Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine haben sich zahlreiche liberale Stimmen in Russland entsetzt gezeigt, gerade in Sozialen Netzwerken Schock und Scham geäußert, darunter auch viele Kulturschaffende und Künstler. Laut OWD-Info sind bis Donnerstagnacht in 52 russischen Städten mehr als 1742 Menschen bei Protestaktionen gegen den Krieg festgenommen worden [Stand: 23:57 Ortszeit (MSK)].
Aber wie steht die breite Masse zu diesem Krieg: Glauben die Menschen in Russland, es sei legitim, in die Ukraine einzumarschieren? Hat Putin mit seinem Krieg Unterstützung in der Gesellschaft? Gibt es gar eine ähnliche Euphorie wie 2014? Diese Fragen hat Meduza wenige Tage vor Kriegsbeginn dem Soziologen Denis Wolkow, Direktor des unabhängigen Meinungsforschungszentrums Lewada, gestellt.
Dazu muss man wissen: Tatsächlich erschienen vielen Menschen in Russland solche Probleme wie Armut und Inflation bislang drängender als geopolitische Themen, die für die Gesellschaft ganz unten auf der Prioritätenliste rangierten. Hinzu kommt, dass Meinungsumfragen in Russland nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Da Menschen in autoritären Systemen Angst haben, eine sozial nicht erwünschte Meinung kundzutun, würden sie häufig das wiedergeben, was sie aus den Abendnachrichten vom Vortag behalten haben, so der Soziologe Grigori Judin: „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen.“
Demgegenüber liefert die Soziologie aber handfeste Hinweise, dass Meinungsumfragen die öffentliche Meinung in Russland abbilden können: Wenn Menschen ihre Informationen etwa jahrelang nur aus Propaganda-Medien beziehen, dann ist es naheliegend, dass sie diesen Informationen irgendwann glauben, dann verfestigt sich bei ihnen auch die Meinung, die ihnen schon seit Jahren vorgesetzt wird: Dass die Ukraine etwa vom Westen gesteuert, dass sie eigentlich kein richtiger Staat sei, oder eben dass die „Ukro-Faschisten“ Russen in der Ukraine töten würden – und die Ukraine deshalb, wie Putin es in seiner TV-Rede vor dem Marschbefehl sagte, „entnazifiziert“ werden müsse.
Wie also steht die russische Gesellschaft zu einem Krieg? Denis Wolkow spricht im Interview vom Dienstag über die Wirkung von Propaganda, Angst und darüber, wie sich die Haltung zu Putin entwickeln könnte.
Anastasia Jakorewa: Putin hat in seiner Rede zur Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepublik [am Montag, 21.02.2022 – dek] gesagt, er sei sicher, dass die Bürger in Russland diese Entscheidung unterstützen werden. Kann man wirklich von einer rückhaltlosen Unterstützung sprechen?
Denis Wolkow: Die Daten, die wir in den vergangenen Jahren gesammelt haben, geben uns eine grobe Vorstellung davon, wie die Menschen reagieren. Es gibt unterschiedliche Einstellungen zu einem Krieg und zu dem, was da vor sich geht. Die erste: Amerika ist an allem Schuld. Nicht mal die Ukraine, nein, Amerika und der Westen: Die setzen die Ukraine unter Druck, die ihrerseits irgendwas gegen die nicht anerkannten Republiken im Schilde führt – auf deren Seite soll Russland sich einmischen. Denn es geht um die russischsprachige Bevölkerung, um Menschen mit russischen Pässen, also „unsere“ Leute. Es ist eine Situation, in der auf unsere Leute eingeprügelt wird, und natürlich müssen wir ihnen helfen und sie verteidigen.
In den vergangenen sieben Jahren haben wir die Menschen regelmäßig befragt, welches Schicksal sie für diese Republiken sehen. Ein gutes Viertel sagt, die Republiken müssten unabhängig werden. Ein weiteres Viertel sagt, sie müssten Russland angegliedert werden. Und in etwa ähnlich viele sind für einen Verbleib in der Ukraine. Der Rest ist unentschieden.
Die Situation wird als Bedrohung dargestellt für das russischsprachige Brudervolk. Beziehungsweise nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk
Es gibt also keine vorherrschende Meinung. Aber als wir gefragt haben: Wenn die Republiken darum bitten, an Russland angegliedert zu werden, sollten wir sie dann angliedern? Da haben etwa 70 Prozent mit „Ja“ geantwortet: Man muss ihnen helfen, und man muss sie aufnehmen. Darum denke ich, dass jetzt, wo die Anerkennung entschieden ist, die Mehrheit diese Entscheidung unterstützen wird – zumal die Situation, wie auch schon 2014, als Bedrohung dargestellt wird für das russischsprachige Brudervolk, beziehunsgweise sogar nicht mal für das Bruder-, sondern für das eigene Volk.
Wie groß ist die Angst bei den russischen Bürgern vor westlichen Sanktionen und den damit verbundenen ökonomischen Einbußen?
Die Angst vor Sanktionen, den ersten Schock gab es ganz am Anfang, als sie verhängt wurden. Dann hat man sich mit der Zeit daran gewöhnt. Zusätzlich haben viele der Befragten das Gefühl: Was auch immer Russland tut – Sanktionen wird es so oder so geben, denn der Westen will Russland schwächen und demütigen. So, wie man uns schon 2014 gesagt hat: Wenn es die Krim nicht gäbe, hätten sie sich was anderes ausgedacht. Das ist eine feste Überzeugung, die auf einem Misstrauen gegenüber der US-Außenpolitik gründet – die konnten wir schon Ende der 1990er Jahre feststellen, als die NATO-Osterweiterung begann.
In einem Ihrer Gastbeiträge [Wolkow publiziert regelmäßig in unabhängigen russischen Medien – dek] habe ich gelesen, in Russland würden sowohl diejenigen, die der Staatsführung gegenüber loyal sind, als auch diejenigen, die ihr gegenüber oppositionell eingestellt sind, dem Westen die Schuld für den Konflikt geben. Die Mehrheit beider Gruppen meint, dass Amerika schuld sei – nur die Prozentanteile der Mehrheiten unterscheiden sich. Woher diese Eintracht?
Eine eindeutige Antwort habe ich darauf nicht. Ich denke, hier spielt mit rein, dass man die Konfrontation zwischen Russland und den USA als internationalen Hauptkonflikt wahrnimmt. Das ist ein Ausdruck von Patriotismus. Man muss sich klar positionieren, wo man steht. Und wenn es so einen Konflikt gibt – dann sind natürlich mehr Leute auf der Seite Russlands.
Wobei ja offensichtlich ist, dass diese beiden Gruppen ihre Informationen aus unterschiedlichen Quellen schöpfen.
Das sagt wirklich etwas darüber aus, wie Menschen Nachrichten konsumieren: Über den Konflikt berichten vor allem das Fernsehen und die offiziellen Medien, und sobald Menschen etwas davon interessant finden, dann suchen sie noch nach weiteren Quellen. Zu diesem Thema suchen die Menschen aber anscheinend nicht nach zusätzlichen Quellen. Wie sie auch in den Umfragen sagen: Wenn ich nur etwas über die Ukraine höre, schalte ich sofort um, ich will nichts davon hören, will nichts davon wissen.
Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird
Das heißt, bei vielen läuft der Fernseher im Hintergrund, er ist irgendwie einfach da, und dann [sagen die Menschen – dek]: Ich sehe nur fern, und wenn mich diese Geschichte berühren würde, dann würde ich noch was im Internet lesen [unabhängige russische Medien sind fast ausschließlich online zugänglich, wie auch der TV-Sender Doshd – dek]. Oder eben nicht.
Die Politik gegenüber den „ausländischen Agenten“-Medien beeinflusst auch, wie der Informationsfluss gelenkt wird. Früher hat es der Fernsehsender Doshd zumindest manchmal in die Top-Suchergebnisse von Yandex geschafft. Ich habe Nachrichten über Alissa [eine von Yandex entwickelte virtuelle Sprachassistentin] gehört. Als all das anfing, hat Alissa plötzlich keine Nachrichten [der „ausländischen Agenten“-Medien – dek] mehr wiedergegeben.
Wie stehen die Menschen zu einer möglichen Militäraktion [das Interview wurde am 22.02.2022 geführt – dek]?
Schwer vorherzusagen, denn womit können wir es vergleichen? Wir können das nur mit [dem Georgienkrieg] 2008 vergleichen. Worin besteht hier die größte Gefahr? Darin, dass unsere Truppen tatsächlich Gefechte gegen ukrainische Truppen führen. Früher gab es dazwischen einen Puffer; vielleicht waren [russische Truppen im Donbass], aber nicht offiziell …
Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun?
Wir haben den Menschen folgende Frage gestellt: „Glauben Sie, dass die Situation zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine führen könnte?“ Ende 2021 hat dies rund eine Hälfte für wahrscheinlich gehalten, und die andere für nicht wahrscheinlich. Die Gefühle diesbezüglich: Angst, Widerwillen – doch weil die Schuld dafür den anderen zugeschrieben wird: Was sollen wir schon tun? Wir wollen Frieden, von den Normalbürgern hängt nichts ab ab. Nicht mal von der russischen Staatsführung hängt [dem öffentlichen Bewusstsein nach] etwas ab. Also sagen die Leute: Ja, wir müssen uns verteidigen, ja, wir dürfen nicht klein beigeben, aber was genau ist dieses Klein-Beigeben – die werden versuchen, uns niederzuwalzen, sollen wir uns da etwa zurückziehen?
In einem Ihrer Gastbeiträge haben Sie geschrieben, die Gesellschaft sei „innerlich auf einen Konflikt vorbereitet“. Auch auf einen militärischen Konflikt?
Im Grunde ja, auf einen militärischen Konflikt. Auch hier gilt es, dass die Gesellschaft latent bereit ist – denn wie lange schon wird darüber gesprochen. Das heißt aber nicht, dass sich diese Haltung nicht ändern wird, dass keine Müdigkeit einsetzt. Es ist unmöglich vorherzusagen, wie sich die Situation entwickeln wird und wie die Menschen darauf reagieren werden. Anfangs wird es wahrscheinlich eine Mobilisierung um den Führer geben. Aber was dann?
Wenn es ein kurzer Krieg wird, dann wird es wahrscheinlich ähnlich wie mit Georgien: Auch damals hatten die Menschen das Gefühl, dass es nicht um Georgien und Russland ging – sondern um die USA und Russland. Und dass wir unsere Brüder gerettet hätten. Wichtig war, dass es schnell vorbei war und niemand das Gefühl von ernsthaften Verlusten hatte.
Ein andauernder Krieg kann [Putins] Zustimmungswerten einen beachtlichen Schlag verpassen, ich kann aber ganz bestimmt nicht vorhersagen, wie sich der Konflikt entwickeln wird.
Gibt es mögliche Trigger für russische Bürger, wegen derer sie sich scharf gegen einen Krieg wenden würden?
Das ist schwer zu sagen. Ich denke, vor allem eine große Zahl an Opfern oder die Dauer des Konflikts, ein Sich-Hinziehen.
Welche Möglichkeiten sehen die russischen Bürger, um den aktuellen Konflikt zu lösen – außer einen Krieg?
Sie sehen nicht wirklich welche. Am häufigsten haben die Menschen Verhandlungen genannt. Aber man kann nicht sagen, dass sie geglaubt haben, dass daraus etwas wird, dass die Verhandlungen helfen würden, etwas zu zu lösen. Wir wollten, baten, haben vorgeschlagen, aber niemand ist darauf eingegangen – so sehen die Menschen das.
Wenn man die Situation 2014 mit heute vergleicht, worin unterscheidet sie sich?
Die Sorge, die Angst vor einem Krieg, ist größer. Aber auch um die Zivilgesellschaft ist es inzwischen ganz anders bestellt – damals war sie viel freier, viel präsenter, es gab eine Antikriegsbewegung, es gab Oppositionspolitiker, die noch Unterstützung aus den Jahren 2011/2012 in Teilen der Gesellschaft genossen: Boris Nemzow, Alexej Nawalny, eine ganze Reihe. Jetzt ist da niemand, außer Jabloko als Partei – die, ich sag mal so, nicht sehr populär ist. Und: Proteste sind verboten. Auch deswegen sehen wir keine Antikriegsbewegung. Sowohl die unabhängigen Politiker als auch die unabhängigen Medien sind ausgedünnt.
„Bulgaren sind begeistert vom Lada Niva“, „Bulgaren sind Russland dankbar für Hilfe“, „Bulgaren lachen über Kiews Plan zur Einmischung in das Genehmigungsverfahren von Nord Stream 2“: Woher kommt diese Faszination der Bulgaren für alles, was mit Russland zu tun hat? Stehen die Bewohner der Balkanrepublik wirklich immer auf der Seite Putins, so wie es die Überschriften bei RIA Nowosti vermuten lassen? Und warum übersetzt eine staatliche Nachrichtenagentur eigentlich anonyme Leserkommentare?
Meduza-Investigativchef Alexej Kowaljow über einen bizarren Trend in staatlichen russischen Nachrichtenmedien – an dem er selbst nicht ganz unschuldig ist.
„Bulgaren sind begeistert von russischem [hier etwas Beliebiges einsetzen]“. Dieses Mem ist derart hartnäckig, dass es jetzt kaum einen Tweet des offiziellen Accounts von RIA Nowosti gibt, bei dem sich der geneigte Leser nicht fragt, was denn mit den Bulgaren los ist.
Angemerkt sei, dass Bulgaren sich nicht nur begeistern. Sie „äußern sich“ auch, sie „lachen über“ Dinge, sie „bewerten“ … Und zugegeben, auf den Internetseiten von RIA Nowosti zeigen auch Leser aus anderen Ländern Gefühle zu den Ereignissen in Russland unterschiedlichster Art.
Die Briten beispielsweise, die einen Artikel des Daily Telegraph über mögliche Sanktionen der USA gegen Moskau kommentieren, „haben Angst“, dass sie frieren werden, wenn Russland vom Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen werden sollte.
„Als ich eine blutjunge Reporterin war“, schreibt die Moskaukorrespondentin des Daily Telegraph und Mitautorin dieses Beitrags Natalja Wassiljewa auf Twitter, „da gab es bei uns diese Passantenbefragungen. Du gehst auf die Straße und fragst das Volk, was es denkt. Aber bei RIA sind wohl alle zu jung, um sich daran zu erinnern.“
Das Format Anonyme Leserkommentare zu Artikeln ausländischer Medien über Russland gibt es auf der Website von Inosmi schon seit Mitte der 2000er Jahre. Das Portal übersetzt Artikel ausländischer Medien und gehört zur internationalen Mediengruppe Russia Today.
Achtung, hier ein Hinweis auf einen möglichen Interessenkonflikt: Der Autor dieses Artikels und Investigativchef von Meduza, Alexej Kowaljow, schreibt im Weiteren über den damaligen Chefredakteur von Inosmi, Alexej Kowaljow. Es handelt sich hierbei um ein und dieselbe Person (Anm. Meduza).
Der ehemalige Chefredakteur von Inosmi Alexej Kowaljow, zeichnet sich für die Schaffung dieser Rubrik voll verantwortlich. Unter seiner Leitung wurden im Rahmen einer allgemeinen thematischen Ausweitung des Online-Portals nicht nur Leserkommentare zu Artikeln über Russland aufgenommen, sondern auch zu allgemeineren Themen, etwa zum Gerichtsverfahren gegen Anders Breivik oder zum Tod von Margaret Thatcher. Seinerzeit war noch nicht allgemein bekannt, dass Internetseiten ausländischer Medien mit Kommentaren professioneller Kreml-Trolle zugemüllt werden. Und es war auch noch nicht so, dass Trolle Artikel kommentierten, in denen es überhaupt nicht um Russland ging.
„Begeisterte Bulgaren“ und „in Furcht versetzte Briten“ gelangen auf die Internetseite staatlicher und regierungsfreundlicher Medien
Vom Portal Inosmi gelangen die „begeisterten Bulgaren“ und „in Furcht versetzten Briten“ auf die Internetseite von RIA Nowosti und wandern dann weiter zu anderen staatlichen und regierungsfreundlichen Medien, die beginnen, das Format zu kopieren. Immerhin geht Inosmi bei der Auswahl anonymer Kommentare zu Artikeln aus dem Ausland relativ sorgsam vor: Es landen dort positive wie kritische Anmerkungen.
Wenn die Kommentare von RIA übernommen werden, verschwinden gewöhnlich die negativen Anmerkungen. So erschien beispielsweise ein Beitrag von Inosmi vom 21. Mai 2021 unter der Überschrift Leser der Daily Mail über die neue „Putin-Rakete“: Die Russen sind Habenichtse, woher haben sie so viel Knete? Die hierfür ausgewählten Kommentare zum Artikel der Daily Mail über Tests der Hyperschall-Rakete unter der Codebezeichnung Ostrota spiegeln allgemein die Haltung der Leser dieser Zeitung wider: „Putin folgt dem niederträchtigen, von Despoten seit jeher ausgetretenen Pfad: Drohe dem eigenen Volk mit einem äußeren Feind, um es von den Misserfolgen im Innern abzulenken“, schreibt etwa der User Ravfox. Nachdem das Material zu RIA gewandert war, blieb dort nur eine Emotion übrig: „Das ist unser Ende“ – Briten in Angst vor supergeheimer russischer Rakete. Deshalb erschienenbei RIA – im Unterschied zu Inosmi – von den Kommentaren zum Artikel der Daily Mail nur die unpopulärsten Reaktionen mit den meisten Down-Votes. Übrigens ist dieser Artikel bei RIA eine weitere Variante dieses Genres über (angeblich) begeisterte Ausländer: „[Bewohner des Landes X, meist der USA] fürchten sich vor [russische militärische Erfindung].“
Was Bulgaren über die „begeisterten Bulgaren“ denken
Übersetzungen bulgarischer Kommentare, denen wir das Mem über die „begeisterten Bulgaren“ zu verdanken haben, gibt es erst seit 2020. Das ist wahrscheinlich auf eine Rotation bei den freischaffenden Übersetzern von Inosmi zurückzuführen. Im Juni 2021 schloss sich endlich der Kreis mit den „begeisterten Bulgaren“: Zu diesem Zeitpunkt berichtete das bulgarische Portal OFFNews von dem russischen Medienphänomen.
„Diese Strategie, die Meinung einzelner (womöglich trolliger) Kommentatoren als Stimme des ganzen Volkes hinzustellen, das vermeintlich einhellig die russische Außenpolitik unterstützt, wird nicht nur bei den Bulgaren angewendet“, hebt das Portal hervor. „Auf gleiche Weise werden Kommentare der Amerikaner, der Chinesen, Briten, Franzosen, Japaner usw. aufgearbeitet. Unklar ist nur, warum bei dieser Medienkampagne so viel Meldungen ausgerechnet den Bulgaren gewidmet sind“.
Die Strategie, einzelne womöglich trollige Kommentare als Stimme des ganzen Volkes hinzustellen, wird nicht nur bei den Bulgaren angewendet
Unter den bulgarischen Medien, die RIA „begeisterte Bulgaren“ liefern, ist am häufigsten das Portal fakti.bg zu finden, das dem bulgarischen Unternehmen Rezon Mediya gehört. Zu dessen Konglomerat gehören auch die populärsten Internetportale Bulgariens zum Kauf und Verkauf von Immobilien und Gebrauchtwagen. Georgi Angelow, ein bulgarischer Journalist und Autor des Artikels über die „begeisterten Bulgaren“ auf OFFNews, erklärte gegenüber Meduza, warum gerade fakti.bg bei den Redakteuren von Inosmi und RIA beliebt ist: Diese würden sich vor allem Portale aussuchen, auf denen Kommentare nur wenig oder gar nicht moderiert werden. Wahrlich ein Grund für Begeisterung!
Das Jahr 2021 stand in Russland im Zeichen zunehmender Repression – gegen die politische Opposition und gegen unabhängige Akteure generell. Das jüngste Vorgehen gegen die international bekannte Menschenrechtsorganisation Memorial ist ein Ausdruck davon. Bedeutend stärker betroffen als in den Jahren zuvor sind auch Medien und sogar einzelne Journalisten. Mehr als 80 von ihnen wurden seit April auf die Liste der sogenannten „ausländischen Agenten“ gesetzt.
Manche Medien – wie VTimes – stellten daraufhin den Betrieb ein, andere – wie Meduza, Republic oder Doshd– versuchen ihre Arbeit dennoch fortzusetzen. Auch einzelne Journalisten gehen unterschiedlich damit um, als „ausländischer Agent“ gelistet zu sein: Manche machen weiter, andere gehen ins Ausland oder suchen einen neuen Beruf. Das Label bedeutet bürokratische Hürden – so muss man zum Beispiel vier Mal im Jahr ein spezielles Meldeformular an das Justizministerium senden, wofür man als juristische Person registriert sein muss. Man ist verpflichtet, den Behörden Daten über Aktivitäten, Einnahmen und Ausgaben zu übermitteln, andernfalls drohen Geld- oder sogar Haftstrafen. „Ausländischer Agent“ zu sein ist aber vor allem ein soziales Stigma.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Entscheidung des Nobelkomitees umso bedeutender, das mit dem Friedensnobelpreis am kommenden Freitag, 10. Dezember, auch Dmitri Muratow auszeichnet. Muratow ist Chefredakteur der Novaya Gazeta, die seit den 1990er Jahren als Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Russland gilt.
Meduza fragte Journalistinnen und Journalisten, auch solche, die selbst als „ausländischer Agent“ gelistet sind oder für „Agenten-Medien“ arbeiten: Warum arbeiten Sie weiterhin als Journalist? Und spüren Sie sowas wie journalistische Solidarität?
Ich weiß nicht, warum ich immer noch Journalismus betreibe. Mein Partner [der Journalist Iwan Safronow] sitzt wegen seiner journalistischen Arbeit seit eineinhalb Jahren in U-Haft [in Lefortowo]. Der Sender Doshd, bei dem ich arbeite, gilt als „ausländischer Agent“. Viele meiner Journalistenfreunde mussten das Land verlassen. Jeder normale Mensch hätte wohl schon längst den Beruf gewechselt. Aber ich kann nichts anderes – und vor allem will ich es gar nicht.
Es ist schwer, über Folter zu schreiben und zu wissen, dass dafür wahrscheinlich niemand je zur Rechenschaft gezogen wird
Es ist schwer, wenn du kein direktes Ergebnis deiner Arbeit siehst. Du rettest keine Menschen aus brennenden Häusern. Hast nicht einmal das Recht, ihnen etwas zu versprechen – Hilfe, oder die Aussicht, dass alles gut wird. Es ist schwer, wenn du siehst, wie deine Interviewpartnerin während des Gesprächs bei lauten Geräuschen zusammenzuckt, weil ihr mit 18 Jahren Drogen untergeschoben wurden und sie statt an die Uni in eine Strafkolonie kam. Und du weißt, dass ihr diese Zeit und ihre Gesundheit niemand je ersetzen können wird. Es ist schwer, über Folter zu schreiben und zu wissen, dass dafür wahrscheinlich niemand je zur Rechenschaft gezogen wird. Aber wenn du von einer Frau, die ihr Kind verloren hat, eine Nachricht bekommst, in der sie sich überschwänglich bei dir bedankt, dann vergisst du das nie.
Es gibt Fälle, wo es Journalisten gelang, ein Problem zu lösen oder etwas zum Besseren zu wenden. In Russland wird das natürlich mit jedem Monat schwieriger, aber daran sind nicht die Journalisten schuld. Auch im Schach kannst du nur schwer gewinnen, wenn du dich an die Spielregeln hältst, während der Gegner dir das Brett um die Ohren schlägt.
Jelena Kostjutschenko Korrespondentin der Novaya Gazeta
Ich betreibe weiterhin Journalismus, weil ich das einfach gern mache. Du erlebst ganz Unterschiedliches, triffst unterschiedliche Leute, siehst, was in der Welt passiert. Darüber schreibst du dann und bekommst sogar Geld dafür. Ich finde das super. Eine tolle Arbeit. Und die Bedrängnis, mit der wir konfrontiert sind, macht die Arbeit nicht weniger toll. Nur leider steigt der Preis. Ich bin bereit, diesen Preis zu zahlen. Noch dazu arbeite ich bei der Novaya Gazeta, bei uns war es immer schon ***** [schwierig//hart]. Wir hatten nie diese friedliche Zeit wie die Journalisten anderer Medien.
Ich sehe den Beweis, dass Solidarität unter Journalisten möglich ist und funktioniert
Bei der Novaya Gazeta, wurden immer wieder Kollegen umgebracht. Zwei Frauen wurden getötet, die über Tschetschenien schrieben – direkt hintereinander: Zuerst Anna Politkowskaja, woraufhin Natalja Estemirowa das Thema übernahm, bis sie ebenfalls getötet wurde. Jetzt hat Elena Milashina ihren Job übernommen. Dass sie noch am Leben ist, sehe ich als Beweis dafür, dass Solidarität unter Journalisten möglich ist und funktioniert. Journalistische Solidarität sieht bestimmt ziemlich radikal aus. Wenn ein Kollege getötet, inhaftiert oder sonstwie an seiner Arbeit gehindert wird, muss man seinen Platz einnehmen und das, was er gemacht hat, weiterführen. Auf diese Art zeigen wir den Leuten und den staatlichen Strukturen, die uns Journalisten am Arbeiten hindern wollen, dass es keinen Sinn hat, uns zu töten, Zeitungen zu schließen oder uns das Label „ausländischer Agent“ anzuhängen.
Warum sollte man 2021 keinen Journalismus betreiben? Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Warum sollte ich jetzt nicht mehr sein? Auf diese Frage habe ich keine Antwort. Eigentlich hat es immer Leute gegeben, die etwas gegen Journalisten haben. Denen nicht gefällt, wie sie schreiben und was sie schreiben. Das war immer schon so und wird immer so sein. Zu manchen Zeiten führt das zu mehr Repressionen, und manchmal ist der Druck geringer. Alle erinnern sich gern an die schönen 1990er Jahre, als angeblich Pressefreiheit herrschte, wie es aus heutiger Perspektive scheint. Man darf aber nicht vergessen, dass auch die Geschichten mit [den Morden an den Journalisten] Dimitri Cholodow, Larissa Judina und etlichen anderen in diese Zeit fallen.
Ich bin seit 25 Jahren Journalist. Warum sollte ich es jetzt nicht mehr sein? Auf diese Frage habe ich keine Antwort
Es gab also immer Leute, die irgendwie Einfluss auf die Medien nehmen wollten. Was soll man da machen? 25 Jahre warten? Ist doch auch blöd. Man muss tun, was man kann, soweit es die Situation erlaubt.
Was mir 2019 passiert ist, war ein wunderbares Beispiel für journalistische Solidarität. Damals haben sich alle Journalisten zusammengetan, egal, für welche Medien sie tätig waren – für unabhängige oder staatliche. [Ähnliches] geschieht mit der Haft von Iwan Safronow, da gibt es in den Regionen viele lokale Initiativen. Ich glaube an die journalistische Solidarität. Und an die Solidarität der Leser mit den Journalisten. Ich glaube sogar an die Solidarität der Personen, über die geschrieben wird, mit den Journalisten, weil ich das alles am eigenen Leib erfahren habe.
Maria Shelesnowa Redakteurin, die zum „Medium, das als ausländischer Agent fungiert“, erklärt wurde
Ich kann wahrscheinlich schwer auf etwas verzichten, was ich viele Jahre lang gemacht habe und sehr gerne mache. In meiner ganzen Zeit als Journalistin habe ich nie – freiwillig und ernsthaft – an einen anderen Beruf gedacht. Nichts anderes ist mir je so organisch vorgekommen – obwohl ich mir nach der Erklärung zum „ausländischen Agenten“ schon die Jobanzeigen für Supermarkt-Kassiererinnen angesehen habe. Sagen wir so, ich wollte mir und meinem Beruf noch eine Chance geben.
Überwindung professioneller Hürden bedeutet für mich vor allem, den Mut nicht zu verlieren und keine faulen Kompromisse mit mir selbst zu schließen
Ich war als Journalistin nie besonders heroisch – ich war nie Kriegsreporterin, habe keine Korruptionsfälle aufgedeckt, die in ihrem Zynismus ungeheuerlich sind, habe mich nicht Hals über Kopf in den undurchdringlichen Unbilden unseres Lebens vergraben und so weiter. Überwindung professioneller Hürden bedeutet für mich vor allem, nicht den Mut zu verlieren und keine faulen Kompromisse mit mir selbst zu schließen, Euphemismen zu meiden und die Dinge beim Namen zu nennen.
Wenn ich aber doch an konkrete Dinge denke, dann waren meine unfreiwilligen Kündigungen das Schwerste. Wenn dir klar wird, dass das, was du tust und wofür du in diese Redaktion gekommen bist, aufgrund von Umständen, die außerhalb deiner Macht stehen, völlig unmöglich wird, und dir nichts anderes übrig bleibt, als deinen letzten Text abzugeben und zu kündigen. Und auch wenn du weißt, dass das die einzig richtige Entscheidung war, ist es trotzdem schwer, und dieses Gefühl trägst du lange mit dir herum. Ich glaube nicht, dass ich mit meiner Erfahrung allein bin, aber in den letzten zehn Jahren musste ich zweimal so vorgehen. Das letzte Mal 2020, als die Vedomosti, bei der ich gearbeitet habe, einen neuen Inhaber und einen neuen Chefredakteur bekam – und klar wurde, dass das jetzt eine ganz andere Zeitung wird.
Insgesamt hatte ich in zehn Jahren drei verschiedene Arbeitsplätze. Zweimal habe ich schweren Herzens selbst gekündigt, das Dritte war Projekt, dessen Tätigkeit unser Staat als „unerwünscht“ betitelte und kurzerhand dichtmachte. Tja, mein Resümee ist ein bisschen düster.
Vor ein paar Tagen habe ich Material über den 15-jährigen Jaroslaw Inosemzew gesammelt, der beschuldigt wird, in einer Wolgograder Schule einen Terroranschlag vorbereitet zu haben. Ich schreibe dieses Jahr schon zum zweiten Mal über ihn. Nach dem ersten Bericht wurde Jaroslaw aus der Psychiatrie (wohin er aus der U-Haft überstellt worden war) nach Hause entlassen. Ich hoffte (naiv, wie ich war!), dass die Sache im Sand verlaufen würde, aber drei Monate später warfen sie ihn wieder in den Knast. Jaroslaws Mutter hat mir geschrieben, dass die Richterin nach dem – in meinen Augen absolut unmenschlichen – Hafturteil in ihrem Dienstzimmer saß und heulte. Seit einer ganzen Weile schon geht mir das Bild dieser weinenden Frau in der Robe nicht aus dem Kopf, die einen Schüler in den Knast steckt (der niemandem etwas getan hat und es höchstwahrscheinlich auch nicht vorhatte), einfach weil der FSB so tun muss, als würde er Shootings vereiteln.
Wir Journalisten sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein eigenes Volk
Wir können über solche Dinge nicht schweigen – und erst nicht über Folter in Strafkolonien oder dem stalinistischen Regime in Tschetschenien und dergleichen. Wir müssen darüber schreiben. Wir Journalisten sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein eigenes Volk. Und ich sage das nicht um des Pathos’ willen – es ist leider die Wahrheit. Und man darf sich nicht einfach umdrehen, den Laptop zuklappen, weggehen und vergessen.
Deswegen habe ich die Frage „Warum betreibst du weiterhin Journalismus“, die mir Meduza gestellt hat, zehn Mal gelesen – und ihren Sinn nicht verstanden. Das ist doch absurd. Wieso „Warum“? Was denn sonst? Klar, wenn wir mit Kollegen bis nach Mitternacht in der Kneipe hocken, dann jammern wir gern über Erschöpfung und Burnout, über die unerträgliche Belastung durch fremdes Leid, über die Sinnlosigkeit unserer Arbeit, über die eigene Unzulänglichkeit und zu guter Letzt das mickrige Einkommen. Aber alles hinschmeißen und aufhören? Im Ernst? Und was dann? In die PR, ins Politconsulting, ins Business? Nein, wenn ich genauer überlege, habe ich diese Option nie ernsthaft in Betracht gezogen. Und je schwerer die Zeiten, desto höher die Motivation weiterzumachen.
Warum Memorial, und warum geht es gleich um die Liquidierung der Organisation? Diese Fragen beschäftigen derzeit (nicht nur) Russlands Zivilgesellschaft: Am 25. November beginnt der Prozess am Obersten Gericht gegen die unabhängige Menschenrechtsorganisation, die sich seit der Perestroika wie keine zweite der Aufarbeitung der Stalinzeit und dem Einsatz für Menschenrechte verschrieben hat. Seit bekannt wurde, dass die russische Generalstaatsanwaltschaft den Antrag auf Liquidierung gestellt hat – offiziell wegen Nichteinhaltung der Regeln für sogenannte „ausländische Agenten“ – wird diskutiert, warum es zu diesem massiven Schlag kommt, warum es in einem von heute auf morgen anberaumten Prozess darum gehen soll, die älteste russische Menschenrechtsorganisation aufzulösen. „Das ist keine juristische, sondern eine politische Entscheidung von ganz oben“, sagt Memorial-Mitbegründerin Irina Schtscherbakowa im Podcast von Memorial Deutschland.
Spätestens seit den Solidaritätsprotesten für den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny im Frühjahr und angesichts der Dumawahl im Herbst geht der Kreml massiv gegen unabhängige Akteure vor. Die Politikwissenschaftlerin Tatjana Stanowaja konstatiert bereits im Mai: „Die Unterdrückung wird radikal ausgeweitet, zur Zielscheibe wird alles, was die Macht als eine Form von Anti-Regime-Verhalten empfindet, ob individuell oder institutionell.“ So wurden sämtliche Organisationen Nawalnys – wie etwa sein Antikorruptionsfonds – für „extremistisch“ erklärt, seit Beginn des Jahres wurden aber etwa auch mehr als 70 unabhängige Medien und einzelne Journalisten als „ausländische Agenten“ diffamiert. Auch Irina Schtscherbakowa sieht im Vorgehen gegen Memorial das Signal: „Ihr müsst alle Angst haben!“. Es gehe an alle, die mit der offiziellen Politik nicht einverstanden sind oder „überhaupt ihre Stimme erheben gegen etwas, was ihnen nicht passt“.
Gleichzeitig geht es bei Memorial um die Organisation der historischen Aufarbeitung, die seit 30 Jahren ein umfangreiches Archiv aufgebaut, eine Datenbank mit rund 3,5 Millionen Biographien angelegt und mit zahlreichen Aktionen wie der Rückgabe der Namen ein Gedenken an die Opfer des politischen Terrors in der Sowjetunion initiiert hat, – die Liste ließe sich fortsetzen. So sieht der Journalist Oleg Kaschin im Vorgehen gegen Memorial eine „Bestrafung des historischen Erinnerns“ und den Versuch des Kreml, die Deutungsmacht über die Geschichte zu monopolisieren. Das explizite Benennen von Opfern wie Tätern wäre demnach im offiziellen Geschichtssynkretismus, bei dem Zarenfans wie Sowjetnostalgiker gleichermaßen bedient werden, selbst in Nischen ausdrücklich nicht mehr erwünscht.
Maxim Trudoljubow fügt solchen Thesen auf Meduza eine weitere hinzu: Er sieht das Vorgehen gegen die international renommierte Organisation als asymmetrische Antwort auf Sanktionen des Westens. Auch Schtscherbakowa von Memorial sagt im Podcast, das Signal „Wir sind durch nichts geschützt, die Macht kann mit uns machen, was sie will“ gehe an unabhängige Akteure und ihre Unterstützer im Westen gleichermaßen.
Die drohende Vernichtung von Memorial durch die Behörden wird als schwerer Schlag empfunden – sowohl gegen die Menschenrechte im heutigen Russland als auch gegen den offenen Diskurs über die schrecklichen Ereignisse der Vergangenheit, für die der Staat die Verantwortung trägt. Eine Gesellschaft, die eine Organisation wie Memorial hat, und eine, die das nicht hat, sind zwei unterschiedlich reife Gesellschaften. Die russische Gesellschaft ist eine reife Gesellschaft. Noch. Doch der politischen Führung in Russland geht es nicht um den Reifegrad der Gesellschaft. Für die Akteure im Kreml ist Memorial die bekannteste russische Organisation in Deutschland und deswegen ein Instrument der Einflussnahme auf deutsche und europäische Politiker. Das ist einer der Knöpfe – und wenn man sie drücken kann, dann drückt man sie auch.
Zwei Mythen der russischen Politik
Über seine Innen- und seine Außenpolitik erzählt der russische Staat zwei dem Sinn nach entgegengesetzte Geschichten, zwei Mythen: Innerhalb des Landes, sagen uns Regierungsvertreter und Staatsmedien, herrsche Frieden, Harmonie und Stabilität. In der Welt da draußen gebe es hingegen weder Frieden noch Harmonie noch Stabilität. Russland habe es da gezwungenermaßen mit Feinden zu tun, die es an seinen Grenzen bedrängen, in seiner Entwicklung behindern und seinen Einfluss in der Welt schmälern wollten. Einzelne Probleme habe Russland zwar, sie seien jedoch eine Folge der Konflikte im Außen, sagen uns die Staatsmedien.
Für innere Probleme Ursachen im Außen zu suchen, ist eine althergebrachte Technik der Macht, die schon während der gesamten Sowjetära angewendet wurde und die es erlaubt, die Regierung auf rhetorischer Ebene jeglicher Kritik zu entheben. Als Boten des üblen Einflusses von außen nennt die russische Regierung diverse „Andere“, die sich inmitten der einigen russischen Gesellschaft verschanzt hätten. Diese spürt der Staat auf und erklärt sie zu „ausländischen Agenten“, „unerwünschten“ und „extremistischen“ Organisationen.
Innere Probleme – nur Folgen externer Konflikte
Die Geschichte vom Frieden im Land ist, wie auch die vom Krieg in der Außenwelt, ausgedacht und hat mit der Realität sehr wenig zu tun. Die russische Gesellschaft ist in zahlreichen Fragen nicht einig, sondern heterogen und polarisiert – angefangen beim Umgang mit dem sowjetischen Erbe bis hin zu den Präferenzen hinsichtlich der Zukunft des Landes (das heißt, dem Weg, den das Land beschreiten soll). Existierten in Russland Parteien und Organisationen, die tatsächlich die Ansichten der Bürger widerspiegeln, würde der politische Machtkampf im Land zu unvorhersehbaren Wahlergebnissen führen und intensive, glühende Debatten über eine Vielzahl von Themen auslösen.
Nichts dergleichen findet derzeit statt: Die öffentliche Sphäre bleibt der Staatsmacht überlassen, die ständig bemüht ist, die realen inneren Konflikte zu vertuschen und äußere zu erschaffen. Sowohl die Einigkeit im Inneren als auch die Konflikte im Äußeren werden künstlich konstruiert – mit Hilfe von Propaganda, der Unterstützung durch bestimmte Bevölkerungsgruppen, und durch manipulierte Meinungsumfragen und Wahlen.
Der Krieg zwischen Russland und der Außenwelt ist ein zentraler politischer Mythos. In Wirklichkeit sind die, die der Staatsmacht am nächsten stehen, gleichzeitig am besten in die Außenwelt integriert. Studien über die russische Elite zeigen, dass ihre Einstellung westlichen Ländern gegenüber zwar negativ und von Ressentiments und Unzufriedenheit mit der ihnen entgegengebrachten Gastfreundschaft geprägt ist, aber sie orientieren sich dennoch am Westen.
Die Abgeordneten des russischen Parlaments verteidigen seit vielen Jahren das Recht, Immobilien im Ausland zu besitzen. Für die, die von der jetzigen Situation in Russland am meisten profitieren, ist der Weg in den Westen praktisch alternativlos – denn ihre Vermögen werden von den westlichen Rechtssystemen besser geschützt, ihren Kindern wird an westlichen Universitäten eine bessere Bildung geboten, und auch der angestrebte Grad an persönlicher Sicherheit ist nur außerhalb des Landes realisierbar.
In der Konfliktstrategie, die Russland verfolgt, geht es nicht um den tatsächlichen Einsatz von Gewalt, sondern vor allem um Drohungen und vielsagende Gesten
Russland ist als Abnehmer von Industrieerzeugnissen und High-Tech-Produkten fest in die Weltwirtschaft integriert. Sowohl die russische Gesellschaft als auch die politische Führungsriege sind persönlich von ausländischen Finanz-, Rechts- und digitalen Infrastrukturen abhängig. Aus einer solchen Position heraus ist es schwierig, auf Unabhängigkeit und eine Führungsrolle in internationalen Beziehungen zu bestehen. Aber Russlands Regierung will ihre Unabhängigkeit und Führungsrolle trotzdem behaupten. Und weil es nicht gelingt, das mit positiven „Trümpfen“ – etwa ökonomischem Gewicht und Einfluss – zu erreichen, spielt sie negative aus, die auf die eine oder andere Art mit Konflikten zu tun haben. Gerade in Konfliktlagen weiß Russlands Führungsriege um die wirksamsten Knöpfe, die sie im internationalen Dialog drücken kann. In der Konfliktstrategie, die Russland verfolgt, geht es nicht um den tatsächlichen Einsatz von Gewalt, sondern vor allem um Gewaltpotenzial – um Drohungen und vielsagende Gesten.
Werte versus Preise
Bei einer solchen Herangehensweise eignet sich absolut alles als Waffe oder Konfliktwerkzeug, was den „Partnern der Gegenseite“ wehtut: Zum Einsatz kommen da Truppenmanöver an der ukrainischen Grenze, Meldungen über neue Waffenarten und andere Kampfansagen. Russland ist für Westeuropa einer der wichtigsten Energielieferanten – also wird auch dieser Hebel in Bewegung gesetzt. Alexander Lukaschenkos Missbrauch von Flüchtlingen als Waffe gegen die EU löst dort Proteste aus – also wird Russland dieses grausame Spiel zumindest nicht verhindern. In diesem Fall wird der belarussische Diktator selbst zu einer Waffe in russischer Hand. Was überaus praktisch ist: Man kann eine Beteiligung an dem Konflikt jederzeit von sich weisen.
Bedeutende Organisationen und Personen innerhalb Russlands, einschließlich Memorial, werden ebenfalls zur gültigen Währung. Alle Mittel, mit denen man Aufsehen erregen und ein öffentliches Gefecht mit dem Gegner provozieren kann, sind recht. Im Fall von Memorial geht es den russischen Politmanagern nicht so sehr darum, was diese älteste Menschenrechtsorganisation Russlands im Einzelnen tut, als vielmehr um deren Bekanntheit in Europa, vor allem in Deutschland, wo die Verbrechen des Totalitarismus ebenfalls ein sehr wichtiges – und schmerzhaftes – Thema sind. Diese Bekanntheit „funktioniert“ bereits: Die Drohung, Memorial aufzulösen, hat in Deutschland öffentliche Reaktionen ausgelöst. Der Außenminister gab eine scharfe Erklärung ab (allein die Möglichkeit einer Schließung dieser Organisation bezeichnete er als erschütternd), und Personen des öffentlichen Lebens, Russlandforscher und Historiker haben bereits offene Briefe zur Unterstützung ihrer russischen Kollegen verfasst.
Je prominenter eine Person oder Organisation ist, desto schwerer wiegt sie in der Konfliktstrategie. Dabei wäre es falsch zu glauben, dieser Handel verlaufe geradlinig: Wir geben euch eine Spielfigur, ihr gebt uns eine – wie beim Austausch von Spionen oder der Ausweisung von Diplomaten. Natürlich hätte Russland gern, dass Deutschland Nord Stream 2 noch unter der aktuellen Kanzlerin zertifiziert. Russland weiß aber auch, dass es aus formalen Gründen diesen Prozess nicht beschleunigen kann, der noch dazu aufgrund anhaltender Diskussionen in und außerhalb der EU erschwert wird (in das Wortgefecht rund um die Pipeline hat sich jetzt auch Großbritannien eingeschaltet).
„Ausländische Agenten“ und „unerwünschte“ Organisationen als Geiseln
In der Konfliktstrategie, die die derzeitige Führungsriege des russischen Staates gewählt hat, muss den Gegnern deutlich gemacht werden, dass auf Sanktionen und andere Druckmittel seitens des Westens eine Reaktion erfolgt. Diese Reaktion kann in der Regel nicht symmetrisch sein, dafür ist Russlands ökonomisches und politisches Gewicht zu gering. Trotzdem kann die Antwort schmerzhaft sein, denn „ausländische Agenten“ und „unerwünschte“ Organisationen erinnern an Geiseln. Die Einstufung von Alexej Nawalnys Organisation und Regionalbüros als extremistisch erfolgte im vergangenen Frühling direkt nachdem die USA ein weiteres Sanktionspaket gegen Russland angekündigt hatten. Mit dieser Geste wälzte die russische Regierung einen Teil der Verantwortung für das Schicksal des Politikers und seiner Anhänger auf den Westen ab. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Kreml als Reaktion auf den Druck von außen Jagd auf einen westlichen „Agenten“ im eigenen Land veranstaltet.
Folter und Gewalt in Russlands Gefängnissen sind ein offenes Geheimnis – immer wieder drangen Augenzeugenberichte darüber an die Öffentlichkeit. Auch Olga Romanowa, Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja, weist seit Jahren darauf hin, dass das russische Gefängniswesen systematisch darauf ausgerichtet sei, Menschen zu brechen. Dem ehemaligen Häftling Sergej Saweljew ist es nun gelungen, ein großes Archiv an Daten, die Foltervideos aus russischen Gefängnissen enthalten, aus dem Knast zu schmuggeln. Das Material zeugt von einem systematischen Folternetzwerk in mehreren russischen Gefängnissen. Saweljew wandte sich damit an den Menschenrechtler Wladimir Ossetschkin, der einzelne Videos auf seiner Plattform Gulagu.net veröffentlichte, benannt nach dem stalinistischen Lagersystem. Die explizite Gewalt auf den Videos erschütterte viele. Doch obwohl sich auch Russlands Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa erschüttert zeigte und Sergej Saweljew für seinen Mut lobte, wurde der Ex-Häftling zur Fahndung ausgeschrieben und Haftbefehl gegen ihn erlassen. Er ersucht derzeit politisches Asyl in Frankreich.
Meduzahat Sergej Saweljew interviewt und mit ihm darüber gesprochen, inwiefern er selbst Opfer von Gefängnisfolter wurde, wie er an das Material kam – und warum die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Andrej Sarafimow/Meduza: Sagen Sie ein paar Worte über sich. Wie alt sind Sie, und wo kommen Sie her?
Sergej Saweljew: Ich bin 31. Ich bin aus Belarus, geboren wurde ich in Minsk. Dort habe ich auch den Großteil meines Lebens verbracht.
Warum haben Sie sich nach der Veröffentlichung der Foltervideos dafür entschieden, Ihre Identität preiszugeben?
Dem Geheimdienst ist meine Identität sowieso bekannt. Nur die Öffentlichkeit wusste nicht, wer ich bin. Der Geheimdienst hatte mich längst ausfindig gemacht, also machte es keinen Sinn mehr [meinen Namen geheim zu halten]. Das genaue Datum weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie seit einigen Monaten wissen, wer ich bin.
Wie würden Sie beschreiben, was auf den Videos zu sehen ist?
Die „Aktivisten“ – so nennt man die anderen Häftlinge im Tuberkulose-Gefängniskrankenhaus OTB-1 in Saratow – können sich jeden Mithäftling vornehmen, den die Leitung rauspickt. Dann bringen sie ihn in die Folterkammer und foltern ihn auf jede erdenkliche Weise. Angefangen bei banalen Schlägen und Erniedrigungen bis hin zu krassen Formen sexueller Gewalt. Sie können einem Menschen antun, was sie wollen.
Wer entscheidet, welcher Häftling gefoltert wird?
Verschiedene Leute in leitenden Positionen in und außerhalb der jeweiligen Einrichtung. Ich bin mir sicher, dass die Spuren noch viel höher führen: bis hin zu den Leitern des FSIN [Strafvollzugsbehörde] und des FSB.
Sie können einem Menschen antun, was sie wollen
Manche Entscheidungen wurden wahrscheinlich auch vor Ort getroffen. Aber in den meisten Fällen kamen die Anweisungen von oben.
Wofür brauchen die FSIN-Beamten die Folter? Was sind deren Ziele?
Die Ziele können sehr unterschiedlich sein. Angefangen bei banaler Bestrafung wegen Verstößen oder Ungehorsam bis hin zu Erpressung. Manchmal setzen sie Folter ein, um das Opfer später zu Falschaussagen gegen jemand anderen zu zwingen.
Auch Rache auf Bestellung von oben ist nicht ausgeschlossen.
Und werden die Ziele mittels Folter erreicht?
Das Ganze passiert ja nicht seit einem Jahr, es hat System in den Behörden, also sind sie [die FSIN-Beamten] mit den Ergebnissen offenbar zufrieden.
Sie sagten, Sie hätten den Großteil Ihres Lebens in Minsk verbracht. Wann und wie sind Sie nach Russland gekommen?
Das war 2013. Ein Bekannter hat mir einen Job angeboten. So bin ich in der Oblast Krasnodar gelandet und bin dort nicht mehr weggekommen. Ich wurde von Spezialeinheiten festgenommen, genauer gesagt vom FSB. Man beschuldigte mich, einen Drogendeal vorzubereiten.
Es geht darum, den Widerstand, den Willen zu brechen. Darum, einem Menschen zu zeigen, dass er keinerlei Rechte hat
Bei der Festnahme habe ich zum ersten Mal Gewalt durch die Silowiki erlebt. Das hat natürlich Spuren fürs ganze Leben hinterlassen. Ich bin noch nie derart brutal, derart heftig und derart krass zusammengeschlagen worden. Die Schläge dauerten den ganzen Tag. Zehn Leute haben auf mich eingeprügelt. Alle maskiert und mit Waffen.
Wollten sie ein Geständnis erzwingen?
Es geht eher darum, den Widerstand, den Willen zu brechen. Darum, einem Menschen zu zeigen, dass er keinerlei Rechte hat. „Wir machen alles, was wir wollen, und uns wird nichts passieren“.
Wie kam es, dass Sie vom FSB festgenommen wurden?
Ehrlich gesagt, drängt sich mir der Verdacht auf, dass die Sache von Vorneherein geplant war. Zu dieser Zeit [Saweljew wurde 2013 verhaftet – Anm. Meduza] war ja eigentlich die Drogenfahndung für solche Delikte zuständig, und doch hat der FSB die Angelegenheit übernommen. Das gibt mir zu denken.
Was ist im Untersuchungsgefängnis passiert?
In den ersten zwei Monaten wurde ich ungefähr einmal die Woche verprügelt. Das diente jetzt nicht mehr dazu, ein Geständnis aus mir rauszuprügeln, sondern damit ich die Protokolle unterschreibe, die sie zusammenstellen, ich leistete gar nicht groß Widerstand. [Das haben sie gemacht] damit ich nicht gegen die Ermittler aufmucke und nicht gegen den Strom schwimme. Als die Ermittlungen abgeschlossen waren, wurden die Akten dem Gericht übergeben und ich wurde ins Untersuchungsgefängnis Nr. 3 in Noworossisk verlegt.
Wie unterschied sich das vom vorherigen Untersuchungsgefängnis des FSB?
Der Verwaltung dort war alles egal, die haben sich um gar nichts gekümmert. Ich war mit genau den Dingen konfrontiert, von denen ich schon unzählige Male gehört hatte: Ein russisches Untersuchungsgefängnis bedeutet null Hygiene, überfüllte Zellen, keine Sanitäranlagen. Absolut menschenunwürdige Verhältnisse. Wir waren mit 26 Leuten in einer Zelle für 12. Geschlafen haben wir dann abwechselnd, in zwei oder sogar drei Schichten. Die Rohre sind undicht, der Betonboden platzt auf, der Putz bröckelt von der Decke, es gibt riesige Kakerlaken.
Ein russisches Untersuchungsgefängnis bedeutet null Hygiene, überfüllte Zellen, keine Sanitäranlagen
Der Gerichtsprozess dauerte fast anderthalb Jahre und hatte eher was von einer Vorlesung. Ich wurde einfach zum Gericht gebracht und durfte mir dort die Geschichte [die Verfahrensdetails] anhören, die die FSB-Ermittler aufgeschrieben hatten. Seite für Seite. Und dann wurde die Sitzung vertagt, weil die Ermittler nämlich sehr viel geschrieben hatten. Fast ein ganzes Buch. Eine richtige Lesung war das.
Am Ende stand das Urteil [neun Jahre Straflager]. Nach der Urteilsverkündung wurde ich in die Oblast Saratow verlegt, wo ich die Haftstrafe verbüßen sollte. Als erstes kam ich in die Besserungsarbeitskolonie IK-10 und blieb dort ungefähr ein halbes Jahr.
Nach der Verlegung dorthin kamen wir in Quarantäne. Am ersten Abend wurden wir heftig geschlagen – sowohl von Mithäftlingen, den sogenannten Aktivisten, als auch von den Beamten.
Wie kamen Sie dann ins OTB-1?
Nach einem Lungenröntgen wurde mir gesagt, es gebe Auffälligkeiten, die abgeklärt werden müssten. Verdacht auf Tuberkulose. Dafür müsste ich in ein Spezialkrankenhaus, ins OTB-1 eben. So sind die Regeln – ob man will oder nicht, man muss hin. Unter dem Vorwand können sie jeden Häftling aus jeder beliebigen Haftanstalt verlegen. Man kann die Verlegung [ins Krankenhaus] nicht verweigern.
Über das OTB-1 wissen natürlich alle Bescheid. Jeder weiß, was für ein furchtbarer Ort das ist und dass man besser nicht krank werden sollte. Ich weiß von Fällen, bei denen sich Leute aus Protest aufgeschlitzt [die Pulsadern aufgeschnitten] haben: „Ich weiß, was die da drin mit mir machen, da fahre ich nicht hin.“
Jeder weiß, was für ein furchtbarer Ort das Gefängniskrankenhaus ist und dass man besser nicht krank werden sollte
Als mir gesagt wurde, dass ich ins OTB muss, fühlte ich Angst und Ausweglosigkeit. Allerdings wurde ich bei der Ankunft im OTB nicht geschlagen.
Ein paar Tage nachdem festgestellt wurde, dass ich gesund war, kam jemand von der Sicherheitsabteilung zu mir. Er sagte, sie hätten eine Stelle frei und suchten jemanden, der Grundkenntnisse im Umgang mit Computern hat. Word, Excel, Photoshop – solche Sachen. Das konnte ich. Also fing ich am dritten oder vierten Tag an, in der Sicherheitsabteilung vom Krankenhaus zu arbeiten. Und ein Posten in der Sicherheitsabteilung ist nicht irgendwas, so jemanden schlägt und foltert man nicht. Das ist keine schlechte Position.
Wann bekamen Sie zum ersten Mal Folterszenen zu Gesicht?
Die ersten zwei Jahre hatte ich keinen Zugang zu solchen Dingen. Man hat mich überprüft und genau beobachtet: Mit wem ich Umgang habe, was ich mache. Alle möglichen Leute haben mich getestet, ob ich Geheimnisse für mich behalten kann. Erst später, als ich mir ein gewisses Vertrauen verdient hatte …
Solche Aufnahmen entstehen nicht zufällig. Es wird alles vorbereitet. Das [die Folter] sind geplante Aktionen. [Die Videos] drehen nicht die Mitarbeiter. Erst gibt es einen Befehl von der Krankenhausleitung oder von der Leitung der Sicherheitsabteilung: „Heute kommt Häftling soundso zu dir, gib ihm eine aufgeladene Kamera mit leerem Speicher. Später zeigst du mir, was er gefilmt hat.“
Solche Aufnahmen entstehen nicht zufällig. Es wird alles vorbereitet
Der Häftling kommt, ich gebe ihm die Kamera. Er geht zum Spezialeinsatz [Folter], kommt zurück, gibt mir die Kamera wieder. Ich ziehe die Files auf den PC, überprüfe, ob sich alle öffnen lassen, und gebe sie der Verwaltung. Danach wird mir gesagt, was ich damit machen soll. Entweder: „Zieh sie mir auf nen Stick“ oder: „Lösch alles, damit nichts auf dem Computer bleibt“.
Gehörten die Geräte den Mitarbeitern?
Die Kameras waren alle erfasst, die gehören zum Bestand der Sicherheitsabteilung. Die Anzahl ist so ausgelegt, dass es genug für alle Mitarbeiter und noch ein paar in Reserve gibt. Ich musste also keinen Mitarbeitern hinterherrennen, um einem Aktivisten eine Kamera zu geben. Es war immer eine gewisse Zahl vorhanden, über die ich frei verfügen konnte.
Warum mussten die FSIN-Beamten überhaupt einen Häftling einstellen, der dann auch noch Zugang zu solchen sensiblen Daten hatte?
Wahrscheinlich wollten sie das selbst nicht anschauen, und irgendwer musste es tun. Wenigstens überprüfen, ob sich die Files öffnen lassen. Überhaupt wird ein Großteil der Arbeit an Häftlinge übertragen, das ist nichts Besonderes. Aus Faulheit, Unprofessionalität, Selbstgefälligkeit.
Ein Teil der Videos wurde auf USB-Sticks weitergegeben. Welche Videos gingen an die Leute „oben“?
Ich muss dazusagen, dass nichts auf den PCs bleiben durfte. Diese Dinge waren grundsätzlich nicht dazu gedacht, dass man sie in den Behörden aufbewahrt.
Überhaupt wird ein Großteil der Arbeit an Häftlinge übertragen, das ist nichts Besonderes. Aus Faulheit, Unprofessionalität, Selbstgefälligkeit
Was nach oben weitergegeben wurde, kam auf einen Stick und wurde weggebracht – als Bestätigung, dass die Spezialmaßnahmen durchgeführt worden waren. Als Material für spätere Erpressung. Als Garantie, dass ein Mensch tut, was man von ihm verlangt.
Wie genau haben Sie das Archiv herausgeschmuggelt? Auf einem Datenträger?
Ja. Ich habe in den letzten Jahren [die gesamten Informationen] kopiert, vervielfältigt, gesammelt und versteckt. Dort [im Straflager] gab es kein Internet oder andere Möglichkeiten, Daten zu übermitteln. Dafür gab es nur einen einzigen Weg [auf Datenträgern]. Und davon gab es genug, die kamen überall zum Einsatz. Bei meiner Freilassung war die größte Herausforderung, sie rauszuschmuggeln.
In dem Archiv sind auch Videos aus anderen Regionen. Da ist die Rede von den Oblasten Wladimir, Saratow, Irkutsk. Wo kommen diese Videos her?
Die FSIN-Behörden müssen zusammenarbeiten und Informationen austauschen, zumindest bei den Akten. Dafür braucht es ein lokales Netzwerk. Wenn man an einer Stelle Zugang zum Netzwerk der Behörde hat, kommt man auch in die anderen rein.
Wie funktioniert das Netzwerk, aus dem Sie die Videos der anderen Regionen hatten? Das hieße ja, dass andere Mitarbeiter der Sicherheitsabteilung die Videos nicht gelöscht haben?
Sieht so aus. Ich möchte die technischen Abläufe ungern offenlegen. Denn gerade machen ja viele Leute in den Straflagern genau das, was ich gemacht habe. Wenn ich jetzt alles erzähle, könnten die Geheimdienste ihnen den Weg versperren. Ich muss die Prozesse und Algorithmen für die Leute offenhalten, die sich dafür entschieden haben, mir auf diesem Weg zu folgen.
Glauben Sie nicht, dass die Wege längst bekannt sind?
Soweit ich weiß, ist der FSIN eine sehr schwerfällige Maschine. Vor allem was die technische Entwicklung betrifft. Deswegen werden sie einige Zeit brauchen, um die Abläufe zu verstehen und zu unterbinden. Ich schätze, wir haben noch ein bisschen Zeit.
Sie sprachen von Misshandlungen im Untersuchungsgefängnis, im Straflager und im Krankenhaus. Wurden diese Einrichtungen nicht wenigstens einmal von einer Kommission zur Überwachung der Rechte von Gefangenen aufgesucht?
Doch, natürlich, mehrfach. Die kommen ständig – Überwachungskommissionen, die Staatsanwaltschaft.
Aber das ist alles Show. Sie werden von Mitarbeitern der Haftanstalt herumgeführt, von irgendwem von oben. Die Lagermitarbeiter zeigen ihnen, was sie ihnen zeigen wollen. „Schauen Sie, unsere renovierte Banja!“ – „Ja, toll! Es sind großartige Verhältnisse!“, sagen dann angeheuerte Häftlinge, denen man später Fragen stellt, um ein Häkchen im Bericht zu machen: „15 Personen wurden befragt. Keine Beschwerden über die Verhältnisse. Alles toll und super.“
Hat sich nie jemand bei der Kommission über Folter beschwert?
Soweit ich weiß, nicht. Es gab nie eine Untersuchung oder irgendein Verfahren. Nicht dass ich wüsste.
Hatten Sie Zweifel, ob Sie die Videos aus dem Archiv veröffentlichen sollen?
Nein, hatte ich nicht. Ich habe im Februar 2021 Kontakt zu Wladimir Ossetschkin [dem Gründer von Gulagu.net] aufgenommen. Wir haben uns geschrieben. Zu dem Zeitpunkt wusste ich schon, dass er einer der führenden Menschenrechtler ist, die keine Angst haben, die Wahrheit zu sagen, und nicht von Politikern oder Silowiki abhängen. Er hatte über Folter und Machtmissbrauch berichtet, und das schonungslos und effektiv.
Haben Sie sofort beschlossen, Russland zu verlassen?
Nach meiner Freilassung bin ich einfach nach Hause [nach Belarus] gefahren. Das ging problemlos, ich bin erstmal bei Verwandten untergekommen, habe allen Papierkram erledigt und mir einen Job gesucht. Ich habe ein ganz normales Leben geführt, und eben auch mit Gulagu.net zusammengearbeitet. Wenn ich mich nicht irre, kamen im März die ersten Veröffentlichungen, die auf meinen Materialien basierten.
Was passierte danach? Soweit ich weiß, hatten Sie am Flughafen in Sankt Petersburg eine Begegnung mit gewissen „Mitarbeitern“.
Ich bin am 24. September 2021 von Minsk nach Nowosibirsk geflogen, um Freunde zu besuchen. Es gab einen Zwischenstopp in Pulkowo. Dort wurde ich am Schalter von Polizisten und einigen Leuten in zivil aufgehalten. Sie haben mich in ein Büro gebracht und mehrere Stunden verhört.
Haben sie sich vorgestellt?
Natürlich nicht. Sie haben sofort gesagt, sie wüssten über alles Bescheid: dass ich Material an Gulagu.net liefere. Sie meinten, das wäre mindestens Verrat von Staatsgeheimnissen. „Du wanderst in den Knast und ein Jahr später erhängst du dich da drin, weil du den FSIN in Verruf gebracht hast“.
Gab es das Angebot, zu kooperieren?
Ja, es hieß, wenn ich kooperieren würde, könnten die Dinge anders laufen. Zwei Möglichkeiten. Die erste: Ich kooperiere, gebe ihnen das gesamte Archiv, arbeite mit ihnen zusammen gegen Ossetschkin und gehe für vier Jahre wegen Verrat von Staatsgeheimnissen in den Knast. Oder: Ich versuche unterzutauchen, Beschwerde einzureichen und werde wegen Spionage verurteilt – da liegen die Haftstrafen dann schon bei zehn bis 20 Jahren.
Sie haben ein Protokoll erstellt, in dem ich quasi gegen Ossetschkin aussage. Sie wollten sein Projekt [Gulagu.net] unbedingt diskreditieren und seine Arbeit in Verruf bringen. Ich musste unterschreiben. Sie sollten ja glauben, dass ich kooperiere.
Der FSIN wollte auch das ganze Archiv von Ihnen. Wann war das?
Das war auch da, in Pulkowo. Das interessierte sie am meisten. Es interessierte sie überhaupt nicht, was in dem Archiv enthalten war, welche furchtbaren Aufnahmen, wie viele Menschen brutal gefoltert wurden, wer die Befehle erteilt, wer gefoltert hat. Das Einzige, was die wollten, war den Datenfluss zu unterbinden. Und mir das Maul zu stopfen.
Haben Sie ihnen irgendwelche Daten überlassen?
Ich wurde sehr gründlich durchsucht, sie wollten meinen Laptop, USB-Sticks, Festplatten. Aber ich hatte das Archiv nicht bei mir.
Russia Today berichtete mit Verweis auf eine Quelle beim Geheimdienst, Sie hätten das Archiv für 2000 Dollar an Menschenrechtler verkauft, das Geld sei über Yandex.Money geflossen. Stimmt das?
Ehrlich gesagt, hätte das passieren können, hätte ich Yandex.Money. Ich weiß nicht, wie die auf Yandex.Money kommen. Selbstverständlich habe ich die Daten nicht verkauft. Aber materielle Hilfe [von Menschenrechtlern] gab es. Ich habe viele Jahre im Gefängnis verbracht und eine kolossale Datenmenge gesammelt, das alles musste systematisiert und archiviert werden. Als ich das Land verlassen musste, gab es Überweisungen, um die Ausreise zu organisieren.
Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie in Frankreich angekommen sind?
Als ich in Frankreich war und mich an die Behörden gewandt hatte, konnte ich endlich aufatmen und mich beruhigen, mich ein bisschen regenerieren. Die Flucht war natürlich schwer für mich.
Seit heute [das Interview fand am 23. Oktober 2021 statt] ist bekannt, dass Sie zur Fahndung ausgeschrieben wurden.
Das ist keine große Überraschung, vielmehr … ist es traurig. Es ist traurig, dass sie immer noch versuchen, mich zum Schweigen zu bringen, anstatt grobe Menschenrechtsverstöße aufzuklären, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und die Energie in Untersuchungen und Ermittlungen zu stecken. Aber egal welche Anklage sie gegen mich erfinden – die russische Gesellschaft und die Weltöffentlichkeit wissen, worum es in Wirklichkeit geht.
Warum befürworten intelligente, gebildete Menschen Autoritarismus, Diktatur oder Krieg, fragt Maxim Trudoljubow auf Meduza und liest Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen. Darin findet er erstaunliche Parallelen zum Konservatismus im Russland von heute.
Da diese Parallelen auch für deutschsprachige Leser interessant sind, haben wir den Essay, der auf Meduza erschienen ist, ins Deutsche übersetzt.
Während des gesamten Ersten Weltkriegs leistete Thomas Mann, wie er es selbst formulierte, „Gedankendienst mit der Waffe“. Er schrieb Artikel, hielt öffentliche Vorlesungen und veröffentlichte 1918 ein patriotisches Manifest mit dem Titel Betrachtungen eines Unpolitischen.
Der Verfasser dieser Schrift ist nicht der Thomas Mann, den wir aus seinen späteren Werken kennen. Der Autor (der zum damaligen Zeitpunkt unter anderem bereits die Buddenbrooks und den Tod in Venedig geschrieben hatte) rechtfertigt in seinen Betrachtungen den Krieg und erklärt „den Kampf“ gegen die seelenlose Zivilisation des Westens, repräsentiert durch die „Welt-Entente“, zur „ewigen, eingeborenen Sendung“ Deutschlands. Er spricht außerdem von der „deutschen Einsamkeit zwischen Ost und West“ und zitiert oft Dostojewski. Thomas Mann philosophiert voll Bitternis über die Entfremdung Deutschlands vom Rest der Welt und über den Hass, den es ertragen muss, weil es sich gegen den „westlichen Geist“ auflehnt.
Russland befindet sich gerade in einer ähnlichen politischen Lage gegenüber dem Westen wie Deutschland vor 100 Jahren
Viele von diesen Ansichten hat Thomas Mann später revidiert, doch das Buch ist geblieben. Ein Text, den man in Zeiten wie den unseren lesen sollte. Unter Vorbehalt und mit Einschränkungen könnte man sagen, dass sich Russland gerade in einer ähnlichen politischen Lage gegenüber dem kollektiven Westen befindet wie Deutschland vor 100 Jahren.
Thomas Mann lehnt die Ideen der Aufklärung, die westlichen Vorstellungen von Liberalismus und Demokratie derart wortgewaltig ab, dass die konservativen Politiker in Russland viel von ihm lernen könnten – wenn sie eine konsistente Ideologie entwickeln wollten. Denn indem das Regime die Gesellschaft immer wieder daran erinnert, dass das Land sich in einem Kriegszustand gegen den geistlosen, aggressiven Westen befindet, versucht es, seine Bürger genau in dem Sinn „unpolitisch“ zu machen, wie es Thomas Mann seinerzeit war.
Die Demokratie, so der Thomas Mann von damals, zwinge der Gesellschaft primitive Normen auf und zerstöre Traditionen
Die Demokratie mit ihren Parteien und Wahlen steht, so der Thomas Mann von damals, der Poesie, dem Ästhetizismus und der Kunst gänzlich entgegen. Sie zwinge der Gesellschaft primitive Normen auf, zerstöre Traditionen und die althergebrachte Lebensweise. Mit anderen Worten, die Politik vernichtet den „komplexen Menschen“, von dem vor kurzem der Regisseur Konstantin Bogomolow in seinem antiwestlichen Manifest schrieb. Bogomolows prätentiöser Text ist in der Qualität seiner Argumentationsführung sicher nicht mit Manns Manifest vergleichbar, aber der politische Sinn dahinter ist der gleiche.
Thomas Mann spricht in blumigen Worten von der Unvermeidlichkeit, ja sogar Notwendigkeit einer europäischen Katastrophe, die der Konflikt zwischen der unergründlichen Kultur Deutschlands und der „verfaulenden“ Zivilisation des Westens herbeiführen würde. Die russische, sowjetische und heutige Rhetorik vom „verfaulenden Westen“ ist nicht minder bildhaft.
Einsamkeit zwischen Ost und West – im Deutschland von damals wie im Russland von heute
Mann spricht von der „antideutschen“ Einstellung des Westens (das Analogon zur „Russophobie“) und rechtfertigt den Krieg damit, dass Deutschland nicht so sehr der außenpolitische Konkurrent Frankreichs und Großbritanniens sei als vielmehr ihr geistiger Gegner. Parallelen zu all diesen Gedanken lassen sich unschwer in den Äußerungen der russischen Politiker und Propagandisten von heute finden. Einsamkeit zwischen Ost und West empfinden auch in Russland viele.
Als seine geistigen Gegner betrachtete Thomas Mann die, die er „Zivilisationsliteraten“ nannte. Sie waren für ihn, um es mit einem modernen russischen Ausdruck zu sagen, „ausländische Agenten“. Indem sie „antideutsche“ Werte vertraten, brachten sie die deutsche Kultur vom rechten Pfad ab.
,Zivilisationsliteraten‘ waren für ihn, um es mit einem modernen russischen Ausdruck zu sagen, ,ausländische Agenten‘
Wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla bemerkt, hat der Begriff „Zivilisator“ (aus dem Mund Thomas Manns) einen verächtlichen Beiklang, was umso dramatischer ist, wenn man weiß, dass Manns Betrachtungen unter anderem an seinen Bruder Heinrich gerichtet waren – einen Pazifisten und Befürworter der Demokratisierung Deutschlands.
Thomas Mann unterscheidet zwischen Zivilisation und Kultur. Während Zivilisation für ihn gleichbedeutend mit Vernunft, Aufklärung, Demokratie und Fortschritt ist, steht Kultur für die dunkle Seite der menschlichen Natur, die Natur schlechthin, die sich nicht den Regeln der bürgerlichen Moral unterwirft. Und es ist die Kultur, nicht die Zivilisation, die laut Mann der wahre Quell der großen Kunst ist. Ebendiese deutsche Kultur wollten die Franzosen und Briten zerstören, sie politisch demokratisieren, sie zivilisieren und Deutschland so zu einer Nation von Spießbürgern machen.
Bei Mann finden sich die Themen, bei denen die russischen Ideologen Uneinigkeit mit westlichen Politikern deklamieren
Die Gruppierung, die Russland heute regiert, würde ihre Gedankengänge sogar in Manns Idee von der „Fruchtbarkeit“ Deutschlands wiederfinden. Mann führt die Geburtenstatistik vom Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts an und stellt fest, dass mit Beginn des Jahrhunderts „der plötzliche, bei keinem Kulturvolk erhörte Fruchtbarkeitsrückgang beginnt“. Der Autor macht dafür die „empfängnisverhütenden Mittel“ verantwortlich, die sich im Westen „bis ins letzte Dorf“ verbreiten. Sogar darin erkennt er noch eine bösartige Einmischung in die große deutsche Kultur durch die westliche Zivilisation, die mit ihren neuen Normen des Privatlebens die „Fruchtbarkeit“ der Nation gefährde. Mann redet von der Erhaltung des Lebens, von seiner Konservierung. Die Politik der russischen Behörden in Bezug auf den Schutz der traditionellen Familie und die Erhöhung der Geburtenrate knüpft daran an.
So finden sich bei Thomas Mann nahezu alle Themen, bei denen die russischen Ideologen ihre Uneinigkeit mit westlichen Politikern deklamieren: die Ablehnung der liberalen Werte, das Misstrauen gegenüber einer Demokratisierung und Amerikanisierung der Gesellschaft, die Romantisierung des Krieges, der Vorrang des Nationalen vor dem Internationalen, die Verteidigung der traditionellen Familie.
Gesammelte Symptome einer schmerzlich empfundenen Besonderheit
Diese Vorstellungen sind weder für das damalige Deutschland noch für das heutige Russland einzigartig. Memes vom verfaulenden Westen wandern von Land zu Land. Wieder und wieder tauchen sie in jenen Kulturen auf, die etwas auf sich halten, aber an einem Mangel an Anerkennung durch andere leiden. Es geht dabei nicht so sehr um den Gedanken selbst, sondern vielmehr um die Symptome einer schmerzlich empfundenen Besonderheit und eines Randdaseins. Am stärksten empfinden dies die Intellektuellen, und dank deren Eloquenz verbreiten sich diese Vorstellungen in der Gesellschaft, bis sie irgendwann mehr sind als nur Worte.
Mann war sich der Radikalität seines Textes bewusst, und er bestand darauf, dass Gedanken radikal sein müssen. Ein Gedanke dürfe und solle kompromisslos sein, während das Handeln Politik sei, und die münde immer in halbherzige Maßnahmen, Händel und Parteikämpfe.
Handlungsanleitung im Dritten Reich
Nichtsdestotrotz revidierte Thomas Mann bereits Anfang der 1920er Jahre vieles von dem, was er in den Betrachtungen geäußert hatte, und unterstützte die Weimarer Republik. 1933, nach Hitlers Machtübernahme, siedelte die Familie Mann in die Schweiz um und später – in die USA, wo Thomas Mann sich aktiv am Leben der Exilgesellschaft beteiligte. Während des Krieges richtete er sich regelmäßig im deutschen Programm der BBC an seine Landsleute; die Radioansprachen finden sich in zwei Bänden mit dem Titel Deutsche Hörer!.
Während die einen Ideen formulieren, sind es oft andere, die sie in die Tat umsetzen. Die Gedanken, die Mann – in Form der Betrachtungen – in den Jahren des Ersten Weltkriegs festhielt, wurden zur Handlungsanleitung für die Entscheidungsträger des Dritten Reichs. In dieser manifestierten Form erkannte Mann seine Gedanken nicht mehr wieder und distanzierte sich davon.
,Jener Verzicht des Geistes auf die Politik ist ein Irrtum, eine Selbsttäuschung‘ Thomas Mann, 1939
In seinem Essay Kultur und Politik schrieb er später: „Jener Verzicht des Geistes auf die Politik ist ein Irrtum, eine Selbsttäuschung. Man entgeht dadurch nicht der Politik, man gerät nur auf die falsche Seite – und zwar mit Leidenschaft. A-Politik, das bedeutet einfach Anti-Demokratie, und was das heißen will, auf welche selbstmörderische Weise sich der Geist dadurch zu allem Geistigen in Widerspruch setzt, das kommt erst in bestimmten Situationen höchst leidenschaftlich an den Tag.“
Im Gegensatz zu Thomas Mann müssen wir nicht jahrelang warten, um angesichts der Ideen, die er während des Ersten Weltkriegs geäußert hatte, erschrocken zu sein. Wir wissen es bereits. Der Thomas Mann jener Jahre aber glaubte – genau wie die Ideologen der faschistischen Regime des 20. Jahrhunderts – an das, was er predigte. Die damaligen Politiker brauchten Parolen, um die Bevölkerung zu mobilisieren. Das heutige russische Regime mobilisiert die Bürger mit administrativen Mitteln (zum Beispiel, wenn es Angestellte im öffentlichen Dienst und Staatsbeamte zwingt, zur Wahl zu gehen).
Nichts ist neu oder aufregend. Es ist alt und langweilig
Im heutigen Kontext sind Kriegsromantisierung und Aufrufe zur nationalen Einheit vor den Augen des Feindes bloß eine erlernte, längst bekannte Sprache. Daran ist nichts neu oder aufregend, wie es in den 1920er Jahren in Italien oder in den 1930er Jahren in Deutschland war. Es ist alt und langweilig.
Die Ideologien, auf die die russischen Staatsmedien heute zurückgreifen, sind nötig, um die Gesellschaft oder internationale Partner abzuschrecken und abzulenken, nicht um attraktiv zu wirken. Die Mächtigen und Vermögenden wollen offenbar möglichst viel Angst und Schrecken verbreiten, damit die aktiven Bürger im Inland und Politiker im Ausland ihren wirtschaftlichen Interessen nicht in die Quere kommen.
Bedeutet das, dass die derzeitige konservative Welle nicht zum Krieg führen wird? Leider nein: Die offiziösen Medien sind vielleicht voll von unechter Ideologie, aber die Waffen, die wir alle besitzen, sind echt. In gewisser Weise hat der wiedererwachte Konservatismus bereits zum Krieg geführt – zum Krieg der Kulturen. Die liberalen Kräfte (wie auch immer sie in den verschiedenen Ländern heißen) betrachten das Weltgeschehen als eine Reihe von Veränderungen zum Guten. Das Individuum erhält immer mehr Rechte, die Gesellschaften befreien sich von Vorurteilen gegenüber denen, die man früher stigmatisiert und sogar bestraft hat, zum Beispiel LGBT+. Die Konservativen sehen diese Veränderungen dagegen als Zerstörung der Grundfesten von Kultur und Religion an. Der globale Krieg der Kulturen ist eine Realität unserer Zeit, die eine gesonderte Analyse verdient – dazu mehr an anderer Stelle.
Schon lange vor seiner Verhaftung im Januar 2021 warben Nawalny und sein Team für ein „kluges Wählen“: Diese Taktik sieht vor, dass jeweils dem aussichtsreichsten Kandidaten der Opposition die Stimme gegeben wird – egal, welcher Partei der Systemopposition er angehört. Ziel ist, so die verfassungsgebende Mehrheit der Regierungspartei Einiges Russland zu brechen. Dann wurde Nawalny nach seiner Rückkehr aus Deutschland verhaftet, seine Organisationen – auch die russlandweiten Wahlkampfteams – für „extremistisch“ erklärt, zudem flohen zahlreiche führende Köpfe wie der Wahlkampfchef Leonid Wolkow oder die FBK-Juristin Ljubow Sobol ins Exil. Das „kluge Wählen“ jedoch ist theoretisch dennoch möglich – aus dem Exil versucht Nawalnys Team weiter dafür zu werben. Die Frage ist, wie gut dies gelingt, zumal Beobachter vor Ort aufgeben mussten und zahlreiche Websites der Nawalny-Organisationen blockiert sind – auch die App und die Website zum „klugen Wählen“.
Eine gewisse Nervosität seitens der russischen Behörden ist kurz vor der Wahl jedenfalls spürbar: In Umfragen liegt die Beliebtheit der Regierungspartei Einiges Russland unter 30 Prozent. Putin ordnete ein einmaliges Geldgeschenke an russische Rentner an – rund 115 Euro, die Durchschnittsrente liegt bei umgerechnet etwa 180 Euro. Zudem gilt die Rentenreform von 2018 als einer der Gründe für die Unzufriedenheit vieler Wählerinnen und Wähler. Videobeobachtung bei der Wahl wird es wegen potentieller „Cyberangriffe” aus dem Ausland nicht geben, die unabhängigen Wahlbeobachter von Golos sind als „ausländische Agenten“ diffamiert.
Seit Januar gehen die Behörden massiv gegen die Nicht-System-Opposition vor. Der Begriff umnoje golossowanije (kluges Wählen) darf auf Anordnung eines Moskauer Gerichts nicht in Suchergebnissen von Google und der in Russland populären Suchmaschine Yandex angezeigt werden. Und in Rostow-am-Don bekam die Aktivistin Bella Nassibjan zunächst eine fünftägige Haftstrafe (die später in eine Geldstrafe umgewandelt wurde) wegen „Propaganda extremistischer Symbolik”, weil sie in ihrer Instagram-Story ein Plakat geteilt hatte, das zum „klugen Wählen” aufruft.
Die Novaya Gazeta veröffentlichte nun den Audiomitschnitt einer Schulung für Wahlhelfer in Koroljow bei Moskau: Darin gibt mutmaßlich Shanna Prokofjewa, Beraterin des Bürgermeisters der Stadt, Instruktionen zur Wahlfälschung, damit „weder ein kluges noch ein dummes Wählen funktioniert”. Meduza hat den Mitschnitt – nicht immer streng wortwörtlich – zusammengefasst.
Von der Stadtregierung kam eine große Bitte: Alles so zu machen, dass es keine Beanstandungen und Beschwerden gebe. Wir selbst wollen uns nicht rechtfertigen oder Aussagen machen oder mit der Staatsanwaltschaft sprechen müssen. Uns interessiert nur eine konkrete Zahl und eine konkrete Partei [die Regierungspartei Einiges Russland – dek] – und 42 bis 45 Prozent für ihre Liste. Ich hoffe, [die unabhängigen Wahlbeobachter – dek] haben nicht genug Kraft, um uns zu überführen. Mit den Beobachtern von der LDPR sind wir auf einer Linie; was die Partija Rosta [Wachstumspartei – dek] angeht, machen wir uns keine Sorgen; mit den Kommunisten sollte auch alles klargehen: Wie auch immer die sind – sie gehören zu uns, zu uns aus Koroljow, und nicht zu denen aus Amiland. Man muss es so machen, dass im Wahllokal nur unsere Leute sind, keine anderen.
Wenn Sie alles es richtig machen, dann wird weder kluges noch dummes noch sonst irgendein Wählen funktionieren. Wir machen zwei Listen, wer gewählt hat: eine für Wähler und eine für Beobachter. Ich empfehle, die Liste, die Sie abgeben werden, schon im Vorfeld anzulegen – schließlich gibt es bei 45 Prozent ja eine ganze Menge auszufüllen. Wenn der letzte Wähler gegangen ist, bleiben alle mit den Wahllisten sitzen. So lange bis der Moment kommt, um sie auszutauschen, wenn nötig bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.
Gegen die Organisationen des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny begann am Montag die Hauptverhandlung vor dem Moskauer Stadtgericht: Ihnen wird Extremismus vorgeworfen. Die Sitzung wurde nach wenigen Minuten auf den 9. Juni verlegt. Betroffen sind neben dem Fonds für Korruptionsbekämpfung (FBK) auch die regionalen Wahlkampfbüros, die Nawalnys Team landesweit aufbaute. Über diese schtaby wurden Straßenproteste organisiert, aber auch das sogenannte Smart-Voting – das Verfahren sieht vor, dem aussichtsreichsten Oppositionskandidaten die Stimme zu geben und so die Machtfülle der Regierungspartei Einiges Russland zu brechen.
Ist eine Organisation als extremistisch eingestuft, so ist deren Finanzierung verboten, führende Köpfe müssen mit mehrjährigen Freiheitsstrafen rechnen.
Im Meduza-Podcast Schto slutschilos (dt. Was war da los?) hat Konstantin Gaase mit Nawalnys Wahlkampfchef Leonid Wolkow, der im Exil lebt, darüber gesprochen, wie es mit den Regionalbüros nun weitergeht – und ob das Smart-Voting bei der Dumawahl im September trotz allem funktionieren kann.
Konstantin Gaase: Seit 2012, als Sie befasst waren mit den Wahlen zum Koordinationsrat, gab es ein ganz einfaches Schema für die Beteiligung am oppositionellen Protest: Leute, wir geben euch die Möglichkeit in unterschiedlichen Abstufungen mitzumachen – von der anonymen Spende über Cube-Aktionen bis hin zur Mitarbeit im Team. Das heißt, im Grunde sagten Sie Ihren Sympathisanten: Wir bieten eine Plattform, der ihr euch anschließen könnt, wie es euch passt. Jetzt gibt es keine Plattform mehr, und auch die Beteiligung am Protest in der Form, wie Sie sie für ungefährlich halten, gibt es nicht mehr. Haben Sie das bei Nawalnys Rückkehr nach Russland besprochen? Hielten Sie ein solches Szenario für wahrscheinlich?
Und es war klar, dass das Team und diese ganze Struktur es allen ermöglichen soll, etwas beizutragen. Denn obwohl wir selber Aktivisten sind und Aktivisten lieben und schätzen, ist ja klar, dass man mit einer Million Anhängern, die täglich je 15 Minuten Zeit investieren, ohne dabei Risiken einzugehen, eine viel größere politische Wirkung erzielen kann. Und diese 15 Millionen Minuten vermögen immer noch mehr, als die eingefleischtesten und risikofreudigsten Aktivisten auf der Straße mit wundgelaufenen Füßen zusammensammeln. Aktivisten gibt es ja viel weniger. Aber so vorzugehen, dass aus diesen 15 Millionen Menschenminuten etwas Sinnvolles entsteht, ist sehr schwierig. Das erfordert eine riesige Infrastruktur und eine ziemlich geschickte Planung.
Alles, was wir gemacht haben, war, die Aktivisten, die es [zum Kampf] drängte und die zu den verschiedensten kreativen Protestformen bereit waren – dass wir die zu ziemlich öden bürokratischen Tätigkeiten verdonnert haben, um eine Angebotsstruktur für jene aufzubauen, die weniger aktiv waren.
Und jetzt hat genau dieser Teil einen Schlag versetzt bekommen. Unsere Millionen Anhänger sind immer noch da; die Hunderttausende, die zu Spenden und Reposts bereit sind, ebenfalls. Eins draufgekriegt haben die Zigtausend, die zu Demonstrationen gehen, und die Tausend, die aktiv mitarbeiten.
Jenen, die bereit waren zu Demonstrationen zu gehen, hat man gesagt: Ihr werdet gleich alle im Verwaltungsarrest sitzen. Damit hat man das Risiko ihres Einsatzes um zwei Stufen verschärft, dazu waren sie nicht bereit. Und die Tausend, die [im Team] mitarbeiteten, bekamen zu hören: Ihr bekommt gleich alle eine Haftstrafe aufgebrummt. Also wurde auch das verschärft – auch dazu waren die Leute nicht bereit. Somit haben sie [die russische Staatsmacht] uns durch die drastische Erhöhung des Risikos die Grundlage für unsere Struktur zerstört. Weswegen wir jetzt die Infrastruktur ins Internet verlegen.
Durch die drastische Erhöhung des Risikos haben sie unsere Struktur zerstört
Wir wissen, dass die Unterstützung an der Basis nicht weg ist, das ist in Umfragen erfassbar. Wir müssen sie nur online neu aufbauen. Also, dafür sorgen, dass die Leute, die 15 Minuten täglich investieren wollen, [weiterhin] etwas Sinnvolles beitragen können. Natürlich sinkt die Effektivität. Natürlich wird die Arbeit anders sein, aber im Kern bleibt alles gleich. Die fundamentalen Gründe für die Proteststimmung in Russland sind ja ganz offensichtlich immer noch da und werden nicht so schnell verschwinden.
Putin kann zehn Personen einsperren lassen – davon wird aber das Sonnenblumenöl nicht billiger. Putin kann alle Räumlichkeiten, in denen jemals Nawalnys Team gearbeitet hat, mit Baggern zerstören. Und alle Hotels, in denen Nawalny je eingecheckt hat. Auch damit wird er die Korruption nicht besiegen. Ganz zu schweigen davon, dass [der Unmut darüber nicht sinkt, dass] Putin seit 22 Jahren im Amt ist. Wir führen Umfragen durch und sehen: Die Unterstützung ist nicht zurückgegangen, dafür hat das Mitgefühl zugenommen.
Sie sagen, Sie sind bereit, weiterhin dasselbe zu tun – wenn auch weniger effektiv und online. Bedeutet das, dass Sie die Grundhypothese beibehalten, dass diese ein bis zehn Millionen Anhänger von sich aus nicht bereit sind, das Risiko zu erhöhen und auf die Straße zu gehen? Sie glauben also nicht, dass die Stärke des Protestes ohne Ihr Zutun von selber zunimmt?
Lustigerweise hat Nawalny in einer seiner letzten Nachrichten aus Wladimir eine Metapher aus Alice im Spiegelland benutzt: dass man schnell rennen muss, um auf der Stelle zu bleiben – wobei er das Zitat fälschlicherweise [dem ersten Band] Alice im Wunderland zuschrieb. Am selben Tag kam auf Znak ein Interview mit mir heraus, in dem ich dieselbe Metapher benutzte. Wir hatten uns nicht abgesprochen, aber offenbar empfinden wir das sehr ähnlich. Genau so ist es: Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur damit wir auf der Stelle bleiben.
Wir rackern uns ab, wir rennen unglaublich schnell, nur um auf der Stelle zu bleiben
Das Risiko beim Straßenprotest ist um ein Vielfaches gestiegen. Niemand denkt mehr daran zurück, aber vor zehn Jahren war das Schlimmste, was auf einer nicht genehmigten Demonstration passieren konnte, 15 Tage Haft für Organisatoren und 500 Rubel [2011 rund 13 Euro – dek] Strafe für Teilnehmer. Irgendwelche Festnahmen (geschweige denn Haftstrafen). Schon allein Ausweiskontrollen schienen damals auf genehmigten Demonstrationen undenkbar. Und das vor nur zehn Jahren – in der fast guten alten Zeit.
Unsere Proteststärke und -energie ist in diesen zehn Jahren nicht gestiegen, aber auch nicht weniger geworden. Jetzt, wo die Teilnahme an einer Demo bis zu 300.000 Rubel [etwa 3.300 Euro – dek] kosten kann, wo 30 Tage Haft drohen, ein Strafverfahren, ein reales Risiko, seinen Ausbildungs-, Studien- oder Arbeitsplatz zu verlieren et cetera – sehen wir, dass die Leute trotzdem landesweit in [mit vorher] vergleichbarer Zahl demonstrieren gehen.
Unter diesen Bedingungen zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre wishful thinking
Alles, was wir unter diesen Bedingungen tun können, ist, schnell genug zu rennen, um an Ort und Stelle zu bleiben und das Entschlossenheitslevel der Menschen aufrechtzuerhalten. Aber unter diesen Bedingungen auch noch zu erreichen, dass Millionen Menschen auf die Straße gehen – das wäre Wishful Thinking.
Putin hat auf Lukaschenko [und die belarussischen Proteste 2020] geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern. Er hat signalisiert, dass er auch bereit ist, diesen Spielraum zu nutzen – was natürlich eine unangenehme Überraschung ist. Jetzt wissen wir, dass unsere Bemühungen nicht auf einen großangelegten Straßenprotest abzielen können. Den nächsten Massenprotest zusammenzutrommeln hat derzeit, milde ausgedrückt, nicht oberste Priorität.
Putin hat auf Lukaschenko geschaut und begriffen, dass es noch enorm viel Spielraum gibt, die Repressionen zu steigern
Das heißt aber nicht, dass wir Straßenproteste ausschließen. Die Gesellschaft befindet sich in einem Zustand, in dem sie die Ungerechtigkeit des Geschehens sehr deutlich wahrnimmt. Und dieses Gefühl der Ungerechtigkeit wächst an: die Ursachen [der Proteststimmung] sind immer noch da. Daher kann es durchaus passieren, dass ganz von allein irgendein Schwarzer Schwan daherfliegt oder ein Goldener Hahn, der dem Zaren in den Kopf pickt, und das war’s. Aber darauf eine politische Strategie aufzubauen – das scheint mir unmöglich.
Früher war der Rhythmus so: ein Video als Trigger, der offline seine Fortsetzung findet. Okay, angenommen, ihr stützt euch nicht auf den Straßenprotest. Doch wie soll dann diese Koppelung laufen? Gleichzeitig wird klar – unmittelbar vor unserem Gespräch haben Sie bekannt gegeben, dass die Regionalbüros schließen –, dass es keine Infrastruktur für die Produktion [von investigativen Filmen] mehr gibt, aber Filme brauchen Produktion.
Bezüglich der Regionalbüros habe ich sehr deutlich gesagt: Wir lassen sie frei schwimmen, wir haben dieses Netz über vier Jahre aufgebaut, haben den Leuten etwas beigebracht, die Leute haben selbst etwas gelernt, haben sehr intensiv gearbeitet. Das Ergebnis ist eine absolut handlungsfähige politische Struktur, die zu selbständiger politischer Tätigkeit in der Lage ist. Und die infrastrukturelle Basis des Protests bleibt ja bestehen.
Aber Sie investieren sie in lokale Agenden. Im Grunde sagen Sie: Geht los und widmet euch dem lokalen Protest.
Ich gehe davon aus, dass der Kreml das Netzwerk unserer Büros als größeres Problem und größere Bedrohung empfand als den Fonds für Korruptionsbekämpfung. Der FBK existierte einfach und veröffentlichte Studienergebnisse. Der Kreml war bis zuletzt der Meinung, dass das alles sowieso nur ein Internetphänomen ist.
Das Büronetzwerk war jedoch vor Ort aktiv, und während der Kreml Proteste in Moskau mit Gummiknüppeln bis zur Bewusstlosigkeit niederschlagen konnte, ging er mit regionalen Protesten immer viel milder um. Zum einen, weil er Angst hatte, dass der Protest im ganzen Land aufflackern und außer Kontrolle geraten könnte, zum anderen, weil in der Moskauer Bevölkerung die Konzentration der Silowiki viel höher ist als in Jekaterinburg, Ufa und dergleichen.
Unser Netz von Büros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor
Alexej Nawalny wurde vergiftet, als er in den Regionen unterwegs war. Und seine Beschattung begann, als er 2017 anfing, aktiv die Regionen aufzusuchen, um ein landesweites Netzwerk aufzubauen. Als er im Sommer 2020 neuerlich die Regionen bereiste, wurde die Bespitzelung wieder aufgenommen.
Dieses Netz von Regionalbüros und Teams rief eine ungeheuer nervöse Reaktion hervor, weil das die infrastrukturelle Basis ist. Das sind Leute, die Kompetenzen in sich tragen, die wissen, wie man einen Protest organisiert, wie man mit Freiwilligen arbeitet, wie man was am besten macht. Na, und natürlich das Smart-Voting, die Regionalwahlen – Sachen, die manchmal gelangen, manchmal nicht, die aber in den Regionen besonders wehtaten.
Natürlich haben sie [die Behörden] es sich prinzipiell zur politischen Aufgabe gemacht, unsere Struktur in den Regionen zu zerstören.
Ich glaube an die Theorie, dass der Entschluss, Alexej [Nawalny] mit Nowitschok zu vergiften, folgendermaßen gefasst wurde: Im Juli 2019 erging der politische Befehl, das Team zu zerstören. Damit wurde [der Chef des Ermittlungskomitees, Alexander] Bastrykin betraut. Bastrykin bildete eine Gruppe aus 141 Ermittlern in besonders wichtigen Angelegenheiten, die sich ans Werk machten, unsere Konten sperren und die Technik mitgehen ließen, bla, bla, bla.
Ein Jahr später sagte man ihm bei irgendeiner Rechenschaftslegung: „Alexander Iwanowitsch, sie haben doch vor einem Jahr einen Auftrag bekommen. Aber irgendwie arbeitet das Team immer noch. Schon wieder dieses Smart-Voting, schon wieder mischen sie sich mit dem Geld von CIA und Mossad in unsere tollen und ehrlichen Wahlen ein. Wie kommt es, dass Sie, Alexander Iwanowitsch, damit nicht fertig werden?“ Er so: „Mi-mi-mi, geben Sie mir noch drei Monate, dann.“ Da kommt irgendso ein Nikolaj Platonowitsch um die Ecke und sagt: „Wisst ihr was, ich habe da eine Idee. Mir scheint, es ist Zeit für Plan B – für radikalere Methoden, wenn Sie schon ein Jahr damit herumtun. Wir haben da eine Spezialabteilung, wo sie für solche Fälle spezielle Mittelchen brauen.“ Das ist natürlich eine dichterisch ausgeschmückte Rekonstruktion. Aber vom zeitlichen Ablauf und der Logik her erscheint sie mir plausibel.
Von unseren 40 Regionalbüros werden etwa 30 versuchen, als gesellschaftlich-politische Organisationen zu funktionieren
Vor diesem Hintergrund wiederhole ich: Alle Medien haben jetzt zwar die Nachricht „Regionalbüros aufgelöst“ gepusht – doch das war nicht der Sinn meiner Mitteilung, sondern der, dass von unseren 40 Regionalbüros etwa 30 versuchen werden, als gesellschaftlich-politische Organisationen selbständig zu funktionieren. Manche werden das natürlich nicht schaffen.
Die Regionalbüros sind vielleicht eine gute Investition in lokale Agenden. Was das Smart-Voting betrifft, ist es ja kein Geheimnis: Dort, wo es funktioniert hat, waren die politischen Partner [von Nawalnys Team] die Kommunisten.
Nein. Ich als derjenige, der für das Smart-Voting zuständig ist, kann bestätigen, dass das nicht der Fall war. Es gab keine Absprachen im Sinne von „Lasst euch von uns unterstützen“ oder „Wir für euch und ihr für uns“.
Haben Sie nie mit den Kommunisten gesprochen?
Ich persönlich habe nie [mit ihnen] als Institution gesprochen. In den Regionen kommen ständig nicht nur Kommunisten zu uns, [sondern auch Mitglieder] von LDPR, SR, Jabloko und fragen: „Was müssen wir tun, um ins Smart-Voting zu kommen?“ Die hören immer dieselbe Antwort: „Steht alles auf der Website. Arbeiten Sie viel und gut. Werden Sie der beste Kandidat und der stärkste Opponent der Regierung in Ihrem Gebiet, und wir werden Sie unterstützen.“
Haben sich die Regionalteams am Verhandlungsprozess beteiligt, damit man einander nicht in die Quere kommt?
Ja. Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen. Und umgekehrt ist es gut, wenn ein starker Kommunist in dem einen Wahlkreis ist und ein starker Jablotschnik in einem anderen. Nachdem wir in diesem Prozess als unparteiische Vermittler auftreten, sind sie natürlich zu uns gekommen.
Für das Smart-Voting ist es schlecht, wenn in einem Wahlkreis ein starker Kommunist und ein starker Jablotschnik zusammentreffen
So etwas ist in Sankt Petersburg passiert, in Jekaterinburg und in jenen Regionen, wo es eine erkleckliche Menge unverwüstbarer Charismatiker und strahlender Regionalpolitiker gibt. Wo es Gesprächsstoff und genug aufzuteilen gibt.
In 80 Prozent der Fälle ist die Aufgabe des Smart-Votings leider, wenigstens irgendwen zu wählen. Moskau nimmt hier natürlich eine Sonderstellung ein. Da herrscht Konkurrenz zwischen starken Politikern.
Wenn wir uns ansehen, wie viele Kandidaten im Smart-Voting formal zu einer Partei gehörten, wie die Kräfteverteilung zwischen politischen Parteien in Russland aussieht (ohne Einiges Russland), dann sind das rund 50 Prozent KPRF, 20 Prozent Sprawedliwaja Rossija, 20 Prozent LDPR und 10 Prozent Jabloko. Entsprechend sind auch die Wahlerfolge der Kandidaten im Smart-Voting verteilt.
Sie werden also das Smart-Voting fortsetzen. Und den Regionalbüros, die Sie jetzt frei schwimmen lassen, überlassen Sie die Entscheidung, wen sie unterstützen wollen?
Nein. Die Entscheidung über die Unterstützung von Kandidaten im Smart-Voting treffen wir immer ausschließlich in einem zentralen Analysezentrum. Bei aller Liebe zu den Regionalbüros hatten sie diesbezüglich nie ein Stimmrecht, unter anderem – bei allem Respekt –, weil Korruption ein Faktor ist. Wir lieben unsere Regionalbüros und vertrauen ihnen, aber auch Personen, denen ich bedingungslos vertraue, sind schon zu uns gekommen und haben erzählt: „Da hat mir einer drei Millionen Rubel für einen Platz im Smart-Voting angeboten.“ Das ist tatsächlich passiert, und nicht nur ein- oder zweimal. Ich kann nur raten, wie oft das vorgekommen sein mag, ohne dass wir davon erfahren haben.
Bei aller Liebe zu den Regionalbüros – sie hatten nie ein Stimmrecht, und ein Faktor dabei ist die Korruption
Damit sich keiner einschleichen kann, haben wir immer gesagt: „Leute, ihr habt Beratungsfunktion: Geht bitte durch die Wahlbezirke und berichtet uns, wer mehr Werbung hat, wer mehr Material verteilt.“ Man kann auch einfach in einem Mailing über die Datenbank des Smart-Votings die Unterstützer fragen, wessen Kampagne ihnen am meisten auffällt. Hauptsächlich stützen wir uns auf Analysen vergangener Wahlen.
Wie wird das dieses Jahr bei den Wahlen zur Staatsduma ablaufen? Das provisorische Zentralkomitee befindet sich im Ausland, es gibt Regionalbüros, die Ihnen ein Bild der Lage vor Ort vermitteln können, denen Sie aber vielleicht nicht hundertprozentig vertrauen. Und noch dazu wird sich die Wahl im September über drei Tage ziehen.
Wir vertrauen natürlich unseren Regionalbüros – die in Russland als keine Ahnung was für Organisationen gelten – in dem Punkt absolut, dass sie uns ein objektives Bild liefern, auf das wir uns sehr gerne stützen. Nur war die Information aus den Regionalbüros immer nur ein Teil des Bildes. Wir werden es aus verschiedenen Stückchen zusammensetzen. Im Kontext der Staatsduma wird die Bedeutung von soziologischen Methoden [zur Bestimmung des Kandidaten, den das Smart-Voting unterstützt] viel höher sein. In einem kleinen Wahlkreis für den Stadtrat kann man ja keine sinnvollen Umfragen durchführen. Bei den Wahlen zur Staatsduma mit über 500.000 Wählern pro Wahlkreis in Großstädten aber können wir Aspekte aus Umfragen einbeziehen.
Das ist eine neue Komponente des Smart-Votings, die wir früher nicht hatten, weil uns die Messgeräte fehlten, um in Bezirken mit zigtausenden Wählern Umfragen durchzuführen. Niemand hatte die. Und wer behauptet, sie zu haben, lügt einfach.
Also sind das die Komponenten des Smart-Votings: Eine Einschätzung der Lage durch das Team, Ihre eigenen Erhebungen in wichtigen Wahlkreisen und schließlich die gezielte Unterstützung einer von Ihnen bestimmten Person ?
Ja.
Aber es wird keine flächendeckende Wahlkampagne im ganzen Land geben? Wird es 225 Kandidaten im Smart-Voting geben?
Ja, die wird es geben. 2019 und 2020 haben wir rund 800 beziehungsweise 1100 Empfehlungen abgegeben. Jetzt geben wir rund 1500 Empfehlungen ab, weil weitere 225 Bezirke dazukommen.
Zurück zum 23. Januar [2021, als in Russland Demonstrationen gegen Nawalnys Festnahme stattfanden]. Was war der Plan?
Geplant und vorausgesehen haben wir ungefähr das, was auch passiert ist. Also, dass Alexej Nawalny am 17. Januar zurückkommt. Wir wussten, dass er höchstwahrscheinlich verhaftet wird und dass das mit einem schwerwiegenden Angriff auf unsere ganze Struktur einhergehen wird. Aber hätten wir vorhersagen können, wie brutal das alles wird? Das nicht. Dass sie den Extremismusparagraphen bemühen werden – nein, das haben wir, ehrlich gesagt, nicht kommen sehen.
Wir sind immer noch da. Unsere Recherchen und unser Smart-Voting sind immer noch da. Und bald kommen noch ein paar neue Projekte dazu. Es ist schwer, ja. Haben wir gewusst, dass es schwer wird? Ja. Hätten wir eine andere Wahl gehabt? Nein. Darüber denke ich eigentlich nicht so viel nach.
Russian Woman heißt der Song, mit dem Sängerin Manizha Russland beim diesjährigen ESC vertreten wird. Darin singt sie in einer musikalischen Mischung aus Folklore, Rap und Pop auf Russisch und Englisch über starke Frauen, die jede Mauer durchbrechen können. Manizha selbst wurde 1991 in Duschanbe geboren, während des Bürgerkriegs in Tadshikistan floh sie mit ihren Eltern nach Moskau. So viel hybride Identität trifft nicht nur auf Liebhaber, sondern polarisiert: Auf den ESC-Vorentscheid folgten begeisterte Reaktionen genauso wie Anfeindungen. Neben fremdenfeindlichen Kommentaren gab es auch Kritik am Feminismus der Sängerin, die sich außerdem öffentlich mit der LGBTQ-Community in Russland solidarisiert.
Manizha, die bereits vor ihrer ESC-Teilnahme in Russland erste Erfolge feierte, hat sich vor allem auf Instagram eine Fangemeinde von rund 400.000 Followern aufgebaut, die Abrufe ihrer aufwändigen Musikvideos auf YouTube erreichen mitunter Millionenhöhe. Forbes zählte sie 2020 zu den aussichtsreichsten russischen KünstlerInnen unter 30.
Meduza nahm dies 2020 zum Anlass für ein ausführliches Interview. Die Kulturjournalistin Katerina Gordejewa sprach mit Manizha über die Kindheit in Duschanbe und Moskau, die Anfänge ihrer Karriere, die sie auch nach London führten, und die starken Frauen in ihrer Familie.
Katerina Gordejewa: Mit wem verbringst du den Lockdown?
Manizha: Meine ganze Familie lebt derzeit zusammen in einem Haus. In „friedlichen Zeiten“ waren wir ausgeschwirrt und hatten zu tun, aber jetzt sind wir alle unter einem Dach vereint. Und weißt du, irgendwie sieht man jetzt klarer. Alles, worauf man in der Hektik nicht achtet, die Eigenschaften der Menschen, die einen umgeben.
Die Zeit vergeht langsamer und erlaubt es einem, seine Stärken und Schwächen zu analysieren und aufzuspüren: Woran sollte man arbeiten, woran lieber nicht.
Ich esse ständig und bewege mich nie. Ich mache keine Challenges und keine Trainings per Skype
Außerdem ist es schön, dass man auf einmal wieder jemanden anrufen kann, der einem wichtig ist, ein bisschen quatschen, fragen, was sich tut, ein bisschen in den Hörer schweigen oder schnaufen. Das hat es lang nicht gegeben: Wir sind die ganze Zeit gerannt.
I. Manizha und Instagram
Wann begann dein Erfolg?
Ich fühle mich bis heute nicht als erfolgreiche Künstlerin, aber die Haltung meiner Verwandten hat sich verändert, ich bin jetzt Lieblingsschwester, Lieblingsnichte, Lieblingsenkelin.
Fühlst du dich eigentlich immer noch fremd in Moskau?
Ich habe Moskau lange Zeit abgelehnt. Ich wollte immer weg von hier.
Eine Zeitlang hast du in Petersburg gelebt.
Ja, in Petersburg und in London. Aber vor etwa drei Jahren habe ich begriffen, dass Moskau meine Stadt ist. Ich liebe Moskau. Für jeden Stein, für die ganze Scheiße, die hier passiert, die ganze Liebe, den Hass. Ich musste lange davor flüchten, mich verstecken, um es zu gewinnen.
Warum hast du dich dazu entschlossen, deine Karriere über Instagram zu machen? Es gibt ja naheliegendere Arten: Wettbewerbe, Konzertagenturen, Fernsehen.
Wegen der Freiheit. Aber da muss ich ausholen: Mit 15 Jahren war ich ein Superstar, gewann das Goldene Grammofon, spielte bei Firmenfeiern und ging auf Tournee. Meine Managerin war damals – und ist es bis heute – meine Mutter: Sie investierte Zeit und Geld in mich, fand Sponsoren und Promoter. Alle wollten, dass alles schön, glamourös, erfolgreich ist. Sie haben mir die Haare kürzer geschnitten und blondiert und mir ein rotes Tutu und ein Korsett angezogen und mich auf die Bühne gestellt. Das brachte Erfolg. Das brachte Geld.
Sie haben mir die Haare blondiert und mir ein rotes Tutu angezogen
Aber das war nicht ich. Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt. Aber die Producer sagten: Wer braucht hier Englisch, spinnst du? Also, mein Erfolg dauerte von 15 bis 17, dann bin ich durchgedreht und habe gesagt, dass ich hasse, was ich mache. Und habe offiziell damit aufgehört.
Und was haben die Producer gesagt?
Die zuckten ratlos die Schultern. Mama war natürlich schockiert, aber sagte: „Gut. Dann zeig mir, dass du es selbst kannst.“ Und ich schwamm los.
Ich packte meine Sachen und fuhr nach Petersburg. Ich studierte an der Uni [Psychologie – dek] und gründete parallel eine Band. Die ganze Zeit dachte ich: „Ich werde Mama beweisen, was ich kann!“ Aber in mir drin wusste ich, dass das Bullshit war. Ich trat in irgendwelchen versifften Underground-Clubs auf, mit scheußlichen Bühnen und miesem Sound, und alles wurde immer schlimmer. Mir wurde klar, dass ich aufhören musste, das ging hier alles den Bach runter.
Und dann kommt unser letztes Konzert, und ich weiß, dass ich danach mit all dem aufhören werde, weil es einfach nicht geklappt hat. Ich schlief unterdessen im Auto meiner Freundin, weil ich keinen Schlafplatz hatte, nichts zu essen und kein Geld, und heulte nächtelang.
Ich bin ein Mädchen, das Radiohead hört, klar? Und das, seitdem es neun Jahre alt ist, Songs auf Englisch schreibt
Ich trete also ein letztes Mal auf, und nach dem Konzert kommt so ein seriöser Typ im Anzug auf mich zu, neben ihm irgendein durchgeknallter Musiker. Die sagten: „Wir möchten Sie zum Casting einladen, als Sängerin in einer europäischen Musikshow. Wir machen eine Tour: Spanien, England, New York.“ Ich habe nichts zu verlieren, also fahre ich nicht nach Hause, sondern gehe zum Casting. Stelle mich ans Mikrofon und singe. Und da kommt dieser Typ im Anzug rein und sagte: „Mein Gott, wie cool, wie toll! Ich find die gut, die nehmen wir!“
So begann mein Leben als Prinzessin! Alle wuselten um mich herum, ich war Teil dieser unglaublichen Show.
Irgendwann war das aber vorbei – offiziell, weil sie nicht genug Geld hatten. Unterdessen hatte ich in London [den Producer] Michael Spencer kennengelernt, dessen Label mir einen Vertrag anbot. Ich las den Vertrag – der war richtig lausig. Keine Rechte für mich, dafür hätten sie uneingeschränkte Macht über mich gehabt. Ich weiß nicht, woher ich die Eier hatte, aber ich lehnte ab und ging zurück nach Russland.
Du hast dich für die Freiheit entschieden?
Die große Freiheit, die ich so unbedingt wollte, hatte mir eine handfeste Depression beschert. Nach diesem weiten Weg war ich wieder bei Null. Alle rundherum sagten: Du musst dich weiterentwickeln … Aber ich lag tatsächlich tagelang auf dem Sofa und starrte auf Instagram. Und dann fiel mir um drei Uhr nachts plötzlich auf: „Warum stellt keiner Videos auf Instagram?“ Ich sah noch mal nach, und wirklich – kein einziges Video. So, also war ich die erste auf Instagram, die Videos gepostet hat. Ich hab gepostet und gepostet, und kurze Zeit später hatte ich – ohne Fernsehen, ohne Producer, ohne Label und ohne viel Geld – ein Publikum beisammen, das nur meins war.
Dann fiel mir plötzlich auf: ‚Warum stellt keiner Videos auf Instagram?‘
Mein Song Wanja entstand nach einem Ritual bei Indianern in Amerika. Ich hatte bei einem Gentest erfahren, dass ich unter anderem indianische Vorfahren habe, daher bin ich dahin gereist und habe ein Ritual gemacht, das hatte drei Hauptaspekte: Freiheit, Wahrheit und Vertrauen. „It‘s all about the trust.“ Dann begann das Ritual. Ich hatte das Gefühl, 20 Minuten da dringewesen zu sein, aber es waren dreieinhalb Stunden. Als wir danach vom Reservat ins Hotel fuhren, schrieb ich gleich im Auto den Song Wanja.
Mein Song Wanja entstand bei Indianern in Amerika
Das Lied zog aber überhaupt nicht. Es war das am wenigsten gehörte Lied meiner ganzen Geschichte. Ein richtiger Flop. Ich hab so geweint, ich kann‘s dir gar nicht sagen. Ich war wahnsinnig enttäuscht, wo ich diese Sache doch mit so viel Herzblut angegangen war und sich alles so schön gefügt hatte … Und dann so ein Flop, verstehst du?
Wie bist du da rausgekommen?
Ich wurde sehr krank. Ich versuchte, die Situation loszulassen, weil ich mich auf ein großes Konzert in der Crocus City Hall [im Februar 2020 – dek] vorbereiten musste, aber mir war elend, und ich war völlig kraftlos. Und plötzlich Anfang Januar – ohne mein Zutun – veröffentlicht Juri Dud einen Post. Ich konnte es kaum glauben, als ich auf meinem Handy sah „Juri Dud hat Sie markiert“. Er schrieb, dass ihm Wanja gefallen habe. Was da abging! Die Views stiegen und stiegen! Einen Tag später wurde ich zur Talkshow Wetscherni Urgant eingeladen. Kurz gesagt, das Schicksal des Songs drehte sich um 180 Grad.
Warum war dir das Konzert in der Crocus City Hall so wichtig?
Weil Moskau eine unbezwingbare Stadt ist. Diese Stadt mit einem großen Konzert zu bezwingen ist ein enormer Kraftakt und ein unfassbares Glück. Stell dir vor, in dieser überforderten Stadt, wo alle ums Überleben kämpfen, gelingt es dir, über 4000 Menschen in einem Raum zu versammeln und in einer Idee zu vereinen – sie singen. Und du weißt ganz genau, dass sie sich dir an diesem Abend hingeben. Und du gibst dich ihnen hin.
Crocus ist nicht als Ort wichtig – obwohl er heute der einzige ernstzunehmende Saal in ganz Moskau ist –, sondern als Ereignis. Eine so riesige Menge Leute sind für mich als Sängerin, die nicht-kommerzielle Musik macht, ein Geschenk und ein Fest. Dieses Konzert war ein absolutes Glück. Alles lief super.
Wie und warum hast du dich dazu entschieden, keine kommerzielle Sängerin zu werden, sondern eine Künstlerin mit einer sozialen Botschaft?
Mir haben meine Fans geholfen, ins Licht zu treten – ich befinde mich in einem ständigen Dialog mit ihnen. Ich beantworte alle Kommentare, frage: „Was soll ich am Montag singen? Was gefällt euch?“ Ich unterhalte mich mit ihnen, und ich interessiere mich wirklich dafür, was sie beschäftigt, wie ich ihnen helfen kann. Ich bin überzeugt davon, dass Musik heilen kann. Mich hat irgendwann Thom Yorke mit seinen blöden Manifesten aus der Depression geholt. Ich finde, Musik ist eine Schulter zum Anlehnen, wenn es dir schlechtgeht. Wir können der Kunst unseren heftigsten Schmerz anvertrauen und ihn gemeinsam mit ihr durchleben.
II. Manizha und Social Impact
Das erste soziale Thema in deinem Werk war häusliche Gewalt. Warum?
Erstens wurde ich darum gebeten. Und zweitens weiß ich genug darüber, dass ich das Recht habe, davon zu singen. Ich habe oft genug häusliche Gewalt miterlebt, war in muslimischen Familien oft damit konfrontiert. Am schlimmsten ist, dass die Frauen das okay finden – die Mutter sagt zur Tochter: „Ich wurde geschlagen, und du wirst auch geschlagen. Das hältst du aus.“ In östlichen Familien werden Mädchen so erzogen, dass das Wichtigste ist zu heiraten. „Papa, ich will ein Tattoo.“ – „Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.“ „Papa, ich will singen.“ – „Kannst du, wenn du verheiratet bist.“
‚Papa, ich will ein Tattoo.‘ – ‚Das kannst du machen, wenn du verheiratet bist.‘
Das Wichtigste ist, dass der Mann ein braves, ordentliches Mädchen kriegt und er dann entscheidet, ob sie sich ein Tattoo stechen lassen, singen und tanzen darf – oder eben nicht. Und die Gesellschaft akzeptiert das.
War es in Tadshikistan in der Sowjetzeit einfacher?
In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund, es hing mehr davon ab, in was für einer Familie man lebte. Jetzt ist der Islam strenger geworden: Schon kleine Mädchen tragen Hidjab; die Religion wurde viel mehr zum Kontrollmittel. Noch dazu ist die Lage in Tadshikistan zum Heulen, weil alle Männer zum Geldverdienen ins Ausland fahren.
Was passiert mit Tadshiken in Russland?
Sie trifft absolute Rechtlosigkeit – sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder. Es gibt sehr viele verlassene und aus staatlicher Sicht inexistente Frauen, und noch mehr solcher Kinder.
Auf Instagram postest du viele Fotos von dir ohne Schminke, Photoshop und ohne all das, was ein Star angeblich sonst noch braucht. War es leicht für dich, so selbstsicher zu werden?
Würde ich nicht sagen. Aber ich bemühe mich. Ich bemühe mich zu lernen, mich selbst so zu lieben, wie ich bin. Das ist nicht einfach. In Russland gibt es eine Riesenmenge selbstsicherer Frauen. Doch nur ein geringer Prozentsatz würde auf die Straße hinausgehen ohne männliches Feedback.
Unbedingt ein männliches Feedback?
Ja, unbedingt von einem Mann. Uns ist wichtig, wie uns die Männer bewerten. Weil wir mit dem Paradigma groß geworden sind, dass wir Hälften eines großen Ganzen sind, dass wir für uns genommen nicht genug sind. Das macht mich rasend. Ich will etwas Ganzes sein und will einen ganzen Menschen an meiner Seite haben.
In der Sowjetzeit traten Nation und Religion in den Hintergrund. Jetzt ist der Islam strenger geworden
Erst gestern bin ich durch den Gemüsegarten gegangen und habe ein paar Zeilen zu diesem Thema gedichtet: „Ich dachte nie, nur ein Stück zu sein, zum Glück. Ich bin für mich ein Teil, ein ganzes.“
Ist das der Ursprung deiner Body-Positivity?
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich habe auf Instagram mein allerschönstes Foto gepostet, und die Leute haben kommentiert: „Manizha, bist du schwanger?“
Warst du sauer?
Früher haben mich solche Kommentare sehr getroffen, gekränkt. Aber dann hab ich verstanden, dass ich mich nicht mehr so sehe wie früher. Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial. Body-Positivity – das ist schon seit der Schule mein Thema. Das ist, wie wir uns als Teenager sehen, wie wir uns in Erinnerung haben.
Die schreiben, dass ich dick bin, einen Bauch habe – aber ich finde mich klasse, mir geht‘s genial
Ich war eine Außenseiterin. Noch dazu war ich bucklig, hatte früh einen Busen und lauter Komplexe. Deswegen trug ich weite Kleidung und tat alles, damit man meinen Busen und überhaupt meine Figur auf keinen Fall sehen konnte. Insofern ist Body-Positivity meine Geschichte, ich habe mir selbst die Challenge gestellt: mich so zu sehen, wie ich bin, und gern zu haben.
Hast du keine Angst vor Instagram-Sucht? Vor Abhängigkeit vom Publikum, seinen Fragen, Kommentaren, Reaktionen? Ich erinnere mich an deinen Post zur Unterstützung von LGBT und wie du im nächsten Post beklagt hast, dass nach diesem öffentlichen Statement tausend oder sogar noch mehr deiner Follower ihr Abo gelöscht haben.
Ja, eine schlimme Sucht ist das, ein schwarzer Spiegel. Aber Instagram ist auch nichts anderes als Fernsehen. Wozu ist man bereit, um seine Popularität zu fördern? Du erwähnst meine Unterstützung für dieses LGBT-Projekt … Ich habe in die Hölle gestarrt, die sich in den Kommentaren zu diesem LGBT-Post auftat, und habe die ganze Zeit gedacht, in was für einer schiefen Welt wir leben: Viele meiner Mitstreiter im Show-Business verbergen ihre Orientierung. Sie singen Lieder für die Hausfrauen in ganz Russland und verdienen Geld damit. Und lügen ihnen was vor.
In den Kommentaren zu diesem LGBT-Post habe ich in die Hölle gestarrt
Ihr ganzes Leben leben sie mit diesen Lügen. Das heißt, du betrittst die Bühne, versammelst da eine riesige Menge und singst, wie doll du sie geliebt hast. Dabei hast du dein Leben lang nicht sie, sondern ihn geliebt! Du hast einen Partner und ein Kind von einer Leihmutter! Warum verrätst du deine Familie? Die Antwort ist ernüchternd: Die Leute haben einen Riesenbammel, ihre Fans zu verlieren – und damit ihre Einnahmen.
Das ist Heuchelei, verstehst du? Ich sitze bei einer Preisverleihung, und rundum sitzen Manager und PR-Leute von Stars, die ihre Orientierung verbergen und mit homophoben Witzen um sich schmeißen. Und dann meinen sie noch, ich verteidige Gay Rights nur, weil ich keine Kinder habe. So ein Schwachsinn! Sie glauben, ihre Kinder vor Schwulen zu schützen, dabei arbeiten sie selber für welche. Kohle machen ist okay, aber sonst sind Schwule eine Gefahr für die Gesellschaft.
Findest du, dass Russland ein homophobes Land ist?
Ich finde, dass Russland ein heuchlerisches Land ist. In Russland denkt man immer das eine und sagt das andere. Und das geht seit Urzeiten so. Man hat immer Angst zu sagen, was man denkt, um nicht zu verlieren, was man hat.
Hast du auch diese Angst?
Nein. Wenn du alles sagst, was wahr ist, dann kriegst du ein Publikum, das deins ist, weil du du bist. Ja, manches akzeptieren sie nicht. Nach dem LGBT-Projekt ist, genauso wie nach dem Clip über häusliche Gewalt und den über Schönheit und Selbstliebe, ein Haufen seltsamer, zum Teil aggressiver Kommentare gekommen. Aber das ist besser als Lügen. Einfacher.
III. Kindheit in Tadshikistan
Kannst du uns von Tadshikistan erzählen?
Ja. Ich würde mich an Tadshikistan gern in so bunten Farben erinnern, wie es in meiner Kindheit war. Aber das geht nicht.
Warum?
Meine Kindheit zerfällt in zwei Teile – zuerst Tadshikistan, mein Anfang, dann kommt ein gigantisches Loch, und dann Russland. Und das ist bereits ein anderes Ich. Als ob das Leben von Neuem begonnen hätte.
Woran erinnerst du dich noch aus der Zeit in Tadshikistan?
An den Hof. Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Ich habe ein bescheuertes Kleid an und ein Gerstenkorn am Auge. Im Hof steht ein riesiger Behälter mit Wasser, kein Pool, aber so etwas Ähnliches. Es ist heiß draußen, und das Wasser ist eiskalt. Ich gehe hin und tauche meine Hand ins Wasser. Die Hitze lässt nach.
Ich bin drei. Im Hof ist ein großer Hund, ich habe ein bescheuertes Kleid
In meiner Kindheit war es sehr schön. Viel Grün, viel Sonne und Früchte, eine Insel vollkommenen Glücks. Als meine Großmutter noch lebte, war ich oft dort, aber sie ist vor zehn Jahren gestorben. Seit zehn Jahren kann ich nicht mehr nach Hause fahren.
Nur im November 2019 war ich in Duschanbe, um einen Clip für Nedoslawjanka zu drehen. Ich setzte mich am Flughafen in ein Taxi und begriff während der Fahrt, dass das nicht mehr meine Stadt ist. Eine tolle, schöne Stadt voller Leute, die nichts davon wissen, wie es hier gekracht hat, wie geschossen wurde. Sie haben keine Ahnung davon, sie leben hier einfach. Aber ich – ich kann nicht. Die ersten zwei, drei Tage habe ich sehr gelitten, dann habe ich losgelassen. Man muss weitergehen. Den Ort meiner Kindheit gibt es nicht mehr.
Erinnerst du dich daran, wie ihr aus Duschanbe weggezogen seid?
Nein, ich kann mich an nichts erinnern. Das war ein Riesenstress. Ich wollte nicht weg, hatte Angst. Offenbar hat mein Unterbewusstsein alles gelöscht. Als würde man die Augen schließen und wieder aufmachen – und plötzlich ist man in Moskau. Eine Einraum-Mietwohnung mit Kakerlaken, in der wir zu viert leben: Mama, Papa, ich und mein kleiner Bruder. Dann hat Mama sich von Papa scheiden lassen und die drei Kinder ihres Bruders zu uns genommen.
Erzähl mal von deiner Mutter.
Meine Mutter ist sehr schön und begabt. Als wir noch in Tadshikistan lebten, war Mama ein richtiger Star. Sie wurde zum Schönheitswettbewerb Miss World eingeladen, sie hatte eine tolle Stimme, sie sang. Aber sie musste arbeiten und fuhr nicht zum Wettbewerb. Seit sie 16 war, nähte sie großartige Mode. Zu ihr kamen die Gattinnen von Ministern und Präsidenten: Wir brauchen etwas zum Anziehen, ein Kleid – nur von Ihnen! Sie hat ziemlich gut verdient. Sie erzählte mir, dass sie sich damals teure Parfums und Jeans leisten konnte, alles, was Mangelware war. Und sie konnte selbst entscheiden, wie sie leben wollte. Ich weiß nicht, wie ich neben ihr keine Feministin hätte werden können.
Warst du mit deiner Großmutter per Sie?
Ja, auch mit Mama.
Warum?
Das ist Tradition. Ich bin gar nie auf die Idee gekommen, sie zu duzen. In Russland habe ich lange gebraucht, mich daran zu gewöhnen, zu Älteren du zu sagen.
Wie war deine Beziehung zur Großmutter?
Ich war jeden Sommer drei Monate bei ihr. Meine Großmutter hat mich in Computerkurse geschickt. Ich hab gebrüllt: „Wozu brauch ich das?“, aber sie blieb ganz ruhig: „Du musst das lernen, du musst dich mit Photoshop auskennen, mit Adobe, mit Adobe Premiere und Fotomontage.“ Und: „Du musst Persisch lernen, du musst Englisch lernen. Sprachen sind das Allerwichtigste.“ Ich habe damals nicht verstanden, wozu das alles, aber jetzt schneide ich meine Videos und bearbeite den Sound selber. Ich spreche fließend und schreibe Songs auf Englisch. Also, es ist alles aufgegangen, was meine Oma gesät hat.
Meine Großmutter hat mir beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht
Aber das Wichtigste ist die Freiheit. Sie hat mir mit ihrem Denken und Verhalten beigebracht, frei zu sein, und davor hat sie das meiner Mutter beigebracht. Von meiner Großmutter haben wir unser freies Verhältnis zum Thema Entscheidung, zum Thema Körper, zum Thema Glauben.
Im muslimischen Tadshikistan ein freies Verhältnis zum Glauben?
Meine Mutter hatte immer eine Faszination für Buddhismus – niemand hat sie aufgehalten oder davon abgehalten. Mein Papa wird jetzt immer mehr zum Muslim, aber das kam erst in Russland. Trotzdem ist er sehr modern und nicht radikal eingestellt.
Warum haben deine Eltern beschlossen wegzugehen?
Weil Krieg war. Unser Krieg war wahrscheinlich ganz ähnlich wie das, was in der Ukraine passiert ist und nach wie vor passiert. Die Leute versuchten, ganz normal weiterzuleben, aber ob sie wollten oder nicht, der Krieg brach in ihr Leben herein. Einmal landete eine Granate in der Wohnung, die meine Eltern zur Hochzeit bekommen hatten.
Wie durch ein Wunder war meine Mama eine Minute zuvor mit mir hinausgegangen zum Wäsche aufhängen. Von der Wohnung ist nichts übriggeblieben. Und genauso ist vom bisherigen Leben nichts übriggeblieben.
Vom bisherigen Leben ist nichts übriggeblieben
Menschen wurden getötet. Niemand brauchte mehr Mamas schöne Kleider und Kostüme, Mamas Schönheit, die Welt brach zusammen. Und Papa und Mama beschlossen, nach Russland zu flüchten.
Sprachen sie Russisch?
Mama konnte Russisch und auch sehr gut Englisch. Sie war hervorragend gebildet. Aber in Russland musste sie putzen gehen, sie putzte Treppenhäuser und verkaufte in der Unterführung T-Shirts.
Weil sie Tadshikin ist?
Es lag nicht daran, dass sie Tadshikin ist. Sie haben in einer neuen Stadt, einem neuen Land, von Null begonnen. Sie mussten ohne Staatsbürgerschaft überleben. Wenn ein hungriges Kind vor dir steht, tust du alles, um es zu füttern. Du arbeitest wahnsinnig viel, legst dich ins Zeug und versuchst, dass wenigstens dein Kind eine Chance hat. So hat es meine Mutter gemacht.
Du legst dich ins Zeug, damit wenigstens dein Kind eine Chance hat
Ich weiß noch, wie ich mit acht Jahren zu ihr gesagt habe, dass ich Sängerin werden will …
Hast du da schon gesungen?
Ich habe schon mit fünf Jahren gesungen, und meine Großmutter hat immer gesagt: Manizha muss Sängerin werden. Sie vermietete in Tadshikistan eine Wohnung, legte das Geld in einen Briefumschlag und schickte es nach Moskau. Auf dem Brief stand: „Für die Gesangsstunden meiner lieben Enkelin“. Und Mama schleppte mich, zum Umfallen müde, in die Musikschule, wo damals eine Unterrichtsstunde 50 Dollar kostete.
Wie ging es dir in der Schule?
Ich war ein Stubenhockerin, war nie viel draußen, dadurch wurde ich automatisch zur Außenseiterin, weil das nicht den Vorstellungen meiner Mitschüler entsprach. Ich tat mich auch mit Jungs nicht leicht, war schüchtern, hatte Angst. In der Schule war es richtig krass, von moralischer Erniedrigung bis zu Raufereien unter Einsatz von Flaschenhälsen gab es alles. Ich war nicht einmal beim Letzten Läuten dabei, auch nicht auf dem Abschlussball, so mies war mein Verhältnis zu meiner Klasse. Ich wollte niemanden sehen und will es bis heute nicht.
Waren das nationalistische Anfeindungen?
Das auch, natürlich. Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt, beleidigt und gedemütigt worden. Anfangs konnte ich einfach deswegen nicht Paroli bieten, weil ich kein Russisch konnte.
Hast du Russisch im Kindergarten gelernt?
Ja. Ich hab mich in einen Jungen verliebt. Also, ich bin auf ihn zugegangen, ich hab gedacht, das ist ein Mädchen. Er sagte, er sei „eigentlich Mischa“. Da hab ich mich verliebt, warum auch immer. Aber ich bin mir so mickrig vorgekommen, weil ich nicht mit ihm reden konnte. Das heißt, Russisch hab ich gelernt, aber der Spott ist geblieben – im Kindergarten, im Hof, im Bus, in der Schule. Aber mein Glück ist, dass meine Mama Eier aus Stahl hat.
Ich bin schon im Kindergarten Schwarzarsch genannt worden
Wenn ich weinte, sagte sie: „Weißt du, was für gebildete Leute die Tadshiken sind? Was wir für einen Stammbaum haben, davon können die nur träumen. Unsere Verwandten – Tadshiken mit dem blauesten Blut, das es nur geben kann – leben über die ganze Welt verstreut, das sind angesehene, ehrenwerte und einflussreiche Familien, die so viel erreicht haben. Nicht, wegen des nationalen Erbes, sondern weil sie von klein auf gelernt haben. Lerne!“
Wann wurde alles anders?
An der Universität. Da habe ich auch begonnen, kreativ zu sein – anscheinend hatte ich kapiert, wohin mit meiner Energie. Ich war da schon aktive Künstlerin, sang in einem Pop-Projekt und verdiente gar nicht schlecht.
Und dann hast du Psychologie studiert.
Ich hätte die Wahl gehabt zwischen der Gnessin-Musikakademie und dem Institut für Schlager und Jazz.
Warum hast du das nicht gemacht?
Ich wollte das ganz grundsätzlich nicht. Ich darf mich nicht auf eine einzelne Sache beschränken. Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren. Plus – ich wollte meinen eigenen psychischen Problemen auf den Grund gehen.
Wenn ich nur Musik machen würde, würde ich, glaube ich, krepieren
Meine Mama hat nach ein paar Jahren Arbeit als Putzfrau eine Baufirma geleitet und dann noch ein Psychologiestudium an der MGU und eine Psychotherapieausbildung abgeschlossen, woraufhin sie zu Hause als Psychotherapeutin tätig war. Daher sah mein Leben in den letzten Schuljahren so aus: Ich kam nach Hause, ging in die Küche, und da daß schon jemand und wartete, dass Mama im Zimmer die vorangehende Sitzung abschließen würde. Mama hat mir beigebracht, den Wartenden Tee, Kaffee oder Wasser anzubieten. Das tat ich auch, setzte mich dazu, und wir begannen zu reden.
Ich habe an der RGGU Psychologie studiert. Ich hatte keine Erwartungen an die Universität. Ich dachte, dass sich die Hölle mit meinen Klassenkollegen auf irgendeine Art hier fortsetzen würde. Aber dann waren es fünf fantastische Jahre voller Liebe. Ich habe meine Universität geliebt, jeden Tag meines Studiums. Über Persönlichkeitspsychologie kam ich zur Kinderpsychologie, da habe ich mich viel mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen beschäftigt. Meine Diplomarbeit schrieb ich zu Besonderheiten der Mutterschaft bei Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Russland und Tadshikistan. Ich fuhr von Dorf zu Dorf, sprach mit Frauen, die keinen Zugang zu Hilfszentren, Psychologen und Therapeuten haben.
Warum hast du das gemacht?
Ich wollte wissen, woher sie die Kraft nehmen. Mir fiel auf, dass in diesen Dörfern ohne jegliche Therapieangebote die Frauen und ihre Familien mit behinderten Menschen viel sensibler umgehen. Vielleicht ist das etwas Nationales, vielleicht etwas Transnationales, Menschliches, jedenfalls leben sie mit der Überzeugung, dass wenn ein Mensch mit Besonderheiten geboren wird, dann ist er für irgendetwas in diese Welt gekommen, dann hat er eine Bestimmung. Menschen mit Behinderung werden dort verehrt.
Entmutigung – das ist das Gefühl, das Andrej Swjaginzew vor allem verspürt, wenn er an die Situation des inhaftierten Alexej Nawalny denkt. Bei einem Publikumsgespräch in Nowosibirsk wurde der renommierte Regisseur (Leviathan, Die Rückkehr) nach Nawalny gefragt, der in Haft in Hungerstreik getreten ist, um eine angemessene ärztliche Behandlung zu erwirken. Sein Team hatte vergangene Woche über kritische Kaliumwerte des Oppositionellen informiert, ein Herzstillstand drohe.
Dem Aufruf, für Nawalnys Leben auf die Straße zu gehen, waren am gestrigen Mittwoch, 21. April, schließlich russlandweit mehrere tausend Menschen gefolgt. Die NGO OWD-Info berichtet von über 1700 Festnahmen, mehr als 800 davon allein in Sankt Petersburg.
Mit dem in Nowosibirsk artikulierten Gefühl, dass der Staat abwesend sei, sich immer weiter von den Menschen entferne, ist Swjaginzew nicht alleine – auch die Politologin Tatjana Stanowaja konstatiert dies in einer Analyse von Putins Rede zur Lage der Nation.
dekoder bringt Swjaginzews Statement auf Deutsch, das Taiga.info und Meduzaverschriftlicht haben.
Für mich ist völlig offensichtlich, dass es in diesem Land weder Recht noch Gesetz noch sonst irgendetwas gibt. Man kann sich auf nichts verlassen, nur auf irgendeine Art von Gemeinsamkeit, auf Kameraderie, auf ein Hören, eine Schulter.
Mich entmutigt die aktuelle Situation enorm, weil mir völlig unklar ist, welches Instrumentarium nötig ist, um dieser Walze etwas entgegenzusetzen. Sie walzt im wahrsten Sinne des Wortes einen Menschen zu Tode, der jetzt für alle in den Flammen verbrennt. Lancelot im Schlund des Drachen. Das ist ein bezaubernder Anblick, bewundernswert, denn an Mut fehlt es diesem Mann nicht. Doch er hat diesen Weg natürlich vollkommen bewusst gewählt, er brennt wie eine Fackel, das ist klar.
Was können nun die anderen tun? Zuschauer bleiben in diesem Zweikampf, den man nicht mal Zweikampf nennen kann, oder irgendwie daran teilnehmen? Es ist völlig unklar.
Noch etwas hat mich ergriffen und entzückt: Ein Mensch, der [in Solidarität mit Nawalny] in den Hungerstreik getreten ist. Er heißt Nikolaj Formosow und ist ein ehemaliger Professor der Higher School of Economics und der MGU. Man muss handeln, denn reden ist völlig sinnlos. An den Menschen [den Präsidenten Russlands Wladimir Putin] wendet sich schon die ganze Welt. Alle bedeutenden Persönlichkeiten bitten um eine ganz einfache Sache: Gewährt dem Mann medizinische Hilfe. Doch er [Putin] ignoriert die weltweite Stimme, obwohl das Volk es schon herausschreit.
Ein merkwürdiges Gefühl entsteht. Ein Gefühl der Abwesenheit des Staates, ein Gefühl der Abwesenheit dessen, der geschworen hat, Garant für das Leben und die Würde seiner Bürger zu sein. In diesem Zustand ist es sehr schwer eine Handlung zu finden, ein Wort.