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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“

    „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“

    „Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt die Redaktion des russischsprachigen Exilmediums Meduza über den Artikel, in dem sie Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt. 

    Darunter sind Aussagen von Personen aus Russland und seinen Nachbarstaaten, aber auch aus Deutschland und Österreich. In vielen finden sich Sorgen um die eigene Zukunft im Falle einer militärischen Niederlage Russlands. Einige spiegeln auch Phrasen und Narrative aus der russischen Propaganda wider. Auffällig ist, dass in nur einem der veröffentlichten Kommentare die ukrainische Bevölkerung vorkommt. 

    Ähnliche Erkenntnisse gewann auch das russische Forschungskollektiv Laboratorija publitschnoi soziologii (dt. Labor der öffentlichen Soziologie) in zwei Studien zur Haltung der russischen Gesellschaft gegenüber dem Krieg gegen die Ukraine. In ihrem Fazit Ende 2022 heißt es: „Ein erheblicher Teil der Unterstützung für den Krieg ist in der heutigen russischen Gesellschaft eine passive Unterstützung. Die Nicht-Gegner des Krieges würden es vorziehen, dass dieser nie begonnen hätte und wünschen sich, dass er bald endet. Und ein russischer Sieg ist für viele von ihnen sogar nur das geringere ,Übel‘.“

    „Es tut weh, solche Zuschriften zu lesen. Dennoch werten wir sie als wichtiges Zeitdokument“, schreibt Meduza über den Artikel, in dem es Rechtfertigungsversuche für Russlands Krieg gegen die Ukraine aus ihrer eigenen Leserschaft sammelt / Foto © Celestino Arcex/NurPhoto/imago images

    Andrej, 35, Wolgograd

    Der Krieg ist zu Ende, wenn eine der beiden Seiten gewonnen hat. Eine Niederlage würde für Russland eine nationale Demütigung bedeuten, das darf man nicht zulassen. Folglich müssen wir gewinnen – wir haben keine andere Wahl mehr.
    Die Ukraine will keinen Frieden. [Meduza: Ist das so? Das offizielle Kyjiw behauptet nur, es wolle alle von Russland annektierten Gebiete wieder zurückholen.] Die Ukrainer fordern immer mehr Waffen und beschießen russische Städte. Es ist schon viel zu viel Blut vergossen worden, um jetzt zu sagen: „Danke, das war’s. Lasst uns auseinandergehen.“

    Alexej, 24, Jakutsk

    Die Frage [von Meduza an die Leser nach Gründen, den Krieg zu unterstützen] ist nicht korrekt formuliert. Ich unterstütze den Krieg nicht, aber ich will auch nicht, dass Russland verliert. Dann wird es für alle noch schlimmer. Die Welt, wie wir sie kennen, wie wir sie gewohnt sind, wird mit Sicherheit zusammenbrechen, und es kommen noch dunklere Zeiten. Der Krieg ist ein Fehler, aber es darf keine Niederlage geben.

    Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg

    Pawel, 30, Deutschland

    Ich unterstütze den Krieg nicht, habe aber beschlossen, diesen Kommentar zu schreiben, weil die, die versuchen, Rechtfertigungen für diesen Krieg zu finden, oft mit Unterstützern gleichgesetzt werden.

    Ich bin wütend auf beide Seiten in diesem Konflikt. Auf Russland, weil es diesen dummen, blutrünstigen Krieg begonnen hat, der jeden Tag zu sinnlosem Töten führt. Auf die Länder, die die Ukraine unterstützen, bin ich wütend, weil sie nicht dazu aufrufen, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen, also das sinnlose Töten zu beenden. [Meduza: Ist das so? Nein. Die westlichen Partner haben mehrfach von den russischen Machthabern gefordert, den Krieg zu beenden.] Stattdessen versorgen sie [diese Staaten] das Land immer weiter mit Waffen, obwohl sie wissen, dass das nur noch mehr Opfer bringen wird.

    Anonymer Leser, 38, ohne Ortsangabe

    Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es war ein irrsinniger Fehler, ihn zu beginnen, aber jetzt muss man ihn gewinnen, sonst wartet auf uns das Leid der Besiegten. Putin unterstütze ich nicht, zum Teufel mit ihm.

    Oleg, 27, ohne Ortsangabe

    [Ich unterstütze den Krieg], weil ich denke, dass der „Friedensplan“, den Selensky vorgebracht hat und den der „kollektive Westen“ unterstützt, Russland mit hoher Wahrscheinlichkeit einen solchen Schaden zufügen würde, dass es daran zerbrechen könnte. Und mir ist bewusst, dass sich [in diesem Fall] mein Wohlstand, meine Sicherheit und meine Perspektiven stärker verschlechtern, als wenn die russische Armee den ukrainischen Streitkräften so sehr schadet, dass sie danach bei einem Friedensschluss mehr Kompromisse eingehen müssen.

    Mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt

    Anonymer Leser, 36, Tjumen

    Ich unterstütze den Krieg nicht im Sinne der Z-Patrioten. Am 24. Februar [2022] war ich geplättet. Als Bürger der Russischen Föderation halte ich den Einmarsch der Truppen in die Ukraine zwar für einen Fehler, aber ein Abzug wäre ein Verbrechen. Ich habe nicht vor, die nächsten 20 Jahre Reparationen für Fehler zu bezahlen, die andere begangen haben. Mit der Verliererseite wird niemand reden.

    Zur Waffe greifen werde ich nicht. Man kann sagen, ich bin ein Beobachter, der nicht für die Ukraine ist. Ich war vor dem Maidan dutzende Male dort, ich weiß Bescheid, wie sich die Stimmung und Gesetze [im Land] verändert haben. Wenn dort ein europäischer Staat entstehen sollte, dann einer, der mit Francos Spanien oder Portugal unter Salazar vergleichbar ist und sich keinen Deut von Putins Russland unterscheiden würde.

    Viktoria, 28, Sankt Petersburg

    Am Anfang habe ich [den Krieg gegen die Ukraine] abgelehnt, wie alle kriegerischen Aktivitäten. Aber mit der Zeit habe ich gesehen, wie viel Hass es gegenüber Russland und den Russen gibt, die Schadenfreude über den Beschuss der Krim-Brücke, die aktive Aufrüstung der Ukraine durch den Westen – da wurde mir klar, dass die Russophobie und andere Dinge, die ich früher für stumpfe Propaganda gehalten hatte, nicht immer gelogen sind. Krieg bedeutet immer Leid, aber manchmal sind die unpopulären Entscheidungen die richtigen.

    Nikolaj, 27, Österreich

    Ich finde den westlichen Standpunkt nicht ganz korrekt und stimme Putins Terminologie von der monopolaren Welt mit doppelten Standards zu. Meiner Meinung nach hat der Westen das Boot selbst ins Wanken gebracht und macht nun Russland dafür verantwortlich. Darüber hinaus führen die stetige finanzielle Unterstützung der Ukraine und die kontinuierlichen Waffenlieferungen dazu, dass das ukrainische Regime den Krieg weiterführt und sich nicht auf Verhandlungen einlässt.

    Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke

    Artjom, 40, Berlin

    Ich unterstütze nicht in erster Linie den Krieg, sondern das russische Volk und Russlands Interessen. Ich war zuerst entschieden dagegen, aber im Laufe der Entwicklungen habe ich meinen Standpunkt geändert.

    Ich lebe seit 20 Jahren in Deutschland und habe noch nie solche Propaganda gesehen. Die westlichen Politiker und Medien haben eine absolut einseitige Position eingenommen: Russland ist der Aggressor, die Ukraine ein Heldenstaat; Putin hat immer Unrecht, und Selensky redet man nach dem Mund. Alle, die eine andere Position vertreten, werden aus dem Informationsfeld gedrängt und „gecancelt“.

    Die westeuropäischen Staaten erweisen sich als vollkommen willenlos und handeln auf Befehl der USA. Die Ukraine wird direkt von den Amerikanern kontrolliert. Dieser Konflikt beweist endgültig, dass es in Westeuropa keine und auch in Osteuropa kaum noch unabhängige Staaten gibt.

    Sergej, 27, Perm

    Ich stehe hinter dem Vorgehen meines Präsidenten und meines Landes. Ja, anfangs habe ich den Sinn dieser ganzen „Operation“ nicht wirklich verstanden, aber mit der Zeit habe ich die russophoben Äußerungen vonseiten der Ukraine als auch der EU und der USA gesehen. Jeder, der kritisch denken kann und auch nur irgendwie bei Trost ist, weiß: Russland ist kein „Terrorstaat“, wir verteidigen nur unsere Interessen und unsere Souveränität. Daher unterstütze ich wie die meisten russischen Staatsbürger diese militärische Spezialoperation in vollem Umfang, und wenn es erforderlich ist zu kämpfen – werde ich kämpfen.   

    Anonymer Leser, 30, Astana

    Innerhalb eines Jahres sind [meine] Autoritäten und moralischen Vorbilder zu Verrätern geworden (die den Bürgern des eigenen Landes Böses wünschen, die zu Sanktionen aufrufen, anstatt zu versuchen, sie aufzuheben), zu Schandmäulern (die finden, wir sollten uns ergeben und die Schuld auf uns nehmen), zu Schwächlingen und Lügnern. 

    Ich finde auch jetzt noch, dass Russland diesen Krieg nicht hätte beginnen sollen, das war ein großer Fehler. Aber die Art von Ausgang, den jene [Politiker] vorschlagen, auf die ich [früher] gehofft habe, ist peinlich, schmerzhaft, erniedrigend und verlogen. Da warte ich lieber auf Putins Nachfolger: In Russland gibt es genug kluge Köpfe.

    Über drei Generationen büßen, die Atomwaffen abgeben und Reparationen zahlen – nein danke. Ich hoffe, dass der Krieg bald vorbei ist und möglichst wenige Menschen darin umkommen – vor allem keine Russen, aber auch keine Ukrainer. 

    Ruslan, 28, Kasan

    Ich bin nicht für den Krieg, aber verurteile Russland auch nicht dafür. Meines Erachtens hat Russland dadurch, dass es diesen Krieg angefangen hat, seine diplomatische Schwäche und Unfähigkeit zur Einigung mit seinen Nachbarländern gezeigt. Ich teile aber nicht die Sichtweise jener, die Russland schon mit dem faschistischen Deutschland vergleichen

    Erstens hatte die Ukraine die Wahl, sie hätte in den ersten Tagen des Krieges, als alles noch nicht so weit fortgeschritten war, mit uns verhandeln und unsere Forderungen erfüllen können. Sie hätte Territorium verloren, aber wäre als Staat bestehen geblieben. Ist etwa Territorium wichtiger als Menschenleben? Daher trägt auch die Ukraine eine Teilschuld am Tod jener Menschen, die getötet wurden. Ich bin mir sicher, dass die Menschen in jenen Gebieten, die an Russland fallen würden, keinesfalls schlechter leben würden. Vielleicht sogar in mancher Hinsicht besser. [dekoder: Die seltenen Berichte aus bereits von Russland besetzten Gebieten in der Ukraine zeichnen ein anderes Bild. Sie thematisieren häufig Verfolgung, Haft und Folter von Angehörigen ukrainischer Soldaten und zivilgesellschaftlichen Aktivisten.]

    Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen

    Murad, 28, Moskau

    Mag unsere Regierung auch korrupt und ineffektiv sein, so stellt die Ukraine doch eine Gefahr für unsere Grenzen im Süden dar. Ohne die Schwarzmeerflotte auf der Krim verlieren wir den Einfluss im Schwarzen Meer und im Kaukasus. In den Jahren 2014 bis 2022 haben alle ukrainischen Regierungen aktiv verkündet, dass sie die Krim und die Gebiete im Osten mit Gewalt oder auf diplomatischem Wege zurückholen werden. Das sind unmissverständliche Drohungen. 

    [Zum Vergleich:] Jedes beliebige Land in Europa oder den USA wendet selbstverständlich Gewalt an, wenn es seine Grenzen bedroht sieht. Ihre aktuelle Rhetorik zeigt, dass sie mit zweierlei Maß messen.    

    Dimitri, 24, Moskau

    Die Idee, diesen Krieg zu beginnen, unterstütze ich nicht, aber ich bin auch nicht dafür, ihn jetzt zu beenden. Ich habe den Eindruck, dass auf der ganzen Welt niemand versucht, den Russen eine vernünftige Alternative zu Putins Forderungen vorzuschlagen. Die Staatsmacht lässt alle in Ruhe, die studieren oder etwas machen, das zur Verteidigung beiträgt, daher lässt sich der Krieg unter dieser Regierung überleben.

    Aus dem Ausland hört man nur Gerede über die finstere Zukunft [Russlands] oder über unsere Entmenschlichung. Da bleibe ich lieber bei meinen Landsleuten, als auf das Wohlwollen irgendeines Podoljak [Mychajlo Podoljak, Berater des Leiters des ukrainischen Präsidialamts] oder eines amerikanischen Beamten zu hoffen, der am Krieg verdient.  

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    Verschleppung, Elektroschocks und versuchte „Umerziehung“

    „Domoi! Ab nach Hause!“, rufen die Menschen im Stadtzentrum von Cherson. Mit ukrainischen Flaggen laufen sie auf einen russischen Militär-LKW zu, der sich im Rückwärtsgang von der Menschenmenge entfernt. Die Bilder von den Protesten gegen die russische Besatzung der südukrainischen Stadt Cherson gingen im März 2022 um die Welt. Wenig später folgten erste Berichte über Verschleppungen: „Ich bin in Cherson auf einer friedlichen Protestaktion gewesen. Mein Vater wird seit Montag, den 21. März 2022, vermisst; er ist zu einer Kundgebung gegangen und nicht zurückgekehrt.“

    Russland hat zahlreiche ukrainische Zivilisten gefangen genommen und auf die Krim verschleppt. Auf Meduza berichten ehemalige Häftlinge, wie sie dort im Gefängnis misshandelt wurden.

    Achtung: Der Text enthält drastische Darstellungen von Folter und Gewalt.

    Am Morgen des 9. Mai 2022 hörte Alexander Tarassow, Gefangener des Untersuchungsgefängnisses SISO Nr. 1 in Simferopol, hinter der Tür seiner Zelle die Speznas-Leute des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN brüllen: „Antreten! Kopf runter, rauskommen! Zackig, hab ich gesagt!“

    Die fünf Zelleninsassen senkten mit einstudierter Bewegung die Köpfe und verschränkten die Hände auf dem Rücken. Von da an sah Tarassow nur den Boden, die eigenen Füße und die Stiefel der Speznasowzy. Tief heruntergebeugt in der Stellung „Delfin“ kam er aus der Zelle und stellte sich mit dem Gesicht an die Wand. „Breiter! Die Beine breiter auseinander, hab ich gesagt!“ Einer der FSIN-Männer schlug Alexander so lange auf die Waden, bis der Häftling praktisch im Spagat stand.

    Mit der Stirn an die Wand gepresst dachte Tarassow nur an seine zu reißen drohenden Sehnen und hörte, was die Einsatzleute jetzt von ihm wollten: „Welcher Feiertag ist heute? Hm? War dein Opa im Krieg? Antworte!“

    Egal, wie die Antwort lautete – jeder Häftling bekam einen Schlag mit dem Elektroschocker: „Eure Großväter würden sich im Grabe umdrehen, ihr Faschisten!“

    Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, ‚Den Pobedy‘ zu singen

    Wenige Stunden später kam die Speznas zur nächsten Kontrolle. Diesmal gingen die mit Elektroschockern bewaffneten Einsatzleute gleich in die Zelle. In der Tür stand der Hundeführer. Sein Hund zerrte an der Leine, wollte sich auf die Häftlinge stürzen und bellte heiser, erinnert sich Tarassow.

    Einen von Tarassows Zellengenossen, Sergej Derewenski, nannten die Speznasowzy „Kämpfer des Rechten Sektors“. „Sie traktierten ihn mit dem Elektroschocker und befahlen ihm, [das Sowjetlied] Den Pobedy (dt. Tag des Sieges) zu singen“, erzählt Tarassow. „Sie verpassten ihm einen Tritt direkt in die Magengrube: ‚Los, sing!‘“

    Tarassow sah nicht hoch. „Das bringen sie dir schnell bei“, erläutert er dem Korrespondenten von Meduza die Ordnung im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1. „Die kleinste Augenbewegung, und du hast den Elektroschocker am Schädelknochen. Also schaute ich auf meine Füße. Und hörte zu.“

    „Dieser Tag des Sieges riecht nach Schießpulver …“, begann Derewenski mit fremder, ganz anderer Stimme – zitternd, gebrochen – zu singen. Den Einsatzkräften gefiel ganz offenbar, was sie hörten, denn sie sagten immer wieder: „Weiter!“ und machten weiter mit dem Elektroschocker, wenn Sergej sich verhaspelte.

    Der Stromschlag geht durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann

    „Der Stromschlag geht gefühlt durch jede einzelne Muskelfaser und explodiert dann“, beschreibt Tarassow das Gefühl der Elektroschockbehandlung. „Danach krampfen sich die Muskeln weiter zusammen … Und in diesem Zustand sang er: ‚Mit Tränen in den Augen …‘“

    Bei diesen Klängen kamen weitere Gefängniswärter dazu. Der Hundeführer sah dem Auftritt weiterhin von der Tür aus zu; sein Diensthund war jetzt ruhig. „Ich betete, dass das an mir bitte vorübergeht“, erinnert sich Tarassow. „Wir waren zu fünft in der Dreierzelle, und wir hatten alle Angst, dass wir auch singen müssen.“

    Als die Speznasowzy weg waren und die Häftlinge wieder aufschauen konnten, sah Tarassow, dass Derewenski ganz blass war. „Wir alle hatten schweigend mit ihm gelitten. Hatten ihn aber nicht beschützen können. Wir waren beschämt, dass wir nichts dagegen ausrichten konnten“, sagt Tarassow. „Du wirst gequält, musst aber deine Schutzreflexe unterdrücken. Weil jeder Widerstand es nur schlimmer macht.“

    Vor seiner Verhaftung organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson

    Vor seiner Verhaftung im März 2022 organisierte Tarassow Demonstrationen gegen die russische Okkupation in Cherson. Seine Zellengenossen waren ukrainische Aktivisten und Freiwillige, die der ukrainischen Armee geholfen hatten und in den Gebieten festgenommen wurden, die Russland zu Beginn des Krieges erobert hatte. Den Aufsehern zu widersprechen wagte niemand mehr: Jeder in dieser Zelle hatte bis Mai 2022 bereits Folter erfahren. Nikita Tschebotar aus Hola Prystan hatten sie aus dem Luftgewehr in die Beine geschossen – und ihn dann gezwungen, sich eigenhändig die Bleikugeln aus dem Fleisch zu pulen. Alexander Geraschtschenko aus Cherson wurde mit Stromschlägen gefoltert. Sergej Zigipa aus Nowa Kachowka wurde aus dem Gefängnis ins FSB-Gebäude nach Simferopol gebracht und stranguliert.

    Tarassow selbst war nach seiner Verhaftung im Keller der Stadtverwaltung von Cherson gefoltert worden (in der sich zu dem Zeitpunkt bereits die russischen Truppen eingerichtet hatten). Man klebte ihm Elektroden an die Ohrläppchen, ließ den Strom laufen und verlangte von ihm, die Namen der anderen Organisatoren der Proteste zu nennen. Tarassow zufolge nannten die FSB-Leute diese Methode „Anruf an Selensky“.

    „Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe und sagte: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe“, berichtet Tarassow. „Ich wusste echt nicht, ob er abdrückt oder nicht.“

    Dann hielt mir der FSBler eine Pistole an die Schläfe: ‚Ich glaub, du erzählst Mist.‘ Und entsicherte die Waffe

    Tarassow gibt zu, dass er bei den „Kontrollen“ im Simferopoler Untersuchungsgefängnis am liebsten aufbegehrt und zugeschlagen hätte. „Ich weiß noch, wie wir da sitzen, und einer [ein Mithäftling] nimmt einen Löffel und fängt an, ein Loch in die Wand zu kratzen. Sagt: ‚Guck mal, wir könnten echt einen Tunnel buddeln!‘ Ich sag zu ihm: ‚Und dann?‘ Da waren immer mindestens drei von der Speznas und der Typ mit seinem Hund plus zwei Wachen. Der ganze Block war vergittert. Und wir kannten nicht mal den Weg da raus.“

    Im Simferopoler Untersuchungsgefängnis Nr. 1 kann man sich leicht verirren: Es befindet sich in einer richtigen Gefängnisfestung aus dem 19. Jahrhundert. Tarassow erinnert sich: „Es ist wie ein mittelalterliches Verlies: Du wirst durch endlose verschlungene Gänge geführt, eine Gittertür nach der anderen wird aufgeschlossen … Und dazu hast du einen Sack über dem Kopf.“

    Die in der Ukraine festgenommenen zivilen Geiseln – so nennen Menschenrechtler die ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen ohne Anklage oder Kriegsgefangenenstatus in Untersuchungshaft gehalten werden – waren in einem Sonderblock untergebracht und komplett von allen anderen Häftlingen isoliert.

    „Im SISO gingen Gerüchte um, wir wären irgendwie besonders gefährlich“, erinnert sich Tarassow. „In Wahrheit wurde das gemacht, damit keinerlei Informationen über uns nach außen drangen. Einmal gingen wir an Insassen vorbei, die Küchendienst hatten, da rief der Gefängniswärter: ‚Wegdrehen, Gesicht an die Wand!‘“

    Die Zahl der ukrainischen Staatsbürger, die von den Russen festgehalten werden, ohne offiziell als Kriegsgefangene oder als Angeklagte zu gelten, ist unbekannt.


    „Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?“

    Die Gefangenen im Simferopoler SISO erinnern sich gut an das Surren des Elektroschockers – und wie es nach dessen Einsatz roch.

    „Wenn denen irgendwas nicht passt – Stromschlag. Sie haben aus uns verängstigte Tiere gemacht“, sagt Alexander Tarassow. „Sie haben uns dazu gebracht, dass wir bei den routinemäßigen Kontrollen horchten, ob wir hinter der Wand den Elektroschocker hörten. Allein von dem Geräusch bekam ich Muskelkrämpfe.“

    Die Speznas-Leute wussten genau, welche Wirkung das Summen des Elektroschockers auf die Häftlinge hatte – und spazierten ausgiebig ohne echten Grund mit den eingeschalteten Geräten durch die Korridore. „Sie machten sich einen Spaß draus und ließen die Dinger im Takt surren: pam-pam-pa-pa-pam“, erinnert sich Tarassow. „Sie wussten, dass uns dieses Geräusch in die Eingeweide fährt. Dass wir Bauchkrämpfe davon bekommen und es uns gegen die Schläfen haut.“

    Sie zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation‘

    „Sie haben uns einfach dafür gehasst, dass wir ihre Truppen [zu Beginn der Invasion] nicht mit Brot und Salz empfangen haben“, sagt Tarassow. „Sie schlagen dir gegen die Waden, zwingen dich in den Spagat und sagen dabei: ‚Russland ist die Fackel der Zivilisation und die Rettung der Menschheit. Was macht ihr hier den Dicken?‘“

    Nach Aussage von Meduzas Gesprächspartnern war der ukrainische Widerstand gegen den russischen Einmarsch ein echter Schock für das Personal des Simferopoler SISO Nr. 1. Und so versuchten sie, die Häftlinge „umzuerziehen“. Behaupteten ihnen gegenüber, dass die russischen Truppen bereits Odessa und Poltawa eingenommen hätten.

    Die Häftlinge hatten keine Verbindung zur Außenwelt. „Uns erreichten nur spärliche Informationen; manchmal konnten wir das Radio hören, das für die anderen Gefangenen angemacht wurde“, erzählt Tarassow. „Und im Mai [2022] mussten wir uns alle die Sendung Wojennaja taina [Kriegsgeheimnis] angucken, in der Russland versprach, bald das Regierungsviertel [in Kyjiw] einzunehmen. Da konnten wir dann selbst unsere Schlüsse ziehen: Wenn Selensky eine Videobotschaft auf dem Chreschtschatyk aufnimmt, was bedeutet das? Alles in Sicherheit.“


    „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen“

    Im Oktober 2022 wurde der gesamte „ukrainische“ Spezialblock des Untersuchungsgefängnisses Nr. 1, darunter auch Alexander Tarassow, in das neu eröffnete Untersuchungsgefängnis Nr. 2 verlegt, das sich ebenfalls dort befindet. Der neue Gefängnisbau, der ausschließlich für verschleppte Ukrainer bestimmt war, wurde derart eilig in Betrieb genommen, dass nicht einmal die Bauarbeiten abgeschlossen waren, erfährt Meduza von drei ehemaligen Insassen. Dass die Inhaftierten dorthin verlegt wurden, konnte man auch aus den ukrainischen Medien erfahren.

    Die Scheiben der neuen Plastikfenster wurden vor dem Eintreffen der Ukrainer komplett zugetüncht. „Damit wir weder den Hof sehen noch die Tageszeit erkennen“, sagt Tarassow. „Wir mussten uns daran gewöhnen, nicht zu wissen, ob es Vor- oder Nachmittag ist.“

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht

    In den Zellen des SISO Nr. 2 brennt rund um die Uhr Licht. Aus den Lautsprechern ertönen regelmäßig die Gefängnisordnung und die russische Hymne – so laut, dass der drei Kilometer entfernt wohnende russische Anwalt Emil Kurbedinow, der den ukrainischen Geiseln zu helfen versucht, sie häufig von seinem Fenster aus hört. Von sechs Uhr morgens bis zur Nachtruhe ist es den Häftlingen verboten, auf ihren Pritschen zu sitzen oder zu liegen.

    „Damit ist es ihnen auch verboten, das Namaz [das muslimische Gebet] durchzuführen“, sagt uns Amide, die Frau des Krimtataren Ekrem Krosch, der vor kurzem in das SISO Nr. 2 überführt wurde. „Er darf nicht beten, weil er stehen muss.“

    Die Häftlinge würden maximal isoliert gehalten, damit sie weder einander noch die Gefängniswärter wiedererkennen, erklärt Tarassow. „Eine kurze Zeitlang konnten wir über die Lüftungsschächte kommunizieren“, erinnert sich ein anderer ehemaliger Häftling. „Wir hatten sogar eine Art Chat – einen Buschfunk zwischen den Zellen. Doch einer [der Häftlinge] namens Sascha, der im ‚Chat‘ die ukrainische Hymne gesungen hat, kam in den Karzer. Und Nikita, der im ‚Chat‘ zu Silvester Olivier-Salat forderte, hätten sie fast die Beine gebrochen.“

    Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich

    „[Die FSB-Leute] beginnen [die Verhöre] direkt mit Drohungen sexueller Art. Oder sagen: ‚Wir schicken dich nach Luhansk, da gibt es noch die Todesstrafe, da erschießen sie dich‘“, erinnert sich ein weiterer Ex-Häftling, Maxim. Er sah gleich, dass die Einsatzkräfte nicht älter waren als er, und nahm ihre Drohungen nicht ernst. „Die waren um die 25, wie ich“, sagt Maxim. „Die guckten in mein Handy und lachten mich aus, weil ich Kryptowährung zu teuer gekauft hatte. Das Fenster zum Innenhof war geöffnet, und mitten im Verhör sagten sie: ‚Wenn du aus dem Fenster schreist: ‚Schnauze, ihr Schwuchteln!‘, dann lassen wir dich frei!‘“

    Maxim wurde nicht nur vom FSB verhört, sondern auch von einem Mitarbeiter des Ermittlungskomitees. „Er erzählte, er sei [angeblich] in der Ukraine geboren, in Irpin, aber er liebe Russland“, erinnert sich der Ex-Häftling an das Gespräch. „Er sagte, seine Schwester sei [seit dem Maidan] ein Topfkopf und deswegen für die Ukraine.“

    Dann kamen Silowiki aus Moskau ins SISO und brachten einen ganzen Stapel Protokolle mit, erzählt Maxim. Sie fragten, was er über die „Verbrechen der ukrainischen Armee in Mariupol“ wisse. Ähnliche Fragen stellten sie auch Tarassow. „Sie wollten von uns Aussagen erpressen für ein Strafverfahren, dass die Ukraine gegen die Regeln der Kriegsführung verstoßen habe“, ist sich Tarassow sicher. „Sie fragten uns aus, ob wir irgendwas über den Beschuss von Wohnhäusern und dem Theater in Mariupol wissen.“

    Das erste Strafverfahren wegen „Anwendung verbotener Mittel und Methoden der Kriegsführung“ hatte das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation schon im Mai 2014 gegen die Ukraine eröffnet – während des Kriegs im Donbass und kurz nach der Annexion der Krim. Im Frühjahr 2022 erfuhr dann die ganze Welt von der Ermordung von Zivilisten in Butscha durch die Russen. Zu dieser Zeit sprach Meduza mit einer dem Ermittlungskomitee nahestehenden Quelle: Nach den „Berichten der Chochly über Kriegsverbrechen in den Vororten [von Kyjiw]“ hätten die russischen Ermittler und Fahnder in den okkupierten Gebieten „sofort losgedonnert und die Aufklärung von Kriegsverbrechen des ‚Rechten Sektors‘ der ganzen letzten acht Jahre verlangt“. 

    „Das Ermittlungskomitee ist extrem daran interessiert, sein politisches Gewicht beizubehalten – genau deswegen seien in den okkupierten Gebieten temporäre Zweigstellen eingerichtet worden“, erfährt Meduza von einem russischen Juristen, der mit den zivilen Geiseln aus der Ukraine arbeitet. „Militärermittler aus dem ganzen Land wurden dahin abkommandiert und haben intensiv gearbeitet: an Hunderten von Fällen, Tausenden Geschichten, Bastrykin redet ständig öffentlich davon.“


    „Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch“

    Ende März 2022 wurden Alexander Tarassow und Sergej Zigipa mitten in der Nacht von Aufsehern geweckt. Mitarbeiter des Föderalen Strafvollzugsdienstes FSIN kamen in die Zelle und stellten ihnen eine seltsame Frage: Ob einer von ihnen Spanisch könne? „Serjoga kann Portugiesisch“, erzählt Alexander. „Sie baten ihn, mitzukommen und einen Spanier zu beruhigen, der gerade aus Cherson gebracht worden war.“

    Die neue zivile Geisel war Mario García Calatayud, ein Rentner aus Spanien, der seit 2014 in der Ukraine lebt. „Sergej sagte ihm damals natürlich, dass alles in Ordnung käme“, erinnert sich Tarassow. „Aber Mario hatte einen Schock: Er begriff nicht, wo er da gelandet war und wer all diese Leute in Uniform waren, die ihn anschrien. Er sah aus wie ein gehetztes Tier.“

    Der Spanier wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand

    Mario Calatayud, der trotz mehrerer Jahre in der Ukraine weder Ukrainisch noch Russisch sprach, wurde ständig mit dem Elektroschocker traktiert – weil er die Kommandos der Aufseher nicht verstand. „Er musste alle diese Posen lernen: Antreten, zum Ausgang, Kopf runter. Ich hab aus der Zelle gehört, wie sich der Aufseher und der Speznas-Mann amüsierten: ‚Ein paar Stromschläge – und der Spanier kann Russisch‘“, erinnert sich Tarassow.

    Seinen 75. Geburtstag erlebte Mario Calatayud im SISO Nr. 2 – und nicht in bester Verfassung. Anatoli Fursow, der Rechtsvertreter des Spaniers, erklärte Meduza, dass Calatayud Probleme mit dem Herzen habe, ihm aber in der Haft die Medikamente weggenommen worden seien. „Er rief immer auf Spanisch nach einem Arzt“, erinnert sich Tarassow, der in der Nebenzelle saß. „Aber der Arzt kam manchmal erst nach einer Woche. Dann roch es im ganzen Flur nach Corvalol.“

    Irgendwann lernte Calatayud doch noch ein paar Wörter Russisch: „choroscho“ (dt. gut), „spassibo“ (dt. danke), „normalno“ (dt. etwa okay, gut). Für die seltenen Gelegenheiten zum Duschen bedankte er sich bei den Aufsehern aber immer noch auf Spanisch: „Perfecto, señor comandante!“

    Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt

    Nicht einmal für die Verhöre fanden sie für Calatayud einen Dolmetscher – und zwar weder im SISO noch in der lokalen Verwaltung des FSB, wohin die Geiseln gelegentlich gebracht wurden. „Als wir [in das Gebäude] hineingeführt wurden, sagte einer vom FSB schon in der Tür, dass Mario ein Faschist sei“, erinnert sich Maxim, der zusammen mit dem Spanier zum Ermittler gefahren wurde. „Und Mario dann: No soy fascista! No faschism Mario! Das hat er immer wiederholt.“

    In der Zelle war Calatayud der Sauberkeitsfanatiker: Er wischte die Regale und die Fenstersprossen, bevor sich da überhaupt Staub angesammelt haben konnte. Sein Zellengenosse Jewgeni Jamkowoi glaubt, dass Calatayud den Aufsehern „seine Fügsamkeit demonstrieren“ wollte: „Im SISO schlugen sie richtig zu. Ich hab seine Narben vom Dynamo [das heißt die Spuren von der Folter mit Strom] gesehen. Und einmal hat sich ein Diensthund in seinem Bein verbissen: Das Blut spritzte, und er konnte sich nicht mehr zurückhalten und schlug dem Hund mit der Faust auf den Kopf. Das zahlte ihm der Hundeführer sofort heim.“

    Bevor Calatayud in Simferopol inhaftiert wurde, hatte er sich den russischen Silowiki gegenüber ziemlich kühn verhalten. „Sogar in der Zelle [in Cherson], als er gerade erst von einer Demo weg verhaftet worden war, brachte er es fertig, ‚Slawa Ukrajini!‘ zu rufen – und seine Morgengymnastik zu machen“, erzählt seine Frau, die 39-jährige Chersonerin Tatjana Marina. „Die hiesigen Aufseher schlackerten nur so mit den Ohren, wenn Mario sie unverblümt ‚puta madre‘ nannte – was soviel heißt wie Hurensöhne.“

    Marina erklärt, dass Calatayud 2014 in die Ukraine gezogen sei, um humanitäre Hilfsgüter in Kinderheime zu liefern, die sich im Osten des Landes nahe der Front befanden. „Er nannte Putin ‚señor de la guerra‘; die Ungerechtigkeit machte ihn ganz kirre. Er hatte in der Stadtverwaltung von Valencia gearbeitet, war aber schon in Rente – und kam, um zu tun, was in seiner Macht stand“, erzählt Tatjana Marina. 

    Die Hilfsgütertransporte unter Beschuss bis direkt an die Front haben Mario waghalsiger gemacht, meint seine Frau: „Er hat immer gesagt: ‚sangre española brava‘ [spanisches Blut ist tapfer]! In den ersten Tagen der Okkupation von Cherson benahm er sich wie ein Irrer. Jedes Mal, wenn er die Kette russischer Soldaten rund um unser Verwaltungsgebäude sah, formte er mit den Fingern Pistolen – wie ein Kind – und drohte ihnen [auf Spanisch]: ‚Ich knall dich ab, Besatzer!‘ Ich bekam schweißnasse Hände vor Angst.“

    Tatjana fragt sich, wie Mario im SISO überlebt: „Er ist doch so freiheitsliebend. Wie kann man einen, der so gern frei atmet, einfangen und in einen Käfig sperren?“


    „Kriegsgefangene kann Russland sie nicht nennen“

    Die meisten Gefangenen im SISO in Simferopol haben keinerlei gesetzlichen Status (etwa als Verdächtigte); ihre Inhaftierung entbehrt somit jeglicher Rechtsgrundlage. Gegen manche Zivilgeiseln wird dann doch ein Strafverfahren eingeleitet, unter anderem wegen „internationalen Terrorismus“ oder „versuchter Terroranschläge“. Konkret wurde mindestens sieben aus der Oblast Cherson entführten Personen eine Mitgliedschaft im [krimtatarischen, in Russland als „terroristisch“ eingestuften – dek] Noman-Çelebicihan-Bataillon zur Last gelegt.

    In den Antworten auf Anwaltsanfragen zu den Haftgründen der Ukrainer erscheint auch so etwas wie „Überprüfung durch den FSB“. „Sie [die Gefangenen] müssen sich einfach einer so genannten ‚Überprüfung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘, unterziehen. In jeder Antwort einer lokalen FSB-Zweigstelle wird diese ‚Überprüfung‘ erwähnt“, gibt ein von Meduza befragter Anwalt an.  

    Die Geiseln sind „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“

    Russland unterscheidet bei den Gefangenen nicht zwischen Zivilisten und Militär: Für die russischen Behörden gelten sie offiziell alle als „Gefangene aufgrund von Widerstand gegen die militärische Spezialoperation“. „Unter diesem Begriff werden alle zusammengefasst“, sagt Anwalt Dimitri Sachwatow Meduza gegenüber. „Kriegsgefangene kann die Russische Föderation sie nicht nennen, weil das ja bedeuten würde, dass das ein Krieg ist.“

    Im Russischen Strafgesetzbuch gibt es allerdings keinen Paragrafen, der die Formulierung „Widerstand gegen eine Spezialoperation“ enthält. Anwälte werden zu den Geiseln schlichtweg nicht durchgelassen: Die meisten Informationen darüber, wer in diesen Haftanstalten sitzt und was dort geschieht, bekommen die Juristen von Ukrainern, denen es gelungen ist, aus diesen russischen Gefängnissen herauszukommen. Zu zivilen Geiseln aus der Ukraine erhalten auch ihre Angehörigen keinen Zugang, während Krimbewohner mit russischen Pässen, zum Beispiel Krimtataren, immerhin Besuch empfangen können. 

    Alexander Tarassow wurde am 14. Februar 2023 aus dem SISO Nr. 2 entlassen und lebt jetzt in Deutschland. Noch immer hat der Chersoner aber weder durchschaut, warum er entlassen wurde, noch mit welcher Begründung er fast ein Jahr lang ohne Anklage eingesperrt war. Bei seinen Verhören fragte er die Ermittler manchmal, warum er ohne Gerichtsbeschluss in Haft sei. „Irgendwann haben sie einen ‚Erlass des russischen Präsidenten über die Isolierung von Personen, die Widerstand gegen die militärische Spezialoperation ausüben‘ erwähnt. Und hinzugefügt: ‚Na, es ist Krieg, du weißt ja.‘ Als ich rauskam, habe ich nichts darüber im Netz gefunden.“

    Bisher gebe es keine verlässlichen Hinweise auf die Existenz einer „Geheimverfügung“, meint Roman Kisseljow, ein russischer Menschenrechtsverteidiger, der Ukrainern dabei hilft, ihre Angehörigen in der Russischen Föderation zu finden. (Auch Meduza konnte keine solchen Hinweise finden). „Doch ich nehme an, dass solche Dokumente mit der Zeit auftauchen werden“, überlegt Kisseljow. „Ursprünglich hat einfach niemand [in der Regierung] damit gerechnet, dass der Krieg so lange dauern und ein solches Problem [mit zivilen Geiseln] überhaupt entstehen wird. Aber als sie dann doch so viele Gefangene beisammen hatten, kratzten sie sich die Köpfe und überlegten, wie sie es anstellen können, den Menschen ohne Gerichtsverfahren die Freiheit zu entziehen.“ 


    „Ukrainer gibt es hier massenhaft. Einfach massenhaft“

    Ukrainische Geiseln werden nicht nur auf der Krim, sondern auch in anderen Regionen der Russischen Föderation festgehalten, wie Meduza von russischen Anwälten und Menschenrechtlern weiß. Während auf der Krim der FSB mit ihnen „befasst ist“, ist es in anderen Gegenden die dem Verteidigungsministerium unterstellte Militärpolizei GUWP. 

    Dass sich das russische Verteidigungsministerium und der FSB die Zuständigkeit für ukrainische Geiseln teilen, ist kein Widerspruch, wie Andrej Soldatow, Experte für die russischen Geheimdienste, Meduza erklärt. Ihm zufolge wird die Militärpolizei von der Spionageabwehr DWKR überwacht, die wiederum eine Unterabteilung des FSB sei. Dass für die ukrainischen Geiseln die Spionageabwehr zuständig ist, bestätigte Meduza gegenüber auch ein Gesprächspartner aus dem FSB. Ein Büro für Spionageabwehr gibt es in jeder Armeeeinheit, erklärt Soldatow, und wenn eine Truppe an die Front geschickt wird, dann müssen auch die Mitarbeiter des Nachrichtendienstes mit in die Kampfzone, wo sie „in temporäre Einsatzgruppen aufgeteilt“ werden.  

    Irina Badanowa schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000

    So funktionierte die Spionageabwehr in der Ukraine zu Beginn des Krieges, sagt Soldatow. „Die ‚Filtration‘ [der Ukrainer], die Bearbeitung der Einwohner, all das ist alles ihre Aufgabe“, meint der Experte. „Um die Sicherheit der russischen Truppen zu gewährleisten, müssen die Informanten der ukrainischen Streitkräfte ausfindig gemacht und drangsaliert werden. Und natürlich müssen sie ihre Agentennetze ausbauen. Das mit Filtrationslagern zu machen ist einfach und effektiv – eine in Tschetschenien erprobte Methode. Man saugt wie mit dem Staubsauger tausende junge Ukrainer ein, wirbt ein paar von ihnen an, und dann lässt man alle wieder laufen.“

    Die Arbeit mit Ukrainern, die in den besetzten Gebieten entführt und in russische Gefängnisse gesteckt wurden, ist die „natürliche Fortsetzung“ der militärischen Spionageabwehrmission, die sie an der Front verfolgen, meint Soldatow.

    Wie viele ukrainische Staatsbürger aktuell in diesen russischen Gefängnissen sitzen, ist unbekannt. Irina Badanowa von der Abteilung für die Suche und Befreiung von Kriegsgefangenen beim Generalstab der ukrainischen Streitkräfte schätzt die Zahl der zivilen Geiseln auf über 3000. Dutzende von ihnen sind, wie sie betont, unter den Haftbedingungen umgekommen.

    „Ukrainer gibt es hier massenhaft“, pflichtet Badanowa ein russischer Anwalt bei. „Einfach massenhaft.“

    Vom russischen Verteidigungsministerium, dem FSB, der FSIN, der Presseabteilung des Kreml und der prorussischen Verwaltung der Krim kamen keine Antworten auf die Fragen von Meduza. 

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    Die Repressionsmaschinerien des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko und die seines russischen Kollegen Wladimir Putin werden schon lange miteinander verglichen. In Belarus rollt seit der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 eine ungeheure Repressionswelle gegen jeglichen vermuteten Widerstand, die russische Führung hat auf ihrer Seite die Maßnahmen gegen Medien, Zivilgesellschaft und Andersdenkende vor allem seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine verschärft. Für Meduza erklärt der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman detailreich die Eigenheiten und Formen der Repressionen in Belarus – die möglicherweise als Blaupause für die Ausweitung der Unterdrückung in Russland dienen könnten.

    Die Nachricht, dass der Politiker Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Straflager verurteilt wurde und Alexej Nawalny vermutlich ein vergleichbares Verdikt erwartet, ruft bei vielen Russen Angst und Befremden hervor. Für die Belarussen bestätigt sich wieder einmal der schon zum Klassiker gewordene, traurige Witz über die beiden Regime und die Fernsehserie. 

    In einem Interview mit Juri Dud erklärte der belarussische Comedian Slawa Komissarenko den Unterschied zwischen dem belarussischen und dem russischen Regime so: 

    Wir schauen beide dieselbe Serie, aber ihr seid bei der dritten Staffel und wir schon bei der fünften. Und manchmal schauen wir zu euch rüber und sagen: „Oh, bei euch wird es bald auch ziemlich interessant!“

    Das ist nicht nur ein Witz. Betrachtet man das Ausmaß und die Brutalität der Repressionen, hat Belarus tatsächlich fast auf allen Etappen von Lukaschenkos Regierungszeit Wladimir Putins Regime übertroffen. Eine Ausnahme stellte lediglich der kurze Zeitraum von 2015 bis 2019 dar, als Minsk versuchte, sich korrekter zu benehmen, um das Verhältnis zum Westen aufzubessern. Doch danach wurde die „Balance“ wiederhergestellt. Die gescheiterte Revolution 2020 rief Repressionen einer Intensität hervor, die in der poststalinistischen Geschichte sowohl in Russland wie auch in Belarus ihresgleichen sucht. 

    Obwohl, eine Ausnahme gibt es noch, nämlich geplante Morde an Journalisten und Politikern. Für Belarus war und bleibt das eine eher untypische Maßnahme, die Minsk nur ein einziges Mal ergriff – in den Jahren 1999-2000, als das Regime zwei belarussische Politiker, Viktor Gontschar und Juri Sacharenko, sowie den Journalisten Dimitri Sawadski und den Geschäftsmann Anatoli Krassowski verschwinden ließ und vermutlich auch ermordete. Damals zeigten selbst die offiziellen Ermittlungen, dass die Lukaschenko nahestehenden Silowiki Viktor Scheiman und Dimitri Pawlitschenko in die Sache verwickelt waren. In Putins Russland dagegen standen Morde an Politikern, Journalisten und Überläufern durch den Geheimdienst – oder gescheiterte Versuche, sie zu verüben – immer schon auf der Tagesordnung.

    Bei allen anderen repressiven Praktiken sind die belarussischen Silowiki grausamer und weniger selektiv – und haben damit vor den russischen Kollegen gewissermaßen einen Vorsprung. Man kann nicht behaupten, dass sie ihre Erfahrungen austauschen. Um neue Formen der Gewaltanwendung und der Menschenrechtseinschränkung zu finden, müssen sich die russischen Silowiki ihre nächsten Schritte nicht unbedingt von den Belarussen abschauen, es gibt da keine Patente und kein Knowhow. Jedes Regime verfolgt da seinen eigenen Plan. Doch da die belarussischen Silowiki diesen Weg schon früher eingeschlagen haben, ist die Beobachtung ihrer Methoden sinnvoll für Russen, die verstehen möchten, wie ihr eigenes Regime möglicherweise weiter degradieren wird. 

    Folter – für die Silowiki Routine

    Zunächst kam es in Belarus zu einer Normalisierung von physischer Gewalt bei Festnahmen, in den Polizeidezernaten und Untersuchungshaftanstalten. Folter und Prügel sind auch für russische Silowiki nichts Neues, doch in Belarus ist Gewaltanwendung bei Festnahmen aus politischen Gründen seit 2020 Routine. Es passiert nicht mit jedem, aber mit zu vielen, um es bloß als Exzesse einzelner Beamter abzutun. 

    Während der Proteste 2020 war das Verprügeln der Festgenommenen eine zusätzliche präventive Maßnahme. Die 15 Tage Haft sollten nicht wie eine zu schwache Bestrafung wirken, die den Protestierenden keine Lektion erteilt. Heute wird häufig geschlagen und gefoltert, wenn sich jemand weigert, sein Mobiltelefon zu entsperren. Ein weiterer Grund kann schlichte Bosheit oder Rache der Silowiki für angebliche Beleidigungen sein, zum Beispiel, wenn sie jemanden verdächtigen, persönliche Daten von Mitarbeitern des Innenministeriums geleakt zu haben. 

    Neben der Gewalt ist auch die demonstrative Erniedrigung der Verhafteten auf Video zur gängigen Praxis geworden. Im Juni 2022 wurde ein Häftling vor laufender Kamera gezwungen, mit Nadeln und Tinte eine Tätowierung mit einem Hakenkreuz zu entfernen. Anderen Aktivisten malte man zur Aufnahme von „Reue-Videos“ etwas ins Gesicht oder klebte ihnen Protestutensilien an.

    Die Gefangenen werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr

    Zur physischen Gewalt kann man auch die Haftbedingungen der politischen Gefangenen rechnen, die Arreststrafen verbüßen. Die Menschen verbringen die langen Wochen ihres Freiheitsentzugs – teilweise mehrere 15-tägige Fristen nacheinander – in überfüllten Zellen, ohne Bettzeug und Matratzen, ohne Dusche, Ausgang und Pakete von Angehörigen (manchmal werden Medikamente durchgelassen), ohne Recht auf Korrespondenz und Treffen mit einem Anwalt. Sie werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr. Viele beklagen die Folter durch Kälte, wenn sie ohne warme Kleidung in unbeheizte Zellen gesperrt werden. Auch die Strafgefangenen unterliegen vielen Einschränkungen, doch das Haftregime der „Arresthäftlinge“ ist bislang deutlich strenger. 

    Alle sind jetzt „Extremisten“

    Anfang Mai 2023 zählen belarussische Menschenrechtler fast 1500 politische Gefangene im Land (bei einer Bevölkerung von etwas mehr als neun Millionen). Dabei räumen selbst die Menschenrechtler ein, dass diese Zahl zu niedrig angesetzt ist, da viele Angehörige  die Festnahmen lieber nicht öffentlich machen, um die Haftbedingungen nicht zu verschlimmern. 

    Die Mehrheit der politischen Gefangenen wurde aufgrund zweier Tatbestände verurteilt – wegen Teilnahme an den Protesten 2020 und nach den sogenannten Diffamierungsparagrafen, also dem Vorwurf der „unangemessenen Meinungsäußerung“. Das sind die Paragrafen zur „Beleidigung des Präsidenten“ und einzelner Amtsträger sowie zum „Schüren von Hass“ gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen (gemeint sind wohl die Silowiki) und – in letzter Zeit immer öfter angewandt – der Paragraf zur „Diskreditierung der Republik Belarus“.

    Das Schüren von Hass wird dabei so breit wie nur möglich ausgelegt. Es kann ein zu grobes Wort in Bezug auf die Sicherheitskräfte in den sozialen Netzwerken oder in einem Nachbarschafts-Chat sein. Hunderte Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie in den sozialen Netzwerken Freude über den Tod eines Angehörigen der KGB-Spezialeinheit geäußert haben, der bei der Stürmung der Wohnung des Minsker Informatikers Andrej Selzer im Herbst 2021 erschossen wurde, oder weil ihnen Selzer leid tat, der erschossen wurde, als die Spezialkräfte das Feuer erwiderten.

    Es genügt an einem der Sonntagsmärsche teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten

    Die Teilnahme an den Protesten wird in Belarus zum Verbrechen, sobald man während der Aktionen eine Straßenspur betreten hat. Dann greift nämlich Artikel 342 der Strafprozessordnung, „Organisation, Vorbereitung oder aktive Teilnahme an Handlungen, die die gesellschaftliche Ordnung stören“. Dieser Artikel wird inzwischen aufgrund der großen Zahl von Menschen, die nach ihm verurteilt werden, „Volksartikel“ genannt. Es genügt, in Minsk oder einer anderen Stadt, an einem der großen Sonntagsmärsche 2020 teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten. Bis heute werden nach diesem Paragrafen Verhaftungen vorgenommen: Die Silowiki finden immer neue Fotos von diesen Märschen und identifizieren die Menschen, die teilweise schon vergessen haben, dass sie überhaupt auf der Straße waren. 

    Ähnlich wie in Russland, doch in weit größerem Ausmaß, nutzen die belarussischen Machthaber die Extremismusgesetze zur Repression. Fast alle nichtstaatlichen Medienunternehmen sind bereits als „extremistisch“ eingestuft (zum Beispiel Zerkalo.io, Nasha Niva, Radio Svaboda, Belsat), ebenso populäre Telegramkanäle (Nexta, Belarus golownogo mosga), Blogs (zum Beispiel die der Oppositionspolitiker Swetlana Tichanowskaja und Waleri Zepkalo) und selbst einzelne Chatgruppen, darunter Nachbarschafts-Chats in Wohngebieten, wenn darin irgendwann Protestaktivitäten besprochen wurden. 

    Ein Ehepaar saß mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet haben

    Das Abonnement einer „extremistischen“ Quelle auf Telegram ist ein Straftatbestand. Um das nachzuweisen, fordern die Silowiki bei der Festnahme meist die Entsperrung des Mobiltelefons, überprüfen die Abonnements in den Messenger-Apps und versuchen, gelöschte Daten wiederherzustellen. 2021 saß ein Ehepaar insgesamt mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet hatten. 

    Noch schlimmer ist dran, wer Gemeinschaften oder Organisationen angehörte, die als „extremistisch“ gelten, oder mit ihnen zusammenarbeitete. Das betrifft auch Personen, die unabhängigen Medien Kommentare oder Informationen lieferten, selbst wenn es nur ein Foto von einer Schlange vor einem Geschäft ist. Ein führender Militärexperte, Jegor Lebedok, sitzt eine fünfjährige Haftstrafe ab, weil er dem „extremistischen“ Euroradio einige Interviews gab. Die Ehefrau des (zu 15 Jahren verurteilten) Bloggers Igor Lossik, Darija Lossik, wurde zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil sie dem Fernsehsender Belsat über ihren Mann berichtete. Die vierjährige Tochter der beiden blieb dadurch ohne Eltern zurück und lebt nun bei den Großeltern. 

    Für „extremistisch“ hält die belarussische Regierung auch Solidaritätsfonds wie BySOL und ByHelp, die Spenden zur Unterstützung der Repressionsopfer von 2020 sammeln. Damit wird jede Spende auch im Nachhinein zum Verbrechen, auch wenn der „Extremismus“ dieser Fonds erst 2021 festgestellt wurde, nachdem ein Großteil der Spenden schon eingegangen war. Doch da Zehntausende gespendet haben und viele von ihnen aus der IT-Branche kommen, also im Falle einer Verhaftungswelle das Land schnell verlassen würden, verzichten die Machthaber auf Strafverfahren und ziehen ihnen lieber Geld aus den Taschen. Personen, deren Bankdaten bei Spendenüberweisungen genutzt werden, erhalten systematisch Besuch vom KGB und werden aufgefordert, für die staatliche Wohltätigkeit zu  „spenden”. Dabei werden weit höhere Summen verlangt, als die Repressionsopfer empfingen. Wer ein Geständnis unterschreibt, entkommt einem Strafverfahren, aber das Geständnis eines begangenen „Verbrechens“ bleibt für die Silowiki ein praktisches Druckmittel für die Zukunft.

    Sie liquidieren Vereine von Umweltschützern, Menschen mit Behinderungen, Vogelkundlern und Fahrradfahrern

    Ein weiterer Hebel zur Vernichtung des Dritten Sektors ist, neben den Extremismusparagrafen, die banale Zerstörung der nichtstaatlichen Strukturen. Die belarussischen Machthaber gehen diese Frage nicht gezielt an und spielen auch nicht mit hybriden Formen der Repression, wie etwa der Erklärung von Personen zu „ausländischen Agenten“. Vielmehr liquidieren die Silowiki seit Juni 2021, als die EU ein weiteres Sanktionspaket verabschiedete, hunderte NGOs, selbst solche, die weit abseits aller „politischen“ Strukturen agieren. Zum Beispiel Vereine von Umweltschützern und Historikern, Kulturorganisationen und wohltätige Stiftungen, Vereine von Menschen mit Behinderungen, Vereinigungen von Polen und Litauern in Belarus, Vereinigungen von Stadtforschern, Vogelkundlern und Fahrradfahrern. Die Tätigkeit im Namen einer nichtregistrierten Organisation ist ebenfalls eine Straftat. 

    Das Regime der Stille

    Alle genannten repressiven Praktiken sind auch in Russland bekannt – wenngleich nicht im selben Ausmaß. Doch das belarussische Regime ergreift oft eine Reihe weiterer Maßnahmen, die in Russland bislang nicht regelmäßig angewandt werden. 

    Viele aufsehenerregende Gerichtsprozesse werden in den letzten Jahren in Belarus unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt – nicht einmal die Verwandten der Angeklagten sind zugelassen. Dadurch ist es unmöglich, Näheres über die Anklage zu erfahren, selbst die Namen politischer Häftlinge bleiben manchmal unbekannt. In öffentlichen Gerichtsverhandlungen ist es Polizisten, die oft typisierte Zeugenaussagen vorlesen (der Angeklagte sei „die Straße entlanggelaufen, habe geflucht und sich der Festnahme widersetzt“), häufig erlaubt, ihre Aussage unter Pseudonym und mit Maske zu machen, damit sie nicht identifiziert werden. 

    In einem „Regime der Stille“ versucht man auch bekannte politische Gefangene, Oppositionsführer, zu versenken. Häufig wird ihren Anwälten die Lizenz entzogen oder sie werden selbst festgenommen. Regelmäßige Twitter-Nachrichten, wie bei Alexej Nawalny, sind in Belarus undenkbar: Für den Versuch, eine politische Botschaft aus dem Straflager zu schmuggeln, kann ein Anwalt seine Zulassung verlieren oder selbst hinter Gitter kommen. 

    Eine weitere belarussische Eigenheit ist die Todesstrafe, die in Russland aktuell mit einem Moratorium belegt ist. Im Frühling 2022 wurde in Minsk entschieden, ihren Anwendungsbereich auszuweiten. Jetzt kann die Höchststrafe nicht nur für brutale Morde, sondern auch für den „Versuch eines Terroranschlags“ verhängt werden, seit März 2023 zusätzlich auch für „Staatsverrat“. Bislang gibt es aber keine Fälle, in denen diese Strafe verhängt wurde. 

    Anfang 2023 nahm Minsk die sowjetische Praxis wieder auf, politischen Emigranten die belarussische Staatsbürgerschaft zu entziehen, die sie von Geburt an hatten. Das Gesetz tritt im Juli 2023 in Kraft. Voraussichtlich wird es auf führende Oppositionspolitiker im Exil angewandt, die zur Einleitung dieser Prozedur bereits in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. 

    Angeblich politisch Illoyale werden systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen

    Bei einigen weniger brutalen Formen der Repression zeichnen sich die belarussischen Silowiki durch Akribie und eine totalitäre Herangehensweise aus. Beispielsweise haben sie ein Register von hunderttausenden Belarussen angelegt, die irgendwann einmal wegen angeblicher politischer Illoyalität auf den Radar gekommen sind, ob sie nun an den Protesten teilgenommen und dafür eine Nacht gesessen oder einfach vor den Wahlen 2020 für einen alternativen Präsidentschaftskandidaten unterzeichnet haben. Seit 2021 werden diese Menschen, je nach Schwere ihrer „Sünde“, systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen, aus Banken, Staatsunternehmen, medizinischen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, inklusive dem Verbot, je wieder im staatlichen Sektor Anstellung zu bekommen. 

    Auch ethnische Gruppen werden vermehrt ins Visier genommen. Ukrainer, die in staatlichen Organisationen arbeiten oder einfach schon länger in Belarus leben, berichteten von Befragungen beim KGB, zum Teil unter Einsatz von Lügendetektoren – damit sollen potentielle Informanten der ukrainischen Geheimdienste aufgespürt werden. Angestellte staatlicher Institutionen mit polnischen Wurzeln, die über eine Karta Polaka verfügen (ein Dokument, das Vereinfachungen bei der Einreise nach Polen gewährt), berichten, dass sie auf diese Karte verzichten müssen, um ihre Arbeit zu behalten. 

    Der Abgrund ist endlos

    Ob Putins Regime exakt den Weg des belarussischen Systems einschlagen wird, ist unvorhersehbar. In Belarus gab es einen nachvollziehbaren Auslöser für den Ausbruch der Repressionen – den Revolutionsversuch von 2020. In Russland wurden die Repressionen im Kontext des Kriegs verschärft. Doch es besteht ein reales Risiko, dass den Russen eine viel breitere Eskalation der inneren Repressionen erwartet, sobald der Kreml sein Potential auf dem ukrainischen Schlachtfeld als erschöpft betrachtet und die Frustration über diesen Misserfolg irgendwohin kanalisiert werden muss. Zum Beispiel auf die verstärkte Säuberung des Landes von „Verrätern“ und „inneren Feinden“, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Sieg der Armee im Wege stehen. 

    Die wichtigste belarussische Lektion ist, dass der Abgrund bodenlos ist. Die „roten Linien“ von gestern haben heute keinen Bestand mehr, einzelne Exzesse der Exekutive werden zur Norm. Die Gesellschaft passt sich an die Brutalität des Regimes an, und unter der Last der täglichen Nachrichten ertappen sich die Menschen bei einer erschreckenden Erleichterung, wenn jemand statt zehn Jahren Haft nur zwei bekommen hat. 

    Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel

    Das Regime weiß vielleicht selber nicht immer, wie weit es die Schrauben anziehen kann, aber es wird die Grenzen des Erlaubten nach und nach verschieben. Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für eine Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel, bis die herrschenden Eliten oder die Gesellschaft Widerstand leisten.  

    Und das geschieht nicht immer, weil ein konkreter Verbrecher beschlossen hat, den Terror auf die Spitze zu treiben. Repressionen sind ein sich selbst erzeugender Mechanismus. Sie bringen die Klasse ihrer Profiteure hervor – der karriereversessenen Silowiki, für die der Kampf gegen die „Feinde“ zum Karrierebooster und zum Stachanow-Wettbewerb untereinander wird. Wenn solche Stimuli erst im System wirken, braucht es keine Kommandos von oben mehr, um neue Formen der Gewalt zu entwickeln. 

    Die menschliche Psyche hält sich an den üblichen, wenn auch informellen Normen der Koexistenz mit dem Staat fest. Doch die belarussische Erfahrung lehrt, dass diese Normen äußerst labil sind, wenn die Machthaber in den Abgrund der Reaktionen rollen, die Gesellschaft aber zu atomisiert und zu verängstigt ist, um Widerstand zu leisten. Die Unfähigkeit, rechtzeitig zu begreifen, dass frühere Tabus nicht mehr aktuell sind, hat viele Belarussen die Freiheit gekostet. Sie konnten nicht rechtzeitig vor der Bedrohung fliehen, weil sie es einfach nicht für möglich hielten, dass es so etwas geben kann.

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    Die Aufführung von Krieg und Frieden an der Bayerischen Staatsoper stößt in der deutschen Presse auf kontroverse Diskussionen. Während der Tagesspiegel nach der Premiere am 5. März über „einen einmalig großen Abend“ schreibt, ist der Musikkritiker Jörn Florian Fuchs im Deutschlandfunk ratlos: Auch nach dem Drüberschlafen wisse er nicht so recht, was er davon halten soll. Den Kern des Problems greift Christine Lemke-Matwey auf ZEIT Online auf: Eine Oper eines russischen Komponisten (Sergej Prokofjew) nach dem Roman eines russischen Schriftstellers (Lew Tolstoi), in der Aufführung eines russischen Regisseurs (Dimitri Tschernjakow) und russischen Dirigenten (Wladimir Jurowski) – und das alles in München kurz nach dem 1. Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine … Das Stück, das von zwei russischen (Verteidigungs-)Kriegen inspiriert wurde – dem Vaterländischen Krieg 1812 und dem Großen Vaterländischen Krieg 1941 bis 1945 – feiere seine Premiere mitten im russischen Angriffskrieg, und das Publikum sehe sich mit der Frage konfrontiert, „wer hier eigentlich wer sein soll, wer Opfer ist und wer Täter, wer Aggressor, wer Verteidiger“. 

    Nach der Premiere hat sich Meduza in München mit dem Dirigenten Wladimir Jurowski getroffen. In einem langen Interview erzählt er über das problematische Stück von Prokofjew, über den Versuch, das „schwere kulturhistorische Gepäck“ auf die Münchener Bühne zu bringen, über die Instrumentalisierung von Prokofjew und anderen Komponisten durch die russische Kulturpropaganda und über jenes Russland, das sich lohnt, bewahrt zu werden.  

    „Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)
    „Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper (links), Julian Baumann/Bayerische Staatsoper (rechts)

    Wladimir Rajewski: Kaum zu glauben, dass die Idee zu Tschernjakows Inszenierung von Krieg und Frieden schon vor dem Krieg aufgekommen ist – und nicht als Reaktion der Bayerischen Staatsoper auf die aktuellen Ereignisse.

    Wladimir Jurowski: Zuerst wussten wir nicht, in welcher Form wir die Oper dem Publikum präsentieren wollen, und wir hatten auch keine Ahnung von dem Konzept des Regisseurs, er selbst aber auch nicht. Wir ahnten nicht einmal, dass wir die Oper schlussendlich in dieser stark gekürzten, zerschnittenen Version spielen würden. Die ursprüngliche Idee war, Krieg und Frieden von der ersten bis zur letzten Note aufzuführen, sozusagen den Urtext.      

    Es gibt eine ganze Reihe von Opern, die in unterschiedlichen Versionen vorliegen. Auf der ganzen Welt werden meistens sogenannte Mischversionen gespielt, also, man nimmt, was den Interpreten am besten gefällt, und wirft manchmal alles durcheinander in einen Topf. 

    Kaum jemand weiß, dass die Sache mit Prokofjews Krieg und Frieden noch viel verworrener ist als mit anderen Opern. An Krieg und Frieden arbeitete Prokofjew von Frühling 1941 bis zu seinem Tod im Frühling 1953 – also zwölf Jahre. In dieser Zeit komponierte er mindestens drei Versionen. 

    Auf uns hagelte es sowohl von russischer als auch von westlicher Seite allerlei Beschuldigungen: Wir hätten Prokofjew verdreht und dem eigenen Geschmack angepasst, indem wir vor allem den Teil über den Krieg zu einem, wie sie es nannten, Dog’s Dinner gemacht hätten. Und dann hätten wir noch dem Chor das berühmte letzte Stück entrissen und seine Musik der Banda überlassen. Was die Banda spielt, ist das Thema „Groß ist unser Land“, und im Vordergrund skandiert der Chor [in einer späten Bearbeitung von Prokofjew] einen propagandistischen, geradezu stalinistischen Text. Solang es Tschernjakows Konzept noch nicht gab, haben wir einfach einen Weg gesucht, wie wir das so hinkriegen, dass wir Sergej Sergejewitsch [Prokofjew] nicht vollends blamieren und uns selbst auch nicht. Wir versuchten, den dieser Oper anhaftenden Stalinismus wenigstens stellenweise zu entschärfen und alles Unnötige zu streichen. Zur Gänze kann man das natürlich nicht entfernen, das ist unmöglich, aber sehr vieles haben wir herausgenommen.    

    „Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Auf uns hagelte Beschuldigungen – Wir hätten Prokofjew zu einem Dog’s Dinner gemacht“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Prokofjew hat uns kein fertiges Werk hinterlassen, sondern eine riesige Skizze, einen Torso, ein Gerüst, das nicht vollendet wurde. Es zerfällt in lauter fragmentarische Szenen, die sich fast unmöglich zu einem großen Ganzen zusammenfügen lassen. Tschernjakow ist das gelungen, aber nur dank der außergewöhnlichen Situationen und den Bedingungen, unter denen die Inszenierung entstanden ist, und weil er bewusst auf die Gegenüberstellung „Krieg und Frieden“ verzichtet hat. Und nur dank dem sehr konzeptualistischen und sehr starken Zugang, der in das Grundprinzip Tolstois und Prokofjews eingreift, gelang uns eine Inszenierung, die sich als zusammenhängende Geschichte erzählen lässt. Aber an sich ist es eine Collage. 

    Wir haben eine Art erfundene, dystopische Situation: Russen sind im Haus der Gewerkschaften im Zentrum Moskaus in der Säulenhalle eingeschlossen, in einer Art Kriegsatmosphäre. Wir erwähnen kein einziges Mal, was eigentlich passiert ist. Das ist der Ausgangspunkt des Spiels: Es fehlt die wichtigste Komponente jedes Kriegs – der äußere Feind. Wir sehen Menschen, die verängstigt sind, die sich Sorgen machen, die etwas quält, aber einen Feind als solchen gibt es nicht. Also beginnen sie, den Feind in den eigenen Reihen zu suchen und auch zu finden. Obwohl wir den Text nicht verändert haben – sie sprechen weiterhin von Franzosen, von deutschen Generälen, russischen Spionen und Partisanen.   

    Brächten wir ein Drama nach dem Roman von Tolstoi auf die Bühne, dann würden solche Freiheiten natürlich extrem stören. Aber wir inszenieren ja die Oper von Prokofjew, und wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne und in den Saal: das Jahr 1812, in dem Napoleons Russlandfeldzug stattfand, das Jahr 1856, in dem Tolstoi seinen Roman zu schreiben begann, das Jahr 1941, in dem Prokofjew anfing, seine Oper zu komponieren, das Jahr 1946, in dem die Oper aufgeführt und kritisiert wurde, das Jahr 1953, in dem Prokofjew am selben Tag wie Stalin starb, schließlich auch unsere unselige Zeit. Und eben weil wir eine Oper machen und keinen Roman, und weil wir damit einen riesigen kulturhistorischen Raum abdecken, viel größer, als wenn wir einfach Tolstois Text verfilmen oder als Theaterstück auf die Bühne bringen würden – deswegen dürfen wir uns solche Freiheiten erlauben. 

    „Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Wir bringen das gesamte kulturhistorische Gepäck mit auf die Bühne“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Was haben Sie mit der Musik gemacht, als Sie von dem Konzept erfuhren, dass Prokofjews patriotischer Chor so etwas sein wird wie … ein heutiger patriotischer Chor?

    Ich musste nichts Spezielles machen, weil etwas Erstaunliches und äußerst Bemerkenswertes passiert ist: Das, was mich persönlich an Prokofjew immer irritiert und sehr genervt, geärgert hat, hat sich bestätigt: dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus. Den man übrigens keineswegs nur in Krieg und Frieden findet, sondern auch in vielen anderen sowjetischen Kompositionen. 

    So wie im Oratorium Auf Friedenswache und dergleichen? 

    Ja. Da gibt es überall wundervolle Musik, aber auch immer wieder Momente, für die man sich einfach schämt. Ich habe zum Beispiel längst, lange vor dem Krieg gegen die Ukraine, bewusst aufgehört, Prokofjews Kantate Alexander Newski aufzuführen. Früher hat sie mir sehr gefallen, und als Musik zu Sergej Eisensteins großartigem Film finde ich sie immer noch absolut angemessen – es ist wirklich eine tolle Filmmusik. Aber wenn ich sie auf einer Konzertbühne als eigenständige musikalische Komposition spiele, dann treiben mir manche Seiten daraus die Schamesröte ins Gesicht. 

    „Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Was mich an Prokofjew immer genervt hat, hat sich bestätigt – dieser demonstrative, überladene, pathetische Patriotismus“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Diese betont patriotische Glut im vierten Teil der Kantate Steht auf, russische Leute oder das beinah sadistische Vergnügen, mit dem Prokofjew die Kreuzritter auf dem zugefrorenen Peipussee „schlägt“, lassen einen spüren, wie sehr dieses Werk trotz des unbestrittenen Talents seines Urhebers vergiftet ist mit einem üblen, beinah faschistischen Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer. Hier werden ganz offensichtlich und bewusst historische Ereignisse verwendet, um nationalistische, ideologisierte Weltbilder zu untermauern. Wenn wir das auf die Konzertbühne bringen, dann übernehmen wir einen Teil der Verantwortung für das, was die Menschen auf der Bühne von sich geben. Im Theater oder im Kino ist diese Verantwortung nicht so umfassend. Im Theater und im Kino werden reale Situationen gespielt, unter anderem aus ferner Vergangenheit. Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung. 

    Faschistischer Geist der Gewaltverherrlichung und der Glorifizierung einer Nation auf Kosten anderer

    Im heutigen Kontext kann man keine dieser Kompositionen spielen, ohne an die Parallelen und Überschneidungen zu unserer traurigen Realität zu denken. Vor allem, weil die heutigen russischen Machthaber in einer absolut stalinistischen Tonalität handeln und Kunst, auch klassische Kunst, bewusst als schwere Propagandawaffe einsetzen. Für sie wird Puschkin genauso zum Propagandawerkzeug wie Tschaikowski und Rachmaninow, den sie ebenfalls vereinnahmt haben, obwohl er emigriert war – war er doch ein echter Patriot! Sie verwenden dieselbe Lexik wie Stalins Ideologen, als diese den verderblichen Einfluss des Westens bekämpften und gegen die eigenen Komponisten, Dichter, Schriftsteller, Künstler, Formalisten, wurzellosen Kosmopoliten et cetera wetterten.        

    Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist

    Leider werden Prokofjew und sogar Schostakowitsch mit der Zeit selbst zu Instrumenten der russischen Kulturpropaganda. Schostakowitsch etwas weniger, einfach weil er sich viele Jahre lang bewusst gegen das Regime gestellt hat. Prokofjew hat mehrere Werke geschaffen, die gerade auch im heutigen Kontext ganz schreckliche Assoziationen wecken können.

    Prokofjew ist sehr vielfältig. Er war nie Dissident, war aber auch nicht nur der käufliche sowjetische Opportunist, wie er oft dargestellt wird. Er ist ein sehr komplexer Charakter.

    Zwischen 2005, als Sie Krieg und Frieden in der Pariser Oper dirigierten, und 2023 scheinen Lichtjahre zu liegen. Haben die Ereignisse seit dem letzten Jahr irgendeinen Einfluss auf Ihre Interpretation gehabt?

    Auch wenn es seltsam ist, muss ich da etwas zu den ersten Akkorden der ersten Szene sagen, mit denen das Opus beginnt. Das ist eine ziemlich einfache Quint, also ein Intervall aus zwei Noten, zerlegt auf zwei Oktaven, das von nur vier Instrumenten gespielt wird. Diese Quint klang für mich früher irgendwie … als ob jemand nachts im Wald einen Vogel aufgescheucht hätte. Aber jetzt beginnt vor allem dank Tschernjakows Idee alles mit Stille, und Fürst Andrej erwacht auf einer Matratze, umringt von diesen Menschen – vielleicht Flüchtlingen, vielleicht auch nicht, man weiß es nicht – und zieht sich nach und nach die Kleider aus, bis er im Unterhemd dasteht. Dann stößt er einen unhörbaren schmerzlichen inneren Schrei aus. Und aus diesem Schrei entspringt Musik – Verzweiflung. Die Verzweiflung und Ohnmacht eines vom Leben gebrochenen Menschen. 

    Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins

    Mit den Jahren hat sich das Gefühl bei mir eingestellt, dass bei Prokofjew in der Musik oft zu finden ist, was ihm den Erinnerungen seiner Zeitgenossen zufolge als Mensch fehlte, nämlich Empathie. Mitleid oder die Fähigkeit, sich in fremden Schmerz hineinzuversetzen – das war überhaupt nicht Seins. In der Musik aber beweint er die tote Julia oder den toten Romeo, als wären es seine eigenen Kinder. Und genau deswegen, weil das mit einer gewissen Distanz kreiert wurde, hängt das Ergebnis von uns selbst ab, von den Künstlern, den Interpreten. Wir können diese Musik in Richtung einer großen menschlichen Wärme interpretieren oder in Richtung absoluter Kälte und eisiger Emotionslosigkeit.  

    Prokofjew hat sich auch nach seiner Rückkehr in die UdSSR sehr zynisch zu einer Kooperation mit dem Regime geäußert.

    Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys. Er verhielt sich ja wie ein absoluter Schnösel, war ein großer Schachspieler, er glaubte an Sport, an die Macht des Fortschritts. Prokofjew war ein verwöhntes Kind seiner Zeit, und als es vorbei war mit der Kindheit und er sich die Nase anschlug [an der Zensur], war es zu spät. Gott sei Dank wurde er nicht als kreatives Wesen gebrochen, denn die letzten Sachen, die er geschrieben hat – die letzten Symphonien, das Symphoniekonzert für Violoncello sowie die Neunte, die letzte vollendete Klaviersonate – all das zählt immerhin zu den großen Schätzen der Musikgeschichte. In der Musik bewahrte er sich immerhin seine Freiheit, blieb er selbst.  

    Das war der überhebliche Ton des ewigen Dandys

    Krieg und Frieden ist leider eines der Beispiele, das veranschaulicht, wozu die innere Bestechlichkeit eines Künstlers führt. Obwohl ich Prokofjew immer noch für einen herausragenden Komponisten halte, der nicht nur erstaunliche Klangkombinationen schuf, sondern auch bemerkenswerte Aussagen tätigte, die die unbeugsame Kraft des menschlichen Geistes bezeugen. Aber gewissermaßen schrieb Prokofjew diese Musik nicht dank, sondern eher trotz seiner Eigenschaften.     

    In Österreich und Deutschland hat Prokofjew keinen so guten Ruf. Woran liegt das?

    Das hat grundsätzlich mit der Natur von Prokofjews Musik zu tun, die nicht wirklich in den österreichisch-deutschen musikalisch-psychologischen Raum hineinpasst. In Deutschland muss man Prokofjew erst einen Weg ebnen. Wenn ich in Deutschland mit seinen Partituren arbeite, dann muss ich auch in sehr guten Orchestern mit mehr Mühe den Widerstand dagegen abbauen, Prokofjew so zu spielen, wie er selbst gespielt werden wollte. 

    „Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Eine Konzertbühne ist immer eine unmittelbare Äußerung“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Haben Sie auf diese Weise auch Krieg und Frieden den Weg geebnet?

    Den Weg ebnen musste ich nicht – das hat unser Theater entschieden. Aber während der Arbeit mit dem Orchester tauchten manchmal Hemmungen und irgendwelche Problemchen auf. Das hat damit zu tun, dass Prokofjew einen sehr eigenen, einzigartigen Zugang zu solchen Aspekten des Musizierens hat wie Phrasierung und Artikulation. Das kann man sich vorstellen wie einen Menschen, der Gedichte oder Prosa schreibt, aber nicht in der allgemein üblichen Syntax und abseits der gültigen Rechtschreib- und Satzzeichenregeln. Orthografie, Satzbau und Interpunktion sind bei Prokofjew ungewöhnlich, einmalig.

    Verstehe ich das richtig, dass Sie nicht nach Russland fahren?

    Ich kann da nicht einreisen.

    Weil Sie sogar jetzt eine Anstecknadel mit einer ukrainischen Flagge auf dem Revers tragen? 

    Nein, die kam erst später dazu. Nach allem, was ich gesagt habe, wird mir einfach keiner mehr ein Visum geben.   

    Ah, Sie sind ja kein russischer Staatsbürger.

    Genau. Es war daher sehr kurios zu erfahren, dass ich in der schwarzen Liste von Roskomnadsor als „Meinungsbildner des öffentlichen Lebens“ erscheine. 

    Oh, ich stehe auch auf dieser Liste. 

    Man kann das als Auszeichnung betrachten. Aber „ausländischer Agent“ kann ich nicht werden, weil ich kein russischer Staatsbürger bin. Ich hatte ein Visum, mit dem ich letztes Jahr noch einreisen konnte. Aber ich habe natürlich alle Konzerte [in Russland] abgesagt. Jetzt wäre ich, selbst wenn ich unbedingt wollte, auf die Gnade des Kulturministeriums angewiesen.   

    Das Sie jetzt nicht so gern hat?

    Das mich natürlich nie im Leben einladen würde. Wie in dem einen [russischen] Spruch: Zieh dir entweder eine Hose an oder nimm das Kreuz ab. Also, wenn du so redest, wozu fährst du dann hin? Höchstens privat, um meine Lieben zu sehen, meine Freunde. Wobei es da auch ein paar gibt, mit denen ich nur schwer reden könnte. 

    Haben Sie Leute im Umfeld, die den Krieg unterstützen?

    Das nicht unbedingt, aber sie finden zum Beispiel meine Entscheidungen auch nicht gut. 

    Ich war in Russland immer ein Fan Ihrer Aufführungen von Musik vergessener Komponisten aus der Sowjetzeit. Was wird daraus jetzt?

    Jetzt berichtet man, dass das Konzert Drugoje prostranstwo. Continuo stattgefunden hat, und dann in Klammern: „ohne Wladimir Jurowski“. Ich werde hier und da in der Presse erwähnt. Zum Beispiel, nachdem ich im Februar 2022 zum ersten Mal die ukrainische Hymne gespielt habe. Das war in Berlin. Wir haben Tschaikowskis Slawischen Marsch, der auf dem Programm stand, durch Werbizkis Hymneersetzt und sogar noch eine symphonische Ouvertüre von ihm gespielt. Wobei wir aber zum Beispiel Tschaikowskis Fünfte Symphonie oder Rubinsteins Cellokonzert nicht gestrichen haben.

    Schon damals tauchten im russischsprachigen Internet Schlagzeilen auf wie: „Jurowski ersetzt Tschaikowski durch Bandera-Hymne“. Ich beließ es nicht dabei und spielte die „Bandera-Hymne“ auch andernorts. Und ich habe sehr vieles gesagt, mit dem ich mir ganz bewusst alle Wege zurück verbaut habe. 

    Glauben Sie nicht, dass das Interesse an allem Russischen im kulturellen Sinn dann, wenn ein bestimmter Punkt erreicht ist, erst recht wieder aufkommen wird? Irgendwo müssen ja die Antworten auf die Fragen stecken, die früher niemand gestellt hat.  

    Dieses Interesse geht nicht verloren – es ist auch jetzt nicht verschwunden. Nach unserer Premiere von Krieg und Frieden bekamen wir sehr viele schöne Rückmeldungen, nette und auch richtig schmeichelhafte. Ein Münchner Kritiker schrieb, so viel Selbstreflexion vonseiten russischer Künstler, wie wir in dieser Inszenierung sehen und hören konnten, nährt die innere Hoffnung, dass dieses Land noch nicht endgültig verloren ist. Da bin ich mit ihm einverstanden. 

    Ich beließ es nicht dabei und spielte die ‚Bandera-Hymne‘ auch andernorts

    Ich gehe sogar noch weiter: Ich bekam gerade bei dieser Premiere das Gefühl, dass im Saal, in dem übrigens sehr viele Vertreter der neuen russischen Emigration saßen, eine Art Schulterschluss der russischen, russischsprachigen Menschen außerhalb Russlands auf Basis gänzlich anderer Ideale stattfand.

    Ich hoffe einfach sehr, dass die heutigen russischen Emigranten mehr Glück haben, dass sie sich nicht in Gezänk, Streitereien und persönlichen Geplänkeln suhlen werden wie die russischen Emigranten nach dem Bürgerkrieg. Weil damals ja doch das sowjetische Russland als moralischer Sieger aus der Schlacht hervorging. In diesem Punkt bin ich solidarisch mit Dimitri Bykow, der den Gedanken formuliert hat, dass der größte Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Emigration folgender ist: Damals rannten sie vor der Revolution davon, die zwar etwas Schreckliches, Böses war, aber gleichzeitig auch etwas Neues und Frisches. Die heutige Emigration flieht vor einer Reaktion, vor etwas, das im Inneren zerbrochen ist, das verfault, verwest und eigentlich nicht mehr lange bestehen wird. Insofern erinnert mich das eher an die Flucht der Deutschen 1848 oder die Flucht aus Frankreich und Österreich nach dem Wiener Kongress. Oder wie die Russen vor dem bereits morsch gewordenen Zarenregime der Romanows flüchteten.     

    Ein scharfsinniger Gedanke, typisch für Bykow, aber auch von einer ihm typischen Sympathie für das sowjetische Projekt begleitet. 

    Ich finde, wir müssen dieses sowjetische Atlantis jetzt, wo dieser furchtbare Krieg begonnen wurde, endgültig in uns begraben. In uns, ich klammere mich da selbst nicht aus, diese höchstgefährliche Nostalgie nach der Vergangenheit abtöten. Die wir im Grunde ja gar nicht wirklich erlebt haben. 

    Alle meine Erinnerungen an die Sowjetunion stammen aus meiner Kindheit im häuslichen Umfeld und meiner Jugend am Konservatorium. Ins echte Leben hatte ich da noch gar nicht hineingeschnuppert. Wir müssen uns mit großer Sorgfalt Rechenschaft darüber ablegen, was genau wir da so nostalgisch vermissen. Sonst kann es passieren, dass wir unwillkürlich Geister der Vergangenheit wecken, die wir dann nicht mehr so einfach mit einem Espenpflock in ihre Särge zurücktreiben können. Wobei eigentlich genau das gerade vor unseren Augen geschieht.   

    „Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper
    „Ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.“ / Foto © W. Hösl/Bayerische Staatsoper

    Sie haben ja nicht in Russland gelebt und den neuen Alexander-Newski-Kult der letzten zehn, fünfzehn Jahre wahrscheinlich gar nicht mitbekommen.

    Ja, das ist ehrlich gesagt an mir vorübergegangen. Der Kult um diese großen Helden der Vergangenheit: Kutusow, Peter der Große. Aber die allmähliche Rehabilitierung von Iwan dem Schrecklichen und Stalin ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen. Ich versuche einfach schon lange, mich von alldem fernzuhalten. Lange bevor ich 2021 aufhörte, mit dem Staatsorchester in Russland zu arbeiten, hatte ich ein sehr merkwürdiges, ein sehr ungutes Gefühl, wenn ich die russische Grenze passierte. Ich liebte meine Stadt immer noch, meine Freunde, und es war mir immer eine große Freude, für das Moskauer Publikum zu spielen, aber was gleichzeitig auf den Straßen Moskaus vor sich ging, versetzte mich immer mehr in Angst und Schrecken. Daher verkroch ich mich immer, wenn ich nach Russland fuhr, wie eine Schnecke in ihrem Haus. Ich versuchte, möglichst wenig draußen zu sein, möglichst wenig Kontakt zu fremden Menschen zu haben.

    Wenn das, was am 24. Februar begonnen hat, nicht passiert wäre, dann wäre ich natürlich trotz aller Verschlechterungen dieses internen Klimas weiterhin nach Moskau gefahren. Das steht außer Frage. Ich wurde gefragt: Wie kannst du da immer noch hinfahren, bei dem Wahnsinn, der da vor sich geht? Morde an Journalisten, Morde an Oppositionspolitikern, Nawalny im Gefängnis und immer wieder in Einzelhaft, und so weiter und so fort. Ich habe immer mit den Worten des Dirigenten Iván Fischer geantwortet, der noch immer, trotz der ebenfalls schwierigen Situation in Ungarn, das Festival Orchester Budapest leitet. 

    Er sagte auf solche Fragen: „Ja, mein Land ist krank. Aber stellen Sie sich vor, Sie haben einen kranken Verwandten, jemand in Ihrer Familie ist krank. Würden Sie ihn etwa (das war allerdings noch vor der Pandemie) isolieren? Würden Sie ihm verweigern, seine Angehörigen zu sehen? Nein, Sie bringen ihm Medikamente und Tee mit Zitrone, erzählen ihm etwas, um ihn aufzuheitern, damit er schneller gesund wird. Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied. Ich versuche, ihm mit meiner Musik etwas Wärme zu spenden und zu seiner raschen Genesung beizutragen.“ So ein herzensguter, idealistischer Gedanke.  

    Mein Land ist jetzt krank, und es ist für mich wie ein krankes Familienmitglied

    Mit diesem Gedanken habe ich noch lange auch in Russland gearbeitet. Und ich werde jetzt nicht lügen und behaupten, es hätte mir widerstrebt. Ich habe es sehr genossen. Ich fand es schön, mit meinen Musikern zu kommunizieren, und mir gefiel es, wie es uns gelang, eine Art Staat im Staat zu errichten. Denn in unserem Orchester waren die Beziehungen untereinander ganz anders als in anderen Orchestern mit anderen Dirigenten. Wir reisten auch zusammen durch Russland, hatten nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg Auftritte. Jetzt weiß ich das nicht. Aber ich hoffe, ich werde in diesem Leben noch meine Heimat sehen, das hoffe ich sehr.  

    Und bis dahin?

    Bis dahin müssen wir jenes Russland, das wir immer hatten, in uns tragen. Und nach Möglichkeit dafür kämpfen oder anderen dabei helfen, dafür zu kämpfen, dass dieses Russland nicht endgültig abstürzt.  

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    „Putin versucht mit aller Kraft, ein neues Russland zu verhindern“

    Die einen würden am liebsten eine gigantische Mauer um Russland bauen, während andere insgeheim darauf hoffen, dass alles möglichst bald wieder so weiter gehen möge wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr. Wie kann ein Miteinander in Europa aussehen, wenn nach Putin womöglich der nächste Putin kommt? Wie kann die russische Gesellschaft Angst und Hilflosigkeit überwinden und welche Rolle spielt dabei die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur? Darum geht es im zweiten Teil des großen Meduza-Interviews mit dem Moskauer Soziologen Grigori Judin, der darin auch leise Hoffnungen auf ein „unausweichliches neues Russland“ äußert.

    Hier geht es zum ersten Teil des Interviews.

    Margarita Ljutowa: Wie hat sich im vergangenen Jahr das Bild von Putin und Russland im Westen verändert? Meinen Sie, man hat jetzt das Ausmaß der Bedrohung begriffen, das bis 2022 wohl unterschätzt wurde?

    Grigori Judin: Bisher wurde zugegeben, dass die vormals herrschenden Vorstellungen [über Russland] grundfalsch waren. Was daraus folgt, muss sich erst noch zeigen. Wir müssen bedenken, dass niemand auf diese Entwicklung vorbereitet war und daher noch immer ein reaktives Verhalten überwiegt. 

    Es gibt eine unübersehbare „Partei des 23. Februar“: Das sind Leute, die die Aggression verurteilen, sich aber wünschen, dass das alles irgendwie vorbeigeht und man dann wieder weitermachen kann wie früher. Das ist in erster Linie das globale Kapital, das nicht versteht, wieso es wegen irgendeiner Ukraine Geld verlieren soll. Ein beachtlicher Teil der westeuropäischen Geschäftswelt macht keinen Hehl daraus, dass das ein optimales Szenario wäre, und erwartet, dass die Ukraine endlich einen Teil ihres Territoriums abgibt. 

    Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen

    Die einen versuchen, die Ukraine offen unter Druck zu setzen (solche Initiativen gibt es, wenn auch nicht vorherrschend, in Deutschland), die anderen warten einfach darauf, dass die Widerstandskraft versiegt. Aufrufe zu Verhandlungen sind momentan aussichtslos, weil Wladimir Putin der Meinung ist, diesen Krieg zu gewinnen, und er nicht vorhat, mit jemandem zu reden. Wenn für ihn jedoch die Zeit kommt, seine Eroberungen abzusichern, dann wird die Situation eine andere Wendung nehmen – und er weiß von diesen Stimmungen [im Westen – dek], er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann. 

    Putin weiß von diesen Stimmungen, er weiß, dass er sie bei Bedarf jederzeit für sich nutzen kann

    Viele Politiker sehen das anders und wissen um die Gefahren eines solchen Szenarios. Um ihm jedoch eine Alternative anzubieten, bräuchte man eine Art Zukunftsvision, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland und den gesamten Kontinent. Und da kommt es zu Schwierigkeiten. Der am stärksten in den Krieg involvierte Teil Europas besteht darauf, dass Russland keine andere Zukunft haben kann – es ist für sie ein „genetisch geschädigtes“ Land, das dazu verdammt ist, eine Gefahr darzustellen. Nach Putin kommt wieder Putin – in dem Punkt stimmen die Vertreter dieser Position mit [dem Sprecher der Staatsduma] Wjatscheslaw Wolodin überein. Die Bilder von der bestialischen Brutalität der russischen Soldaten verstärken solche Sichtweisen. 

    Aber was folgt daraus? Natürlich könnte man rund um Russland eine Mauer bauen und sie mit Maschinengewehren bewachen. Dann wäre es aber in der gesamten Region vorbei mit der Sicherheit, denn das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg, und man kann nicht abschätzen, was davon für alle schlimmer ist. 

    Natürlich könnte man um Russland eine Mauer bauen. Das Ergebnis wäre entweder ein unvermeidlicher Revanchismus oder ein langwieriger Bürgerkrieg

    Rational denkende Menschen wie [der französische Präsident] Emmanuel Macron verstehen, dass man Sicherheit nicht erzielen kann, ohne Russlands Interessen zu berücksichtigen. Weil aber Macron auch davon überzeugt ist, dass Russland immer einen Putin haben wird, kommt er zu dem logischen, aber absolut aussichtslosen Schluss, dass man mit Putin verhandeln muss. Und tatsächlich, solange niemand Russland von der Landkarte tilgen will und zwischen Russland und Putin ein Gleichheitszeichen steht, wird man Putin entgegenkommen müssen. Jene Menschen, die mit Schaum vorm Mund allen einzureden versuchen, dass Russland zum ewigen Putin verdammt ist, bekommen am Ende konsequenterweise Spitzenpolitiker, die Verhandlungen mit Putin anstreben – obwohl sie allem Anschein nach das genaue Gegenteil erreichen wollen. 

    Diesen Knoten wird man nicht lösen können, solange die Frage nach der Vertretung von Russlands Interessen im Raum steht. Russland hat wie jedes andere Land auch ein Recht auf Sicherheitsgarantien – alles andere führt zu Instabilität. Es ist natürlich sinnlos, dieses Thema mit Putin zu besprechen. Um also zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann, wie es Wolodymyr Selensky nüchtern formuliert.   

    Um zu einer Strategie zu finden, muss man sich ein Russland ohne Putin klar vor Augen führen – ein Russland, mit dem man Gespräche führen kann

    Das wird übrigens endlich die Voraussetzung dafür schaffen, dass die feigen russischen Eliten aktiv werden. Gerade die müssen sich vergegenwärtigen, dass ihre Zukunft nicht von einem Menschen allein abhängt, dass Russland irgendwann auch ohne Putin weiterbestehen wird. Solange Russland mit seiner jetzigen Regierung gleichgesetzt wird (oder genauer gesagt, nicht einmal mit der Regierung, sondern mit dem einen Menschen, der seinen Sicherheitsrat mit dem Angriff auf die Ukraine in einen totalen Schock versetzt hat), ist kein Ausweg in Sicht. Im Interesse aller muss man das eine vom anderen trennen. Der einzige Mensch, der ein Interesse an dieser Gleichsetzung hat, ist Wladimir Putin. 

    Was kann man machen, um diese Gleichsetzung aufzuheben? Man denkt da sofort an Belarus, das nach den Massenprotesten wohl von niemandem mehr mit Lukaschenko gleichgesetzt wird. Braucht es also Massenproteste? Oder irgendeine Exilregierung, die der Welt den Entwurf eines neuen Russland präsentiert?

    Diese beiden Dinge schließen einander nicht aus. Sicherlich würde eine ernstzunehmende Bewegung wie in Belarus, die endlich den tyrannischen Charakter dieser Regierung aufdeckt, zweifellos helfen. Eine solche Bewegung kann aber auch angeregt werden, indem man ein alternatives Russland skizziert. Zumal die Voraussetzungen dafür, wie mir scheint, gar nicht so schlecht sind: Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland. Russland ist ein ziemlich großes Land, es verfügt über genügend Ressourcen, junge, aktive Schichten, die die Welt mit ganz anderen Augen sehen. Putin versucht mit aller Kraft, das unausweichliche neue Russland zu verhindern, in dem für ihn kein Platz sein wird. 

    Wladimir Putin repräsentiert mit seinem absolut weltfremden, seltsamen, paranoiden Blick auf die Geschichte natürlich nicht ganz Russland

    Nach zwei Jahrzehnten unter Putin verlieren die Russen natürlich die Fähigkeit, sich etwas anderes vorzustellen. Aber das Leben wird dafür sorgen, dass wir unsere Phantasie ein bisschen mehr anstrengen. Unser Land ist in eine Sackgasse geraten, mit der Zeit werden wir nicht umhinkommen, das zu begreifen. Wir haben einfach noch ein paar Meter vor uns, also bewegen wir uns weiter. Aber es ist eine Sackgasse, sie führt nirgendwohin. 

    Als wir vor diesem Interview unsere Gesprächsthemen festlegten, sagten Sie zur Frage des aktuellen Zustands der russischen Gesellschaft, zu ihrer Atomisierung, zur kollektiven Handlungsunfähigkeit, dass das Reden über das Gefühl der erlernten Hilflosigkeit nur noch verstärken würde, was Sie aber vermeiden wollen. Gibt es Methoden, zu der Gesellschaft zu sprechen, ohne dieses Ohnmachtsgefühl zu nähren?

    Während die primäre Emotion in Russland Kränkung ist, ist der stärkste Affekt, um den sich heute alles dreht, die Angst. Existenzielle Angst – Angst vor dem Zorn eines konkreten Menschen oder Angst vor dem Krieg, und eine abstraktere Angst vor dem Chaos. Angst, multipliziert mit der Gewissheit, dass der Tyrann allmächtig ist und auf jeden Fall bekommt, was er will: Bisher hat er es immer bekommen, also wird es auch weiterhin so sein. Diese mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst, die braucht eine Antwort. 

    Die mit Hoffnungslosigkeit multiplizierte Angst braucht eine Antwort

    Angst treibt man mit Hoffnung aus. Das ist der gegenteilige Affekt. Man muss den Menschen Hoffnung geben. Insofern sind die nachvollziehbaren, begründeten Vorwürfe [gegen die Menschen in Russland] politisch perspektivlos. Noch mal: Sie sind verständlich, begründet und legitim, aber politisch aussichtslos. Wir haben es mit Menschen zu tun, die von ihrer eigenen Machtlosigkeit überzeugt und verängstigt sind, und Sie wollen ihnen noch zwei Kilogramm Schuld aufladen. Was soll dabei herauskommen?

    Die Frage ist, wie man in dieser Situation Hoffnung gibt. Die Hoffnung besteht gerade darin, zu zeigen, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte. Und die Wahrheit ist: Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören – denn das macht ja Angst, dann müssten sie etwas am Status quo ändern. Und der ist bedrohlich genug, um sich nicht mit ihm anzulegen.

    Solange die Menschen in Russland nicht begreifen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, haben sie keine Motivation, etwas darüber zu hören, dass die Dinge anders sein, dass Russland anders aussehen könnte

    In Russland ist jeder normative Diskurs längst im Keim erstickt: Es ist schon lange so gut wie unmöglich, danach zu fragen, wie man eine Gesellschaft aufbauen sollte, wie das auf gerechte, ehrliche und gute Weise gelingt. Schon vor Jahren haben mir Menschen [bei Umfragen] auf solche Fragen geantwortet: „In Russland? Gar nicht.“ Das zeigt, dass der normative Diskurs unterdrückt ist, aber die Nachfrage danach wird unweigerlich steigen, je mehr den Menschen diese Sackgasse bewusst wird. Dann ist es wichtig, dass sie Hoffnung haben.

    Gibt es in diesem Leben in Angst multipliziert mit Hoffnungslosigkeit einen Point of no Return, einen Moment, nach dem die Hoffnung die Menschen nicht mehr erreicht? Wenn einer, der einen Plan für eine „wundervollen Zukunft“ vorlegt, nicht mehr gehört wird?

    Das weiß ich nicht. Wenn wir von Affekten sprechen – die sind nie für die Ewigkeit. Aber können wir uns vorstellen, dass ein Affekt, wenn er auf die absolute Spitze getrieben wird, das soziale Umfeld dermaßen zerstört, dass man daraus nichts mehr bauen kann?

    Ich glaube daran, dass die russische Kultur Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden

    Ich glaube an Russland. Ich glaube an die russische Kultur im konkreten Sinn – ich glaube daran, dass sie Rezepte enthält, um diese existenzielle Krise zu überwinden. Darin liegt ihre Stärke. Nicht darin, dass Puschkin ein großer Dichter war. Sondern darin, dass sie eine Fundgrube für Weisheiten und Ratschläge ist, für Antworten auf die Fragen, die uns heute beschäftigen. Ich glaube, dass die russischen Denker, Schriftsteller, die intellektuellen Ressourcen, die wir haben, unsere Traditionen und Gewohnheiten, Antworten auf diese Herausforderung enthalten.

    Sie haben sicher den Diskurs vor Augen, der im Moment in Verbindung mit der russischen Kultur meistens geführt wird: dass sie imperial ist, eine Sklavenmentalität herangezüchtet und genährt hat usw. …

    Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen. Der Zusammenbruch des Imperiums ist ein guter Moment dafür. Erschöpft sich die russische Kultur darin? Nein, das tut sie nicht. Dasselbe gilt auch für [das Werk eines] konkreten Autors. Kann man bei einem konkreten Autor imperiale Ideen finden? Man kann und man sollte. Aber muss man ihn deswegen im Ganzen verschmähen oder gutheißen? Man muss diese Person ja nicht mit all ihren Fehlern heiraten.

    Ich glaube, dass es in der russischen Kultur tatsächlich ein starkes imperiales Element gibt, und dass es an der Zeit ist, sich damit auseinanderzusetzen

    Kultur entwickelt sich weiter, indem sie sich selbst verarbeitet, auch indem sie sich selbst kritisiert. Aber Kritik darf keine Selbstverleugnung sein. Dann weißt du ja schlichtweg nicht mehr, wer du bist und was du kritisierst: Wenn man sich selbst verleugnet, von welchem Standpunkt aus übt man dann Kritik? Eine Kultur kann nicht ausschließlich imperial sein, sonst gäbe es auch keine Imperialismuskritik – es muss ja etwas vorhanden sein, was diese Kritik hervorbringt.

    Die Kultur schafft selbst die Standpunkte für Selbstkritik. Daran ist nichts demütigend, es ist kein Problem, sie [die imperialen Ideen] in der russischen Kultur aufzuspüren, sie herauszustellen und zu analysieren, wie sie mit anderen Elementen zusammenhängen. Nein, sie erschöpft sich nicht darin. Genauso wie sich die deutsche Kultur nicht im deutschen Imperialismus erschöpft oder die britische Kultur im britischen.

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    „Dieser Krieg wird nie aufhören“

    Grigori Judin gehört derzeit zu den gefragtesten Stimmen in unabhängigen russischen Medien und das nicht ohne Grund: Nur wenige Experten im dortigen Diskurs haben den russischen Überfall auf die Ukraine so präzise vorhergesagt wie Judin, der zwei Tage vor Beginn des Großangriffs am 24. Februar 2022 in einem Gastbeitrag für openDemocracy schrieb, Putin sei kurz davor, „den sinnlosesten Krieg unserer Geschichte“ zu beginnen. 

    Ein Jahr später spricht der Moskauer Soziologe mit Margarita Ljutowa von Meduza über seine aktuelle Einschätzung der Lage. Im ersten Teil geht es um das Gefühl der Kränkung in der russischen Gesellschaft als Nährboden für einen „ewigen Krieg“, bei dem es um weit mehr als die Ukraine geht, und warum Putin trotz der Rückschläge glaubt, alles richtig gemacht zu haben.

    Hier geht es zum zweiten Teil des Interviews.

    „Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen“ – Soziologe Grigori Judin im Interview mit Meduza / Foto Screenshot aus Skashi Gordejewoi/Youtube

    Margarita Ljutowa: Die heutige Politik Russlands wird von vielen so verstanden, dass für Putin der Krieg ein endloses Unternehmen ist. In seiner jüngsten Botschaft an die Föderationsversammlung hat er das wohl wieder bekräftigt: Er verlor kein Wort darüber, wie Russlands Sieg aussehen soll und was danach kommt. Was meinen Sie, ist Putins Plan tatsächlich ein ewiger Krieg?

    Grigori Judin: Ja, natürlich, dieser Krieg wird nie aufhören. Er hat keine Ziele, nach deren Erreichen er beendet werden könnte. Er wird einfach immer weitergehen, weil „sie“ [in Putins Vorstellung] Feinde sind und uns töten wollen – und wir sie. Für Putin ist das eine existenzielle Konfrontation mit einem Gegner, der vorhat, ihn zu vernichten. 

    Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen

    Wir dürfen uns keine Illusionen machen: Solange Putin im Kreml sitzt, wird der Krieg weitergehen. Er wird sich immer weiter ausdehnen.

    Die russische Armee wird in aller Eile vergrößert, die Wirtschaft auf Kanonen umgestellt, und Bildung wird zum Werkzeug von Propaganda und Wehrerziehung. Das Land wird auf einen großen, schweren Krieg vorbereitet.      

    Und dann ist ein Sieg für Putin von vornherein unmöglich?

    Absolut unmöglich. Den setzt sich auch niemand zum Ziel, es gibt keine Definition, was überhaupt ein Sieg wäre.

    Ist das Kriegsziel also einfach Wladimir Putins Machterhalt?

    Das ist ungefähr dasselbe: Putin stellt sich seine Regentschaft als Dauerkrieg vor. Putin und sein Umfeld erzählen uns seit Jahren, dass gegen uns Krieg geführt wird. Manche haben das lieber ignoriert, aber [Putin und sein Umfeld] glauben wirklich, dass sie schon lange in einen Krieg verwickelt sind. Nur ist dieser Krieg inzwischen in eine so aggressive Phase eingetreten, dass es offenbar keinen Ausweg mehr gibt. In dieser Weltsicht ist Krieg grundsätzlich die Norm. Hören Sie einfach auf, Frieden für den Normalzustand zu halten – dann sehen Sie die Situation mit deren Augen. Wie [Natalja Komarowa,] die Gouverneurin des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen sagte: „Der Krieg ist ein Freund.“ 

    Am 22. Februar 2022, zwei Tage vor dem Einmarsch in der Ukraine, erschien auf der Website von openDemocracy ein Artikel von Ihnen, in dem Sie sowohl den drohenden großen Krieg als auch Putins Gleichgültigkeit gegenüber den Sanktionen beschrieben, mit denen die westlichen Länder auf diesen Krieg reagieren würden. Im zweiten Teil erörterten Sie, dass der Krieg gegen die Ukraine „einer der sinnlosesten Kriege der Geschichte“ werden würde. Was meinen Sie, hat die russische Gesellschaft im vergangenen Jahr begonnen, das zu begreifen?

    Nein, ich glaube nicht. Sehr viele haben das sofort deutlich gesehen, diese Gruppe hat jedoch seitdem keinen Zuwachs bekommen. Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet, und genau hier befindet sich Wladimir Putin ausnahmsweise in Resonanz mit weiten Teilen der Gesellschaft. Zwar teilt keineswegs die ganze Gesellschaft seine wahnhaften Theorien, aber hier trifft er auf Resonanz und produziert darüber hinaus auch noch selbst diese Emotion. Diese Emotion ist Kränkung, eine ungeheure, grenzenlose Kränkung. Eine Kränkung, die durch nichts gelindert werden kann. An eine produktive Gestaltung internationaler Beziehungen lässt sich unter diesen Umständen nicht einmal denken.

    Im heutigen Russland ist eine starke Emotion weit verbreitet: eine ungeheure, grenzenlose Kränkung

    Wissen Sie, das ist wie bei einem Kleinkind, das beleidigt ist und den anderen Schaden zufügt. Dieser Schaden wird immer größer und größer, und irgendwann fängt das Kind an, anderen Leuten und gleichzeitig sich selbst das Leben zu zerstören. Aber dem Kind ist das nicht bewusst, es kommt nicht auf die Idee, dass es an den Beziehungen arbeiten muss.

    In Russland gibt es ein schönes Sprichwort: „Beleidigte sind gut fürs Wasserschleppen.“ Eines Tages werden wir verstehen, dass sich diese Kränkung gegen uns selbst richtet, dass wir uns selbst damit schaden. Aber noch halten zu viele von uns an ihrer Gekränktheit fest.           

    Von wem fühlen sich denn Putin und die russische Gesellschaft so gekränkt? Von der ganzen Welt? Vom Westen? Den USA?

    Von der Weltordnung insgesamt, die ungerecht erscheint, und folglich von dem, der als Senior-Partner die Verantwortung für diese Welt übernimmt, also von den USA. Das sind Vorwürfe gegen die ganze Welt – in dem Sinn, dass das menschliche Leben einfach schlecht konstruiert ist. 

    Ich muss immer an eine Aussage von Putin Mitte 2021 denken. Er sagte damals völlig ohne Anlass, es gebe im Leben überhaupt kein Glück. Das ist eine starke Aussage für einen politischen Leader, der ja eigentlich von der Idee her das Leben der Menschen verbessern, ihnen irgendwelche Ideale, Anhaltspunkte vermitteln sollte. Und da sagt dieser Mensch [sinngemäß]: „Im Leben gibt es kein Glück. Die Welt ist generell ein schlechter, ungerechter, schwer erträglicher Ort, an dem die einzige Daseinsform darin besteht, permanent zu kämpfen, sich zu prügeln und im Extremfall zu töten.“   

    Dieses Beleidigtsein auf die ganze Welt ist in Russland stark verwurzelt, und es wird auf den projiziert, der vermeintlich für diese Welt verantwortlich ist: die USA. Die Vereinigten Staaten haben tatsächlich ab einem gewissen Punkt die weltweite Verantwortung übernommen – was nicht immer von Erfolg gekrönt war. Und wir sehen, dass das Ressentiment, von dem ich jetzt spreche, wahrlich nicht nur in Russland existiert (wo es katastrophale, schauderhafte Formen annimmt).

    Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, neigen dazu, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen

    In einem großen Teil der Welt gibt es eine durchaus begründete Kritik an der herrschenden Weltordnung, an die Adresse der USA, die die Verantwortung übernommen haben, zum Hegemon wurden und in vielen Aspekten Nutznießer dieser Ordnung sind. Wir sehen, dass jene Regionen, die von diesen Ressentiments erfasst sind, dazu neigen, Wladimir Putin mit mehr Verständnis zu begegnen. Das ist der globale Süden, der seit Jahrzehnten unter einer immer stärkeren Ungleichheit leidet und teilweise auch, zumindest symbolisch, unter den wahnwitzigen außenpolitischen Abenteuern, in die sich die USA gestürzt haben. Dasselbe gilt für Teile der Bevölkerung des globalen Nordens, die sich ebenfalls gekränkt und als Opfer fühlen. Fast überall, wo man diesem Ressentiment begegnet, trifft man auch auf ein größeres Verständnis für Putins Vorgehen.     

    Ich würde nicht sagen, dass dieses Verständnis in Unterstützung umschlägt – Putin hat nämlich nichts anzubieten. Er reproduziert einfach ständig dieselben Fehler, nur in immer schrecklicheren Dimensionen. Einer meiner Kollegen formulierte mal sehr treffend das Grundprinzip der russischen Außenpolitik: „Was die anderen nicht dürfen, können wir auch.“ Es ist ja kaum zu übersehen, dass Putin genau das anstrebt, wofür er die USA kritisiert. Insofern ist es schwierig, ihn [im Ausland] zu unterstützen, aber viele wollen sich ihm in dieser Gekränktheit anschließen.  

    Gab es dieses Ressentiment in der russischen Gesellschaft schon vor Putin, also in den 1990ern? Oder wurde es erst unter Putin gezüchtet?

    In jeder Gesellschaft gibt es immer die unterschiedlichsten Emotionen. Ein Politiker muss immer herausfinden, auf welche er setzt. Einige Gründe für diese Gekränktheit gab es [in der russischen Gesellschaft] natürlich durchaus. Sie haben mit der belehrenden Rolle zu tun, die die Vereinigten Staaten und teilweise auch Westeuropa einnahmen. Ideologisch verpackt wurde das in der Modernisierungstheorie, der zufolge es entwickelte Länder und Entwicklungsländer gibt. Und die entwickelten belehren – durchaus wohlwollend und unterstützend – die Entwicklungsländer: „Leute, macht das mal lieber so und so.“ Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land, das selbst eine imperiale Vergangenheit hat. 

    Generell mag es niemand gern, belehrt zu werden. Schon gar nicht ein großes Land mit imperialer Vergangenheit

    In Wirklichkeit war die Situation, die sich in den 1990er Jahren entwickelte, viel komplexer. Wir dürfen nicht vergessen, dass Russland [nach dem Zerfall der UdSSR] zu einer ganzen Reihe führender internationaler Foren eingeladen wurde und Einfluss auf große globale Entscheidungen hatte. Erinnern wir uns an die Kehrtwende des damaligen Ministerpräsidenten Jewgeni Primakow über dem Atlantik, an die von Jelzin angeordnete Entsendung von Truppen nach Jugoslawien – mit einem Wort, auf Russland musste man hören. Es gab jedenfalls diplomatische Ressourcen, die man hätte ausbauen können und müssen. 

    Aber diesen belehrenden Ton [Russland gegenüber], den gab es durchaus. Er war das Ergebnis eines schweren ideologischen Fehlers. Angesichts des gescheiterten sozialistischen Projekts glaubten viele, es gäbe nur den einen geraden Weg: die berühmte Theorie vom „Ende der Geschichte“. Insofern ja, die Voraussetzungen für Ressentiments waren vorhanden, aber es gab auch welche für andere Emotionen.    

    Es gab etliche konkurrierende Narrative über den Zerfall. Eines davon war die Volksrevolution

    Außerdem war die Beschreibung und das Erleben des Zusammenbruchs der UdSSR als katastrophale Niederlage ganz bestimmt nicht vorprogrammiert, es gab etliche konkurrierende Narrative [die die Bedeutung des Zerfalls für die Bevölkerung beschrieben]. Eines davon bestand darin, dass es sich um eine Volksrevolution gehandelt habe, ein ruhmreicher Moment in der Geschichte des russischen und anderer Völker, weil es ihnen gelungen ist, ihr verhasstes, tyrannisches Regime zu stürzen. Dieses Konzept hätte natürlich nicht in die Kränkung geführt.     

    Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden. Er hat dieses Gefühl immer weiter geschürt

    Aber Putin hat sich für die Kränkung entschieden, was wohl teilweise mit seiner Persönlichkeit zu tun hat. Wobei es auch kein Zufall ist, dass ausgerechnet ein Mensch an die Spitze kommt, der eine angeborene Gekränktheit mitbringt. In der Folge hat Putin dieses Gefühl immer weiter geschürt. Und Kränkung ist ansteckend. Es ist eine bequeme Emotion: Erstens fühlst du dich die ganze Zeit im Recht, zweitens unverdient niedergemacht. 

    Sie haben mehrfach geäußert, dass Putin Ihrer Meinung nach in der Ukraine nicht Halt machen wird. Was meinen Sie damit genau? Moldawien, die baltischen Länder oder einen selbstzerstörerischen Krieg gegen die USA?

    Diese Art von Weltbild kennt im Grunde keine Grenzen. „Russland hört nirgendwo auf“ ist praktisch die offizielle Formel. Das ist die Standard-Definition eines Imperiums, denn ein Imperium erkennt keine Grenzen an.

    Die ersten Grenzen in Europa entstanden 1648, mit dem Westfälischen Frieden, der das Ende der Imperien einleitete. Da kam erstmals der Gedanke auf, zwischen den Ländern Grenzen zu ziehen: „Hier sind wir, da seid ihr.“ Ein Imperium erkennt diesen Gedanken nicht an: „Wir sind da, bis wohin wir gekommen sind. Und ihr seid dort, wo wir noch nicht sind. Sobald wir da sind, seid ihr weg.“

    In dieser Logik gibt es prinzipiell keine Grenzen, und es ist kein Zufall, dass wir nie hören, dass Russland irgendwelche Grenzen offiziell anerkennt. Wir bekommen höchstens das unbestimmte Gefühl mit, dass es irgendwo einen Westen gibt, und der ist uns irgendwie fremd. Nicht, dass er so gar nicht zu uns gehören würde, aber doch beginnt dort ein Bereich, den man nur noch sehr schwer einnehmen kann. Der Westen natürlich in dem [ideologischen] Sinn, den er in der Sowjetzeit innehatte.

    Putin sagte ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei

    Ich möchte an das Ultimatum [von Putin gegenüber den USA und der NATO] vom Dezember 2021 erinnern: Damals sagte Wladimir Putin ganz klar und in vollem Ernst, dass ganz Osteuropa seine Einflusssphäre sei. Wie das formell aussehen wird, mit oder ohne Verlust der formellen Souveränität – was spielt das für eine Rolle? Diese Einflusssphäre umfasst zweifellos auch die ehemalige DDR, einfach weil Wladimir Putin damit persönliche Erinnerungen verbindet. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass er dieses Territorium nicht als seines betrachtet. Putin hat definitiv vor, die Zone des Warschauer Paktes wiederherzustellen – und dann mal schauen, wie es läuft.

    Ich höre oft: „Das ist doch Unfug, wie soll das funktionieren? Das ist irrational, das ist Wahnsinn, dazu hat er gar nicht die Möglichkeiten!“ Ich erinnere daran, dass das Gleiche vor Kurzem noch über die Ukraine gesagt wurde. Oder über Moldau, und jetzt hören wir, dass die moldauische, die ukrainische und die Regierung der USA Moldau als ernsthaft bedroht einschätzen. Wir haben bereits gesehen, dass Moldau in den Plänen der aktuellen Militäroperation immer wieder vorkam, es hat sich nur noch nicht ergeben.

    Wir sollten zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass eine Handlung, die Person X unternimmt, zum Erfolg führt. Etwas anderes ist es, wie hoch man die Wahrscheinlichkeit einschätzt, dass Person X diese Handlung unternimmt. Man mag zu Recht der Meinung sein, dass dieses Handeln zum Scheitern verurteilt ist, aber daraus folgt nicht, dass die Person es nicht tut. Nicht, weil die Person irrational wäre, sondern weil sie zum Beispiel der Meinung ist, keine andere Wahl zu haben.

    Die allgemeine [russische] Strategie sieht in etwa so aus: Wir greifen uns ein Stück, das wird für legitim erklärt, und im nächsten Schritt greifen wir uns auf Grundlage dieser Legitimität etwas anderes.

    Mithilfe eines Waffenstillstands können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden

    [In der Logik dieser Strategie] greifen wir uns, grob gesprochen, zuerst die Ostukraine, mithilfe eines wie auch immer gearteten Waffenstillstands. Auf diese Weise können die Gewinne gesichert und die Reserven aufgefüllt werden. Die globale Wirtschaft hat somit einen guten Grund, nach Russland zurückzukehren (das sie größtenteils gar nicht verlassen hat), während im Gegensatz dazu unter solchen Bedingungen niemand in die Ukraine investieren wird. Das schafft die Voraussetzungen für einen weiteren Vorstoß [Russlands] in der Ukraine.

    Putin ist überzeugt, dass die NATO auseinanderbrechen wird, sobald die Zeit gekommen ist, Artikel 5 auf die Probe zu stellen

    Daraufhin werden in Europa bald Stimmen zu hören sein, die sagen: „Am Ende war es doch ihr Territorium, jetzt haben sie sich geeinigt und gut ist.“ Aber Moment mal, wenn das „ihr“ Territorium ist, russisches Territorium, weil man dort russisch spricht, was ist dann zum Beispiel mit dem Osten Estlands? Man kann antworten: Aber Estland ist in der NATO! Doch wird die NATO um Estland kämpfen? Putin ist überzeugt: Sollte Artikel 5 der NATO zum richtigen Zeitpunkt auf die Probe gestellt werden, dann würde die NATO auseinanderbrechen. Und das aus einem einfachen Grund: Sie wissen im Grunde, dass sie sich etwas genommen haben, das ihnen nicht gehört, und deswegen werden sie kneifen und nicht darum kämpfen, wenn es ernsthaft bedroht wird.

    Wenn niemand in Westeuropa bereit ist, für die Gebiete im Osten zu kämpfen (zur Erinnerung: All das geschieht [in diesem Szenario], nachdem Russlands Annexion ukrainischer Gebiete durch unterschriebene Dokumente legitimiert wurde), dann gibt es da natürlich noch die USA. Aber die USA könnten zu diesem Zeitpunkt bereits einen anderen Präsidenten haben, dem Osteuropa nicht so wichtig ist.

    Putin wird so viel bekommen, wie man ihm lässt

    Lassen Sie mich klarstellen: Ich halte das Gesagte nicht für das wahrscheinlichste Szenario. Es beschreibt Putins Strategie, aber Putin beherrscht nicht die Welt – er wird so viel bekommen, wie man ihm lässt. Aber völlig ausgeschlossen ist das alles nicht. Ich spreche von durchaus realistischen Dingen.

    Man kann sich gut vorstellen, dass Putin und sein engster Kreis am 24. Februar 2022 so gedacht haben. Aber es ist ein Jahr vergangen – und der Westen ist nicht zersplittert, mehr noch, er leistet der Ukraine spürbare Unterstützung. Ist es denkbar, dass dieses Jahr und die Ergebnisse der russischen Militärkampagne sich auf die Weltsicht, die Sie gerade beschrieben haben, ausgewirkt haben?

    Ja, bestimmt. Ich nehme an, Wladimir Putin ist jetzt überzeugt, alles richtig gemacht zu haben. Selbst wenn er Zweifel hatte, dann [weiß er jetzt, dass sie] unberechtigt [waren]. Dieses letzte Jahr hat ihm gezeigt: Wenn der Westen so sehr an der Ukraine hängt, dann ist sie offenbar doch eine Schlüsselregion, von der aus man ihn angreifen wollte. Außerdem ist es [aus Putins Sicht] gut, dass die aktuellen Probleme sich vor dem echten Krieg offenbart haben, den die russische Führung für unausweichlich hält. Viel schlimmer wäre es [in ihrer Logik], mit dieser Armee in diesen [zukünftigen] großen Krieg zu gehen. Das heißt, alles, was geschieht, bestärkt Putin nur in seinen Ansichten.

    Der geplante Blitzkrieg um Kyjiw ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?

    Es gibt so eine Phrase: „Putin hat sich verkalkuliert“. Aber wir sollten endlich aufhören, Wladimir Putin so geringzuschätzen. Sicher, wir haben gesehen, dass ein Blitzkrieg um Kyjiw geplant war, und der ist gescheitert. Aber wer sagt, dass das der einzige Plan war?

    Dieser Krieg wurde jahrelang vorbereitet. Es wäre merkwürdig, wenn es nur einen Plan gäbe. Bei einem Machthaber, der seit Langem an nichts anderes denkt als an die Vorbereitung auf diesen Krieg, funktioniert das so nicht. [In Putins Logik klingt das so:] „Ja, es ist nicht perfekt gelaufen, aber das macht nichts, wir bleiben dran. Wir sind bereit, so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht. [Die Ukraine] gehört uns, und irgendwann werden sie das einsehen und aufhören, ihre wertvollen Ressourcen zu opfern.“

    In Putins Logik klingt das so: Wir sind bereit so viel Blut zu vergießen, wie nötig ist – und sie sind es nicht

    Ich sage nicht, dass diese Taktik funktionieren wird. Mehr noch, ich denke, dass Putins eigene Logik ihn zur Niederlage verdammt – unbewusst will er verlieren. Die Frage ist, wie viele Menschen sterben werden, bevor es dazu kommt. Aber wenn wir die Situation vorhersehen wollen, müssen wir die Logik verstehen, nach der die Menschen handeln [, die in Russland an der Macht sind].

    Gibt es Ihrer Meinung nach etwas, das Putin zwingen würde, sein Weltbild in Zweifel zu ziehen?

    Nein. Nichts.

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  • Die schwindende Macht der Angst

    Die schwindende Macht der Angst

    Seit einem Jahr versucht Russland, die Ukraine in einem offenen Angriffskrieg zu unterwerfen. Nach einem massiven Truppenaufgebot entlang der ukrainischen Grenze hatte man im Kreml offenbar mit einem eingeschüchterten Gegner und einem schnellen Durchmarsch bis Kyjiw gerechnet. Doch es kam alles anders: Bereits im März 2022 musste sich die russische Armee aus den Gebieten um die ukrainische Hauptstadt zurückziehen, im Herbst konnte die Ukraine – insbesondere mit Hilfe von Waffenlieferungen der westlichen Verbündeten – große Teile der Oblaste Charkiw und Cherson zurückerobern und leistet weiter massiven Widerstand.

    Auf Meduza blickt Maxim Trudoljubow zurück auf dieses Jahr des Schreckens und bilanziert, dass sich die Angst als eine außenpolitische Ressource für Moskau weitgehend erschöpft habe, im Inland jedoch nach wie vor die gewünschte Wirkung zeige. 

    Zu Beginn des Krieges erwarteten Präsident Putin und seine Berater einen schnellen Erfolg mit wenig Krafteinsatz – Widerstand der Ukraine war jedenfalls nicht eingeplant. Die ukrainische Gesellschaft und vor allem die politische Führung der Ukraine, so hoffte man im Kreml, würde sich von der Truppenzusammenziehung an der Grenze einschüchtern lassen – und später dann vom Einmarsch, der gleich aus mehreren Richtungen erfolgte. Immer wieder erklären Militärexperten, die russische Armee sei nicht stark genug, ukrainisches Territorium zu erobern und zu halten. Mittlerweile belegen nicht nur Hinweise, sondern handfeste Fakten, dass Russland keinen langwierigen Krieg geplant und gehofft hatte, die Ukraine in Schockstarre einzunehmen. Der Sieg in der Ukraine hätte ein „moralischer“ werden sollen, errungen nicht durch Gewalt, sondern durch Demonstration von Stärke.

    Putin konnte den Widerstandswillen der Ukraine nicht brechen – trotz Tod und Zerstörung

    Trotzdem ist die russische Armee fähig, der Ukraine in enormem Ausmaß Tod und Zerstörung beizubringen. Da es Putin nicht gelungen ist, den Widerstandswillen der Ukraine zu brechen, nachdem er also eine moralische Niederlage davongetragen hat, setzt er auf materielle Zerstörung und auf Zermürbung. Daten der UNO zufolge gibt es bereits 18.000 zivile Todesopfer, bis zu 50 Prozent der Energie-Infrastruktur sind zerstört oder beschädigt. An die 40 Prozent der Gesamtbevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Vor dem Hintergrund dieser von Russland verursachten humanitären Katastrophe ist die Furchtlosigkeit der Ukrainer erstaunlich.

    Das vergangene Jahr hat gezeigt, wie wichtig es für Russland in seinen internationalen Beziehungen war, einen starken Eindruck zu machen. Russlands Potenzial brachte andere Länder dazu, Russland zumindest in Fragen der Sicherheit und Energieversorgung ernst zu nehmen, ja sogar auf Russland zu zählen. Indem es diesen Eindruck erweckte, verfügte Russland über eine Wirkmacht, die mehr auf einer Erwartung denn auf Tatsachen beruhte. Das ist jene Art von Macht, die nur so lange wirkt, bis sie vor der Wirklichkeit standhalten muss. 

    Auch in seinem Energiekrieg gegen Europa setzt der Kreml auf Einschüchterung. Die Europäer hätten sich vor dem Zudrehen des Gashahns fürchten, ihre Abhängigkeit einräumen und um Wiederaufnahme der Gaslieferungen bitten sollen. Den Export von Gas nach Europa hat Russland nicht beschränkt, weil es unter Druck stand, nicht wegen der Sanktionen, sondern freiwillig, um etwas in der Hand zu haben, womit es seinerseits eine Aufhebung der Sanktionen erzwingen kann. Ende September wurde der zu diesem Zeitpunkt bereits minimierte Export über die Pipeline Nord Stream 1 aufgrund einer Sprengung der Rohre vollends eingestellt. Der Kreml schiebt den Anschlag auf die Rohre England und Amerika in die Schuhe, die USA – dem Kreml. Europäische Beamte sprechen von einer möglichen Sabotage, mit unausgesprochenem Verweis auf Russland. Bisher konnte keine der Versionen bewiesen werden.

    Europa hat nicht gefroren – trotz 88 Prozent weniger Gas aus Russland

    Jedenfalls wurde der Export russischen Gases im ersten Kriegsjahr um 45 Prozent verringert, der nach Europa sogar deutlich mehr, nämlich um 88 Prozent. Dabei hat Europa nicht gefroren, sondern hat es geschafft, in Rekordzeit einen Teil durch Flüssiggas zu ersetzen und das, was bereits eingelagert war, effizienter zu nutzen. Begünstigt wurde das durch volle Speicher (unter anderem mit schon früher aus Russland bezogenem Gas) und einen milden Winter. Anfang Januar kehrte der Gaspreis am europäischen Handelspunkt TTF auf Vorkriegsniveau zurück. Außerdem hat Deutschland sich schleunigst in Wilhelmshaven ein eigenes Flüssiggas-Terminal zugelegt, das auch bereits in Betrieb ist. Vor dem Krieg gab es kein solches Terminal, weil Politik und Industrie in Deutschland jahrzehntelang von langfristigen, verlässlichen Lieferungen aus Russland ausgingen. 

    Eine Rückkehr zum früheren gegenseitigen Vertrauen und einer dementsprechenden Kooperation mit Europa und dem Westen wird es in der Energieversorgung nicht mehr geben, auch nicht, wenn die gesprengten Leitungsrohre repariert werden. Der Energiekrieg ist natürlich noch lange nicht beendet, und der nächste Winter kann für Europa schwieriger werden als der aktuelle, allein schon deswegen, weil die Auffüllung der Speicher mit unvorhersehbar teurem Flüssiggas mehr kosten wird als das billige Erdgas. Aber in welche Richtung es geht, ist entschieden: Laut dem Jahresbericht der Internationalen Energieagentur hat der Krieg den Übergang der größten Länder zu erneuerbaren Energien immens beschleunigt. Obwohl sie noch nicht vorherrschen, werden sie größtenteils den wachsenden Energieverbrauch tragen. Der Anteil Russlands am weltweiten Erdöl- und Erdgasmarkt wird diesen Berechnungen zufolge bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent zurückgehen und kaum jemals wieder auf das Vorkriegsniveau zurückkehren. Infolge des eigenen Handelns wird Russland langfristig keine Energie-Supermacht mehr sein.

    Drohung mit Atomwaffen – als einseitiger Angriff von seiten Putins

    Der Faktor Angst hätte auch nach Russlands Drohung mit Atomwaffen Wirkung zeigen sollen. Die vielen zuweilen mehr, zuweilen weniger kreativen Äußerungen zu diesem Thema lassen sich so zusammenfassen: Einerseits kann Russland gemäß seiner Militärdoktrin Atomwaffen nur einsetzen wenn es als Staat von außen mit einer Aggression und Bedrohung konfrontiert ist; andererseits kann Russland auch selbst damit anfangen. Bei einem Treffen mit dem UN-Menschenrechtsrat erklärte Putin, im Grunde könne auch von Seiten Russlands die nukleare Bedrohung eskalieren:  

    „Zum Thema, dass Russland auf keinen Fall als erstes [Atomwaffen] einsetzen wird. Wenn es sie tatsächlich unter keinen Umständen als erstes einsetzt, dann wird es sie auch nicht als zweites einsetzen. Denn nach einem nuklearen Angriff auf unser Staatsgebiet werden unsere Einsatzmöglichkeiten stark begrenzt sein.“ 

    Stark verkürzt ist das Putins „Philosophie“, mithilfe derer er sich und anderen erklärt: Wäre Russland nicht in die Ukraine (den Westen) einmarschiert, so hätte der Westen, vertreten durch die Ukraine, Russland angegriffen. Indem Russland den Krieg begonnen hat, versuche es ja nur, ihn zu beenden.  

    Behalten wir diese Formulierungen im Hinterkopf und sehen uns an, inwieweit sich die jetzige Situation von gefährlichen Scheidewegen in der Geschichte unterscheidet. Das heutige Russland ist in einer anderen Position als die USA 1945, als sie die Atombombe auf Japan warfen. Das Aggressor-Land Japan war am Verlieren, während die USA eine führende Rolle in der siegreichen Anti-Hitler-Koalition innehatten. Später veröffentlichte Dokumente haben gezeigt, dass die Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, den Ausgang des Krieges kaum beeinflussten und vielmehr eine Machtdemonstration waren, die über 200.000 Zivilisten das Leben kostete.

    Auch mit der atomaren Konfrontation des Kalten Krieges hat die heutige Situation keine Ähnlichkeit. Die Nervenduelle während der Kubakrise 1962 und während des Able-Archer-Manövers 1983 entstanden durch die Intransparenz der Handlungen beider Parteien und durch Befürchtungen, das Gleichgewicht des Schreckens zwischen den beiden Supermächten könnte aus dem Lot geraten. In beiden Fällen hatten die Parteien Angst, der Gegner könnte Oberhand gewinnen oder sogar den „finalen“ Krieg beginnen. 1962 hegte die US-Regierung den Verdacht, die UdSSR bereite von Kuba aus einen Atomschlag gegen Amerika vor. 1983 wiederum glaubte die Sowjetunion, dass die westlichen Staaten unter dem Deckmantel von Militärübungen von westeuropäischem Territorium aus einen Atomschlag gegen die UdSSR vorbereiten.  

    „2022 versucht Putin nicht, ein ins Wanken geratenes Gleichgewicht des Schreckens mit den USA auszugleichen, denn dieses Gleichgewicht war ja jetzt nicht in Gefahr“, schreibt Fiona Hill, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Brookings Institution und ehemalige Beraterin mehrerer US-Präsidenten. „Stattdessen droht Putin mit einem einseitigen Angriff, weil er einen Krieg verliert, den er selbst begonnen hat.“

    Heutzutage sind dank hochentwickelter Technologien, darunter nachrichtendienstlichen, alle Pläne und Truppenbewegungen transparent. Der Versuch der Manipulation mit Ängsten aus der Vergangenheit ist so durchschaubar, dass sie weniger erschaudern lässt als in früheren Situationen. Die westlichen Gegner in Schockstarre zu versetzen, ist dem Kreml nicht gelungen. 

    Die russische Gesellschaft wird in Angst versetzt – bereits die gesamten Putinjahre hindurch

    Die russische Gesellschaft in Angst zu versetzen – das betreibt der Staat bereits die gesamten Putinjahre hindurch, und im vergangenen Jahr hat er seinen Aufwand verdreifacht. OWD-Info nennt die Repressionen, die die russischen Behörden im letzten Jahr angestrengt haben, „präzedenzlos“. Die Zahl der Strafverfahren, die allein im letzten Jahr als Folge von Anti-Kriegs-Aktionen eingeleitet wurden (378), ist vergleichbar mit der Zahl aller Verfahren, die in den zehn Jahren davor im Zusammenhang mit repressiven Maßnahmen eingeleitet wurden, angefangen mit den Bolotnaja-Prozessen. 

    Diese Verfolgungen wurden durch einen kurzfristig ausgearbeiteten Rechtsrahmen ermöglicht. Im vergangenen Jahr wurde das Strafgesetzbuch der Russischen Föderation (RF) um Paragrafen zur „Verbreitung wissentlicher Falschinformationen über den Einsatz der Streitkräfte der RF“ und zu „öffentlichen Handlungen, die den Einsatz der Streitkräfte der RF diskreditieren sollen“ erweitert. Strafbar sind nun auch die „vertrauliche“ Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten und Organisationen, öffentliche Aufrufe zu Handlungen, die gegen die Staatssicherheit gerichtet sind, und die Verletzung der Vorschriften zum Schutz des Staatsgeheimnisses.   

    Verabschiedet wurden allgemeine Gesetze zur „Kontrolle der Aktivitäten von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“ (also von allen „ausländischen Agenten“) und Gesetze, die die sogenannte Propaganda „nichttraditioneller sexueller Beziehungen“ gänzlich verbieten

    Ein wichtiges Instrument, um Druck auf die Gesellschaft auszuüben, war auch – zweifellos mit Putins Segen – der Aufstieg des Unternehmers Jewgeni Prigoshin. Wobei Prigoshins Höhenflug kein Beweis dafür ist, dass der Staat sein Gewaltmonopol eingebüßt hat, auch wenn es so aussehen mag. Es deutet eher auf den Versuch hin, dieses Monopol auf offenkundig kriminelle Gewalt auszuweiten und sich Verbrecher dienstbar zu machen. Offensichtlich strebt der russische Staat nicht nach Legitimität, wofür das Gewaltmonopol wichtig wäre, sondern nach einer Unterwerfung der Gesellschaft durch Gewalt, materielle Interessen und – offenbar bereits in geringerem Ausmaß – durch Propaganda.  

    Die Bemühungen des Kreml haben zu einer Polarisierung der Gesellschaft geführt, zu ihrer Unterteilung in ungleiche Gruppen. Ein Großteil unterstützt den Krieg vielleicht nicht, nimmt ihn aber zumindest als unausweichlich hin und sucht nach Möglichkeiten, unter den neuen Gegebenheiten zu überleben oder sogar daran zu verdienen. Wie der Finanzanalyst Alexander Koljandr bemerkte, ist der Kreml damit beschäftigt, eine ganze Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist. 

    Der Kreml ist damit beschäftigt, eine Schicht von Staatsbürgern zu erzeugen, die an der Fortsetzung des Krieges interessiert ist

    Für hunderttausende Vertragssoldaten und Einberufene ist der Sold höher als jegliche Einkünfte, die sie in Friedenszeiten erzielen konnten. Profitieren können auch die, die auf die eine oder andere Art an den Rüstungssektor, an Industrien zur Importsubstitution und an neue Importnetze zur Umgehung der Sanktionen angebunden sind. Diese Schichten machen vielleicht gerade mal die Hälfte der Bevölkerung aus, sind aber zahlenmäßig größer als jene Gruppen, die im letzten Jahr emigriert sind – und hier bleibt unberücksichtigt, dass die bereits erfolgte Mobilmachungswelle mit ziemlicher Sicherheit nicht die letzte sein wird. Den mangelnden Kampfgeist ersetzt der Kreml konsequent durch materielle Stimuli und indem es keine Alternativen zu dem neuen Wirtschaftsprogramm gibt.

    Mit Einschüchterung und Repressionen ist es dem Kreml gelungen, den Widerstand gegen den Krieg zu unterdrücken und einen Teil der Kriegsgegner aus dem Land zu drängen. Bei sinkenden Einkünften aus Energie- und sonstigen Exporten geht es in erster Linie um die Aufteilung des Staatshaushalts, der zunehmend danach ausgerichtet wird, den Krieg weiterzuführen. Dazu müssen die Menschen entweder ihre Ansichten verbergen oder wetteifern, wer die meiste Loyalität bekundet. Die russische Gesellschaft war offenbar leichter mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt. 

    Hört man den russischen Leadern zu, dann haben sie diesen seit 80 Jahren größten Krieg auf europäischem Boden angezettelt, um Sicherheit zu gewährleisten. In der russischen Rhetorik, die auf die Rechtfertigung der Invasion abzielt, sind die Begriffe „Sicherheit“ und „Sicherheitsgarantien“ ständig zu hören. Fiona Hill nennt das ein systemimmanentes Paradoxon der russischen Politik: Indem der Staat die Priorität der Sicherheit in allen Sphären betont, ist er in Wirklichkeit permanent damit beschäftigt, die Angst hochzupeitschen. 

    Es war leichter, die russische Gesellschaft mit Angst in den Griff zu kriegen als die Ukraine, Europa und die USA. Die Angst hat sie gelähmt

    Vor unseren Augen haben Millionen Ukrainer, EU-Bürger und Amerikaner demonstriert, wie man auf solche Manipulationen richtig reagiert. Russlands militärische, energetische und ökonomische Aggression gegen seine Nachbarn und langjährigen Handelspartner bringt unvergleichliche Not und Verluste – momentan natürlich vor allem in der Ukraine. Trotzdem schüren Russlands Handlungen heute weniger Angst als in etlichen früheren brenzligen Situationen.

    Offensichtlich bleibt Russland unter der jetzigen Regierung einer der gefährlichsten Staaten der Welt. Das weiß heute jeder – aber niemand weiß, ob das im Fall eines Machtwechsels anders wird. Sich von Moskaus Handlungen auf vielfältige Weise abzusichern, wird daher für die Politik sämtlicher Staaten, die mit Russland zu tun haben, auf Jahrzehnte hinaus Pflichtprogramm sein. 

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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    Auch an den Neujahrsfeiertagen gehen russische Angriffe auf die Ukraine unvermindert weiter. Seine traditionelle Neujahrsansprache hat Wladimir Putin in diesem Jahr entgegen der Tradition nicht vor dem Kreml gehalten, sondern im Kreis von Soldatinnen und Soldaten der russischen Armee. Putin hatte sie im südlichen Militärbezirk in Rostow am Don besucht. In seiner Rede warf er dem Westen Lügen vor und auch, die Ukraine zu benutzen, um Russland zu schaden. 
    Der US-amerikanische Think Tank Institute for the Study of War (ISW) hält Putins Worte für einen Versuch, den kostspieligen Krieg zu rechtfertigen und sich selbst dabei als Kriegsführer darzustellen, der alles unter Kontrolle habe. Der Think Tank liest darin außerdem auch die Botschaft, dass der Kreml an einem Frieden nicht interessiert sei, es sei denn, er diktiere der Ukraine und dem Westen die Bedingungen dafür.

    Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky indes erklärte in seiner Neujahrsansprache, den Ukrainern könne nichts mehr Angst machen – sie seien für 2023 auf alles gefasst. Das neue Jahr möge ein „Jahr der Heimkehr“ werden. Er sprach von einer Ukraine, die wieder 603.628 Quadratkilometer hat, „das Gebiet der unabhängigen Ukraine, wie es seit 1991 besteht“.

    Wie wichtig es ist, in Szenarien zu denken, und wie schwer, Prognosen zu treffen, da das Handeln des Kreml keiner Logik und keinem Plan mehr folgt – das thematisiert Meduza-Politikredakteur Andrej Perzew in Kit, einem Newsletter-Format von Meduza. Solche Mailinglisten sind mehr und mehr nach dem 24. Februar aufgekommen, als im Zuge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine mehr und mehr Websites unabhängiger Medien in Russland blockiert wurden und nicht mehr ohne Weiteres zugänglich waren.

    Wir haben sehr lange in einer Wirklichkeit gelebt, in der Putin eine Art Plan hatte. Wenn die Zeit reif war, erfuhren wir neue Einzelheiten dieses Plans, und die Ungeduldigen konnten sich den nächsten Schritt auch ausrechnen – mithilfe der „Kreml-Logik“. So eine Art „Lebensregeln“ der obersten Staatslenker, und wer die Logik dahinter kennt, der kann Russland verstehen – nicht nur den Kern dessen erkennen, was gerade geschieht, sondern auch die Zukunft vorhersagen. Unter anderem dank der Kreml-Logik florierte die politische Journalistik im Land – regierungsnahe Quellen erzählten den russischen Staatsbürgern, worüber man im Kreml nachdenkt und spricht. Die Kreml-Logik hat auch die anonymen Telegram-Kanäle populär gemacht, die im Netz Gerüchte und Analysen im Sinne der offiziellen Leitfäden verbreiteten.

    Mit „Putins Plan“ und „Kreml-Logik“ existierte das Land über 20 Jahre. Einerseits war es wenig erfreulich zu wissen, dass wir von dem Willen eines einzelnen Menschen abhängen. Andererseits half es dabei, relativ angstfrei in die Zukunft zu blicken – wo man Prognosen aufstellen kann, da entsteht ein Gefühl von Kontrolle, auch wenn man in Wirklichkeit keinerlei Kontrolle hat.

    Den Kreml-Bewohnern sind Plan und Logik abhandengekommen

    Der Krieg hat alles verändert. Ich bin mir sicher, dass jeder, der diese Zeilen liest, ihn nicht nur als globale, sondern auch als persönliche Tragödie empfindet. Die Rede ist von einem sehr egoistischen Gefühl: als würde einem der Boden unter den Füßen weggerissen. Es gibt keine Zukunft mehr, man kann weder über sie nachdenken noch etwas planen. Genau das Gleiche empfinden gerade auch die Kreml-Bewohner: Ihnen sind Plan und Logik abhandengekommen. 

    In den 2010er Jahren war beides im Vorgehen der russischen Machthaber noch irgendwie erkennbar. Im Inneren setzte das System auf die Verschärfung der Repressionen und die Verstaatlichung der Wirtschaft (das heißt, auf die Umverteilung von Aktiva zugunsten der engsten Umgebung des Präsidenten). Beim Unterdrücken und Umverteilen vergaß der Präsident allerdings nicht, dass ihn die völlige Willkür den Zugang zur Macht kosten könnte. Deshalb griff der Kreml selten zu unpopulären Mitteln, hielt die soziale Stabilität aktiv aufrecht und gab den Bürgern sogar die Möglichkeit, ihren Dampf bei sogenannten Wahlen abzulassen. Für diejenigen, die die Nase voll hatten, hielten die Wahlzettel stets etwas parat – einen oppositionellen Kandidaten oder eine Spoiler-Partei

    In den internationalen Beziehungen agierte Putin ganz ähnlich – er pflegte das Bad-Boy-Image, aber wusste zugleich, wann es genug war. Die „roten Linien“ des Westens überschritt er nicht: Putin war zum Beispiel schon 2014 klar, dass er noch härtere Sanktionen als bei der Krim riskiert, wenn er es im Donbass zu weit treibt. Das war es ihm nicht wert. Deshalb schickte er seine Truppen nicht offiziell in die Oblast Donezk oder Luhansk. Was das Regime sich auch in den Kopf setzte, der Nutzen im Sinne der „Realpolitik“ blieb immer das Wichtigste.

    Aber vier Jahre später, als Wladimir Putin 2018 zum wiederholten Male Präsident wurde, änderte er seine Herangehensweise und griff schließlich zu unpopulären Maßnahmen, von denen er bisher offenkundig Abstand gehalten hatte. So verkündete die Regierung 2018 beispielsweise die Rentenreform – und sackte in den Umfragen sofort drastisch ab.

    Putin macht nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt

    Im Handeln des Kreml war immer weniger Kreml-Logik zu erkennen. Denken wir an einen weiteren Meilenstein der neuesten russischen Geschichte – das Referendum über die Verfassungsänderungen. Wo lag hier der Nutzen? Laut Gesetz war die Willensäußerung des Volkes nicht obligatorisch – obligatorisch sind Referenden nur bei Änderungen in den ersten beiden Kapitel des Grundgesetzes, und dort wollte Putin gar nichts ändern. Es hätte also gereicht, wenn sich die Abgeordneten der Staatsduma und die Mitglieder des Föderalen Rates abgestimmt hätten. Aber das Referendum wurde trotz allem durchgeführt, sogar trotz Pandemie. Die Russen stimmten in Kofferräumen, auf Steinen und Baumstümpfen ab (das sind alles reale Beispiele, falls es jemand vergessen hat), und zwar nicht aus pragmatischen Gründen, sondern einfach, weil es Wladimir Putin gefällt zu sehen, wie sein Volk ihn unterstützt. Er macht also nicht mehr das, was nötig ist, sondern das, was ihm gefällt.

    Aber selbst als das offensichtlich wurde, machten wir, die russischen Politikexperten, so weiter, als würde die Kreml-Logik immer noch funktionieren. Genau aus diesem Grund glaubten viele von uns nicht daran, dass der Krieg möglich wäre, quasi bis zum letzten Tag – denn ein Krieg gegen die Ukraine ist nicht nur monströs, sondern unpraktisch. Und Putin ist doch Pragmatiker, der würde doch niemals irrational handeln. Ja, ja, er droht vielleicht mit Manövern an der Grenze, aber er verfolgt damit auch klare Ziele – eine weitere Verhandlungsrunde mit den USA oder die Aufhebung von Sanktionen. Ein Jahr vor dem Krieg war es übrigens genauso: Damals fand vor dem Hintergrund der Manöver russischer Truppen an der ukrainischen Grenze ein Treffen zwischen Wladimir Putin und Joe Biden statt.

    Wir, die Politikexperten, machten so weiter, als würde die Kreml-Logik noch immer funktionieren

    Es ist immer noch schwer zu glauben, aber Putins manisches Verlangen, das Nachbarland zu erobern, hat alle rationalen Argumente übertrumpft. Ukrainische Städte werden bombardiert, nur weil Putin das so will. Und es tut ihm um niemanden leid – weder um Ukrainer noch um Russen.
    Wonach es ihm danach verlangen wird, wissen wir nicht und können es nicht wissen, und deshalb haben wir – das muss man sich endlich eingestehen – jede Möglichkeit verloren, das Vorgehen des Kreml vorauszusagen. Es folgt keiner Logik mehr, und deshalb fehlt diese auch für unsere Prognosen.

    Was bleibt dann noch?

    Ein simples Beispiel aus dem Alltag. Nehmen wir an, Sie haben beschlossen, nach der Arbeit zu entspannen und einen lustigen Film zu schauen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie Ihre Zeit genauso verbringen werden, wie Sie es sich vorgenommen haben, und nur höhere Gewalt würde Sie davon abhalten. Sie werden Ihre Entscheidung kaum selbst ändern: Sie sind zu Hause, wo Sie die Kontrolle haben, und das Internet wimmelt von Filmen für jeden Geschmack.

    Eine ganz andere Sache ist es, wenn Sie am Wochenende einen Ausflug ins Umland planen. Es ist Spätherbst, das Wetter ist sehr wechselhaft. Alles Mögliche kann schiefgehen. Zum Beispiel ein Temperatursturz. Oder es schüttet aus Eimern. Oder ein Sturm. Kurz gesagt, Sie sollten bereit sein, zu Hause zu bleiben und noch ein paar Filme zu schauen. Oder Sie gehen trotzdem los und werden nass bis auf die Knochen.

    Im Grunde hat der Kreml einen Ausflug ins Umland geplant, doch dann ist ein Sturm aufgezogen. Noch dazu ist Moskau Stürme nicht gewohnt — vor dem Krieg lebte man hier unter günstigsten Bedingungen, und niemals wurden Pläne durch äußere Einflüsse durchkreuzt. Dank der hohen Preise für Erdöl und Gas füllt sich die Staatskasse, die schweigende Mehrheit hatte sich an Wahlen ohne Auswahl gewöhnt, und den aktiven Protesten der vorlauten Minderheit hatte man durch verschärfte Gesetze erfolgreich Einhalt geboten. Das System hatte alles unter Kontrolle und war maximal stabil. Die Gesellschaft spürte das genau, und vielen war diese Gemengelage nicht unrecht – die Stabilität des Systems galt nicht nur der Regierung, sondern auch dem Volk als höchste politische Tugend.

    Außer Kontrolle

    Mit dem Beginn des Krieges begab sich der Kreml auf ein Territorium, das er nicht kontrollieren kann. Mit Territorium ist hier nicht einmal konkret das Staatsgebiet der Ukraine gemeint (obwohl natürlich auch das), sondern die Situation insgesamt. Plötzlich wurde der entscheidende politische Überlebensfaktor ein gewisser Anderer – ein ganzes Land, die Ukraine, sowie alle ihre Verbündeten –, der jederzeit reagieren kann, und zwar überraschend und heftig. Nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Sanktionen, von denen etliche wirklich schmerzhaft sind. All das erzeugt einen gewaltigen Unsicherheitsfaktor nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Systems. 

    Die Unsicherheit verdichtet sich in all diesen langen Monaten, und der Kreml gerät ins Schleudern. Im August und September, als den ukrainischen Truppen plötzlich eine Gegenoffensive in der Oblast Charkiw gelang, begann er also Referenden über die „Eingliederung“ der besetzten Gebiete mal chaotisch abzusagen, dann wieder eilig anzuberaumen. Sie hätten in feierlicher und ruhiger Atmosphäre stattfinden sollen, doch weder das eine noch das andere wurde erzielt: Die Referenden verliefen chaotisch und unschön, ohne Kampagne, unter vorgehaltenen Pistolen. Ein logischer Schritt wäre gewesen, sie zu verschieben, aber wir wissen ja bereits, dass es im Kreml keine Logik mehr gibt. Wenn noch irgendwo tief drinnen ein letztes Fünkchen existiert hat, so gehört es mittlerweile zusammen mit dem Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben, endgültig der Vergangenheit an.

    Mobilmachung: Neue Unsicherheit im Inland

    Um auf dem Schlachtfeld Macht, Kontrolle und Initiative zurückzugewinnen, entschloss sich der Kreml zur Mobilmachung – und zog sich damit eine neue Unsicherheit im Inland zu. Damit trat ein weiterer Anderer auf den Plan, von dessen Vorgehen die Machthaber jetzt ebenfalls abhängig sind: der Russe, der nicht in den Schützengraben will. Noch ist schwer zu sagen, wie viele es sind – nicht nur die, die aus dem Land geflohen sind, sondern auch die, die sich in den Städten und Dörfern Russlands vor der Einberufung verstecken. Doch zusammen mit ihren empörten Verwandten bilden sie eine bedrohliche Unsicherheitswolke, mit der die Machthaber eindeutig ebenfalls nicht gerechnet haben. Wie der Zusammenprall zwischen dem Kreml und dieser Wolke ausgehen wird, ist schwer abzusehen, zumal wir ja noch nicht einmal die jüngste Vergangenheit verstanden haben. Zum Beispiel die Proteste gegen die Mobilmachung in der föderalen Regierung des sonst so loyalen Dagestan – was war das? Wird es das wieder geben? Noch vor ganz kurzer Zeit hatte man sich solche Proteste überhaupt nicht vorstellen können, aber sie sind passiert. Dafür reagierten traditionell „protestfreudige“ Städte wie Moskau und Sankt Petersburg auf die Mobilisierung und die Razzien eher kühl. Und wieder: Was war das? Wird es das nächste Mal auch so sein? Oder werden wir auf den Plätzen der Metropolen doch noch große Demonstrationen sehen?

    Was tun?

    Vielleicht hat der Kreml zum ersten Mal wirklich keine Ahnung — genauso wie wir. Angesichts des totalen Unwissens – der berühmte „Nebel des Krieges“ überzieht längst nicht nur das Schlachtfeld, sondern das ganze Land – ändern die Behörden nun ständig ihre Pläne. Wie soll man in einer Realität leben, in der der Hauptakteur – die Staatsmacht – jegliche Logik verloren, die Pragmatik vergessen, die Initiative verspielt hat und auf das Chaos zuläuft? Ich habe dazu drei Tipps.

    Erstens – gewöhnen Sie sich dran: Es gibt keine Prognosen, und es kann auch keine geben. Damit, dass Pläne schmieden im Privatleben sinnlos geworden ist, haben wir uns schon abgefunden. Pläne gibt es mittlerweile genauso wenig wie Logik, es gibt nur noch „Szenarien“. Für den Kreml gilt dasselbe: Meist gibt es mehrere Szenarien, an denen parallel gearbeitet wird, und jedes kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Wirklichkeit werden. Lesen Sie jede politische Analyse durch dieses Prisma.

    Viele politische Beobachter (mich eingeschlossen) berufen sich auf ihre Quellen in der Regierung. Auch hier hat sich etwas verschoben. Es gibt im Kreml keinen Beamten, der jetzt irgendetwas vorhersagen könnte, nicht einmal, wenn er sehr viel Einfluss hat. Alles hängt davon ab, wonach es den Präsidenten gelüstet, doch was ihm morgen in den Sinn kommt, kann niemand wissen. Nicht einmal ein russischer Militärangehöriger höchsten Ranges weiß Bescheid, welchen Befehl er als nächstes erhält, wie seine Leute an der Front diesen Befehl ausführen werden und wie die ukrainische Armee reagieren wird. 

    Niemand. Weiß. Etwas. 

    Daher klingt jede Antwort jeder Quelle in der Regierung auf jede meiner Fragen ungefähr so: „Wir bereiten uns auf dieses und jenes vor, aber was dabei herauskommt, hängt vom Präsidenten ab.“

    Das wird in der Führungsriege möglicherweise lange so gehen, aber das ist kein Grund, von vornherein keine politischen Analysen mehr zu lesen. Schließlich sind sogar Informationen wie diese ein Indikator für das aktuelle Geschehen. 

    Zweitens, denken Sie daran: Unsicherheit ist die Norm. Das Leben ist unvorhersehbar. Alles fließt, alles verändert sich. Niemand weiß, was morgen sein wird. Ja, das sind lauter abgedroschene Phrasen, aber das macht sie nicht weniger wahr. In den letzten gut zwanzig Jahren haben die Russen vergessen, dass im Grunde jede Situation – auch die politische – von vielen Faktoren und Akteuren abhängt und nicht nur von der Willkür da oben im Kremlturm. Es ist an der Zeit, uns das in Erinnerung zu rufen – und auch dem Kreml.

    Und schließlich drittens: Vergessen Sie nicht, dass das alles kein finales Urteil ist. Der Zusammenhalt der ukrainischen Gesellschaft und das Vorgehen ihrer Streitkräfte haben bewiesen, dass „Putins Pläne“ oder die „Kremllogik“ nichts Endgültiges sind, gegen das man nichts machen kann. Man kann Widerstand leisten gegen sie und versuchen, aus ihren „Plänen“ eigene „Szenarien“ zu machen. 
    Im Februar bezweifelte kaum jemand, dass die russische Armee in Kyjiw einmarschieren würde. Jetzt gibt es immer weniger Zweifel, dass die ukrainischen Gebiete, die jetzt von Russland kontrolliert werden, wieder zurück an die Ukraine gehen – mindestens in den Grenzen vor dem 24. Februar. 

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  • Leitfäden der Propaganda

    Leitfäden der Propaganda

    Der großflächige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine galt von Anfang an offiziell als eine „militärische Spezialoperation“, an der nur Berufs- und Zeitsoldaten teilnahmen. Der Pressesprecher des russischen Verteidigungsministeriums meldete seit dem 24. Februar einen Erfolg nach dem anderen. Anfang Oktober standen die staatlich kontrollierten Medien jedoch vor einer schwierigen Aufgabe: Wie kann man nach mehr als sechs angeblich erfolgreichen Monaten der „Spezialoperation“ die Notwendigkeit einer Mobilmachung erklären und zwar so, dass die einzelnen Medien sich nicht gegenseitig widersprechen? Für solche Fälle werden in der Präsidialadministration sogenannte metoditschki – Leitfäden – verfasst, die die Stoßrichtung der Berichterstattung vorgeben. 

    Russland kämpfe nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die NATO – heißt es etwa in einem Leitfaden, der die Mobilmachung erklären soll. Gleichzeitig sollen die Medien laut dem Leitfaden betonen, Russland mache nur ein Prozent der Reservisten mobil, es gebe also keinen Grund zur Panik. Diese und andere Texte tauchen regelmäßig auf und werden von unabhängigen Journalistinnen und Journalisten analysiert und mit der tatsächlichen Berichterstattung verglichen. Andrej Perzew hat die Leitfäden des letzten halben Jahres angeschaut und erklärt in einem Text für Meduza, wie die Manipulation der Berichterstattung über den Krieg funktioniert.

    Wie Meduza bereits berichtete, erstellt die Präsidialadministration der Russischen Föderation für staatlich kontrollierte Medien regelmäßig spezielle Leitfäden, die vorgeben, wie diese Medien über den Krieg und die damit verbundenen Ereignisse berichten sollen. Solche „Empfehlungen“ bekommen die Propagandamacher fast täglich. Es wird darin im Detail beschrieben, wie diese oder jene Nachricht zu beleuchten ist und welche Emotionen bei den Zuschauern, Lesern oder Zuhörern erzeugt werden sollen.

    Fast täglich bekommen die Propagandamacher Empfehlungen aus dem Kreml

    Anfang Oktober erhielt Meduza Zugang zu mehr als zehn solcher Dokumente, die der Kreml zwischen April und Oktober 2022 erstellt hat. Die Echtheit der Texte bestätigte eine der Präsidialadministration nahestehende Quelle sowie ein Mitarbeiter der staatlichen Medien, dem die Leitfäden von seiner Arbeit her bekannt sind.

    Die Anweisungen sind klar strukturiert: Alle Texte enthalten ein „Hauptereignis“, über das berichtet werden soll. Im Leitfaden von Anfang Oktober war das beispielsweise eine Umfrage des WZIOM, wonach 75 Prozent der Befragten die Annexion der ukrainischen Gebiete angeblich „positiv“ bewerten und 83 Prozent finden, Russland müsse „die Interessen der Bevölkerung verteidigen, auch wenn sich das negativ auf die Beziehungen zu anderen Staaten auswirkt“.

    Das Fazit, das die Propagandisten verbreiten sollen, lautet folgendermaßen: „Die Bürger Russlands sind überzeugt von der Rechtmäßigkeit und Legitimität der Entscheidung der Bürger in der [annektierten] DNR, LNR sowie den Regionen Cherson und Saporishshja.“

    Darüber hinaus enthalten die Leitfäden zentrale Propaganda-„Linien“, die der russischen Bevölkerung vermittelt werden sollen. Im Dokument vom 4. Oktober lauten diese „Linien“: „Stärkung Russlands“, „Spezialoperation. Bild des Sieges“ und „Neue Weltordnung“.

    Die Linie „Stärkung Russlands“ besagt, das Land sei „offiziell um vier Regionen angewachsen“. Außerdem wird dort genau beschrieben, wie die Propagandisten über die Mobilmachung zu berichten haben: Der Bevölkerung soll vermittelt werden, dass „die Mehrheit der mobilisierten Soldaten ihre Aufgaben und Ziele bei der Verteidigung der Heimat verstehen“. Der Mobilisierungsprozess in Russland sieht demnach angeblich so aus:

    „Es entstehen kameradschaftliche Kollektive mit festem Zusammenhalt, die Männer sind bereit, sich untereinander zu helfen, sie erinnern sich gut an ihre militärischen Fertigkeiten und lernen schnell Neues. Es werden neue effektive Mechanismen entwickelt, um sicherzustellen, dass die, die ihre Pflicht gegenüber der Heimat erfüllen wollen, das ohne Schwierigkeiten können. Auf dem Portal für staatliche Dienstleitungen Gosuslugi sind seit der Freischaltung für die Registrierung von Freiwilligen bereits mehr als 70.000 Anfragen eingegangen. In einigen Regionen ist der Plan der Teilmobilmachung bereits erfüllt – unter anderem dank dem Einsatz der Freiwilligen.“

    Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ kennt keinen Rückzug

    Das Kapitel „Spezialoperation. Bild des Sieges“ ist der Situation an der Front gewidmet. Obwohl sich die russischen Truppen seit Wochen in Wirklichkeit stetig auf dem Rückzug befinden, schlagen die Leitfäden des Kreml vor, über ihre „Siege“ zu sprechen – zum Beispiel zu unterstreichen, wie viel ukrainische Militärtechnik „die russische Armee bereits vernichtet“ habe.

    Dabei wird den Propagandisten „empfohlen“, darauf hinzuweisen, dass jeder Widerstand seitens der ukrainischen Armee nur zur „Selbstzerstörung der Ukraine“ führt (weiter wird diese These nicht ausgeführt).

    Laut dem Abschnitt „Neue Weltordnung“ sollen die Medien dem Publikum einen einfachen Gedanken vermitteln: Die Staaten der ehemaligen UdSSR sollten „eine Lehre aus dem Schicksal der Ukraine ziehen“ und nicht die Beziehungen zu Russland belasten. Als Negativbeispiel wird Moldau und die amtierende Präsidentin Maia Sandu angeführt (die moldauische Landesregierung hat den russischen Angriffskrieg wiederholt verurteilt und angekündigt, die Grenzkontrollen zu verschärfen; zuletzt gab es Berichte von russischen Staatsbürgern, dass man ihnen die Einreise verweigere).

    Ferner wird empfohlen, die These von der „Neuen Weltordnung“, für die Russland angeblich kämpft, mit der Information zu untermalen, dass der Export von russischem Öl nach Indien im September 2022 im Vergleich zum August desselben Jahres um 18 Prozent gestiegen sei. Diese Zahlen sollen die Entwicklung der Zusammenarbeit mit Staaten illustrieren, „die an einer gerechten und auf Gleichheit basierenden Weltordnung interessiert“ seien.

    „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen sollen die tragenden Gefühle sein

    Neben konkreten Propaganda-„Linien“ ist in den Leitfäden von „Gefühlen, Emotionen und Empfindungen“ die Rede, die nach Ansicht des Kreml bei der russischen Bevölkerung erzeugt werden sollen. Dieser Abschnitt trägt in den Dokumenten die Überschrift „Emotionale Basis“. So soll beispielsweise die Annexion der ukrainischen Gebiete bei den Russen das Gefühl von „Zusammenstehen“ und „Vereinigung“ hervorrufen. Ein Gefühl von „Zusammenstehen“ soll den Autoren zufolge auch die Explosion auf der Krim-Brücke erzeugt haben. Dabei ist an die Stelle von „Überzeugung“ und „Stolz“, von denen in den Monaten zuvor in diesem Abschnitt oft die Rede war, Anfang Oktober die „Hoffnung“ getreten – offenbar vor dem Hintergrund der erfolgreichen Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte.

    Laut Meduzas Quelle, die dem Kreml nahesteht, stammen diese Texte aus der Direktion für gesellschaftliche Projekte der Präsidialadministration, die auch Telegram-Kanäle, Blogger und diverse Massenmedien kuratiert. Unmittelbar verantwortlich für die Zusammenstellung der Leitfäden soll der Vizechef der Direktion Alexej Sharitsch sein, der Anfang der 2010er Jahre stellvertretender Direktor des Rüstungskonzerns Uralwagonsawod war (auf Anfragen von Meduza antwortete er nicht).

    „Deshalb erinnert die ganze Propaganda im Grunde an Uralwagonsawod“, kommentiert Meduzas Gesprächspartner ironisch, der für ein staatliches Medium arbeitet, das seine Instruktionen aus dem Kreml bekommt.

    Seit dem Einmarsch in die Ukraine hat man es nicht geschafft, sich etwas Neues für die mediale ,Bearbeitung‘ einfallen zu lassen 

    Er fügt hinzu, dass die Mitarbeiter der Präsidialadministration seit dem Einmarsch in die Ukraine es nicht geschafft hätten, sich etwas Neues für die mediale „Bearbeitung“ der Invasion einfallen zu lassen und sich deshalb auf die Erfahrung aus der Berichterstattung bei den Wahlen und anderen politischen Ereignissen in Russland stützen. So würden sie unter anderem für staatliche und loyale Medien immer noch diese Leitfäden verwenden.

    „Jetzt, während des Krieges, haben es die Jungs [aus dem Kreml] natürlich schwer. Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen. Die entstellten Leichen russischer Soldaten lassen sich schwer schönreden“, meint Meduzas Interviewpartner.

    Auch andere Gesprächspartner von Meduza bezweifeln die Wirksamkeit dieser Methoden. Ein Politikberater, der für die Präsidialadministration tätig war, erklärte zum Beispiel, die Thesen aus den Leitfäden könnten nur das „loyale Publikum“ überzeugen, das sich nicht für alternative Informationsquellen interessiert.

    Wir können den ukrainischen Medien nichts entgegensetzen

    „Die Journalisten bei den Medien [die ihre Anweisungen aus dem Kreml bekommen] sind ohne die Leitfäden oft gar nicht in der Lage, selbst etwas zu schreiben, und wenn, dann nur völligen Unsinn … Und dann muss man auch noch die Konsequenzen ausbaden“, sagt er. „Im Internet gibt es auch eine loyale Leserschaft, und die anderen kann man sowieso nicht mehr überzeugen, erst recht nicht mit solchen Methoden.“

    Ein Interviewpartner, der der Parteispitze von Einiges Russland nahesteht, ist der Meinung, dass die Erstellung von Leitfäden generell „keine Methode ist, um die Stimmungen der Massen zu lenken, sondern lediglich das Tagesgeschäft“:

    „Die Medien, die Pressestellen, die Blogger – das ist ein riesiger, täglich rotierender Mechanismus, geschmiert von millionenschweren Budgets. Dieser Mechanismus muss allein aufgrund seiner Existenz funktionieren und ein Produkt erzeugen, denn das sichert den Beteiligten ihre Einkünfte. Die Kosten einer Unterbrechung, selbst eines längeren Stillstands sind viel zu hoch.“

     

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • „Die westlichen Linken verstehen nicht, was hier passiert“

    „Die westlichen Linken verstehen nicht, was hier passiert“

    Bis zum Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine galt Russland Teilen der Linken weltweit als globale Friedensmacht. Putin war in dieser Erzählung eine Art Fahnenträger des Kampfs gegen den US-amerikanischen Imperialismus und die NATO. Mit einem starken Staat und angeblich starken Gewerkschaftsbewegungen habe Russland demnach außerdem gegen den neoliberalen Mainstream und die Vormacht der globalen Konzerne gekämpft. Nicht selten wurde Russland so als ein Gegenentwurf zur imperialistischen, militaristischen und kapitalistischen Grundordnung des Westens verstanden.

    Mit dem 24. Februar 2022 scheint sich unter vielen linken Bewegungen weltweit ein Umdenken abzuzeichnen. Auch die deutsche Partei Die Linke hat den russischen Angriff auf die Ukraine „aufs Schärfste“ verurteilt. An dem klaren Nein zu Waffenlieferungen wird gerüttelt. Gleichzeitig fordern Bundestagsabgeordnete wie Klaus Ernst das Ende der Sanktionen, Sahra Wagenknecht wittert einen „beispiellosen Wirtschaftskrieg“ gegen Russland, während andere zu Verhandlungen aufrufen – ohne jedoch an Russland zu appellieren, seine Truppen zurückzuziehen.

    Viele Linke weltweit würden immer noch einem verzerrten Russland-Bild anhängen, kritisiert der ukrainische Sozialist Taras Bilous. Für den Territorialverteidiger ist klar, dass man dabei den „Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten“ sollte, dass die Gründe dahinter komplexer sind. 

    Im Interview mit Meduza kritisiert Bilous Klischees über Russland und die Ukraine im Westen und ruft zu einem Kampf für eine „Demokratisierung der Weltordnung“ auf.

    In Russland weiß man ziemlich wenig darüber, wie die ukrainische Politik aufgebaut ist, normalerweise wird das Thema nur im Kontext „prorussisch – prowestlich“ diskutiert. Erklären Sie uns bitte, welchen Platz Sie und Sozialny Ruch [dt. „Soziale Bewegung“] darin einnehmen.

    Hier muss man zunächst sagen, dass es in der Ukraine genau wie in Russland eine systemische und eine nicht-systemische Politik gibt.

    Da ist einerseits die Politik, die im Parlament und im Fernsehen stattfindet – das sind Parteien, die von Oligarchen gesponsert werden. Dann gab es – und gibt es teilweise noch – die alten Linksparteien wie die KPU. Ob man sie links nennt oder nicht, ist ein Thema für sich, aber sie hatten in vergangenen Jahren überhaupt keinen Einfluss mehr. Sie haben ihre Wählerschaft schon vor dem Maidan und den Gesetzen zur Entkommunisierung verloren, und als sie dann noch die repressiven Gesetze von Janukowitsch unterstützten, wanderten auch die Mitglieder massenweise ab.

    Eine Ebene darunter gibt es die Zivilgesellschaft. Auch da gibt es Parteien, aber die haben sich von unten gebildet und schaffen es normalerweise nicht ins Parlament.

    Der realistischste Weg für Aktivisten, ins Parlament zu kommen, ist über Listen von Politikern wie Swjatoslaw Wakartschuk. Wir haben versucht, unsere Partei registrieren zu lassen, aber es stellte sich heraus, dass das mit unseren bürokratischen und finanziellen Ressourcen zu schwierig ist. Andererseits schaffen es die Parteien, die im Parlament sitzen, in der Regel nicht, die Leute auf der Straße zu mobilisieren. Wie zum Beispiel die Partei Batkiwschtschina von Julia Timoschenko, die einfach Fahnenträger engagierte und bezahlte Demos veranstaltete. Genau wie die Partei der Regionen und die ganzen anderen. Aktivistische Organisationen kommen zwar nicht in die Regierung, aber dafür sind sie imstande, von unten Druck auf sie auszuüben.

    Das ist wohl eine der schwerwiegendsten Fehlkalkulationen von Putins Leuten. Sie haben das Mobilisierungspotential der ukrainischen Gesellschaft stark unterschätzt

    Die russischen Polittechnologen, die die Wahlen in der Ukraine vor Ort beobachtet haben, dachten, sie hätten unsere Politik verstanden – zumindest die, die vor Selensky da war; seit seiner Präsidentschaft hat sich vieles verändert. Das ist wohl eine der schwerwiegendsten Fehlkalkulationen von Putins Leuten. Sie haben das Mobilisierungspotential der ukrainischen Gesellschaft stark unterschätzt, darunter das der Freiwilligen-Organisationen, die seit Beginn des Krieges [2014] gegründet wurden. Ja, ein Teil von ihnen ging aus bereits bestehenden zivilgesellschaftlichen Institutionen hervor, aber viele wurden quasi von Null auf von einfachen Menschen und regionalen Leadern aufgebaut, die davor überhaupt nichts mit Politik zu tun hatten. Das haben die russischen Polittechnologen nicht kapiert.

    Was genau machen Sie, oder besser gesagt, was haben Sie bis zum Krieg gemacht?

    Mein Linksaktivismus hat auf dem Maidan begonnen: Zwischen 2014 und 2019 war ich im Rahmen der Projekte Neuer Donbass und Gemeinsam bauen wir die Ukraine auf sowie mit anderen Freiwilligeninitiativen im Donbass unterwegs, beteiligte mich am Wiederaufbau von Schulen und anderen Gebäuden, die durch die Kampfhandlungen zerstört wurden, arbeitete mit Kindern. Und weil sich meine Tätigkeit mehr und mehr vom Aktivismus auf den redaktionellen Bereich verlagerte, habe ich angefangen, Artikel zum Thema Donbass zu schreiben. Zum Beispiel über den Luftangriff auf das regionale Verwaltungsgebäude der Oblast Luhansk – ein Thema, das in der ukrainischen Gesellschaft sehr kontrovers diskutiert wird; offiziell wurde dementiert, dass der Angriff von ukrainischer Seite erfolgt sein könnte. Dann gab es einen weiteren [Angriff] auf die Ortschaft Stanyzja Luhanska (bei dem zwölf Zivilisten getötet wurden – Anm. Meduza), für die in all den Jahren niemand die Verantwortung übernommen hat. Ich habe viel zum Thema der zivilen Opfer des Kriegs im Donbass auf beiden Seiten geschrieben.

    Der Donbass, meine Heimat, wird jetzt von niemand anderem als von Russland vernichtet

    Aber alles Kritikwürdige, was der ukrainische Staat im Donbass zu verantworten hat, verblasst vor dem Hintergrund dessen, was Russland gerade macht. Der Donbass, meine Heimat, wird jetzt von niemand anderem als von Russland vernichtet. Unter den heuchlerischen Rufen vom „Genozid an der Donbass-Bevölkerung“, mit denen der Einmarsch gerechtfertigt wurde, vernichtete die russische Armee Sewerodonezk, Popasna, Mariupol und all die anderen Städte im Donbass. Sie warfen den Ukrainern vor, die Minsker Vereinbarungen nicht zu erfüllen, und schwiegen über die eigenen Verstöße. Jetzt sagen sie, der Westen sei bereit, „bis zum letzten Ukrainer“ zu kämpfen, und mobilisieren selbst zwangsweise die Männer in der LNR/DNR, um sie als Kanonenfutter an die Front zu schicken.

    Alles Kritikwürdige, was der ukrainische Staat im Donbass zu verantworten hat, verblasst vor dem Hintergrund dessen, was Russland gerade macht

    Was unsere Organisation Sozialny Ruch [kurz: Sozruch – dek] angeht, so beschäftigen wir uns im weitesten Sinn mit sozialen Fragen. Der Leiter der Organisation Witali Dudin ist Jurist für Arbeitsrecht. Manche unserer Aktivisten arbeiten in Gewerkschaften. Ein paar Monate vor dem Einmarsch haben wir beispielsweise in Kyjiw eine Demo gegen die Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr veranstaltet. Wenn wir nicht selbst etwas organisieren, arbeiten wir mit anderen Gruppierungen zusammen – wir unterstützen zum Beispiel Umwelt- oder feministische Initiativen und nehmen an den Märschen zum 8. März teil. Außerdem haben wir in Kyjiw Gedenkveranstaltungen für Stanislaw Markelow und Anastasia Baburowa durchgeführt.

    Auf einer dieser Veranstaltungen sind Sie mit einem Plakat erschienen, auf dem stand: „Löst das Asow-Regiment auf“.

    Daran erinnern sich die Leute bis heute. Ehrlich gesagt, wenn ich gewusst hätte, was dieses Jahr passiert, dann ich bin mir nicht sicher, ob ich das gemacht hätte. Das Asow-Regiment wurde 2014 von Leuten gegründet, die zumindest in der Vergangenheit neonazistische Ansichten vertreten hatten. Aber schon 2014 waren bei weitem nicht alle Asow-Kämpfer Neonazis, um so weniger in den Jahren danach, als die Führung gewechselt hatte und sich viele junge Leute einfach deshalb anschlossen, weil das eine der einsatzfähigsten Einheiten in der Ukraine war. Die russische Propaganda kann heute so viele Bilder von einzelnen Kämpfern mit [neonazistischen] Tattoos zeigen, wie sie will, aber zum Regiment gehören über tausend Soldaten, darunter sind Menschen mit ganz unterschiedlichen Ansichten.

    Was genau sind die Stereotype über die Ukraine, gegen die Sie ankämpfen?

    Im linken Milieu existiert eine ganze Palette von Meinungen – ungefähr von „alles furchtbar“ bis „finden wir ganz gut“. Es gibt Stalinisten – über die braucht man nicht zu reden, da ist alles klar. Obwohl es auch da ganz vernünftige gibt. Mich hat eine stalinistische Partei in Indien überrascht, die die russische Aggression gegen die Ukraine mithilfe von Stalin-Zitaten kritisiert hat.

    Aber für mich sind die Fälle wichtiger, in denen Menschen mit vermeintlich progressiven Ansichten, von denen man eigentlich Unterstützung oder wenigstens eine adäquate Position erwarten würde … zum Beispiel [Noam] Chomsky oder [Jeremy] Corbyn … Eine offene Unterstützung Russlands ist aber eine Randerscheinung, und wenn, dann findet man sie eher in Lateinamerika als im Westen. Im Westen trifft man öfter auf eine quasi neutrale Position – wir verurteilen den Krieg als solches, aber auch nicht mehr.

    Im linken Milieu existiert eine ganze Palette von Meinungen

    Das ist zum Beispiel die DiEM25, eine Organisation, die von Yanis Varoufakis ins Leben gerufen wurde. Oder die Progressive Internationale, die auf ihre Initiative hin gemeinsam mit einzelnen Mitgliedern des Teams von Bernie Sanders gegründet wurde. Als der Krieg losging, erklärten die polnische Linkspartei Razem [dt. „Gemeinsam“] und unsere Zeitschrift den Austritt aus dieser Vereinigung. Deren Position ist nämlich: Krieg ist sehr schlecht, wir rufen zu Verhandlungen und einem schnellstmöglichen Ende der Kampfhandlungen auf.

    Das nächste Level [linker Positionen] ist es, die russische Aggression offen zu verurteilen und einen Rückzug der Truppen bis an die Grenzen vor dem 24. Februar zu fordern, aber keine Waffenlieferungen [an die Ukraine] zu unterstützen. Das ist ja schön und gut, aber – was dann? Mit welchen Mitteln will man [diese Ziele] erreichen? Das ist die Position von Die Linke, aber die schwankt – [die Jugendorganisation] unterstützt die Waffenlieferungen bereits, obwohl die offizielle Position der Partei immer noch dagegen ist.

    Überhaupt sind die Stimmungen im linken Milieu stark abhängig vom jeweiligen Land. Die skandinavischen Linken haben sehr schnell die richtige Position eingenommen – sowohl die Sozialdemokraten als auch die Radikalen. Sie verhalten sich viel adäquater als die südeuropäischen Linken – Griechenland und Italien sind da ganz schlimm. Im deutschsprachigen Raum macht sich der Generationenkonflikt stark bemerkbar – wie man am Beispiel der Linkspartei sieht, in der die Jugend für die Waffenlieferungen ist; nicht ausnahmslos natürlich, aber bei der älteren Generation sieht es damit viel schlechter aus. In den englischsprachigen Ländern gibt es einen solchen Riss eher nicht.

    Die Stimmungen im linken Milieu sind stark abhängig vom jeweiligen Land

    Was die Stereotype angeht, zum Beispiel, dass der Maidan ein von den USA unterstützter rechter Putsch war, beinahe ein faschistischer Staatsstreich und dergleichen. Da fragt man sich, ob diese Leute überhaupt ein adäquates Bild von der Ukraine und von Russland haben. Manchen ist vielleicht klar, dass Russland ein kapitalistischer Staat mit einem reaktionären Regime ist, sie hegen aber unter dem Einfluss von Russia Today gewisse Illusionen, dass es in Russland angeblich eine starke Gewerkschaftsbewegung gebe. Na ja, und so Sachen halt.  

    In Diskussionen mit westlichen Linken höre ich oft das Argument, dass die NATO während des Kalten Krieges die Ultrarechten unterstützt und benutzt hätte. Aber der Kalte Krieg ist seit 30 Jahren vorbei, und gerade das Beispiel, dass sich die USA in Syrien mit den sozialistischen syrischen Kurden verbündet haben und nicht mit irgendwelchen anderen Kräften, zeigt meiner Meinung nach, wie weit sich die US-amerikanische Außenpolitik mittlerweile von der Logik des Kalten Kriegs entfernt hat. Gleichzeitig ignorieren diese Linken die Tatsache, dass es in den letzten Jahrzehnten vor allem Russland war, das die rechtsextremen Parteien in Europa unterstützt hat.   

    Dann kommen sie noch auf solche Ideen, dass das ukrainische Regime die Linken unterdrücken würde. Das ist ein Problem für sich – den westlichen Linken zu erklären, dass es, wenn sie Parteinamen wie Progressive Sozialistische Partei der Ukraine lesen, sich um etwas ganz anderes handelt, als sie erwarten würden. Diese Natalja Witrenko (Parteichefin der Progressiven Sozialistischen Partei der Ukraine) hat mit Alexander Dugin zusammengearbeitet, die beiden führten eine offen rassistische Wahlkampagne. Jedenfalls gingen alle Parteien mit vermeintlich linken Namen, die verboten wurden, in diese Richtung.  

    Diese Linken ignorieren die Tatsache, dass es in den letzten Jahrzehnten vor allem Russland war, das die rechtsextremen Parteien in Europa unterstützt hat

    Die westlichen Linken kritisieren an der Ukraine zum Beispiel oft den politischen Einfluss der Oligarchen. Aber was für praktische Schlüsse ziehen sie daraus? Ich weiß selbst sehr gut, dass in der Ukraine eine schlechte Regierung mit einer neoliberalen Politik an der Macht ist. Wir haben vor dem Krieg dagegen gekämpft, wir müssen auch jetzt dagegen kämpfen – etwa, wenn die Arbeitsrechte beschnitten werden sollen. Mir sind viele Defizite der ukrainischen Gesellschaft, der Staatsmacht und der Politik bewusst, aber das heißt ja nicht, dass man die Verteidigung gegen die russische Aggression nicht unterstützen soll. 

    Aber woher kommen diese Klischees? Ist das alles der Einfluss der russischen Propaganda, oder gibt es noch weitere Faktoren? Russia Today hat sich ja bekanntlich gezielt auf diese Gruppe konzentriert – viele ihrer Frontmänner waren linke Aktivisten, sie hatten etliche Medienprojekte wie Podcasts, die sich konkret an ein linkes Publikum im Westen richteten. 

    Ich glaube, man sollte den Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten. Ein markantes Beispiel ist Slavoj Žižek. Bis vor Kurzem schrieb er auf Russia Today Texte über Edward Snowden usw. Nach dem 24. Februar hat er jede Zusammenarbeit mit RT eingestellt und nimmt jetzt durchaus sinnvolle Positionen [bezüglich der Ukraine – Anm. Meduza] ein. 

    Man sollte den Einfluss der russischen Propaganda nicht überbewerten

    Das Schlimmste, was die russische Propaganda anrichtet, ist, dass sie ein verzerrtes Bild der postsowjetischen Realität vermittelt. Dazu haben die westlichen Linken weder eigene Erfahrungen noch Informationsquellen oder ein Verständnis davon, was hier passiert. Und weil sie den Mainstream-Medien nicht vertrauen, landen sie oft bei der russischen Propaganda als Hauptinformationsquelle. 

    Doch die westlichen Linken brauchen kein Russia Today, um den amerikanischen Imperialismus, die Hegemonie, die unipolare Welt und die NATO abzulehnen. Sie haben genug eigene Gründe dafür. Die ältere Generation hat oft schon zur Zeit des Kalten Krieges an den Protesten gegen den Vietnamkrieg oder andere Operationen der USA teilgenommen, die jüngere hat sich angesichts des Irak-Kriegs formiert. Wobei viele die Idee einer multipolaren Welt ganz unkritisch sehen, anstatt sich zu überlegen, wie man die Weltordnung demokratisieren könnte. Für sie wird ihre NATO-Gegnerschaft einfach zu einem Teil ihrer Identität, statt dass sie ein konkretes politisches Problem angehen und im Rahmen einer linken Strategie zu lösen versuchen. Sogar die, die die Ukraine und Waffenlieferungen einhellig unterstützen, unterscheiden sich manchmal nur dadurch, dass sie für die Auflösung unterschiedlicher militärischer Allianzen eintreten, unter anderem der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS). 

    Na gut, angenommen, man löst die NATO auf und auch die OVKS, was ist dann eine Alternative in der internationalen Politik und wie verhindert man dann, dass die starken Staaten den schwächeren ihren Willen aufzwingen? Der Sicherheitsgarant der osteuropäischen Staaten ist ihre NATO-Mitgliedschaft, der von Armenien – seine Mitgliedschaft in der OVKS. Ich bin selbst kein Fan der NATO, ich finde, dass Militärbündnisse, in denen imperialistische Staaten dominieren, kein gutes Instrumentarium zur Aufrechterhaltung der weltweiten Sicherheit sind. Aber das heißt nicht, dass die NATO einfach irgendein globales Übel ist.   

    Wir brauchen keine multipolare Welt und keine Konfrontation zweier imperialistischer Blöcke. Wir müssen für eine allgemeine Demokratisierung der Weltordnung kämpfen

    Dahinter steckt meiner Vermutung nach ein Problem mit der geopolitischen Logik. Jemand hat mir zum Beispiel klipp und klar geschrieben, dass wir Russland als Gegengewicht zu den USA brauchen. In dieser Logik der Opposition wird aber eigentlich Putins Regime, solange es besteht, die NATO noch zusätzlich stärken, wie wir an den Folgen der Invasion in der Ukraine sehen. 

    Wir brauchen keine multipolare Welt und keine Konfrontation zweier imperialistischer Blöcke. Wir müssen für eine allgemeine Demokratisierung der Weltordnung kämpfen, und dafür kann man Widersprüche zwischen verschiedenen Ländern nutzen. Aber eine multipolare Welt, in der jeder imperialistische Staat seine Einflusssphäre hat und seine imperialistische Politik fährt – das ist eine Rückkehr ins 19. Jahrhundert. Das kann uns wirklich gestohlen bleiben.    

    Eine der wichtigsten linken Forderungen in der internationalen Politik sollte eine Reform und Demokratisierung der UNO sein

    Diese Denkweise rührt wohl hauptsächlich daher, dass die Linken in den letzten Jahrzehnten auf dem absteigenden Ast waren, was nicht förderlich war für ihr politisches Denken und ihre Strategien. Das merkt man sogar an jenen, die [bezüglich der Ukraine] eine sinnvollere Position einnehmen. Sogar viele unserer Partner im Westen verschwenden mehr Zeit damit, die richtige Haltung zu finden und andere zu überzeugen, als sich zu überlegen, was man praktisch tun könnte, um auf die Situation Einfluss zu nehmen.  

    Zum Beispiel finde ich, eine der wichtigsten linken Forderungen in der internationalen Politik sollte eine Reform und Demokratisierung der UNO sein. Aber viele wollen das überhaupt nicht diskutieren, weil die UNO eben ein Gremium ist, in dem imperialistische Staaten dominieren. Tja, aber was ist die Alternative?

    Wie schätzen Sie das Potenzial der russischen Antikriegsbewegung ein? 

    Viele Ukrainer haben zu Beginn des Krieges gehofft, dass die russische Antikriegsbewegung etwas erreichen kann. Aber dann haben sie gesehen, dass stattdessen manche anfangen, gesellschaftliche Tendenzen in der Ukraine zu kritisieren – vor etwa einem Monat hat sich ein Schriftsteller darüber beschwert, dass die Ukrainer die russische Kultur abschaffen und Puschkin-Denkmäler stürzen (gemeint ist ein Kommentar von Leonid Bershidski in The Washington Post – Anm. Meduza). Aber mit so etwas sollte sich die russische Intelligenzija heute überhaupt nicht beschäftigen. So werden sie die Situation ganz bestimmt nicht zum Besseren wenden. Wenn sie Zugang zu westlichen Medien haben, sollten sie den lieber dazu nutzen, die westliche Öffentlichkeit von einer mutigeren und entschiedeneren Handlungsweise zu überzeugen. Wenn die Ukrainer Waffen fordern, ist das sowieso klar, was sonst, aber wenn die russische Opposition Waffen fordert, hat das einen ganz anderen Effekt.

    Viele Ukrainer haben zu Beginn des Krieges gehofft, dass die russische Antikriegsbewegung etwas erreichen kann

    Ich weiß natürlich, dass die politischen Perspektiven von jemandem, der sich so äußert, in Russland gleich Null sind. Doch seit dem 24. Februar hängen sämtliche Perspektiven einer Demokratisierung Russlands von der militärischen Niederlage Russlands ab und davon, wie schnell das passiert. Auch als Deutschland mit den Waffenlieferungen monatelang gezögert hat, waren es die Russen, die das hätten beschleunigen können. Ich weiß, dass es manche versucht haben, aber für die Ukrainer war das zu wenig. Das wäre wirklich notwendiger gewesen als Texte darüber, wie die Ukrainer Puschkin verunglimpfen. Der Diskurs, dass angeblich alle Russen gleich seien, gefällt mir überhaupt nicht, aber dass sogar bei Vertretern der russischen Opposition imperialistische Allüren durchschlagen – das stimmt eben auch. 

    Statt die Folgen des Kriegs zu beklagen, sollten wir lieber versuchen, das Problem an der Wurzel zu packen. Wer ukrainischen Flüchtlingen hilft, ist toll, keine Frage. Das ist eine sehr wichtige Arbeit, die irgendjemand machen muss, und wer sie macht, darf nicht einer zusätzlichen Gefahr ausgesetzt sein. Innerhalb der ganzen russischen Antikriegsbewegung ist für mich der Feministische Antimilitaristische Widerstand das positivste Beispiel, weil sie völlig frei sind von imperialistischen Komplexen aller Art. 

    Der Diskurs, dass angeblich alle Russen gleich seien, gefällt mir überhaupt nicht, aber dass sogar bei Vertretern der russischen Opposition imperialistische Allüren durchschlagen – das stimmt eben auch

    Andererseits verstehe ich, dass ihre Tätigkeit in Russland jetzt nicht sehr effektiv ist. Proteste können in Russland momentan nur die Zahlen der politischen Gefangenen erhöhen, der Nutzen ist überschaubar. Deswegen sollte die Frage, wie man sich unter konkreten Bedingungen verhält, lieber von denen beantwortet werden, die sich unter diesen Bedingungen befinden. Etwas anderes sind die Anarchisten, die auf den Eisenbahnschienen Sabotage betreiben. Ich weiß schon, dass es nicht viele sind, die sich zu solchen Aktionen entschließen, aber bislang ist das eine der besten Methoden, das Ende dieses Kriegs zu beschleunigen, weil das unmittelbar auf Russlands Kampffähigkeiten einwirkt. 

    Mir scheint, viele Russen, auch oppositionelle, begreifen noch nicht, dass die Ukraine nicht kapitulieren wird. Da geht es gar nicht um Selensky – der ist in diesem Punkt nur Erfüllungsgehilfe des Volkes. Nach dem, was Russland angerichtet hat, ist die absolute Mehrheit der Ukrainer gegen Zugeständnisse. Sie bereiten sich schon auf einen Winter ohne Gas und Strom vor. Dass die Fortsetzung des Krieges weitere Verluste bedeuten wird, ist allen klar, aber die Ukraine ist bereit, bis zum Sieg zu kämpfen.

    Viele Russen, auch oppositionelle, begreifen noch nicht, dass die Ukraine nicht kapitulieren wird

    Russland kann nicht siegen, und der einzige Grund, warum dieser Krieg weiter andauert, ist, dass da so ein erbärmlicher Zwerg in seinem Bunker nicht zugeben kann, dass er es mit dem Befehl zum Einmarsch in die Ukraine verbockt hat. Wenn Russland verliert, verliert er die Macht, und diesen Moment schiebt er hinaus, indem er sein Land in einen immer größeren Abgrund zieht. Je früher aber Russland seine Niederlage anerkennt und seine Truppen abzieht, desto besser ist es für die Russen.

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