дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    An den Grenzübergängen Russlands zu Estland und Lettland bilden sich derzeit lange Schlangen von Flüchtenden, die teilweise tagelang bei Minusgraden ausharren müssen: Es sind ukrainische Bürgerinnen und Bürger, die aus den von Russland annektierten Gebieten kommen. 
    Meduza hat mit einzelnen von ihnen gesprochen – und auch mit Helferinnen und Helfern, die sich dort inzwischen eingefunden haben. Diese Augenzeugen schildern katastrophale Zustände auf russischer Seite und ein absichtliches Hinauszögern seitens der russischen Grenzbehörden. 

    Wie das litauische Portal Delfi informiert, wurden am Donnerstag, 6. Oktober, einzelne Wohnungen von freiwilligen Helfern in der Oblast Pskow durchsucht. Delfi sowie Spiegel Online berichten außerdem über zahlreiche Zurückweisungen ukrainischer Flüchtlinge aus den von Russland besetzten Gebieten auf estnischer Seite. 


    „Grenzübergang Kunitschina Gora (Bezirk Petschorski, Oblast Pskow). Ukrainer. Vermutlich sind warme Speisen und Getränke willkommen, ebenso Heizöfen.“ / © Telegram-Kanal Pskowskaja Realnost

    „Wir haben begriffen, dass sie uns für Vieh halten“

    Andrej, ukrainischer Flüchtling (Name auf seinen Wunsch geändert)

     

    Es gab für uns nur noch einen Weg [aus den russisch besetzten ukrainischen Gebieten] in die Ukraine – über Wassiliwka in der Oblast Saporishshja. Er wurde kurz vor dem 23. September und den Pseudoreferenden geschlossen. Männer zwischen 18 und 35 Jahren durften nicht mehr [aus der Oblast] ausreisen. Wir vermuteten, dass sie [die russischen Behörden] als nächstes anfangen würden, die Männer einzukassieren [zu mobilisieren], und beschlossen, lieber nicht darauf zu warten. Manche gehen auf die Krim, aber in Russland ist es unheimlich – da gibt es mehr Militärs als normale Menschen.

    Ich bin mit meiner Frau und unserem Kind am 25. September aus dem besetzten Gebiet [in der Oblast Saporishshja] auf die Krim ausgereist, von dort aus sind wir nach Sankt Petersburg und dann weiter nach Iwangorod [an der russisch-estnischen Grenze – dek], wo wir andere ukrainische Flüchtlinge kennengelernt haben.

    Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch

    Am 30. September kamen wir am Grenzübergang an. [In der Schlange] standen ungefähr zehn Leute. Wir dachten: „Super, dann sind wir schnell durch.“ Dann stellte sich heraus, dass die Russen wollten, dass sich die Leute der Reihe nach in Listen eintragen und schon 60 vor uns draufstehen. Die Listen werden eingesammelt, die Personalien in eine Datenbank eingetragen und die Menschen der Reihe nach aufgerufen. Alle diese 60 Menschen waren am 29. September angekommen, nur acht waren an diesem Tag durchgelassen worden. Um es gleich zu sagen: Wir mussten etwa zwei Tage warten. Jetzt lassen sie pro Tag schon 40 Menschen durch, sechs bis acht Menschen alle vier bis sechs Stunden.

    Selbst wenn du mit einem kleinen Kind anstehst, wirst du nicht vorgelassen. Ich blieb an der Grenze, um Wache zu schieben – die Lage veränderte sich alle 15 Minuten. Meine Frau und unser Kind habe ich ins Hotel geschickt, in dem auch die anderen Familien wohnten.

    Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad

    Russen und Esten passieren die Grenze innerhalb von fünf Minuten. Einer [der Russen] stellte sich in die Schlange mit den Flüchtenden und regte sich auf: „Was ist denn hier los? Muss ich jetzt hier anstehen?“ Er fluchte. Die Grenzbeamtin zeigte auf die Schlange mit den Russen und sagte zu ihm: „Beruhigen Sie sich mal, da stehen die normalen Leute.“ Da begriffen wir, dass sie uns für Vieh halten. Außerdem waren alle, die [im Kontrollpunkt] saßen, durchgefroren und erkältet. Wir wurden [einfach so] nach draußen gejagt, zum Beispiel weil sie um vier oder sechs Uhr morgens die Böden wischen mussten. Sie ließen uns manchmal eine halbe Stunde vor der Tür stehen, dabei waren es draußen tagsüber sieben Grad. Es war kalt. Dazu [kommen] der Stress und die weite Reise.

    Sie nehmen dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm

    Alle mussten durch die Filtration [auf russischer Seite]. Erst saßen wir im Kontrollpunkt und warteten, dass wir drankamen. Sie nahmen uns die Pässe ab, überprüften sie und holten uns [dann], um unsere Fingerabdrücke zu nehmen. Etwa alle vier Stunden wurden sechs bis sieben Leute aus der Liste [für die Filtration] abgeholt, nicht mehr. Um nicht getrennt zu werden, fragten [Familienangehörige, die nicht alle auf einer Liste standen], ob sie zusammen durchgehen können. Die Grenzbeamten verneinten und sagten, sie würden die vorlassen, die alleine anstehen. Also mussten die Familien Leute vorlassen und weitere vier bis sechs Stunden warten, bis sie an die Reihe kamen.

    In der Filtrationszone nehmen sie dir das Handy ab, wollen deine PIN wissen, nehmen es mit und jagen es durch ein Programm. Keine Ahnung, wo sie überall reingeguckt haben, vielleicht haben sie es auch verwanzt – es ist alles möglich. Wir bekamen unsere Handys nach 15 bis 30 Minuten wieder, andere erst nach mehreren Stunden.

    Sie sagen Dinge wie: ‚Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?‘

    Nachdem dir das Handy abgenommen wurde, geht es zum Verhör. Sie wollen wissen: „Was ist bei Ihnen los? Wie war Ihr Leben in der Ukraine vor diesen ganzen Ereignissen? Warum wollen Sie nicht in Russland bleiben?“ Sie fragen nach den Eltern, Schwestern, Brüdern. Sagen Dinge wie: „Wir bringen euch den Russki Mir, das gefällt euch wohl nicht?“ Stellen provokante Fragen. Manche wurden gefragt: „Wie finden Sie unseren Präsidenten?“ Naja, diesen Putin. Am Ende wurden wir durchgelassen.

    Die estnische Grenze passierten wir innerhalb von 30 Minuten. Jetzt sind wir in Estland. In den Nachrichten lese ich, dass sie in Melitopol und Cherson schon die Männer einkassieren [im Zuge der Mobilmachung – dek]. In die Ukraine wollen wir erst zurück, wenn es wieder ruhig ist. Meine Familie hat Angst vor den Explosionen, bei uns [in der Stadt] wird täglich geschossen. Im Moment überlegen wir, wohin wir jetzt fahren.


    „Das ist ein Ozean aus Wahnsinn“

    Anna, freiwillige Helferin an den russischen Kontrollpunkten Kunitschina Gora und Schumilkino an der russisch-estnischen Grenze

    Die Menschen, nicht nur Flüchtlinge, fahren zwischen den Grenzübergängen hin und her, stellen sich in verschiedenen Schlangen an und schauen, wo die Umstände besser sind. Es gibt viele Autofahrer und Fußgänger. Ganze Busladungen kommen an. Die Anzahl der Menschen [an den Grenzübergängen] ändert sich ständig, aber es sind immer mindestens 300 bis 400. Es ist ganz unterschiedlich, [allein] in Schumilkino haben wir [einmal] etwa 1000 Menschen gezählt. Manchmal kommt zum Beispiel ein Bus von der Krim, setzt die Leute irgendwo im Nichts [an der Grenze] ab, und sie stellen sich alle auf einmal an.

    Diese Situation hat sich vor anderthalb Wochen angebahnt. Den Notruf bekamen wir am Mittwoch, 28. September: Es wurde von riesigen Schlangen berichtet, vor allem Fußgänger. Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig. Als wir mit der ersten Partie humanitärer Hilfe ankamen, gab es unter den Wartenden bereits Menschen, die seit über drei Tagen anstanden.

    Die Nächte werden kälter, tagelang in der Schlange auszuharren ist extrem schwierig

    Manche kommen auch mit privaten Fuhrunternehmen. Einige mieten für einen Aufpreis einen Bus, der sie an die Grenze bringt und dann zwei Tage dort steht – da drin können sie sich wenigstens aufwärmen und schlafen. Auf der anderen Seite wartet entsprechend ein zweiter [Bus eines europäischen Unternehmens], aber wer [vorher] wie lange [an der Grenze] stehen muss, weiß niemand.

    Seit Donnerstag, 29. September, helfen wir den [Flüchtlingen] aktiv. Wir arbeiten in fünf Richtungen: warmes Essen und Heißgetränke, warme Kleidung, Schutz vor Regen, Übernachtungsmöglichkeit und Evakuierung auf anderem Weg.

    Als klar wurde, dass wir es nicht [allein als Freiwillige] schaffen, gingen wir an die Öffentlichkeit und riefen die Leute zur Mithilfe auf. Jetzt gibt es Menschen, die sich organisieren und [Lebensmittel an die Grenze] bringen. Viele von ihnen helfen schon lange, aber plötzlich waren viel mehr Ressourcen nötig als früher.

    Vor Müdigkeit und Kälte sind die Kinder in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber. Die Freiwilligen und andere Einwohner [der umliegenden Städte] nehmen die Menschen bei sich auf, damit sie sich aufwärmen können, in erster Linie Frauen mit Kindern. Aber auch wenn jemand anderes um Hilfe bittet, versucht man ihm zu helfen. Manche haben Angst, zu uns nach Hause zu fahren, um dort zu übernachten, aber dann beruhigen sie die Leute, die schon bei uns waren oder ihre Angehörigen mitgeschickt haben.

    Die Kinder sind in einem schlechten Zustand. Viele bekommen eine Mandelentzündung. Manche haben Fieber

    Ich habe das Gefühl, dass die [städtischen und regionalen] Behörden nicht wollen, dass die einfachen Bewohner zu viel von den Ereignissen mitbekommen. Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden. Es handelte sich um ältere Menschen. Eine Frau starb in Petschory [Oblast Pskow, in der Nähe der estnischen Grenze – dek], den Tod einer anderen Frau meldete ein Mann aus der Schlange in Ubylinka [an der russisch-lettischen Grenze – dek]. Wo der dritte Fall war, weiß ich nicht mehr. Ein anderer Mann erlitt einen epileptischen Anfall und wurde mit dem Krankenwagen geholt. Und das sind nur die Fälle, von denen wir wissen.    

    Nachdem von drei Todesfällen in der Schlange berichtet wurde, ist sichtlich mehr getan worden

    Viele [Flüchtende aus der Ukraine] bedanken sich und sind verwundert, dass es in Russland Freiwillige gibt. Trotz der vielen Arbeit unterstützen wir uns gegenseitig. Wir umarmen uns oft. Wenn sie weinen, muss ich auch weinen. Die Möglichkeit, ihnen zu helfen, ist für mich das ganze halbe Jahr schon eine echte Rettung. Jetzt ist der Strom der Menschen dünner geworden und die Lage hat sich etwas stabilisiert. 

    Sehr oft arbeiten die Flüchtenden, denen wir hier helfen, später als Freiwillige, wenn sie auf der anderen Seite der Grenze sind. Angehörige von Leuten, die es herausgeschafft haben, fragen uns, wie sie für uns Geld spenden oder sonst helfen können. Es gibt Menschen, die nie gedacht hätten, dass jemand einen Unbekannten ins Haus lassen könnte, um zu helfen.

    Das ist ein Ozean aus Wahnsinn, in dem die Menschen sich verzweifelt abstrampeln. Plötzlich findet einer jemandes Hand und hält sie. Alle klammern sich aneinander und es bildet sich ein stabiles Floß. Dadurch helfen die Menschen, das Menschliche zu bewahren und sich im Kampf mit den Schrecken des Krieges über Wasser zu halten. Leider ist der Preis, der für eine solche Entwicklung und ein solches gegenseitiges Verständnis, für die Idee von Freiwilligenarbeit und gegenseitiger Hilfe gezahlt werden musste, viel zu hoch.


    „Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann“


    Alina, Flüchtende. Aus dem von Russland besetzten Cherson hat sie ihr Weg über die Krim nach Sankt Petersburg geführt. Sie hat die russisch-estnische Grenze bei Iwangorod überquert.

    Wir [meine Familie und ich] konnten bis zuletzt nicht weg. Alle dachten, dass sich etwas ändern würde. Alle sagten mir: „Fahr doch, was sitzt du hier noch rum?!“. Wir konnten uns nicht durchringen. Das Entscheidende war dann das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig. Uns war klar: Wenn das Referendum stattfindet und so abläuft, wie es die andere Seite [Russland] will, dann wird hierher [nach Cherson] keiner [von uns] zurückkehren.

    Das Entscheidende war das „Referendum“. Als es angekündigt wurde, waren die Abschiedstränen zweitrangig

    [An der russisch-estnischen Grenze] versuchten wir herauszufinden, wer der letzte [in der Schlange] ist. Als Antwort wurden wir in eine Liste eingetragen. Dann fragten wir, wie viele abgefertigt werden. Sie sagten, dass heute bisher nur zwei durchgelassen wurden. Die Schlange ist hundert Menschen lang; es ist schon nach Mittag. Da wurde uns klar, wie lange wir hier stehen müssen.

    Es gibt sehr viele Kinder und Rentner. Das Einzige, was uns gefreut hat, war, dass Männer und Frauen über 60 außer der Reihe durchgelassen wurden. Wenn aber ein Mann oder eine Frau über 60 mit ihren Kindern unterwegs ist, die, sagen wir mal, 40 Jahre alt sind, dann bleiben sie bei ihren Kindern, weil sich niemand in einer solchen Situation trennen will. Ein weiteres Problem sind die Kinder, [an der Grenze] gibt es Winzlinge von drei Monaten.

    Ein Problem sind die Kinder, es gibt Winzlinge von drei Monaten

    Ich weiß nicht, warum das so ist, aber an Toiletten fehlt es am russischen Grenzübergang völlig. Die gibt es dort auf dem Gelände einfach nicht. Vielleicht gibt es im Gebäude eine; die Mitarbeiter brauchen sie wohl. Doch für Besucher, für Wartevolk wie uns, gibt es keine. Ich habe mitbekommen, wie eine Frau eine Mitarbeiterin danach fragte. Die antwortete: „Wir haben hervorragende Bio-Toiletten, gehen Sie zum Gewässer [beim Grenzübergang] oder in die Büsche.“ Nebenan steht noch ein verlassenes Gebäude, mit dem wir uns in dieser Hinsicht „vertraut“ gemacht haben; früher gab es dort irgendein Geschäft, doch hängt da jetzt ein Schild: „geschlossen“.

    Weil uns der Bus einfach abgesetzt hat [und wieder weggefahren ist], haben wir an der Grenze entweder auf der Straße gestanden oder waren im Gebäude. Vielen Dank an die Frauen, die dort arbeiten. Sie kamen und sagten: „Frauen und Kinder, kommen Sie und wärmen Sie sich auf. Die Männer bleiben auf der Straße, weil nicht genug Platz ist.“ In das kleine Zimmer passten aber nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke. Wir haben auf den Fensterbänken gesessen, auf dem Boden, auf den Koffern.

    In das kleine Zimmer passten nicht alle rein, die sich aufwärmen wollten; da gab es nur drei Bänke

    Eine Nacht mussten wir draußen verbringen. Auf der Bank konnte man nicht sitzen, da war der Wind zu kalt, der vom Wasser herüberwehte. Also versuchst du, dichter am Gebäude zu sitzen, dort ist es ein klein bisschen wärmer. Da störst du die Leute, die mit ihren Koffern herauskommen, denn du versperrst den Weg. Ich hätte natürlich [ab und zu] in dieses Zimmer gehen können, aber da gab es absolut keinen Platz. Ich stellte mich neben die Tür, um mir die Hände zu wärmen, dann ging ich wieder weg.

    Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer

    Es gab überhaupt kein Wasser [am Grenzübergang]. Wir haben es in der Stadt gekauft, als wir das, was wir mitgebracht hatten, leergetrunken hatten. Und die Freiwilligen haben geholfen; sie brachten Wasser in Plastikflaschen und heißes Wasser. Essen hatten wir zuvor schon bekommen, aber die Freiwilligen brachten auch Bouillon, Gebäck, Kuchen und Printen vorbei.

    Die Freiwilligen sind irgendwie Zauberer. Du weißt: Was auch passiert, sie helfen dir von A bis Z, selbst nachts. Ich habe mich noch nie im Leben an Freiwillige wenden müssen, und ich habe nicht einmal gewusst, dass es so weit kommen kann.


    „Die Lage hat sich seit Beginn der ‚Referenden‘ bis zum Anschlag zugespitzt“

    Iwan, Freiwilliger an der russisch-lettischen Grenze (Name auf seinen Wunsch geändert)

    Wenn es früher nur an zwei Grenzübergängen Schlangen gab (in Buratschki und Ubylinka), kommt es in den letzten zwei Wochen nun überall zum Kollaps. 

    Die Lage mit den Schlangen an den fünf Grenzübergängen im Gebiet Pskow hat sich seit Beginn der „Referenden“ bis zum Anschlag zugespitzt. Die fahren selbständig oder gegen Bezahlung mit Hilfe von privaten Fuhrunternehmen zu den Grenzübergängen für Fußgänger. Während Neue ankommen, sind ihre „Vorgänger“ noch nicht rüber [über die Grenze]. Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten; manchmal werden [nur] drei, vier Autos pro Tag abgefertigt.

    Die russischen Grenzübergänge sind wie Flaschenhälse, sie lassen einen dort stundenlang warten

    In Iwangorod hat sich eine Zwei-Tage-Schlange aufgelöst, das bedeutet aber nicht, dass sich nicht wieder eine bildet. Anscheinend haben die Mitarbeiter des russischen Zolls nach dem Selbstmordversuch [eines ukrainischen Flüchtlings] dann schneller gearbeitet. Diejenigen, die Schlange stehen, sagen allerdings, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten. Dabei warten viele dort, fast alles Flüchtende. Russen mit Touristenvisa werden nicht rausgelassen, wer aber aus geschäftlichen, familiären oder arbeitstechnischen Gründen oder wegen Immobilienangelegenheiten ein Visum hat, wird recht zügig abgefertigt. Sie kommen dabei vor den Flüchtenden an die Reihe.

    Diejenigen, die Schlange stehen, sagen, dass die russischen Grenzer mit mehrstündigen Pausen arbeiten

    Neben dem Grenzübergang können keine Zelte oder Stellen zum Aufwärmen errichtet werden, weil das Grenzgebiet ist. Die Leute, die Mitgefühl haben, können sich nicht darum kümmern, weil das [Errichten solcher Stellen] verboten ist. Diejenigen, die den Flüchtenden helfen wollen, haben nicht genug Kraft, um „den Brand zu löschen“: Es gibt zu wenig Freiwillige und sehr viele Flüchtende. Nicht weit vom russisch-estnischen Übergang Kunitschina Gora gibt es wenigstens das Mariä-Entschlafungs-Kloster in Petschory. Es wird erzählt, dass die Flüchtenden dort mit Essen versorgt wurden, aber jetzt wohl nicht mehr. Im Großen und Ganzen gibt es nichts, wo die Menschen hinkönnen – all diese Grenzübergänge liegen praktisch auf der grünen Wiese.

    Weitere Themen

    Russlands Passportisierung des Donbas

    „Jeder, der der Ukraine irgendwie helfen kann, sollte es tun“

    Kontaktprellen

    Jahr des historischen Gedenkens

    „Auf dass wir niemals aufeinander schießen“

  • „Jeder kämpft vor allem für sich, für seine eigenen Interessen“

    „Jeder kämpft vor allem für sich, für seine eigenen Interessen“

    Ein Internet-Meme zeigt folgende Szene: Wladimir Putin fragt: „Wie läuft es mit der Mobilmachung?“ Darauf antwortet Generalstabschef Gerassimow: „250.000 …“ und Verteidigungsminister Schoigu ergänzt: „… haben das Land verlassen.“
    Tatsächlich hatten sich nach der TV-Ansprache, in der Wladimir Putin eine „Teilmobilmachung“ von 300.000 Mann verkündet hatte, lange Schlangen an russischen Staatsgrenzen gebildet, etwa zu Georgien und Kasachstan. Flugpreise ins Ausland verzehnfachten sich, dennoch waren die Flüge komplett ausverkauft. Insgesamt sollen rund 250.000 Russen das Land verlassen haben.

    Gleichzeitig lief die Mobilmachung laut Beobachtern vor allem in Regionen mit ethnischen Minderheiten auf vollen Touren, in Jakutien, Burjatien und auch im Nordkaukasus. In Dagestan etwa kam es dabei zu lokalen Protesten, bei denen die Polizei zum Teil Warnschüsse abgab, Protestierende skandierten Parolen wie „Nein zum Krieg“. Der Menschenrechtsorganisation OWD-Info zufolge wurden bei russlandweiten Protestaktionen gegen die „Teilmobilmachung“ zwischen 21. und 26. September insgesamt über 2400 Menschen festgenommen.

    Doch eine landesweite Protestwelle bleibt aus. Warum gehen die Russen derzeit nicht auf die Straßen, sondern eher an die Front oder verlassen das Land? Fehlt für Massenproteste eine Führungsfigur wie der inhaftierte Oppositionspolitiker Alexej Nawalny? Und können Massenproteste überhaupt etwas bewirken, solange es keine Spaltung der Elite gibt? Diese und weitere Fragen beantwortet der Politikwissenschaftler Wladimir Gelman im Gespräch mit Meduza.

    Wie lässt sich die erste Reaktion der russischen Gesellschaft auf die Mobilmachung einordnen? Warum hat sie keine Massenproteste ausgelöst?

    Albert Hirschman [ein Wirtschaftswissenschaftler und Politökonom] hat beschrieben, wie einzelne Menschen, Firmen und ganze Staaten auf Krisen aller Art reagieren. Es gibt zwei grundlegende Strategien: Zum einen aktiver Widerstand, Protest – in seinen Begriffen „voice“, also Widerspruch –, und zum anderen alle möglichen Arten der Flucht vor dem Unbill, „exit“, Abwanderung.

    Die Russen ziehen natürlich den „exit“ vor. Aktive Proteste gibt es nach wie vor nur in Einzelfällen. Denn diese erfordern nicht nur individuelles Handeln, sondern auch Koordination und Kooperation verschiedener Leute. Und das funktioniert nicht gut.

    Es gab doch durchaus einzelne, lokale Proteste, wie ist das zu erklären? Liegt es daran, dass diese Regionen stärker von der Einberufung von Wehrpflichtigen betroffen waren? Oder weil es dort schon eine gewisse Koordination auf Graswurzel-Ebene gab?

    Ich denke, es ist wohl das eine wie das andere. Einerseits war man dort übereifrig, die Planvorgaben für Einberufung zu erfüllen. Andererseits hat es dort regional, nehme ich an, auch früher schon Koordinationserfahrung gegeben. Also sehen wir dort Ausbrüche ziemlich aktiver Proteste.

    Allerdings ist es so, dass das Protestpotenzial nicht über solche einzelnen Aktionen hinausgeht. Jene Frauen, die sich in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala mutig Zusammenstöße mit der Nationalgarde lieferten, haben wohl in erster Linie erreicht, dass ihre Männer, Kinder und Angehörigen nicht eingezogen werden. Bestenfalls wird das dazu führen, dass die Männer und Kinder von anderen eingezogen werden – nämlich dort, wo das Widerstandspotenzial geringer und weniger Aufruhr zu erwarten ist.

    Wer sich mit gesellschaftlichen Bewegungen befasst, dem sind solche Phänomene wohlbekannt. Da gibt es etwa die Abkürzung NIMBY, not in my backyard, „nicht in meinem Hinterhof“. Das heißt, dass jeder vor allem für sich selbst kämpft, für seine eigenen Interessen. Das haben wir schon früher beobachten können; die Proteste gegen die Mobilmachung sind da keine Ausnahme.

    Und dieses „nicht in meinem Hinterhof“ ist etwas, was für Russland oder Gesellschaften in autoritären Regimen spezifisch ist?

    Das ist keineswegs eine Besonderheit Russlands. Es gibt viele Länder mit einem repressiven autokratischen Regime, in denen es ähnliche Probleme gibt. In einigen Ländern bestehen aber andere Organisationsstrukturen, die eine Koordinierung erleichtern. Die autoritären Regime in Lateinamerika hatten es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ständig mit dem Widerstand der Gewerkschaften zu tun, die eine wichtige Basis für die Koordinierung waren.

    Die Regierung hatte die Gefahren erkannt, die von jeder organisierten Struktur ausgehen, und sie hat versucht diese auf jede erdenkliche Art zu schwächen

    In Russland hat das Team von [Alexej] Nawalny versucht, etwas Ähnliches aufzubauen, doch das wurde zerschlagen: Die einen wurden Opfer von Repressionen, andere mussten aus dem Land fliehen, und das Koordinationspotenzial war schon vor dem Februar 2022 geschrumpft. Die Regierung hatte die Gefahren erkannt, die von jeder organisierten Struktur ausgehen, und sie hat versucht, diese auf jede erdenkliche Art zu schwächen. Und das ist ihr auch gelungen.

    Und wenn man Proteste aus dem Ausland koordiniert, oder online? Die Mitstreiter von Alexej Nawalny haben jetzt beispielsweise versucht, die Menschen zu Protesten aufzurufen.

    Online-Koordinierung kann die Koordination vor Ort ergänzen, aber nicht ersetzen. Außerdem ist die Gefahr von Repressionen ernstzunehmen, die verhindert, dass Menschen sich an Massenprotesten beteiligen. Sie wägen bewusst, vielleicht auch intuitiv, die Risiken einer Bestrafung ab und die Chancen auf Erfolg. Und sie wissen, dass die Risiken, wenn sie sich an Massenprotesten beteiligen, recht hoch sind. Insbesondere jetzt, wo es nicht mehr nur um Verwaltungsstrafen, sondern auch um eine strafrechtliche Verfolgung geht. Die Chancen, dass die Ziele erreicht werden, erscheinen dagegen sehr gering, zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Da ist es nur natürlich, dass dies die Russen dazu bringt, nach individuellen Lösungen zu suchen und kein kollektives Vorgehen anzustreben.

    Für viele sind die Ereignisse in Dagestan weniger ein Vorbild als vielmehr ein Beleg dafür, dass die Behörden auf Protestierende einprügeln

    Für viele sind die Ereignisse in Dagestan zudem weniger ein Vorbild als vielmehr ein Beleg dafür, dass die Behörden bei einer Konfrontation mit den Bürgern auf Protestierende einprügeln. Eine Entwicklung [von Massenprotesten] auf gesamtrussischer Ebene wäre nur dann möglich, wenn die Repressionsmaschine Schwäche zeigt und der Staat einer Menge kollektiver Aktionen – in mehr als nur einer Stadt – schlichtweg nichts entgegenzusetzen hätte.

    Sie sagen trotzdem, dass Sie diese Möglichkeit nicht ausschließen. Unter welchen Umständen?

    Dann, wenn der Staatsapparat im Zuge der Kriegshandlungen geschwächt würde, und sobald die Motivation schwindet, diesen Staatsapparat zu verteidigen.

    Und die Unzufriedenheit muss sehr viel größer sein als jetzt. Im Augenblick ist das nicht zu beobachten. Ich denke, dass das Stocken des Kriegsgeschehens einen Einfluss auf die Situation hat, aber welchen genau, können wir jetzt noch nicht wissen.

    Ist für eine Protest-Koordinierung eine markante, populäre Führungsfigur erforderlich? Oder könnte eine solche Struktur auch aus einer horizontal organisierten sozialen Bewegung erwachsen?

    Darauf gibt es keine allgemeingültige, eindeutige Antwort. Es gibt Staaten, in denen Graswurzelbewegungen entstehen, etwa im Sudan, wo sich lokale Proteste gegen das Regime von Omar al-Baschir auf das gesamte Land ausgeweitet haben. Anderswo gibt es neue Führungsfiguren, die diese schwierige Aufgabe übernehmen, beispielsweise Corazon Aquino in den Philippinen nach dem Tod ihres Mannes.

    Russland aber ist neben vielem anderen ein sehr großes Land. Viele Proteste waren und sind lokaler Natur. Das ist für die Regierung sehr günstig, weil deshalb eine Politik des „teile und herrsche“ verfolgt werden kann. In Russland ist es so, dass die Mütter aus Dagestan nicht bis nach Moskau kommen werden.

    Könnte eine koordinierende Organisation oder ein Anführer aus dem Nichts entstehen?

    Auch das wissen wir nicht. Es gibt keinerlei Gesetzmäßigkeit, die besagen würde, dass bei einer bestimmten Reihe von Faktoren dies oder jenes geschehen wird.

    Deshalb können wir oft keine Prognosen anstellen, sondern bestenfalls im Nachhinein Erklärungen liefern. Wir können von einer größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung sprechen; wir können aber unmöglich sagen, dass diese und jene Umstände eine Führungsfigur hervorbringen werden.

    Studien zu autoritären Regimen besagen, dass Massenproteste an und für sich keineswegs immer zum Sturz eines Regimes führen. Voraussetzung dafür sind vielmehr auch Konflikte innerhalb der Elite. Dennoch geht aus der Studie auch hervor, dass seit dem Zweiten Weltkrieg in immerhin rund einem Drittel der Fälle ein autoritäres Regime durch massenhafte Unzufriedenheit und Proteste in der Gesellschaft zusammenbrach. 

    Ja, es gibt Beispiele dieser Art. Wir können aber nicht sagen, dass es eine Liste von Zutaten und ein sicheres Rezept gibt, weil sehr viel davon abhängt, wie die Gruppen, die an der Macht sind, für sich das Risiko [eines Machtverlusts] einschätzen, und über welche Ressourcen sie verfügen.

    Hier sind die Unterschiede zwischen verschiedenen Typen autoritärer Regime wichtig. Für einige ist eine kollektive Führung charakteristisch. Das bedeutet, dass es dort verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Positionen und unterschiedlichem Potenzial gibt. Manchmal führen Konflikte innerhalb dieser Elite zu einem Umsturz.

    In personalistischen Regimen jedoch, zu denen auch das Regime in Russland gehört, ist kein Mechanismus für kollektive Entscheidungen vorgesehen. Hier ziehen Angehörige der Eliten den individuellen „exit“ einem kollektiven Widerspruch, „voice“, vor. Mehr noch: Für sie sind die Risiken nicht geringer, sondern sogar höher als für gewöhnliche Bürger. Sie haben, grob gesagt, mehr zu verlieren.

    Wir sollten heute nicht erwarten, dass es zu einer Spaltung innerhalb der Elite kommt. Ich schließe eine solche Entwicklung nicht aus, doch wird sie nicht spontan, von selbst eintreten, nicht einfach nur, weil jemand mit irgendetwas nicht einverstanden ist. Wer nicht einverstanden ist, wird sich vielmehr bedeckt halten und womöglich abwarten, dass sich die Lage in eine günstigere Richtung entwickelt. 

    Das ist ein rationales Verhalten, wenn man sich anschaut, wie diejenigen an der Macht und die einzelnen Bürger das Risiko ihrer Schritte einschätzen. Wenn Sie davon ausgehen, dass weder kollektiver Widerspruch, „voice“, noch individueller „exit“, Abwanderung, Sie retten wird, was können Sie dann noch tun?

    Die Frage ist doch, wie solche Vorstellungen über die eigenen Risiken und Möglichkeiten zustandekommen.

    Sie stützen sich auf reale Erfahrungen, von denen die Menschen, wenn sie sie nicht unmittelbar selbst gemacht haben, durch Medien, soziale Netzwerke und so weiter wissen. Es ist durchaus logisch, dass viele Menschen angesichts einer Krise beschließen, sich entweder gehorsam zu fügen oder gar nichts zu tun. Das mag für sehr viele Beobachter, die eine größere Aktivität sehen wollen, unangenehm sein. Menschen verhalten sich aber so, und nicht anders; und zwar nicht nur dann, wenn eine Mobilmachung ansteht.

    Und diese Logik ist besonders für Russland typisch?

    Diese Logik gibt es in vielen Gesellschaften. Es ist allerdings so, dass es in einigen Ländern Institutionen gibt, die die Menschen dazu anregen, sich anders zu verhalten, während solche Institutionen anderswo eben fehlen. Wenn in einer Demokratie die Regierung einen derart monströsen außenpolitischen Fehler begeht, einen unpopulären Krieg entfesselt[, dann gibt es Möglichkeiten, darauf Einfluss zu nehmen].

    Der US-amerikanische Einmarsch in den Irak zum Beispiel fand schon bald nach seinem Beginn kaum noch Zustimmung, und als es in den USA einen Regierungswechsel gab, zogen sich die Amerikaner aus dem Irak zurück. Die Verluste waren hoch, aber es gab eine Aufarbeitung der Fehler. Das wurde unter anderem durch die Haltung der amerikanischen Wähler und gleichzeitig der amerikanischen Eliten möglich.

    In autoritären Regimen aber fehlt dieser Mechanismus. Es ist nicht vorstellbar, dass sich die Eliten in Russland jetzt zusammentun und Putin stürzen. Zumindest erscheint das heute sehr unwahrscheinlich. Und die Bürger in Russland haben derzeit keine Möglichkeit, mit ihren organisierten Protesten die Außenpolitik zu ändern.

    Die russische Gesellschaft ist so strukturiert, dass ihre Reaktion auf die wegen der Mobilmachung entstandene Krise für sie durchaus logisch und begründet ist. Unter anderen Bedingungen aber würden die Russen und auch die Eliten sich anders verhalten.

    Weitere Themen

    Ist Putin verrückt? Warum diese Frage nicht weiterhilft

    Repression in Zahlen

    „Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist“

    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Tschetschenien

    Protest in Russland – ein dekoder-Special

  • „Wozu? Damit andere Angst haben!“

    „Wozu? Damit andere Angst haben!“

    Ein Moskauer Gericht hat den Journalisten Iwan Safronow am 5. September 2022 zu 22 Jahren Haft im Straflager verurteilt – wegen angeblichen „Hochverrats“. Safronow, der zunächst mehrere Jahre als Journalist, für Vedomosti und Kommersant geschrieben hatte, spezialisiert auf Militär und Raumfahrt, arbeitete zuletzt bei der Raumfahrtbehörde Roskosmos. Er war bereits 2020 festgenommen worden, ihm wurde vorgeworfen, Staatsgeheimnisse an ausländische Geheimdienste weitergegeben zu haben. Beobachter kritisierten die Vorwürfe gegen ihn von Anfang an als konstruiert, Safronow weigerte sich bis zuletzt, seine Schuld einzugestehen. Bereits Safronows Vater war Militärexperte und Kommersant-Journalist, er kam 2007 unter ungeklärten Umständen ums Lebens, laut offizieller Quellen soll er Selbstmord begangen haben – was seine Familie bis heute bezweifelt.

    Der Fall Safronow wird von unabhängigen Beobachtern in größeren Zusammenhang mit dem repressiven Vorgehen des Staates gegen kremlkritische Stimmen gestellt. Am Tag des Urteils gegen Safronow wurde der Novaya Gazeta die Drucklizenz entzogen, kurz zuvor waren zahlreiche weitere Journalisten zu sogenannten „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Das extrem hohe Strafmaß im Fall Safronow löste nun Entsetzen aus. Meduza sammelt Reaktionen von Kollegen, Weggefährten, Juristen, Menschenrechtlern, Politikern …

    „Die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie scheinen“
    Ekaterina Schulmann, Politologin

    22 Jahre Straflager unter verschärften Haftbedingungen plus 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Geldstrafe und zwei Jahre eingeschränkte Freiheit nach Entlassung aus der Haft. Doch irgendetwas sagt mir, dass er das nicht absitzen wird – denn weder der Emir noch der Esel leben ewig, und die Mauern sind nicht so undurchdringlich, wie sie zunächst scheinen.

     

    „Auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort“
    Ilja Krassilschtschik, Leiter des Projekts Slushba poddershki, ehemaliger Herausgeber von Meduza

    Ich habe immer geglaubt und glaube weiterhin, dass die Gerechtigkeit triumphieren wird. Wie viele Jahre ich das schon glaube. Aber mit jedem Mal, mit jedem Prozess, mit jedem Krieg verstehe ich weniger, was für die gerecht ist. Es scheint, dass es keinerlei Gerechtigkeit mehr gibt, auf dermaßen viel Böses gibt es keine Antwort, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen.

     

    „Eine demonstrativ grausame Strafe“
    Pawel Tschikow, Jurist, Leiter der Menschenrechtsorganisation AGORA

    Ehrlich gesagt, habe ich wegen Hochverrats keine Urteile zu mehr als 20 Jahren gefunden. Es muss einem bewusst sein, dass Artikel 275 des Strafgesetzbuchs [für Hochverrat] eine Höchststrafe von 20 Jahren vorsieht. Iwan Safronow wurde zu mehr Jahren verurteilt, weil er für zwei Aspekte schuldig erklärt wurde, die jeweils einzeln mit Strafen belegt wurden. So kam das endgültige Strafmaß durch teilweises oder vollständiges Aufsummieren zustande.
    Das Strafmaß wegen Hochverrats war schon immer hoch. Aber in den letzten Jahren steigt es immer weiter an. Waren es vor zehn Jahren noch sechs bis neun Jahre, liegen die Urteile in den letzten fünf Jahren bei 12 bis 15 Jahren Haft. […]
    Iwan Safronow erhielt eine absurd hohe Strafe, eine demonstrativ grausame Strafe – entsprechend der heutigen Realität in Russland.

     

    „Dieses Urteil ist ein Signal an alle Kriegsberichterstatter“
    Galina Arapowa, Direktorin des Mass Media Defence Center, zitiert in Republic

    Mir scheint, in Safronows konkretem Fall besteht das Problem auch darin, dass dieses Urteil der gesamten Medienszene demonstrieren soll, dass das Thema Krieg, genauer Kriegsindustrie und Raumfahrt, ein Tabu ist. Es ist ein Signal an alle Journalisten, dass man sich von diesen Themen fernhalten muss, ansonsten handelt man sich schnell 22 Jahre Haft ein. 
    Außerdem ist es ein Signal an die Kriegskorrespondenten und Analysten, dass sie nichts anderes über dieses Thema schreiben dürfen als das, was in den Pressemitteilungen von Roskosmos und Verteidigungsministerium verlautbart wird. 
    Und das ist tatsächlich ein wirkliches Elend, denn es bedeutet, dass ein großer Teil des Staatshaushalts tabu ist für Diskussion, Analyse und Medienberichterstattung.

     

    „Iwan sagte, dass er niemals weggehen würde“
    Taissija Bekbulatowa, Chefredakteurin des Onlinemediums Holod

    Ich weiß noch, dass Wanja [Safronow] ein paar Jahre vor seiner Verhaftung bemerkt hat, dass er beschattet wurde. Er wusste nicht, womit das zusammenhing. Ich fragte ihn damals, ob er nicht lieber ausreisen möchte, aber er sagte, dass er niemals weggehen würde, ungeachtet aller Risiken, denn dies sei sein Land und hier sei seine Familie.

     

    Erst der Vater, nun der Sohn
    Lisa Focht, Korrespondentin der russischen BBC

    Iwan Safronow hat heute 22 Jahre bekommen. Da finde ich keine Worte. Wie soll man verstehen, wie Iwans Angehörige damit umgehen – zum Beispiel die Mutter, die zunächst ihren Mann verloren hat und jetzt zuschauen muss, wie man ihren Sohn für ein Vierteljahrhundert hinter Gitter bringt. 

     

    „Dieser Kannibalismus wird niemals vergessen“
    Leonid Wolkow, Politiker und Mitstreiter von Alexej Nawalny zu 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen

    Im Jahr 2015 bekam Wassja Fjodorowitsch, ein Jurist aus Jekaterinburg und Anführer einer Bande, die Usbeken und Tadshiken tötete, 22 Jahren Haft unter verschärften Haftbedingungen. Es ging damals um ungefähr 40 Morde, von denen 14 Morde und 5 Mordversuche vom Gericht bewiesen wurden.
    Jetzt kämpft er womöglich in der Ukraine. Und kriegt am Ende auch noch einen Orden von Putin (ich hoffe, posthum).
    Safronow wird seine Strafe nicht absitzen. Das wird alles sehr viel früher vorbei sein. Aber der Kannibalismus dieser Unmenschen, die 24 Jahre forderten und ihm 22 Jahre gegeben haben, die sich diesen „Fall“ ausgedacht und ihn vor Gericht gebracht haben – das ist alles schon dokumentiert und wird niemals vergessen.

     

    „Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen“
    Jewgeni Popow, stellvertretender Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Informationspolitik

    Als Journalist schockieren mich diese Zahlen. Aber die Beschuldigung wiegt schwer. Ich hoffe, dass das erst der Anfang ist. Die Verteidigung hat angekündigt, dass sie das Urteil anfechten und all ihre Argumente vorbringen wird. Sollte auch nur die geringste Hoffnung bestehen, dass Iwan unschuldig ist, sollte es Chancen und Argumente geben, dann bin ich sicher, dass diese in höheren Instanzen umgesetzt werden. Natürlich ist die Zahl riesig, einfach unglaublich.

    Ich würde hier keine Tendenz ablesen wollen und erst recht nicht um mich werfen mit Begriffen wie „Repression“. Ich hoffe, wir werden die Argumente der Ermittlungen zu sehen bekommen, allerdings werden die Chancen immer kleiner.

     

    „Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein“
    Witali Jegorow, Gründer des YouTube-Projekts Otkryty kosmos

    Wir sind Iwan Safronow

    Wanjas Pech war es, dass er einem Geheimdienst-Oberst über den Weg gelaufen ist … Oder war es sein Glück? Er ist schon erlöst, keine schnelle Eingreiftruppe wird sich mehr auf ihn stürzen, er muss sich von den Ermittlern keine Drohungen anhören, was Verwandte und Freunde betrifft, muss nicht mit seinem Gewissen darüber verhandeln, was besser ist: Geständnis und 12 Jahre oder Ehre und 22 Jahre. Jetzt hat er zu essen und staatliche Garantien über eine stabile Zukunft für mehr als 20 Jahre. Etwas, was die Mehrheit der Bürger in Russland nicht hat. Vielleicht sogar niemand. 

    Weiß jemand, was die Spürhunde heute machen, die den Fall Safronow geleitet haben? Glaubt jemand, dass diese tollen Leute mit kaltem Herz und heißem Kopf in Rente auf die Krim gegangen sind, um dort Gemüse anzubauen mit dem Gefühl erfüllter Pflichten? Bei wem werden morgen Speznas-Einheiten auf dem Balkon landen? Wessen vom Staatsanwalt verfasstes Urteil wird am nächsten Morgen mit nüchterner Stimme vom Richter verlesen?

    Diese Maschine, die Wanja gefressen hat, ist nicht niedergestreckt, sie hat den Hals noch nicht voll und ist noch nicht zum Stehen gekommen. Ihre Schräubchen tun weiter ihre Arbeit, denn sie brauchen neue Titel, Auszeichnungen, KPI [Key Performance Indicators – dek]. Sie brauchen uns. […]

    Morgen … nein, heute schon könnte jeder russische Bürger der nächste sein.

    Auch du.

    Und ich.

    Ich will nichts anheizen, keine Angst machen und niemandem drohen. Ich verkünde nur Fakten. Akzeptiert sie als Realität und trefft eure Entscheidung. Solange es auf eurem Balkon noch ruhig ist.

     

    „Ist das schon 1937 oder kommt das noch?“
    Irina Jakutenko, Wissenschaftsjournalistin

    Iwan Safronow hat 22 Jahre bekommen. In 22 Jahren kann man geboren werden, die Schule durchlaufen, ein Studium abschließen, einen Job beginnen, seine erste Liebe treffen, heiraten und sogar ein Kind kriegen. Das ist ein ganzes Leben. Dazu noch 500.000 Rubel [etwa 8200 Euro – dek] Strafe, damit auch die Eltern ihre Freude haben. Freunde des Vergleichens: Ist das schon 1937, das Jahr des Großen Terrors, oder kommt das noch? 

     

    „Zum ********“
    Alexej Ponomarjow, Musiker und Podcast-Redakteur

    Wanja Safronow hat 22 Jahre Strafkolonie bekommen für einen fingierten Fall von „Hochverrat“. Vor 22 Jahren habe ich die Schule abgeschlossen, die Wanja und ich gemeinsam besuchten. Zum ******** [Durchdrehen], verdammt noch mal. 

     

    „Es geht um Rache des Staates“
    Nikita Mogutin, Journalist

    22 Jahre für Iwan Safronow – dabei geht es nicht um Gerichtsbarkeit und nicht um den Kampf für Gerechtigkeit. 22 Jahre unter verschärften Haftbedingungen für einen Journalisten, für seine berufliche Tätigkeit – dabei geht es um die prinzipielle Rachsucht des russischen Staates. Dabei geht es um die Niederlage des Systems im Sommer 2019, als sie den Fall Iwan Golunow fingierten [dem Meduza-Journalisten wurde ein Drogendelikt untergeschoben – dek]. Unter Druck [großer Proteste und Solidaritätsbekundungen – dek] musste das System zurückweichen, Iwan kam frei, die Anakonda musste ihre Beute wieder herauswürgen.

    Umso entscheidender war es nicht nachzugeben im Fall Safronow. Wer auch immer hinter diesen fingierten Vorwürfen stand – der Inlands– oder der Auslandsgeheimdienst – sie rächten sich für ihre demütigende Niederlage. Schon 2019 haben wir darüber gesprochen, dass es „schrecklich sein wird, der nächste Journalist zu sein“, denn der würde nicht freigelassen und nicht gerettet. „Für dich selbst und für Wanka“.

    Genau deswegen geht es bei den 22 Jahren für den Journalisten Safronow um die Rache der gedemütigten Elite, eine Rache an jedem, der sich damals für Wanja Golunow einsetzte, eine grundlegende Antwort jedem, der dachte, dass die öffentliche Meinung in Russland irgendetwas beeinflusst.

     

    „Eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen“
    Borislaw Koslowski, Wissenschaftsjournalist und Autor

    Wenn Safronow frei kommt, ist er 54 Jahre alt. 

    Er ist 8 Jahre jünger als ich, der Kerl ist Jahrgang 1990.

    Über die Stichhaltigkeit der Anklage kann man bei Projekt nachlesen – teilt den Link nicht, wenn ihr in Russland seid, dafür könnt ihr auch eingebuchtet werden, weil Projekt „unerwünschte Organisation“ ist. 

    Der Slogan „Freiheit für Safronow“ scheint mir selten unsinnig – er sieht aus wie ein Appell an jene, die über Safronows Freiheit verfügen, also an eine Bande von Kriegsverbrechern, die bis zum Hals im Blut stehen. Das heißt, die gehen gerade ihrer üblichen Beschäftigung nach und zermalmen von Slowjansk bis Mykolajiw massenhaft lebendige Menschen zu Hackfleisch und sollen nun irgendwie mal kurz Pause machen, um Safronow freizulassen.

    Stattdessen wünsche ich Safronow, Jaschin [der wegen Verbreitung angeblicher „Fakes“ über die russische Armee in Haft ist – dek] und Nawalny nur eines: dass sie den Moment erleben, wenn irgendwer diese ganzen blutrünstigen Untoten mit Putin an der Spitze unschädlich macht. Und die Frage nach ihrer Freiheit klärt sich von alleine. Bis dahin wird sie sich leider überhaupt nicht klären.

     

    „Wozu? Damit andere Angst haben“
    Njuta Federmesser, Vorsitzende des Fonds für Hospiz-Unterstützung Wera (dt. Glaube)

    22 Jahre.

    Und es ist sinnlos zu fragen: Wofür? Denn wie immer ist die richtige Frage: Wozu? Damit andere Angst haben.

    Vor was Angst haben? Vor allem und allen. Sich selbst, ihrem Schatten, ihren Verwandten, Freunden, Vorgesetzten und Untergebenen, ihrem Spiegelbild, ihren Kindern, ihren eigenen Worten und Gedanken.

    Wozu? Um zu herrschen – nicht auf Grund von Intellekt und Kompetenz, sondern auf Grund von menschlicher Angst. Die Geschichte zeigt, dass diese Methode funktioniert. Für eine begrenzte Zeit. 

    Weitere Themen

    Schluss mit lustig

    Mediamasterskaja #2: „Allein die Wahrheit zu sagen, ist politisch“

    „Dieser Status ist wie eine schwere Krankheit“

    „Wir sind die letzte Bastion im Krieg des Staates gegen sein Volk“

    Bystro #6: Was war der Große Terror?

    Golunow ist frei – und jetzt?!

  • Im Schienenkrieg gegen Putin

    Im Schienenkrieg gegen Putin

    Seit Beginn des Angriffskrieges, den Russland gegen die Ukraine führt, kam es in Belarus zu zahlreichen Sabotageakten an Eisenbahnstrecken, über die russisches Militärgerät transportiert wurde. Für seine Invasion nutzt der Kreml auch den belarussischen Staat als Aufmarschgebiet, was nur möglich war, weil sich Alexander Lukaschenko vor allem in den vergangenen zwei Jahren in eine fatale Abhängigkeit verstrickt hat. Auch in Russland kam es seit März zu zahlreichen Anschlägen auf die Infrastruktur der dortigen Eisenbahn.
    Wer steckte hinter den Sabotageakten an den Bahnstrecken in Belarus? Handelte es sich um vereinzelte Akte des Widerstands oder gar um eine konzertierte Aktion? Wie gehen die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gegen die sogenannten Eisenbahn-Partisanen vor, die offenbar eine Art Schienenkrieg führen?
    Mit diesen und anderen Fragen beschäftigt sich die belarussische Journalistin Anja Perowa in einem Recherchestück für das russische Online-Medium Meduza.

    „Im Frühjahr wurde bei mir eine Hausdurchsuchung durchgeführt: Zunächst habe ich gar nicht verstanden, warum. Aber dann haben mir die Beamten erklärt, ich sei Zeugin in einem Prozess nach Paragraf 309. Dahinter verbirgt sich ‚mutwillige Beschädigung von Verkehrsmitteln und -wegen‘“, erzählt Natalja, eine Belarussin, deren Namen wir auf ihren Wunsch geändert haben. Natalja lebt in einer Stadt mit einem großen Eisenbahnknotenpunkt, auch ihren Wohnort nennen wir auf ihren Wunsch hin nicht, um sie nicht zu gefährden. 

    Natalja wurde zu den Sabotageaktionen im Bahnverkehr verhört, anschließend wurden ihre technischen Geräte konfisziert. Mehrere Stunden verbrachte sie auf dem Polizeirevier, dann ließ man sie gehen. Warum sie in dem Fall als Zeugin geführt wird, weiß sie bis heute nicht. „Vielleicht war ich an einem Tag der Sabotageakte irgendwo in der Nähe und man hat mich über mein Mobiltelefon geortet“, vermutet sie. 

    Nach den ersten aufsehenerregenden Sabotageaktionen gab das belarussische Ermittlungskomitee Anfang März bekannt, dass Untersuchungen „der Terroranschläge im Schienenverkehr“ eingeleitet wurden. Die Behörde erklärte, die Partisanen verfolgten mit ihren Sabotageakten das Ziel „Katastrophen zu verursachen und Menschen zu töten“. Es folgten massenweise Hausdurchsuchungen in den Städten, wo es Sabotageakte gab. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Wjasna betraf das die Städte Dsershinsk, Baranowitschi, Stolbzy – die drei Städte bilden Eisenbahnknotenpunkte auf dem Weg von Moskau nach Brest.

    Laut Wjasna wurden in Zusammenhang mit den Sabotageaktionen bis Mitte Juni mindestens elf Personen festgenommen. Sie werden beschuldigt, einen „Terroranschlag“ verübt zu haben. Sie alle befinden sich derzeit in verschiedenen Haftanstalten. Menschenrechtsorganisationen stufen sie als politische Gefangene ein. Sie alle werden nach Paragraf 289 angeklagt: „Verübter Terroranschlag“. Die Höchststrafe dafür ist in Belarus die Todesstrafe. Am 18. Mai 2022 hat Lukaschenko außerdem Änderungen im Strafgesetzbuch unterzeichnet. Seitdem steht auch auf „Versuchten Terroranschlag“ die Todesstrafe. Die belarussische Staatsanwaltschaft habe bereits Anfang März ein Verfahren eingeleitet, so der Staatsanwalt Andrej Schwed. Die Sache sei noch nicht vor Gericht, aber die Ermittlungen liefen. 

    Der erste Angriff auf die Belarussische Eisenbahn ereignete sich noch vor dem Krieg: Am 24. Januar, als die russische Armee zu den Truppenmanövern Sojusnaja reschimost nach Belarus kam. Aus dem Telegram-Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner geht hervor, dass etwa 200 Züge (je 50 Waggons) mit militärischem Gerät von Russland nach Belarus losgeschickt wurden. In dem Kanal heißt es auch, das sei eine beispiellos hohe Zahl; so seien im September letzten Jahres innerhalb eines Monats 29 Militärzüge für die gemeinsamen Truppenübungen Zapad 2021 nach Belarus verlegt worden. 

    Bis zum Frühjahr sollen es mehr als 80 Sabotageakte gewesen sein

    Über den Angriff am 24. Januar berichtete die belarussische Initiative Cyberpartisanen. Sie hat sich zu diesem auch bekannt. Mitglieder der Bewegung behaupten, sie hätten das System der automatischen Fahrplanerstellung und das System der elektronischen Datenverarbeitung lahmgelegt. Am selben Tag gab auch die Belarussische Eisenbahn bekannt, dass Online-Tickets aufgrund einer technischen Störung nicht gebucht werden könnten. Das System war zwei Wochen lang außer Betrieb, Tickets wurden nur am Schalter verkauft und mussten vom Bahnpersonal per Hand ausgestellt werden.

    „Damit wollten wir demonstrieren, dass die Belarussen mit der Präsenz der russischen Armee in ihrem Land nicht einverstanden sind“, erklärt die Sprecherin der Cyberpartisanen Juliana Schmetowez gegenüber Meduza. Sie sagt auch, die Störungen im Ticketverkauf seien nicht von den Hackern beabsichtigt gewesen. „Wir versuchen die Bereiche, die Normalbürger betreffen, möglichst wenig zu tangieren“, sagt sie. Die Cyberpartisanen würden sich oft gegen Angriffe entscheiden, wenn sich „die Konsequenzen nicht vollständig kalkulieren lassen“. 

    Am fünften Kriegstag gab es die ersten Offline-Angriffe. In dem Telegram-Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner tauchten Informationen über einen in Brand gesetzten Schaltschrank, einer Anlage zur Steuerung des Bahnbetriebs, nahe der Station Stolbzy in der Oblast Minsk auf. Die Folgen waren ein gestörtes Signal- und Weichensystem. Noch am selben Tag gab die Gesellschaft bekannt, dass auch in der Oblast Gomel auf dem Streckenabschnitt Ostankowitschi – Sherd ein Schaltschrank abgebrannt sei. Die Belarussische Eisenbahn gab zu diesen Vorfällen keinen offiziellen Kommentar ab. 

    Am 2. März kündigten die Cyberpartisanen einen Angriff auf das Verwaltungszentrum des Gütertransports der Belarussischen Eisenbahn an. Ein ehemaliger Bahnmitarbeiter äußerte sich dazu anonym gegenüber Meduza:

    „Jede Störung der Bahn-Software führt zu einer Störung des Fahrplans. Beispielsweise wird für jeden Gütertransport ein sogenannter Wagenzettel in einem speziellen Programm erstellt – das ist ein Dokument mit technischen und Verwaltungsdetails, das die gesamte Fahrt mitgeführt wird. Darin steht, wie viele Waggons ein Zug hat, ihre Nummern, welche Güter transportiert werden und deren Gewicht, wer Absender und wer Empfänger ist … kurzum, da steht alles drin. Und das für 50 bis 60 Waggons, stellen Sie sich das einmal vor. Bevor es Computer gab, wurden solche Wagenzettel von Hand ausgefüllt und dem Lokführer mitgegeben. Ohne diese Unterlagen dürfen die Züge nicht losfahren. Wenn das System gestört ist, muss das alles von Hand gemacht werden, stellen Sie sich einmal vor, wie lange das dauert, all diese Unterlagen von Hand zu schreiben und zu kopieren. Hinzu kommt ja auch, dass diese Abläufe längst automatisiert sind und die Stellen von Menschen, die das machen könnten, längst gestrichen wurden.“

    Darauf waren die Sabotageakte nicht beschränkt: Am 14. März, so die Information in eben jenem Telegram-Kanal, wurde in der Oblast Brest eine Signallampe außer Betrieb gesetzt, am 16. März wurde auf dem Streckenabschnitt Farinowo-Sagatje in der Oblast Witebsk ein Schaltschrank in Brand gesetzt, in der Nacht zum 25. März zwei Schaltschränke nahe Borissow, und am 28. März ein Relais-Schaltschrank unweit der Station Babino im Kreis Bobruisk.

    Laut dem belarussischen Innenministerium kam es bis Anfang April zu insgesamt über 80 Sabotageakten am belarussischen Schienennetz. Seitdem gibt es keine Meldungen über weitere Aktionen, weder von der belarussischen Opposition noch von den staatlichen Behörden.

    Eisenbahner helfen mit internen Informationen

    Sergej Woitechowitsch war vor zwei Jahren noch ein Arbeiter im Minsker Bahnbetriebswerk, einer Wartungsanlage der Belarussischen Eisenbahn. Nach den Präsidentschaftswahlen 2020 gründete er den Telegram-Chat der Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner, damit sich die Arbeiter vernetzen und ihre Interessen vertreten können. Immer mehr Arbeiter fügten ihre Kollegen hinzu und die Gruppe wuchs auf etwa 6000 Mitglieder. Später entstand noch ein gleichnamiger Kanal mit Nachrichtenmeldungen. Dort wurden Unterlagen veröffentlicht, die für dienstliche Zwecke bestimmt waren.

    Anfang 2021 wurde Igor Kozlowski stellvertretender Leiter der Belarussischen Eisenbahn. Nach Angaben der offiziellen Webseite „ist er für den Zivilschutz der Unternehmen der Belarussischen Eisenbahn zuständig“. Informationen zu seinem beruflichen Werdegang finden sich auf der Seite keine. Die Cyberpartisanen haben die Datenbank AIS Pasport gehackt und herausgefunden, dass Kozlowski von 1995 bis 2020 KGB-Mitarbeiter war.

    Schon im September 2021 wurde der Telegram-Kanal Live. Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner von der Regierung als „extremistisch“ eingestuft. [Kanal-Admin – dek.] Sergej Woitechowitsch glaubt, dass es direkt, nachdem im Juli der neue Chef aus dem KGB seinen Posten bei der Belarussischen Eisenbahn antrat, zu dieser Einstufung kam. Woitechowitsch hatte Belarus bereits im Mai 2021 verlassen, weil er verfolgt wurde (man ließ ihn wissen, die Sicherheitsbehörden hätten sich seiner bereits „angenommen“). Im Frühling 2022 erklärte der KGB Woitechowitschs Chat der Gemeinschaft der belarussischen Eisenbahner endgültig zu einer „extremistischen Vereinigung“ und verbot damit jegliche Aktivitäten in Belarus. 

    Am 30. März 2022 erschienen in regierungsfreundlichen Telegram-Kanälen sogenannte Reuevideos von festgenommenen Eisenbahnmitarbeitern. Darin erzählen sie, wann sie Telegram installiert und den als extremistisch eingestuften Kanal der Gesellschaft der belarussischen Eisenbahner abonniert hätten. Die Festgenommenen sagen auch, sie hätten sich von dem Kanal abgemeldet, sobald sie dort „Aufrufe zu destruktiven Aktivitäten“ gesehen hätten.

    Letztlich seien die meisten von ihnen freigelassen worden, sagt Woitechowitsch mit Verweis auf private Quellen. Manche sind noch als Verdächtige in dem Prozess gelistet, gegen andere wurden administrative Verfahren eingeleitet, weil die Sicherheitskräfte „bei der Gelegenheit“ gleich noch Abonnements anderer als extremistisch eingestufter Kanäle und Chats bei ihnen gefunden hatten. „Die Sicherheitskräfte schmeißen ab und zu spezielle Links zur Deanonymisierung in die Chats – damit finden sie die Leute“, erklärt Woitechowitsch.

    „Um einen Schaltschrank anzuzünden, braucht man Fachwissen – die Eisenbahner stellen den Partisanen Information zur Verfügung. Das ist es, womit sie im Wesentlichen helfen“, sagt Woitechowitsch. Mitglieder der Gemeinschaft der Eisenbahner würden mit einigen oppositionellen Organisationen zusammenarbeiten: den Cyberpartisanen, ByPol und dem „Peramoha“-Plan. Sie alle erhielten von den Eisenbahnern Informationen über die Zugrouten.

    Auch die Sprecherin der Cyberpartisanen Schmetowez bestätigt, dass die Gemeinschaft der Eisenbahner ihnen Informationen liefert, wie eine Sabotageaktion durchgeführt werden kann. Erklärtes Ziel der Partisanen sei es, den Transport von militärischem Gerät und Treibstoff aus Russland in die Ukraine zu behindern. „Auf dem Luftweg lässt sich so eine große Menge Kraftstoff nicht transportieren – der ist zu schwer. Auf der Straße auch nicht – das Fassungsvermögen reicht nicht. Das wichtigste Ziel der Cyberpartisanen ist es, das Vorankommen der Züge zumindest zu verlangsamen, und so den Ukrainern Zeit zu verschaffen“, so Schmetowez. 

    Seit 2021 sind die Cyberpartisanen auch Teil der Bewegung Supraziu, die von der belarussischen Regierung als extremistisch eingestuft wurde. Die Cyberpartisanen bekennen sich zum Hack der Datenbanken des Innenministeriums während der belarussischen Proteste 2020, zu den Hacks und den DDoS-Angriffen auf staatliche Webseiten von 2020 bis 2022 und auch zum gegenwärtigen Angriff auf die Belarussische Eisenbahn. Juliana Schmetowez berichtet: 

    „Uns war klar, wie das russische Militär das Schienennetz nutzen könnte. Schon letztes Jahr hat die Organisation Tschorny bussel, die auch zu Supraziu gehört, ihre ersten Aktionen an der Schiene durchgeführt. Um nicht zu sehr ins Detail zu gehen, sage ich nur: Es wurde an bestimmten Stellen Stacheldraht ausgelegt, um das Vorankommen der Züge zu verzögern. Das gefährdete keine Menschenleben, aber das Vorankommen, auch der Güterzüge, wurde eben verzögert.“ Schmetowez fügt außerdem noch hinzu, wenn man keinen offenen Widerstand leisten könne, dann seien solche Partisanenaktionen immer noch die einzigen Mittel für den Kampf gegen das Regime. 

    „Offenbar hatten sie Angst vor radikaleren Aktionen“

    In der Nacht vom 1. zum 2. März brachte der Belarusse Sergej Glebko in Stolbzy seine drei Kinder ins Bett, anschließend trank er mit seiner Frau Jekaterina „Schnaps und machte sich dann zu den Gleisen in seiner Stadt auf“. Dort zündete er ein paar Baumstämme an, die er aufs Gleis gelegt hatte, und filmte das mit seinem Mobiltelefon. Diese Szene lässt sich anhand des Protokolls aus dem Innenministerium rekonstruieren. Die Behörde veröffentlichte ein „Reuevideo“, in dem Glebko seine Tat gesteht. Man sieht, dass er geschlagen wurde, er hat frische Wunden auf der Nase und an der Stirn. 

    „Ich hab übertrieben viel Telegram-Kanäle geschaut und war dagegen – ich wollte meinen Beistand [mit den oppositionell eingestellten Eisenbahnern] irgendwie ausdrücken, deswegen habe ich die Baumstämme angezündet“, sagt Glebko. Er ist nach Paragraf 289 Strafgesetzbuch [„Terroranschlag“] angeklagt. Derzeit befindet er sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 in Minsk und wartet auf den Prozess, ihm droht die Todesstrafe – alles hängt davon ab, welcher Teil von Paragraf 289 bei ihm zur Anwendung kommt. Bislang ist das noch nicht bekannt. 

    „Die Spezialaktionen, die die Eisenbahn lahmlegen, [die Leute,] die nachts verschiedene Anschläge durchführen – das gehört alles zum Testlauf des Peramoha-Plans“, sagte Alexandra Logwinowa, die Außenbeauftragte von Swetlana Tichanowskajas Team bei einer Pressekonferenz am 8. März 2022. Laut der offiziellen Webseite des Plans wurde er von ByPol auf Tichanowskajas Anweisung hin erstellt. 

    ByPol gab die Gründung des Peramoha-Plans genau ein Jahr nach den Präsidentschaftswahlen 2020 bekannt. Derzeit sollen etwa 200.000 Menschen daran beteiligt sein. Ein Sprecher des Peramoha-Plans erklärt: „Der Plan umfasst verschiedene Aktionen, unter anderem Blockaden der Infrastruktur. Die Aktionen an der Eisenbahn wurden von Mitgliedern des Plans durchgeführt. Aber [Sergej Glebkos] Aktion mit den brennenden Baumstämmen ist nicht von uns – das war eine lokale Initiative. Wir halten sie für wenig effektiv und gefährlich.“

    Laut dem Peramoha-Sprecher fuhren nach dem 5. März 2022 fast eine Woche keine russischen Züge durch Belarus: „Offenbar hatten sie Angst vor radikaleren Aktionen.“ Er sagt gegenüber Meduza außerdem, dass die Änderungen des Strafgesetzbuchs, welche die Todesstrafe für einen versuchten Terroranschlag festgeschrieben haben, die Menschen nicht einschüchtern würden: „Die Gruppen, die bereit waren, unter den heutigen Bedingungen aktiv zu sein, sind geblieben.“

    Weitere Themen

    Hier kommt Belarus!

    Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

    FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine

    Brief an die Ukraine

    „Diese Regime werden alle untergehen”

    Wie der Krieg Belarus verändern wird

    FAQ #5: Welche Rolle spielt eigentlich Belarus im Ukraine-Krieg?

    Alexander Gronsky: Moskau während des Krieges

  • „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    Im postapokalyptischen Moskau des Jahres 2033 fristen die Menschen ihr Leben in den Schächten der Metro, einzelne Stationen sind Staaten: kapitalistische, kommunistische, faschistische. In seiner Metro-Reihe zeichnet der russische Autor Dmitry Glukhovsky eine finstre Dystopie, die Bestseller wurden auch international zu einem Riesenerfolg. In seinem jüngsten Roman Outpost beschreibt er Russland nach einem Bürgerkrieg in naher Zukunft. Die deutsche Übersetzung stammt von den beiden dekoder-Übersetzerinnen Jennie Seitz und Maria Rajer.

    Heute gehört Glukhovsky zu den lautstärksten unabhängigen Stimmen in Russland. Er äußert sich regelmäßig zu aktuellen Fragen und gilt als ein scharfzüngiger Kritiker des Systems Putin. In der aktuellen Kollektivschuld-Debatte argumentiert er, dass nicht alle Russen Täter seien – und dass der russische Krieg gegen die Ukraine Putins Krieg sei. Meduza hat den Autor zu seinem Standpunkt interviewt, Glukhovsky hat die Fragen schriftlich beantwortet. 


    Update vom 8. Juni 2022: Unterschiedlichen Medienberichten zufolge wurde Glukhovsky in Russland zur Fahndung ausgeschrieben. Dem Bestseller-Autor wird die „Diskreditierung der russischen Armee“ vorgeworfen wegen eines Instagram-Posts vom 12. März, in dem der Beschuss von Mariupol zu sehen ist und Putin beinahe das Wort „Krieg“ in den Mund nimmt. Der entsprechende Paragraph des russischen Strafrechts sieht bis zu zehn Jahre Haft vor.  

    Pawel Merslikin: Wenn ich Sie richtig verstehe, vertreten Sie den Standpunkt, dass dieser Krieg ein Krieg Putins und nicht Russlands oder der russischen Bevölkerung ist. Warum glauben Sie, dass die Mehrheit der Russen diesen Krieg nicht unterstützt? Unterstützung kann es ja in vielen Abstufungen geben. Man kann morgens und abends Hymnen auf Putin und Schoigu singen, man kann aber auch schweigend zustimmen.

    Dmitry Glukhovsky: Wie wir bei der Sitzung des Sicherheitsrats gesehen haben, gab es nicht einmal in Putins engstem Umfeld einen Konsens zum Krieg. Die Entscheidung wurde hinter verschlossenen Türen getroffen, am Volk vorbei, das diesen Krieg nicht wollte, und sogar abseits des Großteils der politischen Klasse. Alle wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Um sich von ihrer persönlichen Verantwortung für den Krieg und die daraus resultierenden Verbrechen reinzuwaschen, haben die Entscheidungsträger danach begonnen, zuerst die ganze politische Klasse mit Blut zu beschmieren, dann die gesamte Bürokratie und schließlich, mittels TV-Propaganda, das ganze Volk.   

    Die Bevölkerung unterstützt, wie mir scheint, den Krieg aktiv zu etwa zehn Prozent – das ist ein reaktionäres, obskures Element, im Grunde faschistisch, auch wenn sie sich selber Patrioten nennen. Der Rest sucht entweder Zuflucht bei der Kriegs-Psychotherapie, um die post-covidale Depression loszuwerden, glaubt das Märchen von der Fortsetzung des Großen Vaterländischen Kriegs tatsächlich oder nickt einfach zustimmend, damit sie ver*** noch mal endlich ihre Ruhe vor den Umfragen haben. Diese Umfragen werden nämlich manchmal vom FSO durchführt, und so werden sie auch überall wahrgenommen.

    Widerstand gegen das Böse bedeutet das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit

    Im Grunde ist jedes Unterlassen von Widerstand gegen das Böse eine Unterstützung des Bösen. Nur bedeutet Widerstand gegen das Böse in der persönlichen Überlebensstrategie eines durchschnittlichen Menschen das Risiko, allzu viel zu verlieren: mindestens die Arbeit, schlimmstenfalls die Freiheit. Der Gewinn hingegen ist schwammig: ein reines Gewissen.
    Ob es da nicht einfacher ist, sich zu sagen: Das ist nicht mein Bier, ich habe da keinen Einfluss drauf, so eindeutig ist es auch wieder nicht, dass die Ukrainer gut sind, überhaupt ist das alles das Werk der USA, wir wurden da reingezogen, wir hatten keine Wahl, mich geht das nichts an, und ich lebe weiter wie bisher? Und schon ist das Böse kein so großer Dorn mehr im Auge, und die kognitive Dissonanz ist ohne große Verluste überwunden.  

    Aber wenn morgen Frieden eintritt, werden alle, außer die zehn Prozent Reaktionäre, erleichtert aufatmen. Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert und den Menschen einbläut, dass nichts von ihnen abhängt und sie mit Protesten niemals irgendwas erreichen werden, außer sich Probleme einzuhandeln. 

    Man kann den Russen Passivität und Obrigkeitshörigkeit vorwerfen, man muss aber auch bedenken, dass die Staatsmacht jede neue Generation gezielt politisch kastriert

    Der ukrainische Maidan hat zweimal gesiegt – und das ukrainische Volk hat ein Gefühl der eigenen Macht und Rechtmäßigkeit bekommen. Bei uns sind Proteste immer niedergeschlagen worden oder von selbst im Sand verlaufen. Wir haben nicht das Gefühl, etwas verändern zu können. Wenn die Menschen gegen den Krieg protestieren und ihre Freiheit aufs Spiel setzen, dann nicht weil sie hoffen, ihn stoppen zu können, sondern weil sie sonst das Gefühl haben, Kollaborateure zu sein, die nichts unternommen haben.      

    Die Position „Das ist ausschließlich Putins Schuld, die Menschen können gar nichts dafür“ wird sehr oft von russischen Intellektuellen vertreten. Meinen Sie nicht, dass das auch eine Spritze Gegenpropaganda ist, um sich selbst zu beruhigen? Weil es viel leichter ist, in einer Welt mit einem einzigen Bösewicht zu leben als in einer mit zig Millionen – die dazu noch mit dir in einem Land leben?   

    Eben diese zig Millionen Bewohner meines Landes brauchen eine Therapie. Sie leben in Armut und Hoffnungslosigkeit, werden von ihrer Regierung täglich erniedrigt, verblödet und aufgehetzt. Ja, sie sind unglücklich und verärgert, aber eigentlich ärgern sie sich über die Regierung: Die verspricht ihnen seit 20 Jahren ein besseres Leben, selber lebt sie aber wie die Made im Speck, verprasst Milliarden für Yachten und goldene Klobürsten und überlässt die Menschen im Grunde ihrem Schicksal, sowohl in der Pest als auch im Krieg. Aber der Zorn verfehlt wegen eines Knicks im Rückgrat sein Ziel. Die emotional ungefährlichere Strategie ist es, jene zu hassen, die man ungestraft hassen darf. Im gegebenen Fall also die Ukrainer und den Westen.     

    Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären und einen Vernichtungskrieg gegen sie führen. Das Ausmaß der Verantwortung des deutschen Volkes während der totalen Mobilisierung zum Kampf oder während der Massenhysterie der 1930er Jahre ist nicht dasselbe wie der Z-Fimmel und die V-Mimikry: Gott sei Dank sind heute beides nur Sofa-Krankheiten.       

    Unsere Leute muss man füttern, trösten und aufklären, nicht zu Mittätern erklären

    160.000 Soldaten und Offiziere sind am Krieg in der Ukraine beteiligt. Aber 140 Millionen Russen sind noch nicht mit ukrainischem Blut befleckt. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, die Teilnahme an diesem Krieg zu verweigern – die tatsächliche und auch die emotionale.
    Putins Staatsapparat versucht, der ganzen Welt und dem Volk weiszumachen, dass dieser Krieg ein Krieg des Volkes ist, dass alle gemeinsam dafür einstehen und alle gemeinsam diese Suppe auslöffeln müssen. Aber jeder, dem das Schicksal Russlands nicht egal ist und der ihm wünscht, die imperiale Matrix möglichst bald hinter sich zu lassen und ein gesunder, moderner Staat zu werden, bewohnt von glücklichen Menschen, sollte sich Gedanken machen, wie man die Menschen aus diesem Bann befreien kann. Sie aus dem Bann befreien, statt sie zu Unmenschen zu erklären und sie bis aufs Blut zu bekämpfen. 

    Im Interview für Radio Swoboda erzählten Sie, wie Sie bei Ausbruch des Krieges überlegt hätten, ob Sie ihn sofort öffentlich verurteilen sollen. Und diese Überlegung hätte 30 Sekunden gedauert. Worüber genau haben Sie in diesen 30 Sekunden nachgedacht? Welche potentiellen Konsequenzen haben Sie gegeneinander abgewogen?

    Ich dachte, dass ich mich genau jetzt, in diesem Moment zur endgültigen politischen Emigration verdamme. Dass ich mich der Möglichkeit beraube, in Russland zu leben, solange Putin lebt. 

    Es gibt vieles, was mich an Moskau bindet. Freunde, geliebte Menschen, meine Kindheit. Die Kultur, die Luft, die Sprache. Meine Arbeit, gesellschaftliche Stellung, Eigentum. Der Gedanke, erst an meinem Lebensabend, oder vielleicht sogar nie, nach Hause zurückzukehren, ist sehr schwer zu ertragen. 

    Auf der anderen Waagschale liegt das Gefühl, ein Feigling und Verräter zu sein, klar zu begreifen, dass du dich gerade auf die Seite des Bösen stellst. Denn einen Eroberungs- und Bruderkrieg und die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig. Erst recht, wenn du dir bewusst bist, dass die Gründe für diesen Krieg durchweg erlogen sind, und der Krieg selbst nicht nur bestialisch, sondern auch vollkommen sinnlos ist. 

    Wenn Sie kein erfolgreicher Schriftsteller wären, sondern ein ganz gewöhnlicher Bewohner einer russischen Kleinstadt mit einem Gehalt von 30.000 Rubel [400 Euro – dek], hätten Sie dann länger als 30 Sekunden überlegt?

    Schwer zu sagen. Seit ich erwachsen bin und bewusst nachdenke, habe ich versucht, mein Leben danach auszurichten, möglichst unabhängig vom Staat zu sein, um mir meine Freiheit zu bewahren – auch die Freiheit zu denken und frei zu sprechen. Die Tatsache, dass ich jetzt diese Freiheit habe und sie nutzen kann, dass ich immer noch diskutieren, den Krieg Krieg nennen und seine Beendigung fordern kann – das ist ein Ergebnis dieser Bemühungen.

    Die Bombardierung friedlicher Städte zu unterstützen, in denen deine Freunde vor den Raketen Schutz suchen, – das wäre mehr als schäbig

    Aber natürlich bestimmt das Sein das Bewusstsein. Die Bewohner einer gewöhnlichen russischen Kleinstadt fordern keine Freiheit, weil ihre anderen, und zwar grundlegenden, Bedürfnisse nicht befriedigt sind: allem voran ihre Sicherheit, dann der Lebensunterhalt, ein gewisser Wohlstand, ein Leben in Menschenwürde, basale Grundrechte. 

    Wenn die Menschen sagen, dass sie sich Stabilität wünschen, dann meinen sie, dass sie Angst haben, dieses kleine bisschen zu verlieren, das sie haben. Vielleicht haben sie nicht einmal genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. 

    Sie sprechen viel über Propaganda und dass sie verantwortlich ist für das Geschehen. Wie erklären Sie es sich, dass die Propaganda die Menschen davon überzeugen konnte, die Russen würden die Ukrainer von Nazis befreien? 

    Das erkläre ich damit, dass die Menschen 20 Jahre lang auf die Ukraine vorbereitet wurden. Als Putin an die Macht kam, hat er, sobald er erkannte, dass die Ukraine ein alternatives Gesellschaftsmodell bietet, Kurs auf ihre Unterwerfung und Destabilisierung genommen. Russland hat sich in alle ukrainischen Wahlen eingemischt und sehr heftig auf die Maidan-Proteste reagiert. Zudem wurde 20 Jahre lang aktiv ein Siegeskult betrieben und befördert. Die Ukrainer wurden Stück für Stück zum Feind stilisiert: mal zu einem blutrünstigen, mal zu einem erbärmlichen. Während die Russen sich über das Erbe des Sieges definierten. Der Boden war also bereitet. 

    Propaganda lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab

    Die Propaganda arbeitet nicht im Interesse des Volkes. Sie lenkt die Menschen von ihren realen Problemen ab, an denen die Regierung Schuld trägt. Sie beschützt die Regierung vor dem Volk. Das tut sie, indem sie Nebelkerzen von erfundenen und aufgebauschten Konflikten wirft und so die Wirklichkeit verhüllt.

    Sie arbeitet mit psychischen und emotionalen Bedürfnissen der Bevölkerung, indem sie ihr eine Psychotherapie aus der Hölle verpasst. Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei. Er ist verbittert und frustriert, also zeigt man ihm ein Objekt, auf das er seine Wut richten kann. Er verspürt Unsicherheit und Panik, also erklärt man ihm, er sei direkt von seinem Sofa aus an einer großen Mission beteiligt, die seine Entbehrungen und Leiden rechtfertigt.

    Der Mensch ist im realen Leben rechtlos und erniedrigt, also suggeriert man ihm die Größe der Nation, deren Teil er sei

    Deswegen ist die Abhängigkeit von der Propaganda auch so groß, sie ist regelrecht eine emotionale Droge. Deswegen nehmen die Menschen diese fetten, hässlichen und selbstgefälligen Visagen, diese triefenden Lügenorakel von Perwy und Rossija auch so positiv auf, geradezu als wären es ihre TV-Verwandten aus Fahrenheit 451. Andernfalls würden Angst, Panik und Zorn von den Menschen Besitz ergreifen und sie auf die Straße treiben. Der große und ewige Krieg gegen den Westen, der Verrat durchs Brudervolk und ein Russland, das sich von den Knien erhebt und rächt – das sind die Trigger und Klischees bei dieser Therapie.

    Viele Intellektuelle, Historiker, Politologen, Soziologen sagen, der Hauptgrund für den Krieg sei sowjetisches Ressentiment. Die Menschen würden sich nach einer starken Heimat sehnen. Sie würden dem Westen zeigen wollen, wo der Hammer hängt. Sogar dann, wenn sie die Sowjetunion gar nicht selbst erlebt haben. Würden Sie dem zustimmen?

    Die Konfrontation der Menschen in Russland mit dem Westen und der Ukraine kommt daher, dass sie das eigene Leben ständig mit dem Leben dort vergleichen. Aber diese Konfrontation ist nicht im Interesse der Menschen, sie haben nichts davon. Der Staat wiederum weiß, dass seine Bürger ihr unzulängliches Leben zwangsläufig mit dem „dort drüben“ vergleichen werden, solange nicht ein eiserner Vorhang das Ganze hermetisch abschließt. Und die Menschen werden sich zurecht fragen, warum ihr Lebensstandard nicht nur im Vergleich zum Westen, sondern auch zur Ukraine so niedrig ist. Warum die Bevölkerung nicht nur im Westen sondern auch in der Ukraine einen Regierungswechsel herbeiführen kann, während man bei uns schon allein durch den Gedanken daran riskiert, dass es bei dir an der Tür klingelt.

    Hier schafft die Konfrontation Abhilfe. Weil wir nicht sie sind. Weil sie Schwule haben und wir Vater-Mutter-Kind. Weil unsere Großväter gekämpft haben und sie die Nachfahren von Faschisten sind. Weil wir das Ballett und die Olympiade haben. Raketen, Raketen und noch mal Raketen. Weil alle Angst vor uns haben. Weil wir die Allergrößten sind, darum. Weil alle uns zugrunde richten und unser Öl unter sich aufteilen wollen, Abyrwalg! Weil Russland keine wirtschaftliche Supermacht ist, sondern eine militärische, weil wir die Unseren nicht im Stich lassen, ich will nichts hören, ich will nichts hören, ich will nichts hören! Überhaupt, wie kann man Ozeanien mit Ostasien vergleichen, bei uns leben richtige Menschen, und da drüben Unmenschen.

    Man muss sich die eigene Armut irgendwie erklären, das eigene Elend rechtfertigen. Nur wie? Mit der eigenen Einzigartigkeit. Die Geschmacklosigkeit, Korrumpiertheit und Unglaubwürdigkeit des heutigen Regimes kann nur durch die stilistische Unfehlbarkeit und die furchteinflößende Reputation Russlands in seiner letzten Inkarnation wettgemacht werden. Ja, wir sind Zwerge, aber wir stehen auf den Schultern von Titanen. Ganz einfach.

    In welchem Maße macht es überhaupt Sinn, die Ursachen für die aktuellen Ereignisse in der Sowjetzeit zu suchen?

    Die Wurzeln der Ereignisse liegen in der imperialistischen Vergangenheit und dem imperialistischen Wesen des russischen Staates. Haben Sie sich nie gefragt, wie das geht, dass bei einer rechtsextremen Demo in ein und derselben Kolonne Porträts von Nikolaus II. und Josef Stalin zu sehen sind? Der Erste gewissermaßen der Kerkermeister des Zweiten, der Zweite der Henker des Ersten? Das ist tatsächlich überhaupt kein Widerspruch. Als Persönlichkeit interessiert der eine wie der andere die Russen nur am Rande, ihre ursprüngliche Bedeutung für die patriotische Bewegung ist rein symbolisch. Beide symbolisieren das russische Imperium auf dem Gipfel seiner Größe, auch wenn dieses Imperium in neuem Gewand daherkommt, mit bolschewistischem Rebranding, und nicht auf Konservierung, sondern auf Modernisierung abzielt. Aber das ist für die meisten gar nicht mehr wichtig. Wichtig ist, welche Gebiete wir uns einverleibt, wen wir unterworfen haben, wen gezwungen, in der Schule Russisch zu lernen.

    Alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus Russlands imperialistischen Wesen

    Weil es in Wirklichkeit keine patriotische, sondern eine imperialistische Bewegung ist. Weil uns, im Gegensatz zu Frankreich und England, die Epoche des Postkolonialismus erst noch bevorsteht. Weil unsere Kolonien unmittelbar an das Mutterland angrenzen, mit ihm verwachsen sind, und sie zu verlieren heißt, Russland selbst zu zerreißen. Deswegen ist dieses Thema tabu, mit sieben Siegeln verschlossen, Russland kann sich nicht offen eingestehen, dass es bis zum heutigen Tage imperialistisch ist. 

    Im Gegenteil, unter der Flagge des antiimperialistischen Kampfes hat Russland den Einfluss Europas in den ehemaligen Kolonien unterwandert. Aber alle Probleme, Komplexe und strukturellen Missstände resultieren genau aus diesem imperialistischen Wesen. Daher rührt auch die Hysterie im Hinblick auf die Ukraine und der Wunsch, sich mal Georgien, mal Kasachstan, mal Armenien unter den Nagel zu reißen.

    Die Propaganda verkauft diesen Krieg als eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges. Was denken Sie, sollte der Siegeskult der letzten 10 bis 15 Jahre die Gesellschaft auf den Krieg vorbereiten? Oder bedient sich die Regierung einfach eines bequemen Narrativs, um ihr Vorgehen zu rechtfertigen?

    Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt. Gründe, stolz zu sein, hat Putins Russland den Menschen kaum gegeben: nur die Krim und die Olympiade in Sotschi. Aber der olympische Sieg entpuppte sich am Ende als Betrug, er roch nach abgestandenem Urin.
    Auch die Krim ist ein zweifelhafter Triumph: der Sieg Kains über Abel – der jüngere Bruder schwächelt, und wir rammen ihm das Messer in den Rücken.
    Davor waren die Tschetschenienkriege, eine Katastrophe mit unklarem Ausgang, davor – der Zerfall der UdSSR, davor – Afghanistan, ebenfalls ein Reinfall. Und davor gab es lange nichts, nur die Zeit der Stagnation.

    Die Regierung muss den Menschen ein Gefühl von Stolz auf ihr Land, auf die Heimat einflößen; denn Stolz berauscht und betäubt

    Stolz könnte man auf Gagarins Flug sein – das wäre ein guter Grund, positiv und inspirierend, aber da kommt man nicht drumherum, einen Vergleich zur ver*** Idiotie der heutigen Leitung von Roskosmos zu ziehen und sich traurig und resigniert zu fragen, warum unsere Raketen heute nicht mehr fliegen (abgesehen von denen, die in ukrainischen Wohnhäusern einschlagen).

    Und damit hat es sich. Bleibt nur der Große Sieg. Seine Größe darf man nicht anzweifeln, sie ist heilig, geheiligt durch das Blut unserer Vorfahren: Die Opfer waren gigantisch, fast jede Familie hat jemanden verloren. Da hatte man ihn also gefunden, den Zement, der die letzte Amtsperiode Putins zusammengehalten hat. Und genauso, wie Schoigu sich Shukows Uniform überzieht, verkleidet sich auch der Staat. Er spricht und handelt immer mehr wie ein Schwerverbrecher, dabei durchlebt er natürlich eine schwere Persönlichkeitskrise: Sie wollen sich als Auserwählte und Helden fühlen, nicht als mittelmäßige Korruptionäre. In der altbekannten Pyramide der menschlichen Bedürfnisse hat unsere „Elite“ ihre Grundbedürfnisse längst gestillt, sich den Wanst mit Euromilliarden vollgeschlagen, und jetzt will sie die Herrscherin über die Meere sein.

    Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken

    Zunächst kam die Krise der Selbstachtung, als man von Europa und den USA wollte, dass sie Russland unverzüglich als ebenbürtig anerkennen. Und jetzt sind wir, original nach Abraham Maslow [und seiner Bedürfnispyramide], beim Thema Selbstverwirklichung angelangt, bei der Verwirklichung unserer wahren Bestimmung; und siehe da, die Bestimmung ist genau die, die man dem Volk zehn Jahre lang eingeflößt hat: Krieg spielen. Oh weh, leider den Großen Vaterländischen. Und diese durchgeknallten Parasiten, denen in ihrem fortgeschrittenen Alter irgendwo tief drinnen aufgegangen ist, dass sie gelangweilte Banditen sind, haben selbst den Mist geglaubt, den sie dem Volk aufgetischt haben. Dass der Große Vaterländische Krieg nie aufgehört hat, dass sie die Nachkommen der Sieger sind, dass der Faschismus sein Haupt erhebt, dass sie die Heldentaten ihrer Großväter zu Ende bringen müssen.

    Dieser Stuss wurde irgendwann erfunden, um das Volk von Armut und Hoffnungslosigkeit abzulenken. Die Zyniker dachten, sie könnten im Fernsehtrog jeden Mist verfüttern. Das Problem ist, dass es bei uns keinen Intelligenztest gibt, um in die „Elite“ aufgenommen zu werden, und diese Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit den imperialen Komplexen und ebenjenem Chauvinismus.

    Die Elite ist dasselbe Lumpenproletariat und dieselbe Parteinomenklatur wie eh und je – aufgeladen mit imperialen Komplexen

    Deshalb hat die Elite selber dem Fernseher geglaubt. Die Zyniker wurden verblödet. Die „Eliten“ sind in eine phantastische Realität umgezogen, in der die Massen schon lebten. Noch schlimmer war, dass eine militärisch geprägte Religiosität ein Zeichen für Loyalität zu Putin wurde, und die Staatsbeamten fingen an, sich darin zu überbieten. Dennoch glaube ich, dass die Rhetorik vom Großen Vaterländischen Krieg nichts weiter ist als PR-Untermalung für eine imperiale Eroberungskampagne, der Versuch, sie reinzuwaschen und vor Kritik zu schützen, indem man ihr einen Heiligenschein aufsetzt.

    Sie halten diesen Krieg in vielerlei Hinsicht für einen Kolonialkrieg. Jetzt redet man schon offen davon, Russlands nächstes Ziel könnte Transnistrien sein. Was glauben Sie, ist Putin wirklich von der Idee einer neuen UdSSR besessen? Oder versucht er, mit diesem Krieg seine eigenen Probleme zu lösen? Länger im Amt zu bleiben? 

    Ich glaube, Putin kämpft in erster Linie gegen das Gefühl an, in der Geschichte eines großen Landes nur ein unbedeutender Mensch zu sein. Wie wir wissen, studiert er mit Begeisterung die Geschichte Russlands und muss sich natürlich mit seinen Vorgängern messen – zumal er schon länger im Amt ist als viele von ihnen. Er arbeitet daran, seinen Namen in die russische Geschichte einzuschreiben.     

    Putin, Gorbatschow, Chruschtschow, Stalin, Lenin, Nikolaus II., Alexander III., Katharina die Große, Peter der Große – und wofür stehe ich, was habe ich gemacht? Man soll mich bitte als den in Erinnerung behalten, der die Länder, die Gorbatschow verloren hat, wieder eingesammelt hat. Als jener Mann, der versucht hat, die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts zu korrigieren – den Zerfall der Sowjetunion!   

    Zumal das Volk, das sich nach der Ästhetik der Größe der Sowjetunion sehnt, der kommunistischen Leidenschaftlichkeit und dem sozialistischen Sozialpaket, nach zwei Jahrzehnten Idealisierung des Sowok durch das Staatsfernsehen ähnliche Träume hat.    

    Wird Russland diesen Krieg verlieren?

    Russland hat diesen Krieg schon verloren. Schweden und Finnland wollen in die NATO, die Allianz reicht nun direkt an Russlands Grenzen heran. Die USA und Europa sagen sich von russischen Energiequellen los. Wirtschaftlich hat das Land durch die Sanktionen einen schweren Schlag erlitten. 

    Putin hat Russland in Zugzwang gesetzt und damit sich selbst, denn wenn die russischen Geschichtsbücher einmal nicht mehr von den Rotenberg-Brüdern gedruckt werden, sondern von unabhängigen Verlagen, dann wird da über Putin nichts Gutes mehr drinstehen. 

    Meine große Angst ist, dass Putins Abdanken derart schwere tektonische Prozesse auslöst und unser Land erschüttert, dass die territoriale Integrität und die Existenz des ganzen Landes bedroht sein werden. Und natürlich ist das ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann.

    Weitere Themen

    „Die zwei slawischen Autokratien leugnen den Lauf der Zeit“

    Anders sein – Dissens in der Sowjetunion

    „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“

    „Man hat das Gefühl, das Leben eines Menschen ist nichts wert“

    „Sie haben die Zukunft zerbrochen“

    Die Rache der verdrängten Geschichte

    FAQ #4: Kriegsverlauf in der Ukraine

  • Die Rache der verdrängten Geschichte

    Die Rache der verdrängten Geschichte

    Vor etwas mehr als einem Monat, am 24. Februar 2022, ist Russland in der Ukraine einmarschiert. Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war, meint Journalist Maxim Trudoljubow im Exilmedium Meduza (die Seite ist aus Russland nur per VPN aufrufbar und wird außerdem technisch aufwändig gespiegelt). Mit dem Krieg würden auch die Geister der russischen und sowjetischen Vergangenheit wieder zum Leben erweckt: Die verdrängte und nicht aufgearbeitete Geschichte, so Trudoljubow, tritt im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wieder ans Licht.

    Der Krieg gegen die Ukraine hat das Schlimmste freigesetzt, zu dem der russische Staat in seinem imperialen, sowjetischen und postsowjetischen Gewand fähig war. Dieser Krieg ist der zum Leben erwachte Schuldspruch, der alles in sich vereint, wovor die russische Gesellschaft nicht mehr die Augen verschließen kann.

    Ihre Haltung dazu haben die Kreml-Machthaber mit der Verfolgung von Memorial demonstriert: Memorial ist eine für die Zivilgesellschaft des neuen Russlands wegweisende NGO, die in vielerlei Hinsicht Vorreiter war beim Versuch der Gesellschaft, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien. „Memorial erzeugt mithilfe von Spekulationen über politische Repressionen ein falsches Bild von der Sowjetunion als einem terroristischen Staat“, äußerte bei den Verhandlungen einer der Staatsanwälte. „Warum sollen wir, die Nachfahren der Sieger, jetzt Reue zeigen, anstatt stolz auf unser Land zu sein, das den Faschismus besiegt hat?“

    Die Zeit heilt keine Wunden

    Wichtig an den Worten des Staatsanwalts ist nicht die typische Verdrehung der Tatsachen (Memorial sprach nicht von Reue, es plädierte für eine juristische Bewertung der Verbrechen), sondern der „Siegerkomplex“: die Vorstellung, Macher des Sieges in einem Krieg gewesen zu sein, an dem sie selbst gar nicht beteiligt waren. In den Köpfen der russischen Führer musste dieser Krieg (in dem die Russen übrigens Seite an Seite mit Ukrainern und anderen Völkern kämpften) die anderen schrecklichen Kapitel der Vergangenheit irgendwie auslöschen – und zwar so, dass der russische Staat und die russische Gesellschaft das moralische Recht hätten, den Kopf oben zu halten.

    Aber von der Vergangenheit distanzieren wollte sich nicht nur die russische Machtelite. Der Großteil der russischen Gesellschaft wollte das auch.

    Immer wieder tauchte in öffentlichen Debatten Intellektueller zu historischen Themen die Frage nach der Verjährungsfrist auf. Sie wurde unterschiedlich formuliert, diente aber stets demselben Zweck: die Schärfe der Debatte zu mildern. Ja, die Kommunistische Partei und ihre „Einsatztruppen“ – die Geheimdienste – wurden nie in großem Stil verurteilt (bzw. gab es einen Versuch, der jedoch missglückt ist). Aber es ist doch schon so lange her! Warum sollte man ein Volk, das ohnehin schon vom täglichen Kampf ums Überleben zermürbt ist, noch zusätzlich spalten? Das Land von damals existiert nicht mehr, es gibt jetzt ein anderes, das aufgebaut werden will – also muss man in die Zukunft blicken und nicht in der Vergangenheit wühlen. Schließlich gibt es in Russland Gedenkstätten für die Opfer des Terrors, es wird ihrer in Kirchen gedacht, Bücher werden über sie geschrieben und Filme gedreht, und es gibt sogar ein staatliches Museum zur Geschichte des Gulag.

    Diese Logik hat nun keinerlei Sinn mehr. Es hat sich gezeigt, dass die Zeit keine Wunden heilt. Man wird sich nicht nur vom Siegerkomplex des Kreml verabschieden müssen, sondern auch von anderen Einstellungen, die außerhalb des Kreml existieren und verhindern, dass man die eigene Vergangenheit in ihrer ganzen Schwere akzeptiert. Wir leben in einem riesigen Schrank voller Skelette, in einem Keller voller Leichen.

    Verbrechen ohne Verjährung

    Bis zum 24. Februar 2022 konnte man meinen, dass ein Grundpfeiler unserer Identität ein gerechter Krieg war: der Große Vaterländische Krieg. In einem Land, in dem Traditionen und Verbindungen zwischen Generationen und sozialen Gruppen immer wieder abgerissen wurden, war das Gedenken an den Krieg ein verbindender und einheitsstiftender Mythos.

    Im Massenbewusstsein überwog die Geschichte des Krieges die Grausamkeit und den Zynismus anderer Kapitel der russischen Geschichte. Das ist nicht ungewöhnlich – die Menschen erinnern sich lieber an das Gute als an das Schlechte. Und Politiker ganz besonders: Viele Staaten legen in ihrer Erinnerungspolitik die Betonung auf die Siege und lenken die Aufmerksamkeit von den Niederlagen ab. Dabei gibt es in der Geschichte eines jeden Landes Niederlagen und schmachvolle Episoden. Jede Nation, jede Gesellschaft bewältigt den Schmerz der Vergangenheit auf ihre eigene Weise. Die russische Gesellschaft bewältigte die Schande durch das Gedenken an den Sieg im Zweiten Weltkrieg.

    Lange Jahre hat dieses Gedenken verhindert, dass wir unserer Vergangenheit ins Auge blicken. Der Albtraum, der jetzt geschieht, muss uns dazu bringen, es endlich zu tun.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Nachbarländer als Pufferzonen ohne Recht auf Souveränität behandelt. In unserer Vergangenheit und Gegenwart besteht die Bereitschaft, Gewalt gegen ganze Völker anzuwenden, wenn sie den Machthabern in Moskau illoyal erscheinen. Im Grunde handelt es sich um eine koloniale Politik gegenüber den Nachbarvölkern – und auch gegenüber dem eigenen.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart werden Staaten und Menschen – eigene wie fremde – als Verbrauchsmaterial betrachtet. Um Methoden war der russische – und besonders der sowjetische – Staat dabei nie verlegen.

    In unserer Vergangenheit und Gegenwart hat sich die Macht exorbitante Befugnisse verschafft, eine nicht durch Gesetze und Institutionen eingeschränkte Macht. Im Russischen Reich gab es noch Geschworenengerichte und eine unabhängige Strafverteidigung – der sowjetische Staat entledigte sich dieser Rechtsinstitutionen als „bourgeoise Überbleibsel“. Die sowjetischen Leader verfügten über eine „Legalität“, die zunächst revolutionär und später sozialistisch war, das heißt, sie rechtfertigte jede Handlung, die für den Aufbau des Kommunismus zweckdienlich war. Dieses System hatte nichts mit dem Schutz von Rechten oder Gerechtigkeit zu tun. In unserer Vergangenheit und Gegenwart stellt man die Zweckdienlichkeit über das menschliche Leben. 

    Die Methoden, derer sich die Behörden bedienten, sind bekannt: Repressionen, inklusive außergerichtlicher Hinrichtungen, Gefangenschaft und Zwangsarbeit, die Eintreibung landwirtschaftlicher Produkte und Enteignungen, die zu Hunger und Tod führten. Nicht zu vergessen die militärische Aggression gegen Nachbarländer, Übergriffe auf Zivilpersonen, Geiselnahmen, Folter, die Verfolgung von Menschen aufgrund ethnischer Zugehörigkeit und die Deportation ganzer Volksgruppen.      
    Diese Methoden benutzte die Sowjetunion sowohl auf dem eigenen Territorium als auch bei der Eroberung der Länder Ost- und Mitteleuropas in den 1940er Jahren – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs und unmittelbar danach. Sie wurden in beiden Tschetschenienkriegen, in Georgien, in der Ostukraine und in Syrien angewendet – überall dort, wo Russland Gewalt ausübte. Dazu gehören zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die keine Verjährungsfrist haben. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu lesen, das diese Verbrechen ausführlich behandelt.   

    Nicht nur in der Ukraine, gegen die Russland einen Angriffskrieg führt, sondern auch in Ungarn, in Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, in Estland, Finnland, in Tschechien und anderen Ländern, die in ihrer Geschichte auf die eine oder andere Art ihre Erfahrungen mit Russland gemacht haben, spricht man über die vergangenen Verbrechen des russischen Staates so, als ob sie erst gestern begangen worden wären. Die Mehrheit dieser Länder nimmt heute Flüchtlinge aus der Ukraine auf. Egal, wie die Kampfhandlungen ausgehen – vergessen wird nichts.  

    Methoden ohne Ziele 

    Jetzt kann kein Bürger, keine Bürgerin Russlands, kein einziger Mensch, der sich als Russe bezeichnet, mehr so tun, als wäre die Vergangenheit bloßer Gegenstand akademischer oder publizistischer Auseinandersetzungen. Die Vergangenheit wird gerade auf ukrainischem Boden reproduziert. Dass die Verbrechen des russischen Staates keiner rechtlichen Bewertung unterzogen und von keinem Gericht verurteilt wurden, hat den heutigen Krieg ermöglicht. Ermöglicht hat ihn das ungestrafte Davonkommen der Führer des russischen Staates.

    Vielleicht  glaubt Putin seiner eigenen Propaganda und stützt sich auf die Pseudorealität, die seine Propagandisten erdacht haben

    Die, die jetzt im Namen Russlands Entscheidungen treffen, haben weder große Ziele noch verfügen sie über ein Wissen absoluter Wahrheiten, sie haben weder ideologische oder göttliche Legitimität, die sie so gerne simulieren. Das Einzige, wodurch sie die längst verlorene „große Idee“ – ob von einem Großreich oder vom Kommunismus – erfolgreich ersetzt haben, ist die Lüge. Die Organisatoren des Kriegs gegen die Ukraine haben beschlossen, dass ihnen zur Legitimierung des Krieges Inszenierungen und Fiktionen reichen. 

    Möglicherweise hat Putin seiner eigenen Propaganda geglaubt und stützt sein Vorgehen auf die Pseudorealität, die Propagandisten in seinem Auftrag erdacht haben. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so wichtig, ob er an etwas glaubt oder nicht. Jedenfalls sehen wir, dass russische Beamte und Militärs ihr Vorgehen mithilfe primitiver Desinformation zu rechtfertigen versuchen, indem sie behaupten, die sterbenden Gebärenden seien Schauspielerinnen, in den Krankenhäusern würden sich Nationalisten verschanzen, und die ganze Ukraine werde von Nazis regiert.     

    Das heutige Russland hat nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat

    Das heutige Russland hat als politisches Gebilde nur Lügen und Methoden zu bieten, die es von den Tschekisten und von Stalin geerbt hat. Die Methoden sind immer dieselben, nur wird jetzt nicht einmal mehr versucht, sie mit einem dekorativen ideologischen Schein zu rechtfertigen. Der russische Staat ähnelt unterdessen einem Zombie – ein Körper ohne Seele, der alles auf seinem Weg zermalmt und nicht einmal versteht, wozu er das tut.  

    „Ist die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates nicht die zentrale Frage unserer Zeit, unserer Moral?“, schrieb Warlam Schalamow. Ja, es ist die zentrale Frage. Und je mehr Russen und Menschen, die sich als Russen begreifen, sich dessen bewusst werden, umso rascher wird der russische Staat für seine Verbrechen vor Gericht stehen. Ohne ein solches Gericht kann Russland weder seinen Bewohnern ein vollwertiges Zuhause bieten, noch kann es eine politische Entität werden, mit der ein vertrauensvoller Dialog möglich ist. Wenn die nationale und kulturelle Gemeinschaft mit dem Namen „Russland“ wieder ein Teil der Welt werden will, dann muss die erste neue Institution, die nach dem Krieg geschaffen wird, ein Gericht über die Verbrechen des russischen Staates sein – in all ihren Ausprägungen, in der Vergangenheit und der Gegenwart.   

    Es darf nicht mehr die Logik der Verjährung gelten, die argumentiert, dass die Verbrecher nicht mehr am Leben seien und es kaum mehr lebende Zeugen gebe, also wen wolle man jetzt anklagen. Da finden sich welche. Diejenigen, die entschieden haben, die Ukraine anzugreifen, wären für diese Rolle durchaus geeignet. Das Gericht muss unabhängig vom Staat sein, sonst hat der Prozess keinen Sinn. Vor 30 Jahren ist ein Verfahren gegen die KPdSU gerade deshalb gescheitert, weil die Verfassungsrichter eben noch selbst Parteimitglieder gewesen waren und das Rechtsorgan von den staatlichen Strukturen nicht sauber getrennt war.   

    Mit einem wirklich unabhängigen Gericht würde Russland der Welt beweisen, dass es überhaupt eine Gesellschaft in Russland gibt  

    Wenn es der russischen Gesellschaft nach dem Krieg – erstmals in seiner Geschichte – gelingt, ein wirklich unabhängiges Gericht zu installieren, dann wird sie sich und dem Rest der Welt damit beweisen, dass es in Russland überhaupt eine Gesellschaft gibt. Das wichtigste Anzeichen dafür, dass es in Russland eine Gesellschaft gibt, wird dann genau das sein: Die Existenz als handelndes Subjekt, die eine rechtliche Bewertung von Handlungen des Staates und seiner Führer erlaubt. Wenn das gelingt, dann schaffen es die Russen vielleicht auch, andere Institutionen aufzubauen.  

    Man wird dabei wohl mit Institutionen beginnen müssen, die die Gewalt des Staates gegen den Menschen, gegen das eigene Volk sowie andere Nationen verhindern. Man wird dafür sorgen müssen, dass nie wieder jemand an die Macht kommt, der in Kategorien wie „einiges Volk“, „gemeinsames Schicksal“, „große Geschichte“ und ähnlichen grandiosen Verallgemeinerungen auch nur denkt. Und natürlich dürfen Politiker in der Zukunft keine Möglichkeit haben, Kriege zu führen, die auf ihren Fantasien beruhen. Ihnen müssen die Hände gebunden sein.     

    Das wird in einem Land, in dem Institutionen, Gesetze und sogar das Bildungssystem immer im Interesse einer zentralistischen Regierung und nicht im Interesse der Menschen gehandelt haben, extrem schwer werden. In einem Land, in dem die soziale Ordnung immer zur Rechtfertigung von Gewalt herangezogen wurde. Der Erfolg dieses schwierigen Unterfangens ist alles andere als garantiert, aber ohne ihn hat Russland keine Zukunft.  

    Weitere Themen

    „Wir suchen gern in fremden Kellern nach Leichen“

    Die Fragen der Enkel

    Die Geister der Vergangenheit

    Sandarmoch

    Perm-36

    „Wir müssen die Erinnerung wiederbeleben“

  • „Man hat das Gefühl, das Leben eines Menschen ist nichts wert“

    „Man hat das Gefühl, das Leben eines Menschen ist nichts wert“

    Wenn Eltern in Russland, zumal in Kriegszeiten, nicht mehr wissen, was sie sonst für ihre Söhne tun sollen, dann wenden sie sich an die Soldatenmütter. Die Organisation mit zahlreichen Zweigstellen in ganz Russland, die es sich vor mehr als 30 Jahren zur Aufgabe gemacht hat, die Misshandlungen in der russischen Armee aufzudecken, ist später vor allem für ihre Hilfe in den beiden Tschetschenienkriegen bekannt geworden: um Söhne zu finden, die an die Front geschickt wurden und um Gefallene zu dokumentieren und den Verwandten Nachricht geben zu können.  

    Schon Wochen vor dem großflächigen Angriff, den Wladimir Putin mit den russischen Streitkräften seit dem 24. Februar 2022 gegen die Ukraine führt, haben die Anfragen bei den Soldatenmüttern wieder zugenommen. 

    Vor allem die Wehrdienstleistenden rückten dabei ins Zentrum der Aufmerksamkeit, weil schnell die Vermutung aufkam, auch sie seien in die Ukraine geschickt worden: Schilderungen junger Rekruten legten schon Tage nach dem Einmarsch nahe, dass sie in der Ukraine in Gefangenschaft geraten waren. Videos kursierten davon im Netz, oft veröffentlicht vom ukrainischen Militär, außerdem auf dem Telegram-Kanal Ischi Swoich. Aber auch Eltern wandten sich mit Hinweisen an unabhängige russische Journalisten. 

    Nachdem Präsident Putin zunächst geäußert hatte, Wehrpflichtige würden nicht eingesetzt, sondern nur Berufs- und Zeitsoldaten, so räumte das russische Verteidigungsministerium am 9. März das Gegenteil ein. Dabei versicherte die Militärführung, die Wehrpflichtigen seien, bis auf die Kriegsgefangenen, inzwischen wieder in Russland. Doch Transparenz ist kaum gegeben, auch mit Opferzahlen hält sich die russische Staatsführung bedeckt, spricht offiziell bislang lediglich von rund 500 getöteten Soldaten auf russischer Seite. US-Angaben und ukrainische Angaben gehen von mehreren tausend Toten bei den russischen Streitkräften aus. Wie viele es wirklich sind, ist unklar.

    Die Leiterin der Petersburger Soldatenmütter, Oxana Paramonowa, spricht im Interview mit dem russischen Exil-Medium Meduza darüber, wie sich ihre Arbeit vor dem Hintergrund des neuen Krieges gestaltet – über mütterliche Ohnmacht, einen Staat, der wenig preisgibt, und wie sie als Organisation auch selbst durch eine verschärfte Gesetzeslage in ihrer Arbeit beschnitten werden.

    Sascha Siwzowa: Wie hat sich die Arbeit der Soldatenmütter von Sankt Petersburg seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar verändert?

    Oxana Paramonowa: Die Arbeit unserer Organisation haben wir [bereits] im Oktober letzten Jahres verändert – wir haben so gut wie jeden Rechtsbeistand für Armeeangehörige eingestellt und nur den Auskunftsdienst beibehalten. Allein die Zahl der Anfragen bei diesem Auskunftsdienst ist seit dem 24. Februar gestiegen. Und zwar deutlich.

    Warum haben Sie das Format Ihrer Arbeit geändert?

    Unsere Organisation hat 30 Jahre lang Ersuche entgegengenommen. Die Menschen wandten sich über verschiedene Kanäle an uns, meist persönlich. In den letzten Jahren gab es eine Hotline und Online-Beratungen. Unsere Anwälte haben sich um diese Anfragen gekümmert. Wir haben Treffen mit Kommandostäben und der Militärstaatsanwaltschaft organisiert. Die Grundlage für die Arbeit waren Informationen, die wir persönlich von den Menschen erhielten.

    Im Oktober wurde der unglückselige FSB-Erlass verabschiedet, der das Sammeln jedweder Information über die Armee faktisch verbietet. Dadurch drohte den betreffenden Personen eine strafrechtliche Verfolgung, und wir waren gezwungen, diese Arbeit einzustellen.

    Was hat sich seit diesem neuen Gesetz verändert? Sie haben aufgehört, Informationen zu sammeln und Rechtshilfe zu leisten?

    Da wir jetzt keine Informationen mehr sammeln, können wir uns nur aus den Anfragen ein Bild von der allgemeinen Lage machen, aber wir können keinen aktiven Rechtsbeistand mehr leisten. Faktisch wurde uns die Möglichkeit genommen, im Namen der Organisation zu agieren, weil wir nicht schreiben können, dass uns irgendwer irgendwo irgendetwas erzählt hat. Wir brauchen konkrete Angaben, um jemanden als Organisation vertreten zu können. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir praktisch keine Daten mehr erheben – angefangen bei personenbezogen Daten bis hin zu medizinischen Auskünften, Angaben zu Straftaten und begonnenen Ermittlungen. Wir haben nicht mehr das Recht, solche Informationen zu sammeln.

    Wie stark ist die Zahl der Anfragen seit Kriegsbeginn gestiegen?

    Bis Oktober waren es viele Anfragen – um die zweitausend im Jahr. Dann gingen die Anfragen natürlich zurück, weil wir erklärt hatten, dass wir unser Arbeitsformat ändern und keine Rechtshilfe mehr anbieten können. Aber die Zahl der Anfragen, die wir seit dem 24. Februar erhalten, ist im Vergleich zu dem, was wir seit Oktober hatten, sprunghaft gestiegen. Im Oktober und November erreichten uns ein bis zwei Anrufe täglich. Jetzt sind es zwanzig.

    Was möchten die Angehörigen der Wehrpflichtigen von Ihnen wissen?

    Alle Fragen beziehen sich auf die Ereignisse seit dem 24. Februar. Uns rufen Eltern an, die meisten von ihnen bitten um Hilfe bei der Suche nach ihren Söhnen.

    Was erzählen Ihnen die Eltern der Armeeangehörigen?

    Wir sammeln praktisch keine Informationen, mit Ausnahme derer, die uns die Leute selbst geben. Je nach Fragestellung geben wir Orientierung, was man tun kann. Unter diesen Umständen fällt unsere Hilfe recht mager aus.

    Aber an der Menge der Anrufe und daran, wie es den Menschen geht, sehen wir, dass sie nirgendwo sonst anrufen können. Sie finden unsere Nummer und melden sich. Manche sagen, dass sie in der Armee-Einheit angerufen haben, aber nicht durchgekommen sind oder zu hören bekamen: „Warten Sie, Sie werden informiert.“ Manche erzählen, dass sie versucht hätten, beim Verteidigungsministerium anzurufen. Aber auf der Webseite des russischen Verteidigungsministeriums wurden seit dem 24. keine Informationen veröffentlicht, an wen sich Angehörige wenden können [das Verteidigungsministerium hat einen Tag nach dem Interview, am 9. März, eine Hotline eingerichtet – dek]. 

    Wir geben den Leuten einfach Kontakte aus dem Verteidigungsministerium weiter, die wir im Laufe der Jahre gesammelt haben. Wir arbeiten ja ziemlich eng mit verschiedenen Abteilungen innerhalb des Verteidigungsministeriums und in den jeweiligen Bezirken zusammen. Wir geben ihnen die Kontakte, die wir haben, und empfehlen den Leuten, überall anzurufen, um Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen. Hauptsächlich geht es darum.

    Was tun Sie noch, abgesehen von der Empfehlung, welche Behörden man kontaktieren soll?

    Wir versuchen, die Eltern untereinander zu vernetzen. Das ist für uns als Organisation eine schwierige Aufgabe, manchmal nicht machbar.

    Aber es ist wichtig, dass die Eltern gemeinsam handeln. Dass sie sich koordinieren, dass jemand direkt an den Dienstort [d. h. in die Militäreinheit] fährt, an dem sie das letzte Mal Kontakt [mit dem Vermissten] hatten, dass ein anderer am Telefon sitzt und wieder ein anderer Schreiben [an das Verteidigungsministerium und andere Behörden] aufsetzt. Sie müssen sich zusammentun.

    Wir haben auch früher alles dafür getan, solche Supportgruppen entstehen zu lassen: Damit der Rekrut nicht alleine zur Musterungsbehörde geht, damit er eine Gruppe von Eltern oder seine Kameraden plus seine Eltern hinter sich hat, die wenigstens eine minimale Kontrolle darüber haben, wie der Armeedienst abläuft.

    Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind

    Gibt es jetzt solche Gruppen?

    Die Menschen schätzen die aktuelle Situation sehr unterschiedlich ein. Das ist ein Problem, denn manche warten lieber ab, und andere finden, dass man sofort handeln sollte.

    Was ist besser, abwarten oder handeln?

    Die Entscheidung muss jeder selbst treffen. Ich persönlich finde immer, handeln ist besser. Ich verstehe, dass Beten auch eine Form von Handeln ist. Aber meines Erachtens nicht die einzige. Manche entscheiden sich dafür zu warten. Man kann nur hoffen, dass irgendwann das eintritt, worauf sie warten. 

    In den ersten Tagen war ich sehr aufgewühlt und habe den Eltern versucht zu erklären, dass man etwas tun muss, anstatt zu warten. Bei manchen hat es funktioniert, bei anderen nicht. Die Kooperation zwischen den Eltern ist sehr schwierig. In den meisten Fällen haben die Eltern, die bei uns anrufen, weder die Telefonnummern der Militäreinheiten noch Kontakte zu den Eltern der Kameraden ihrer Söhne.

    Bei uns melden sich auch Eltern, deren Kinder erst zwei oder drei Monate gedient haben. Aber meistens sind es Eltern von Vertragssoldaten, die schon mehrere Jahre im Dienst sind. Und selbst die haben zum Beispiel oft keine Kontaktdaten der Einheit. Ich finde das merkwürdig.

    Inwiefern merkwürdig?

    Ich habe das Gefühl, sie sind völlig abgekoppelt vom Dienst in der Armee. Die Familien haben alles dem Staat überlassen. Aber die Folgen davon, dass wir alles dem Staat überlassen haben, baden wir jetzt aus.

    Das nächste Problem wird sein, dass der Staat für das, was passiert, nur eine minimale Verantwortung übernehmen wird. Dessen muss man sich bewusst sein. Das ist es den Eltern leider nicht. Ihnen ist nicht klar, dass, egal was mit ihren Söhnen jetzt passiert, die vom Staat übernommene Verantwortung minimal sein wird.

    Wladimir Putin hat Angehörigen von in der Ukraine gefallenen Soldaten zusätzliche Kompensationen versprochen.

    Wir kriegen ein paar Vorzeigebeispiele präsentiert – Kompensationen in Millionenhöhe [in Rubel – dek] und so was. All das, was uns der Präsident versprochen hat. Der Rest wird diesen Kompensationen jahrelang hinterherrennen – im besten Fall. Schlimmstenfalls versuchen sie es einmal und geben dann auf, sagen: „Tja, so läuft das eben in unserem Land.“ Danach werden sie nur in ihrem Umfeld darüber sprechen, dass es ihnen so ergangen ist. 

    Verstehen Sie, wie die Verluste gezählt werden? Das Verteidigungsministerium spricht von 498 Gefallenen auf russischer Seite. 

    Dazu kann ich nicht viel sagen, weil die Zahlen auseinandergehen: Die beiden Kriegsparteien nennen unterschiedliche Zahlen. Das ist normal, die Menschen sollen auf diese Art beeinflusst werden. Wie sie das jeweils zählen, ist schwer zu sagen. Wenn im Netz Informationen auftauchen, dass dieser Held mit Ehren bestattet wurde, dass jener Held mit Ehren bestattet wurde, dann kann man davon ausgehen, dass das auch eine Rolle spielen wird. 

    Was meinen Sie?

    Dass möglicherweise für manche gar nichts ausgezahlt werden muss, weil sie Heldenbegräbnisse bekommen, eine Gedenktafel in ihrer Schule und in ihrem Heimatdorf, und fertig. Ich fürchte, dass sich ein Teil der Gesellschaft auch damit zufrieden geben wird, leider. 

    Wie könnte die Suche nach vermissten Soldaten offiziell aussehen?

    Auf der Website des Verteidigungsministeriums läuft kein rotes Band, wo man nach Soldaten suchen kann. Es gibt auch keine Listen mit Gefallenen. 

    Außerdem unterliegen Informationen über Verluste bei „Spezialoperationen“ seit 2015 der Geheimhaltungspflicht. So gesehen stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage sie jetzt die Namen der Gefallenen offiziell verlautbaren lassen.

    Liegen Ihnen Zahlen über Verluste vor?

    Nein, wir sammeln sie nicht. An uns wenden sich Eltern, die jemanden suchen und in der Regel keine Informationen haben. Sie versuchen, Kontakt zu ihren Söhnen herzustellen, zu erfahren, wo sie sind und wie es ihnen geht. Wir dürfen keine Daten zu Verlusten sammeln. Wir hatten ein paar Anfragen, bei denen Eltern sagten, sie hätten ihre Söhne unter den Kriegsgefangenen erkannt. Die reichen wir an Kollegen weiter, die sich mit der Suche von Kriegsgefangenen auskennen. Wir geben den Eltern den Kontakt, alles weitere erfahren sie dort, was man überhaupt machen kann.

    Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe

    Können Sie eine Institution nennen, die sich mit Kriegsgefangenen befasst?

    Das sind einfach Sankt Petersburger Menschenrechtsaktivisten, die bereits aus anderen Militärkampagnen Erfahrung haben. Sie wissen, an wen sich die Eltern wenden können. Aus Gesprächen mit Journalisten, die sich während des Tschetschenienkriegs mit solchen Fragen beschäftigt haben, weiß ich, dass die Menschenrechtsbeauftragte der Russischen Föderation [Tatjana Moskalkowa] dabei helfen kann. Ich empfehle den Angehörigen, dort einen Gefangenenaustausch anzuregen. Ansonsten sind es zivilgesellschaftliche Initiativen, keine offiziellen Strukturen. 

    Es heißt, die russische Armee führe womöglich mobile Krematorien mit sich. Stimmt das?

    Dazu haben wir keine gesicherten Informationen.

    Haben die Anfragen der Angehörigen, die jetzt nach Soldaten suchen, etwas gemeinsam?

    Mich bedrückt ihre Erwartungshaltung. Da ist keinerlei Handlung, vielmehr eine Art mütterliche Ohnmacht. Das geht mir sehr nahe. Ich habe verschiedene Mütter in verschiedenen Situationen erlebt, und ich weiß, wie Mütter handeln können. Momentan höre ich auf viele meiner Vorschläge nur: „Was bringt das?“ Verstehen Sie? Das klingt für mich, als sähen die Leute keinen Sinn darin, das Leben ihrer Söhne zu retten. „Wozu denn? Lassen die mich denn dort rein?“ Wenn ich zum Beispiel sage: „Fahren Sie zum Kommandostab, und fragen Sie dort nach.“ Wenn eine Mutter das will, dann lassen sie sie rein, und dann reden sie auch mit ihr. Aber wenn sie sich von all diesen Fragen abschrecken lässt und ihre eigene Kraft in Zweifel zieht, dann wird sie höchstwahrscheinlich nicht durchkommen. 

    Ist das eine Art allgemeine Ohnmacht?

    Wie auch immer man das nennen will. Es herrscht ein allgemeiner Zustand der Passivität: Apathie, Ohnmacht. Man könnte es auch schärfer formulieren. Jedenfalls hat man das Gefühl, das Leben eines Menschen sei nichts wert. Es gibt den Wunsch, irgendwo etwas zu beweisen, aber die Fähigkeit zum Handeln, um ein Leben zu retten, ist blockiert. Ich weiß nicht, ob es Angst ist, oder Schuld. Wenn man genauer hinschaut, hat da wahrscheinlich jeder sein Päckchen zu tragen. Aber dass dieser Impuls in der heutigen Zeit praktisch fehlt, ist, glaube ich, eine Tatsache. Da ist kein Impuls, Leben zu retten. 

    Was werden diese Geschehnisse noch für Folgen haben?

    Welche Folgen diese „Spezialoperationen“ in Russland haben werden? Das wird in jeder Familie anders sein. Die Frage ist, ob sie zu einem gemeinsamen Bild zusammengefügt werden, anhand dessen die Verantwortung und Beteiligung der Gesellschaft sichtbar werden, die Verantwortung des Staates, und ob daraus irgendwelche tiefgreifenden Veränderungen resultieren. Aber wahrscheinlich wird das eher ein Mosaik bleiben. Das heißt, jede Familie wird eine eigene Geschichte erleben, mit individuellen Folgen – und irgendwie damit zurechtkommen, so gut es eben geht. Und wir werden in dem Zustand verharren, in dem wir jetzt sind. Oder es wird noch schlimmer. 

    Weitere Themen

    Andrej Sacharow

    FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine

    Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht

    Karriere in Uniform

    „Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus“

    Der Mann, der den Atomkrieg verhinderte

  • Endkampf gegen die Realität

    Endkampf gegen die Realität

    Er lebt in einer anderen Welt – das soll Angela Merkel wenige Tage nach der Angliederung der Krim 2014 in einem Telefonat mit Barack Obama über Wladimir Putin gesagt haben. Acht Jahre später führt letzterer einen offenen Krieg gegen die gesamte Ukraine, der bereits jetzt tausende Menschen in den Tod und über eine Million in die Flucht getrieben hat. 

    In einem wütenden und zugleich selbstkritischen Meinungsstück auf Meduza schreibt der Journalist Maxim Trudoljubow über eine Welt der Lüge, mit der Putin sich selbst und sein Land vergiftet habe und nun die Ukraine in eine Katastrophe stürzt. 

    Während all der Jahre unter Putin hat die russische Regierung einen erbitterten, aggressiven Kampf gegen die gesellschaftliche Realität geführt. Die politischen Verwaltungsbeamten (Verwalter, nicht Politiker, denn niemand hat sie gewählt) sind gegen jegliche Unabhängigkeit und jeglichen Aktivismus vorgegangen und haben Politiker und Journalisten mit einem eigenen Standpunkt aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Ihre Plätze wurden von Figuren eingenommen, deren Aufgabe darin bestand, Aktivität zu heucheln und den Schein zu wahren. Die Manager der Präsidialadministration haben dafür gesorgt, jede selbstorganisierte Partei, Gruppe und Struktur in künstliche, kontrollierte Zellen umzuwandeln.

    Wie die Zerstörung der Gesellschaft zum Krieg führt

    Alles Echte ist für andersartig, ausländisch, fremd, extremistisch und sogar „terroristisch“ erklärt worden. Erinnern wir uns an das Netzwerk, das Alexej Nawalny erschaffen hat – eine Organisation, die einen politischen, gewaltlosen Kampf gegen das Regime führte und aus diesem Grund für kriminell erklärt wurde.

    Was die Zerstörung betrifft, waren die Erfolge der Manager beeindruckend. Zugegeben, doch wir sollten nicht vergessen, dass diese „Erfolge“ mithilfe von gezielten Morden, Repressionen und der Vertreibung von Menschen aus dem Land erzielt wurden. Gesichtslose Verwaltungsbeamte, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter der jeweiligen politischen Leitung im Kreml – Wladislaw Surkow, Wjatscheslaw Wolodin, Sergej Kirijenko – tätig waren, haben das Feld in enger Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten gesäubert. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind in der Tat erschreckend.

    Denken wir an die inhaftierten Aktivisten. Denken wir an all jene, die das Land verlassen mussten, und an die, die ihre öffentliche Tätigkeit eingestellt haben, nachdem sie sämtliche mit ihr verbundenen Risiken nüchtern abgewägt hatten. Vergessen wir auch nicht die ermordeten Politiker, Journalisten und Bürgerrechtler, wer auch immer für ihren Tod unmittelbar verantwortlich sein mag.

    Putins Verwalter wollten nicht nur die Zivilgesellschaft kontrollieren, sondern auch die Ergebnisse im Sport. Die Logik des fairen Wettbewerbs wurde untergraben: Der Leader glaubte offensichtlich nicht daran. Russische Sportler mussten um jeden Preis besser sein als alle anderen. Deshalb wurde der Wettkampf durch ein Dopingprogramm ersetzt, das dem Leader ein Bild von durchschlagendem Erfolg malen sollte. Bei den Olympischen Winterspielen 2014 ging es um das Projekt, garantiert zum Sieg zu gelangen. Die Steuerung der Spiele wurde schließlich von einem Überläufer aufgedeckt, von dem Ex-Leiter des Moskauer Antidopinglabors Grigori Rodtschenko. Dank ihm verfügen wir über ein detailliertes Bild dieser beschämenden Geschichte.

    Etwas zu erschaffen ist mit kriminellen Methoden deutlich schwieriger als etwas zu zerstören

    Etwas zu erschaffen ist mit kriminellen Methoden deutlich schwieriger als etwas zu zerstören. Deshalb wirkte das Putinsche Theater beim Versuch, eine tote Alternative zu einer lebendigen Gesellschaft aufzubauen, wie ein offensichtlicher Reinfall. Diejenigen, die uns zu den „Anderen“ (den „Ausländischen“, „Unerwünschten“) gemacht haben, haben im Grunde nie selbst etwas erschaffen, aus eigener Initiative, aus Inspiration oder dem Ruf ihres Herzens folgend. Und deshalb ist es ihnen auch nicht gelungen, ihren eigenen öffentlichen Bereich zu erschaffen – ihren eigenen offenen Raum für Diskussionen, ihre eigene Politik, eine glaubwürdige Meinungsforschung, Soziologie und Politikwissenschaft, ihre eigene Opposition und Presse.

    Alternative Wirklichkeit

    Ihre alternative Wirklichkeit wirkt wie das Zerrbild einer lebendigen Öffentlichkeit: Clowns anstelle von Politikern, Imitationen anstelle von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Propagandisten anstelle von Journalisten und Analytikern. Man konnte leicht damit leben: Die Clowns musste man nicht wählen, die Pseudoanalytiker nicht lesen, Kisseljow und Solowjow nicht anhören – denn diese Figuren entbehrten jeden eigenständigen Denkens. Sie waren schlechte Schauspieler, die einen fremden Text herunterbeten, Instrumente in einem grobschlächtigen politischen Spiel. Alles war dermaßen grob zusammengeschustert, dass man fest überzeugt war: Das Kartenhaus fällt in sich zusammen, sobald sich der Klammergriff der Sicherheitsorgane lockert. Der Grund für eine solche Lockerung hätte, wie auch ich annahm, ein natürlicher Prozess sein können – eine ökonomische Krise, die sinkende Popularität des Leaders, ein Generationenwechsel in den Machtstrukturen.

    So eine Krise hätte die künstlichen Figuren vom Feld gefegt: Die sogenannten „Politiker“ und „Journalisten“ (ja, genau, in Anführungszeichen) wären einfach von der Bildfläche verschwunden, denn sie funktionieren wie Maschinen, nur so lange, wie sie vom Staat gespeist werden. Die Bürger Russlands wären aus ihrer Verblendung erwacht und hätten mitangesehen, wie die Kulisse in sich zusammenstürzt. Wie geht doch gleich das Ende von Alice im Wunderland: Der König, die Königin, die Ritter und Richter verwandeln sich mit einem Schlag in Spielkarten. Oder das Finale von Nabokovs Einladung zur Enthauptung: „Ein Wirbelwind packte und ließ kreiseln: Staub, Lumpen, Splitter aus bemaltem Holz, Stücke vergoldeten Stucks, Pappziegel …“

    Putins alternative Wirklichkeit nicht ernstzunehmen, war ein weitverbreiteter, tragischer Fehler, ein Fehler, den auch ich begangen habe

    Doch heute bringen Raketen, Granaten und Bomben den Ukrainern und Russen den ganz realen Tod. Der Wirbelwind, der heute über das Territorium der Ukraine fegt, ist echt, die Splitter und Ziegel sind echte Splitter und Ziegel. Putins alternative Wirklichkeit nicht ernstzunehmen, war ein weit verbreiteter, tragischer Fehler, ein Fehler, den auch ich begangen habe. Diese Politik als virtuell wahrzunehmen war trügerisch. Das Bühnenbild entpuppte sich nicht als vergoldeter Stuck, die Ziegel nicht als Pappziegel. Im Gegenteil: Die von billig angeheuerten Malern bemalten groben Bühnenbilder erwachen zum Leben und werden zu Tod und Leid.

    Ich bekenne mich zutiefst der eigenen Unfähigkeit bei dem Versuch, die Kulisse herunterzureißen, als es noch möglich war – vor dem Krieg. Ich war überzeugt, dass sie von alleine fallen würde.

    Wie eine Weltanschauung die Welt zerstören kann

    Zu glauben, dass Leben, Gewissen, Talent und Anerkennung käuflich sind, ist eine minderwertige, verachtenswerte Sicht auf die Welt. Aber sie ist kein unschuldiger Fehler. Der Mann, der einst zu der Überzeugung gelangt war, dass alles käuflich und verkäuflich ist, dass man eine Gesellschaft okkupieren, unterwerfen und an ihrer Stelle seine eigene, mit Geld erkaufte Realität erschaffen kann, hat nicht nur sein Land, sondern die ganze Welt in eine Katastrophe gestürzt.

    Er hat nicht nur an seine, von ihm bezahlte Realität geglaubt, sondern sie zur Grundlage seines Handelns in der wirklichen Welt gemacht. Es ist nun klar, dass sein Plan einer kurzen Militäroperation im Bruderland auf dieser von ihm selbst geschaffenen Fiktion basierte. Offensichtlich hatte er erwartet, dass die Anwendung von Gewalt durch den „echten“ – also „seinen“ – Staat zum sofortigen Zusammenbruch des „unechten“ ukrainischen Staates führen würde. Er dachte, er hätte es mit einer Kulisse zu tun, errichtet im Auftrag von irgendwelchen feindlichen Kräften – Amerikanern, Europäern, denen er Verhalten nach seiner Manier unterstellt. Er hatte offenbar geglaubt, dass sich seine künstlich geschaffenen „Umfragewerte“ in eine echte Zustimmung seitens der russischen Gesellschaft verwandeln würden. Dass alle an die Mär von den ukrainischen „Faschisten“ und seine Mission als Befreier glauben würden. Offenbar hat er den ihn umgebenden Speichelleckern Glauben geschenkt und angenommen, Russland wäre bereit für Krieg und Sanktionen.

    Putin hat sich eingeredet, die ukrainische Gesellschaft wäre genau so ein Theater wie das, zu dem er die eigene russische Gesellschaft gemacht hat

    Putin hat sich eingeredet, die ukrainische Gesellschaft wäre genau so ein Theater wie das, zu dem er die eigene russische Gesellschaft mithilfe von Morden und Einschüchterungen gemacht hat. Er hat geglaubt, die Ukrainer – von den einfachen Soldaten auf dem Schlachtfeld bis zur ihm verhassten obersten Staatsführung – würden sich in Spielkarten verwandeln und seine Macht anerkennen. Der ukrainische Präsident – ein Comedian, der Bürgermeister von Kiew – ein Boxer. Wer sind die überhaupt? Offenbar hat er ernsthaft daran geglaubt, er sei der heutigen Ukraine und der ganzen demokratischen Welt psychologisch und moralisch überlegen. Sein defektes Bild von der Welt hat ihm die Sicht darauf verstellt, dass seine ganze „Überlegenheit“ eine Erfindung seiner eigenen Hofnarren ist. Sein Fernsehprogramm und seine Presse hatte jahrelang nur einen Auftraggeber und einen einzigen wirklichen Zuschauer – ihn selbst. Er hat sich selbst mit seiner eigenen Lüge vergiftet.

    Möglicherweise steht er vor der Entscheidung, ob er alle Zerstörungswaffen einsetzt. Das würde zu mehr Leid und Tod führen. Aber im Kern nichts verändern

    Er ist moralisch kein bisschen überlegen, niemandem. Die einzige Überlegenheit besteht in seiner militärischen Stärke. Aber um diese Überlegenheit auszuspielen, braucht es eine klare Mission, Zusammenhalt und das Bewusstsein, im Recht zu sein. Eine klare Mission, Zusammenhalt und das Bewusstsein, im Recht zu sein, haben in diesem Krieg jedoch nur die Ukrainer. Möglicherweise steht er gerade vor der Entscheidung, ob er alle Zerstörungswaffen, die ihm zur Verfügung stehen, einsetzt oder nicht. Das würde zu noch mehr Leid und Tod führen. Aber im Kern nichts verändern.

    Sein Krieg gegen die Realität hätte seine Privatsache bleiben müssen. Wenn du in Groll und Zorn auf die ganze Welt leben willst, dann tu das, so lange du willst. Doch er hat dem russischen Volk seine Anwesenheit mit Gewalt, Manipulation und Lüge  aufgedrängt. Jahrelang hat er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln seine „Umfragewerte“ hoch gehalten. Indem er mit Gewalt und Drohungen die russische Gesellschaft an sich band, hat er die Identität des eigenen Volkes entwertet, das einst Seite an Seite mit den Ukrainern in einem gemeinsamen und gerechten Krieg gekämpft hat.

    Russland hat diesen Krieg moralisch verloren, indem es ihn begann

    Er hat nicht nur sich selbst vergiftet, sondern auch Russland. Er hat den Weg geebnet für jene Verachtung, mit der die Welt nicht nur auf ihn schauen wird, sondern auch auf uns, die russischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Noch viele Jahre werden wir die Welt nicht davon überzeugen können, dass „wir nicht so sind“, dass „wir das nicht waren“. Noch viele Jahre – nach Putin – werden wir in Russland eine Gesellschaft aufbauen müssen, die frei ist von politischen Kulissen und Fiktionen.

    Russland hat diesen Krieg moralisch verloren, indem es ihn begann. Ganz unabhängig vom Kampfgeschehen: Russland hat diesen Krieg verloren, als politische, ökonomische und gesellschaftliche Einheit, als Land, als Teil der Welt. Es war immer ganz normal, das Wort „Krieg“, ohne es genauer zu bestimmen, mit dem Großen Vaterländischen Krieg zu assoziieren. Jetzt hat dieses Wort eine neue Bedeutung bekommen. Es ist ein Krieg ohne genauere Bestimmung, ohne Adjektive. Es ist der Krieg, den er entfacht hat, mit dem er mich und alle Russen verantwortlich gemacht hat für die von ihm geschaffene Katastrophe.

    Weitere Themen

    Russland und die USA

    „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes“

    FAQ #1: Putins Angriffskrieg auf die Ukraine

    „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“

    Wer kann Putin noch aufhalten?

    Warum Putin die Ukraine grundsätzlich missversteht

  • „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“

    „Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39“

    Es ist Tag acht im russischen Krieg gegen die Ukraine. Aber ist es nur Wladimir Putins Krieg? Bei aller Ohnmacht müssen alle jetzt herausfinden, wo die eigene Verantwortung liegt – und was nötig ist, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können. Der russische Soziologe Grigori Judin spricht darüber im Interview mit Meduza, das hier in Ausschnitten zu lesen ist – und in dem er auch seine Einschätzung zur Proteststimmung darlegt. Er selbst ist am 24. Februar bei einem Antikriegsprotest in Moskau zusammengeschlagen worden.

    Swetlana Reiter: [Die unterschwellige Unzufriedenheit, die wir sehen,] steigt langsamer als der militärische Konflikt.

    Grigori Judin: Ja, sie steigt nicht schnell genug, aber sie steigt, und es steigt auch die Zahl der öffentlichen Personen, die sich dagegen aussprechen: Abgeordnete, verschiedene Verbände. Prominente versuchen zwar zu schweigen, äußern sich mittlerweile aber immer öfter dagegen als dafür. Das bringt zwar nicht viel, aber immerhin. 
    Sollten diese Äußerungen der subelitären Kreise auf die elitären, näher an der russischen Führung befindlichen übergehen, dann ist klar, was das für Putin heißt. Dann sieht plötzlich alles wie ein irrwitziges Abenteuer mit grauenhaften Folgen aus und einer unausweichlichen Niederlage am Horizont. Deswegen stehen wir jetzt an einem Wendepunkt: Die Welt, in der wir im jetzigen Moment leben, wird es nur sehr kurz geben … 

    Mir ist klar, dass das Land noch nie mit einer solchen Situation konfrontiert war. Aber können Sie als Soziologe trotzdem eine Prognose versuchen: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir nach diesem Wendepunkt, an dem wir derzeit stehen, den erfreulicheren Weg einschlagen oder das Gegenteil?  

    Das ist für die ganze Weltgeschichte eine nie dagewesene Situation – nie hat es etwas Derartiges gegeben. Die ganze Welt steht in diesem Augenblick auf der Kippe zu einer ungeheuren Katastrophe, daher verfügen wir über keinerlei logisches Wissen, auf das wir uns stützen könnten.  
    Schon jetzt wird der Welt bewusst, dass am 24. Februar die lange Nachkriegsepoche zu Ende gegangen ist, eine neue Ära ist angebrochen. Das hat Deutschlands Kanzler Olaf Scholz ganz richtig festgestellt: Unter anderem werden wir in dieser neuen Ära auch ein neues Deutschland sehen, das bereit ist, eine neue Verantwortung zu übernehmen.  

    Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen

    Wir stehen heute am Rand eines riesigen Krieges. Seine potenziellen Teilnehmer verfügen über Atomwaffen, und es gibt jemanden, der sogar schon ganz offen damit droht. Wörter wie „Nazis“ und „Entnazifizierung“ sind alles andere als harmlos – in der heutigen Sprache haben sie das Potenzial einer völligen Entmenschlichung und bilden die Grundlage für eine „Endlösung des Problems“. Es ist nicht auszuschließen, dass da etwas Vergleichbares zurückschallen wird … ​​Die naheliegendste Analogie sind die Jahre 1938/39. Aber damals war die Welt gespalten und am Ende, heute findet sie zusammen. Vielleicht nicht vollständig, aber der Ernst der Lage wird von Tag zu Tag immer klarer erkannt. Deshalb stehen wir, wie mir scheint, an einer auf Jahrzehnte hinaus bestimmenden Wegscheide, an der die ganze Welt und vor allem die drei Völker stehen, die jetzt Geiseln von Leuten sind, die Waffen auf sie gerichtet haben und sie gegeneinander aufhetzen wollen. Das sind Belarus, Russland und die Ukraine.

    Wir müssen begreifen, dass das kein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist. Dieser Krieg wird von einer Gruppe geführt, die sich Waffen geschnappt hat, die gewohnt ist, Menschen damit Angst zu machen und jetzt schlicht zu Kampfhandlungen gegen alle drei Völker übergegangen ist. 

    Fühlen Sie sich in solchen Momenten eher als Mensch oder als Wissenschaftler? Oder ist das eine zu dumme Frage? Lassen Sie es mich anders sagen: Soll man analysieren oder sich in Sicherheit bringen?

    Die Frage ist keineswegs dumm, sie liegt in entscheidenden historischen Momenten auf der Hand. Man muss verstehen, dass das zwei Haltungen sind, die sich in jedem Wissenschaftler finden und die miteinander in Kontakt kommen müssen. Du musst dir bewusst machen, woran du glaubst und zu welchem Zweck du deine Analysen vornimmst: Wenn du einfach nur auf Befehl oder Auftrag hin arbeitest, kannst du eine Elwira Nabiullina [die Chefin der Zentralbank der Russischen Föderation] werden und möglicherweise als Kriegsverbrecher enden.

    Sie halten Elwira Nabiullina für eine Kriegsverbrecherin?

    Albert Speer war ein Kriegsverbrecher.

    Ist sie nicht eine Geisel der Situation?

    War Adolf Eichmann eine Geisel der Situation? Ganz im Ernst: Irgendwann muss man aufhören, sich zum Rädchen zu machen und zu einer inneren moralischen Haltung finden. Und dann seine analytischen Fähigkeiten in den Dienst dieser Haltung stellen. 

    Es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen

    Und hier kommt es darauf an, kritische Distanz zu gewinnen, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Kontrolle über sich selbst nicht zu verlieren. Aber es ist wichtig, die moralische Haltung nicht aufzugeben, vor allem in so entscheidenden Situationen. 

    Wie sehr kann man darauf hoffen, dass jeder Mensch in sich selbst Halt findet? Und was muss getan werden, damit Elwira Nabiullina und, sagen wir, Sergej Schoigu ihr Verhalten ändern?

    Das ist eine Frage ihrer Beziehung zu Gott. Wissen Sie, wir sind jetzt an einem Punkt, der bei allem, was daran einmalig ist, doch an die Ereignisse des 20. Jahrhunderts erinnert. Hannah Arendt hat dazu sehr richtig gesagt, dass es Zeiten gibt, in denen man sich eingestehen muss, dass man die Welt im Ganzen nicht ändern kann. Man muss herausfinden, wo jetzt die eigene Verantwortung liegt – was man tun muss, um weiter mit sich leben und in den Spiegel schauen zu können.

    Durch kleine Aktionen mit deutlicher Wirkung lässt sich die Angst kurieren – und dann zeigt sich, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird

    Das ist die wichtigste Frage, und jeder Mensch muss diese Frage für sich selbst beantworten – im Bewusstsein, dass die Dinge sich nach dem schlimmsten überhaupt vorstellbaren Szenario entwickeln können und die Wahrscheinlichkeit dafür sehr hoch ist. 

    Und wie bekämpft man in diesem Fall die eigene Angst?

    Es gibt da bekannte Methoden, die immer funktionieren: kleine Aktionen, die eine deutlich messbare Wirkung haben. So lässt sich die Angst kurieren, und dann zeigt sich immer wieder, dass der Teufel nicht so schrecklich ist, wie er gemalt wird. Wenn man eine Grundsatzposition einnimmt, wenn man die moralische Herausforderung annimmt, nicht so tut, als ob nichts wäre und man sowieso nichts machen könne, sondern begreift, dass man vor eine ungeheure moralische Aufgabe gestellt ist, auf die jeder Mensch reagieren muss, dann kann man sich nicht vormachen, dass man einfach nur Zuschauer ist. Man muss überlegen, wie man mit kleinen Aktionen eine messbare Wirkung erzielt. 

    Selbstanklagen, Scham … Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln

    Theodor W. Adorno hat einmal den Dramatiker Christian Dietrich Grabbe zitiert: „Nichts als nur Verzweiflung kann uns retten“. Viele Russen, die unter dem Geschehen leiden, reagieren gerade mit Selbstanklagen, Scham, Rechtfertigungs- und Entschuldigungsversuchen. Diese Gefühle sind nachvollziehbar und herzensgut, aber sie bahnen nicht den Weg zum Handeln. Dies ist letztlich kein Krieg, den das russische Volk gegen die Ukraine führt. Dieser Krieg wird den Russen nichts bringen. Sie werden auf die furchtbarste Weise verlieren. Das wird eine ungeheure Katastrophe für das Land, die uns allgemeinen Hass, eine zerstörte Wirtschaft, eine niedergewalzte Gesellschaft und vermutlich eine besiegte Armee einträgt.

    Wir müssen diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen

    Letztlich verlieren wir die unerschütterliche Grundlage für das Ansehen, das bei den Menschen auf der ganzen Welt immer Respekt hervorgerufen hat: Das Image des Befreiers, des Landes, das im denkbar schrecklichsten Krieg heldenhaft gesiegt hat. Deshalb müssen wir diese Katastrophe stoppen, und zwar gemeinsam mit den Ukrainern und Belarussen. Nun ist es so gekommen, dass die Ukrainer das auf ihre Art tun und die Belarussen und Russen auf ihre eigene Weise handeln müssen – so, dass wir uns später ruhig in die Augen schauen können.

    Ich weiß, es ist merkwürdig, diese Frage an Sie zu richten, aber wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs, wenn wir die Ereignisse vom 27. Februar analysieren?

    Eine solche Möglichkeit besteht. Nach Putins Aussagen zu urteilen, würde ich sie bisher nicht als unmittelbare und unabwendbare Gefahr betrachten. Bislang ist das eine Maßnahme, die zeitgleich mit der Anreise zu den Verhandlungen erfolgte – die natürlich rein dekorativen Charakter haben, es sind keine echten Verhandlungen. Aber diese Aussage (in Bezug auf die Waffen) ist eher eine Erpressungsmaßnahme, um die eigene Verhandlungsposition zu untermauern.

    Doch allein die Tatsache, dass diese Drohung ausgesprochen wurde – und das unter diesen Umständen, als Putin und seine Mannschaft deutlich machten, dass sie bereit sind, alles zu tun, um ihren Willen zu kriegen – macht die Nuklearfrage relevant. Zudem sollten wir die Risiken des Einsatzes taktischer Kernwaffen nicht vergessen.

    Ich habe immer geglaubt, dass der Mensch vor allem vom Selbsterhaltungstrieb geleitet wird. Die Entscheidung, Atomwaffen einzusetzen, wäre, gelinde gesagt, selbstmörderisch. 

    Der Mensch ist ein interessantes Wesen, das viele Denker gerade über seine Fähigkeit definiert haben, Selbstmord zu begehen. Aus irgendeinem Grund ist der Mensch imstande zu sagen: „Ich sage Nein zu meiner physischen Existenz.“ Sei es, weil er seine weitere Existenz als unvereinbar mit dem eigenen Selbst empfindet, sei es der Wunsch nach Prestige, nach Ruhm – solche Dinge haben Menschen in der Geschichte dazu gebracht, Selbstmord zu begehen.

    Allerdings hatten die keinen Atomknopf – aber was ändert das letztlich? Auch die, die nuklearen Selbstmord begehen, sind Menschen und also dazu imstande. 

    Entschuldigung, ich muss mich verabschieden – gerade ruft meine Frau an, die vermutlich bei einer Antikriegsaktion festgenommen worden ist.

    Weitere Themen

    Putin und der Weimar-Komplex

    „Genozid“ als Vorwand?

    Krieg – was sagen die Menschen in Russland?

    Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

    „Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen“

  • „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes“

    „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes“

    „Diejenigen, die sehen, was passiert, können keine Rechtfertigung für diesen Angriff auf die Ukraine finden“ – so wurde ein Vertreter der russischen Delegation bei einem UN-Klimatreffen am 27. Februar zitiert. Oleg Anissimow sagte demnach in einer nicht-öffentlichen Online-Runde, er wolle „im Namen aller Russen für die Unfähigkeit, diesen Konflikt zu verhindern, um Entschuldigung bitten“, wie nach der Abschlusssitzung der 195 Mitgliedsstaaten des Weltklimarates berichtet wurde. Ein westlicher Journalist hatte Anissimows Worte öffentlich gemacht – die Nachricht ging um die Welt. Zuvor hatte seine ukrainische Kollegin Swetlana Krakowskaja in einer leidenschaftlichen Rede den Stopp „dieses wahnwitzigen Krieges“ gefordert. 

    Wer sich öffentlich gegen Russlands Krieg in der Ukraine positioniert – oder einfach nur den Krieg als Krieg bezeichnet –, der begibt sich in Russland derzeit in Gefahr und muss mit Konsequenzen rechnen: Laut OWD-Info sind bei russlandweiten Anti-Kriegs-Protesten seit dem 24. Februar mehr als 7500 Menschen festgenommen worden. Und doch sind es nicht nur durch ihre Bekanntheit „geschützte“ Personen des öffentlichen Lebens wie der Musiker Boris Grebenschtschikow, die sich öffentlich gegen den Krieg aussprechen, sondern zunehmend auch Fach- und Berufsverbände, sowie Privatpersonen auf ihren Social-Media-Kanälen.
    Und auch in den Hinterzimmern der Macht herrscht keineswegs allgemeine Kriegsbegeisterung. Zumindest legt das ein kürzlich erschienener Artikel der Journalistin Farida Rustamowa (zuvor bei Doshd und Meduza) nahe, in dem sich ranghohe Staatsbeamte hinter vorgehaltener Hand sehr kritisch und besorgt über die Lage äußern. Einige Oligarchen ließen auch öffentlich Kritik durchblicken, äußerten sich zum Teil sogar deutlich, darunter die Milliardäre Oleg Deripaska und Oleg Tinkow.

    Oleg Anissimow sorgte mit seinen einfachen Worten und seiner Entschuldigung gegenüber der Ukraine für weltweite Aufmerksamkeit und Hoffnung. In einem Protokoll auf Meduza spricht er über die Geschichte hinter der Nachricht, über Schuld, Angst und Verantwortung.

     „Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt.“  / © Foto: Vkokorev / CC BY-SA 4.0
    „Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt.“ / © Foto: Vkokorev / CC BY-SA 4.0

    Es war eine Klausur von Klimaexperten. Die gesamte interne Atmosphäre, alles, was wir dort besprechen, unterliegt absolutem Stillschweigen. Es gab einen Leak [über eine Diskussion des Kriegs], so was kommt vor. Aber damit Sie verstehen: Bei nicht-öffentlichen Veranstaltungen werden Dinge gesagt, die nicht nach außen dringen sollen.    

    Zweitens: Ich bin nicht der Leiter der russischen Delegation. Das hat der französische Journalist [berichtet hat die Nachrichtenagentur AFP – dek] erfunden, der als erster von meinem Redebeitrag berichtet hat. Der hatte irgendwo irgendwas gehört, was ihm dann irgendjemand bestätigt hat. Ein bisschen paparazzimäßig.  

    Ich habe absolut naheliegende Dinge gesagt. Wir hatten zwei Wochen lang intensiv gearbeitet, es tagte der UNO-Sicherheitsrat. Das ist ja eine ziemlich große Sache: der Bericht der UN-Klimaexpertengruppe. Alle Länder sind da, und die Vertreter der Delegationen verhandeln dort Zeile für Zeile die Kurzfassung für die Politik. Das war unsere Aufgabe, sie ist von enormer Bedeutung – bisweilen haben wir um Positionen, die für jedes Land wichtig sind, heftig gestritten.

    Im Rahmen der UNO sprechen die Delegationen der jeweiligen Länder in ihrer Landessprache, auch die russische Delegation führt ihre offizielle Position auf Russisch aus – das habe ich auch getan. Momentan findet diese Konferenz nicht im Präsenzmodus statt, sondern über Zoom, und man kann nicht auf den Flur hinausgehen und mit jemandem ein paar Worte wechseln. Ich nehme seit 1995 an diesen Konferenzen teil, ich habe da viele Kollegen und Freunde aus der ganzen Welt.  

    Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt

    Als mit der Ukraine passierte, was mit der Ukraine passiert ist, traten natürlich alle Delegationen mit irgendeinem Statement zur Unterstützung der Ukraine auf. Das tat ich zu dem Zeitpunkt nicht. Habe ich einfach nicht gemacht. Habe geschwiegen. Na ja, weil ich – ich weiß auch nicht, wahrscheinlich war ich zu kleinmütig. 

    Es ist auch so, dass am Dienstag [22. Februar] meine Mutter gestorben ist, sie war 97. Und am Donnerstag [24. Februar] wurde das alles diskutiert. Sie verstehen bestimmt, dass ich, obwohl ich meine Arbeit fortsetzte, mit meiner Aufmerksamkeit auch woanders war. Vielleicht habe ich es einfach überhört und nicht ganz mitbekommen, als sich alle geäußert haben. Kollegen haben mir dann später erzählt, dass am Donnerstag auf der Konferenz plötzlich ein anderer Ton herrschte. Alle hatten sich geäußert, nur die russische Delegation hatte nichts gesagt – ich war ja dort nicht der einzige Experte aus Russland.

    Wir setzten unsere Arbeit fort. Heute [27. Februar – dek] war der letzte Tag. Wissen Sie, normalerweise war bei diesen Sitzungen immer auch jemand leger gekleidet: Die Teilnehmer leben in verschiedenen Zeitzonen, bei den einen ist Tag, bei den anderen Nacht. Doch heute trugen die meisten Anzug und Krawatte. Und heute war auch Swetlana Krakowskaja wieder im Zoom – sie ist Mitglied der ukrainischen Delegation. Wir kennen uns schon lange, sie war bei unseren Antarktis-Expeditionen dabei und ist eine ziemlich bekannte Wissenschaftlerin. Sie machte eine Erklärung vornehmlich wissenschaftlicher Natur – was für ein großes Stück Arbeit wir alle geleistet hätten und dass die Ukraine aus bekannten Gründen in den letzten Tagen nicht an der Konferenz habe teilnehmen können – es kein Internet gebe und so weiter und so fort. Und sie hoffe, dass diese Arbeit einen Beitrag zum Frieden leiste.  

    Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören

    Dann begann sie, über russische Themen zu sprechen – über den Krieg und all das. Dann verstummte sie, es trat eine Pause ein, das war jetzt der nicht-offizielle Teil. Und mir wurde klar, dass ich nicht nichts sagen konnte. Mir wurde klar, dass ich als Vertreter Russlands nicht so tun konnte, als würde Russland das alles nicht hören.     

    Ich habe dann folgendes getan: Ich sagte den nächsten Satz auf Englisch. Gearbeitet hatten wir die ganze Zeit auf Russisch – wenn du als offizielle Person auftrittst, wirst du gedolmetscht. Ich sagte auf Englisch, dass ich jetzt nicht als Mitglied der russischen Delegation auftrete, sondern als Mensch, der in Russland lebt und sein Mitgefühl mit der Ukraine zum Ausdruck bringt sowie sein Bedauern, dass wir diesen Angriff nicht verhindern konnten.  

    Außerdem habe ich gesagt: „Ich schäme mich – als Mensch, als Bürger dieses Landes. Ich schäme mich, dass wir es nicht geschafft haben, in unserem Land zivilgesellschaftliche Institutionen aufzubauen, die auf Entscheidungen des Präsidenten und der Regierung Einfluss nehmen könnten. Dass wir einfach vor die Tatsache gestellt wurden – genauso wie die Bevölkerung der Ukraine. Wir wurden vor die Tatsache gestellt, dass wir, die Bürger Russlands, in einen militärischen Konflikt hineingezogen werden.“  

    Das ist alles, was ich gesagt habe. Ich wiederhole, in einer nicht-öffentlichen Sitzung. Es war davon auszugehen, dass das in diesem Plenum verbleibt, aber irgendjemand hat etwas nach außen dringen lassen, dann ist es leicht verzerrt in die Medien gelangt, und schon ging es um die ganze Welt. Jetzt sehe ich es.  

    Verstehen Sie, ich bin jetzt in den Medien bekannt, dabei bin ich einfach ein Wissenschaftler, der als russischer Bürger seine Meinung gesagt hat. Die sehr simpel ist: Erstens, nein zum Krieg. Und zweitens: Ich schäme mich für mich selbst und für meine Mitbürger dafür, dass wir in unserem Land keine Gesellschaft aufbauen konnten, die uns ein friedliches Leben ermöglichen würde – uns und unseren Nachbarländern.     

    Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt

    Ich befürchte, dass meine Aussage meine Karriere beeinträchtigen wird. Natürlich befürchte ich das. Aber hören Sie mir zu, ich bin 64, in zwei Wochen 65. Ich  lebe in Russland und will nicht flüchten, meine Heimat verlassen, nur weil ich etwas befürchte. Aus Sicht eines Bürgers des Landes habe ich nichts gesagt, was diesem Land Schande bringen würde. Ja, ich habe nichts Derartiges gesagt. Und alle meine Befürchtungen sind nichts im Vergleich zu der Zufriedenheit, die ich verspürt habe, als ich meinen Standpunkt geäußert habe. Wissen Sie, es gelingt einem nicht jeden Tag, von allen Ländern der UNO gehört zu werden.   

    Vielleicht war das nicht auf besonders hohem politischen Niveau, vielleicht kann man mich mit Greta Thunberg auf eine Stufe stellen, die ja auch vor der UNO gesprochen hat. 

    Man kann vielleicht auch sagen: „Der spinnt.“ Zu Sowjetzeiten hätten sie mich in die Klapse gesteckt. Ja, davor habe ich Angst, ich weiß, wie der Repressionsapparat funktioniert. Aber es nicht sagen, hätte ich nicht gekonnt.    

    Ich gebe Ihnen einen Rat: Machen Sie keine Symbolfigur aus mir. Hören Sie, ich bin nicht der einzige im Land. Manche sprechen es aus, viele schweigen. Wer spricht, wird nicht immer gehört – weil es kein Sprachrohr gibt. Das war einfach eine Situation, in der ich eine Plattform hatte und somit ein Sprachrohr. Aber im ganzen Land gibt es solche Äußerungen, die davon zeugen, dass nicht alle Russen mit dem, was passiert, einverstanden sind. Dass das nicht alle unterstützen. Das ist auch ganz logisch – es wäre seltsam, wenn es anders wäre, dann würde ich meinen Respekt vor Russland verlieren.   

    Es ist sehr einfach, aus mir Greta Thunberg zu machen. Sie wissen ja, wie geschickt der Staat manipuliert: „Der Mann ist nicht ganz bei Trost, bei allem Respekt für seine Verdienste, er ist ja auch nicht mehr der Jüngste, außerdem ist seine Mutter gerade gestorben.“ Dann sehe ich aus wie ein Psycho. Dabei ist alles ganz anders.

    Weitere Themen

    Anders sein – Dissens in der Sowjetunion

    Andrej Sacharow

    Debattenschau № 86: Neue Eskalationsstufe – und wie geht es jetzt weiter?

    Warum Putin diesen Krieg braucht

    Lukaschenkos Macht und Putins Krieg

    Krieg der Sprache

    Sowjetische Propagandastrategien im heutigen Kriegsrussland

    Exportgut Angst