mai lange, bevor er ein offizieller Feiertag wurde.

    Meine Mutter hatte sechs Schwestern. All deren Männer waren an der Front gewesen. Am wenigsten wurde am Tisch aber über die Siege gesprochen. Denn für sie war der Krieg Tragödie und Schmerz. Und Flaggen gab es keine einzige. Der Sieg – das ist vor allem Trauer und Erinnerung an die Menschen, die umkamen.

    Ich bin vollkommen einverstanden, wenn unser Staat sagt, wir müssen der im Krieg Gefallenen gedenken, denn das ist ein Teil unserer Erinnerung. Doch es muss auch der Menschen gedacht werden, die aus Bosheit unserer Staatsführer umgekommen sind. Das ist für mich Patriotismus. Das habe ich auch [meiner Adoptivtochter] beigebracht, das wissen auch meine [leiblichen] Kinder Jegor und Katja, das wissen auch meine Enkel, das wissen die Schüler und Studenten, mit denen ich gearbeitet habe, das wissen wahrscheinlich alle zivilisierten Menschen. 

    Deswegen, Euer Ehren, glaube ich, dass dieser Fall, der nun schon sehr sehr lange, dreieinhalb Jahre, untersucht und geprüft wird, dass dieses Verfahren einerseits speziell dafür eingeleitet wurde, um meinen ehrlichen Namen in Verruf zu bringen, und andererseits, um einen Schatten auf die Gräber und Friedhöfe der Opfer der Stalinschen Verfolgungen zu werfen, die ich aufgespürt habe, und zu denen die Menschen nun hinströmen.
    Mit welchem Ziel wurde dieses Verfahren eingeleitet? Ich jedenfalls weiß es nicht. Um das Erinnern zu beenden? Das wird so nicht gelingen. Mir unmöglich zu machen, daran mitzuwirken? Ich habe schon seit drei Jahren nicht mehr daran mitgewirkt – und trotzdem erlischt es nicht.

    Deswegen bitte ich Sie, Euer Ehren, wenn Sie sich zur Beratung zurückziehen, sehen Sie sich alles nochmals genau an, prüfen Sie. Die schlimmen Dinge, die hier in Stapeln von Akten beschrieben wurden, habe ich nicht getan. Ich habe versucht, ein Kind zu einer ehrenwerten Bürgerin großzuziehen und, ich scheue mich nicht zu sagen, zu einer Patriotin unseres Landes. Ich habe alles dafür getan. 

    Das ist dann wohl alles, was ich sagen möchte. Danke. 

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