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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Frachtgut Zinksarg: Unterwegs mit einem Leichenkurier

    Frachtgut Zinksarg: Unterwegs mit einem Leichenkurier

    Lange Zeit schien es klar, dass im russischen Abnutzungskrieg nur eine Seite gewinnen kann: Russland hat fast viermal so viele Einwohner wie die Ukraine, viel mehr Waffen, und die ohnehin stärkere Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren. Dennoch ist die Offensive bei Charkiw stecken geblieben und auch die Vorstöße an anderen Frontabschnitten sind strategisch unbedeutend. Dabei verliert Russland in großer Zahl gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie. Militärexperten gehen davon aus, dass der Kreml im kommenden Jahr vor ernsten Nachschubproblemen stehen wird.


    Bereits jetzt versucht Russland offenbar, seinen Mangel an Material durch mehr Personal auszugleichen: Seit Beginn der Invasion setzen die Kommandierenden vor allem auf Artilleriefeuer und Frontalangriffe, bei denen die eigenen Soldaten als Kanonenfutter verheizt werden. Laut Mediazona hat Russland im ersten Halbjahr 2024 rund ein Drittel seiner Gesamtverluste zu verzeichnen. Während 2023 im Schnitt etwa 120 russische Militärangehörige pro Tag fielen, sind es derzeit 200 bis 250. 


    Die Soldaten, die an vorderster Front ins Feuer geschickt werden, stammen vor allem aus ärmeren Landesteilen abseits der Großstädte. Wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld zurückgelassen werden, kommen ihre Leichen in Zinksärgen nach Hause zu ihren Familien. Wie das abläuft, darüber berichtet ein anonymer russischer Offizier dem Medienprojekt Mediazona: Drei Monate lang hat er mehr als ein Dutzend Tote nach Hause gebracht, bis in den Fernen Osten.

    Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Krieg, Tod und Gewalt.

    Ich bin ausgebildeter Militärpsychologe. In meinem Dienst musste ich gefallene Soldaten nach Transbaikalien begleiten. Eigentlich ist es die Regel, dass so etwas nur Leute mit meiner Ausbildung machen, aber jetzt schicken sie sonst wen dorthin. Meistens sind es einfache Soldaten, manchmal beliebig ausgewählte Offiziere. Der Grund ist natürlich der akute Personalmangel.

    Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522

    Der Ablauf an sich ist simpel: Die Toten aus der Ukraine werden in die Leichenhalle auf dem Gelände des Militärhospitals in Rostow am Don geliefert, in das Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522. Grob gesagt ist das eine Sortierstation, von der aus die Leichen ins ganze Land transportiert werden. Dort arbeiten Militärangehörige aus allen Einheiten, die im Krieg sind. Ihre Arbeit ist die Hölle: Sie müssen die Leichen identifizieren und alle Toten aus ihrer Einheit für den Abtransport vorbereiten. Sobald eine Leiche eingeliefert und identifiziert wurde, ruft das Zentrum aus Rostow im jeweiligen Truppenteil an und bestimmt einen Totenbegleiter. Infrage kommen Offiziere und Vertragssoldaten, die gerade verfügbar sind. So war es auch bei mir. Weil ich mich geweigert habe, einen Befehl auszuführen, wussten sie nicht, wohin mit mir. Ich war froh, dass sie mich genommen haben: besser ich als jemand, der überhaupt keine Ahnung hat, was er zu einer Mutter sagen soll, die ihren Sohn beerdigen muss.

    Danach läuft es folgendermaßen: Die Begleitperson fliegt nach Rostow am Don, fährt ins Zentrum 522, nimmt den gefallenen Soldaten in Empfang, seine Papiere und persönlichen Gegenstände, die seiner Familie überbracht werden müssen, die Sterbeurkunde und die Dokumente, die für das Begräbnis nötig sind, sowie den Tapferkeitsorden. Dann heißt es warten, bis es grünes Licht für die Reise gibt. Wenn es soweit ist, bekommt die Begleitperson eine Einweisung vom Zentrumsleiter. Die Toten werden in eine IL-76 geladen und zum Bestimmungsort geflogen. Wie wir mit den Hinterbliebenen umgehen sollen, wird bei der Einweisung nicht gesagt.

    Bei der Ankunft werden die Leichen von der örtlichen Militärverwaltung in Empfang genommen, die den Weitertransport in die Herkunftsorte organisiert. Ist man dort angekommen, übergibt man die Leiche den Angehörigen und bleibt bis zum Schluss bei ihnen, einschließlich der Beerdigung. Danach erhält man die Papiere, die für die Kompensationszahlungen nötig sind, einen Sterbe- und Bestattungsnachweis, und kehrt in seinen Truppenteil zurück.

    Von Rostow aus gehen praktisch täglich solche Flüge. Unser Flugzeug war voll belegt: 80 Holzkisten, innen drin Zinksärge mit den Leichen und an den Wänden eng an eng knapp 60 Begleitpersonen, von denen manche bis zum letzten Zielflughafen mitfliegen mussten. Im Normalfall dauert die Reise mehrere Tage, mit Zwischenstopps in verschiedenen Großstädten. Am Anfang [des Krieges] bekam jeder Tote seine eigene Begleiterperson, aber seit es nicht mehr genug Leute gibt und die Verluste steigen, gibt es eine Person für alle Gefallenen aus einer größeren Stadt oder einem Truppenteil.

    Weder angemessene Lagerung noch Kühlung

    Das Identifikationszentrum in Rostow am Don ist ein Ort des Grauens. Da ist in erster Linie der Gestank, der mit nichts vergleichbar ist. Obwohl ich im tiefsten Winter dort war, ist er schwer zu vergessen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es im Sommer zugeht. Das Zweite ist der Umgang mit den Toten: Sie liegen in den riesigen Hangars, in denen sie identifiziert und sortiert werden, einfach auf dem Boden. Ich habe dort einen abgetrennten Kopf auf dem Boden liegen sehen. Sein verzerrtes Gesicht werde ich nie vergessen. Es gibt weder angemessene Lagerung noch Kühlung, was klar ist angesichts des Zustroms – die Leichenhallen sind nicht für diese Mengen ausgelegt. Bei den Gefallenen aus meiner Einheit habe ich dann den ganzen Prozess mitangesehen: Den Toten wird eine Uniform angezogen – das machen einfache Soldaten, manchmal sogar Wehrdienstler –, dann werden sie in einen Zinksarg gelegt, geschminkt, damit sie durch das kleine Sichtfenster nicht ganz so schlimm aussehen, dann verschweißt man den Sarg, legt ihn in eine Holzkiste, beschriftet sie und bereitet sie für den Transport vor.

    Die ganze Angelegenheit ist auch körperlich Schwerstarbeit, man ist praktisch als Packer angestellt. Angefangen bei der Leichenhalle in Rostow bis zum Heimatdorf des Toten muss man ständig Särge schleppen und hin- und herschieben.

    Bei der Ankunft muss man selber mit den Angehörigen sprechen. Natürlich ist da vor allem das ungeheure Leid der Mutter. Am schlimmsten ist es, wenn der Tote sehr jung war, 20 bis 25 Jahre. Dann wäre ich am liebsten selbst an seiner Stelle, um nicht mitansehen zu müssen, was mit den Eltern passiert, wenn sie ihr totes Kind sehen.

    Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen

    Der eine Satz, den ich als Begleitperson bei der Ankunft sagen muss, lautet ungefähr so: „Sehr geehrte Maria Iwanowna, mein herzliches Beileid angesichts Ihres schweren Verlusts.“ Alles andere kann warten. Um die Situation irgendwie erträglicher zu machen, gibt es einfache Regeln. Man sollte immer eine Flasche Wasser und Taschentücher dabeihaben und sich vorher überlegen, wo sich der oder die Betroffene hinsetzen oder hinlegen kann. Auf keinen Fall darf man einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, etwas sagen wie: „Ich verstehe sie.“ Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen, solche Worte können eine aggressive Reaktion hervorrufen. Wenn das passiert, darf man nicht darauf eingehen, nichts beweisen oder abstreiten. Man muss einfach zuhören und warten, bis die Emotionen nachlassen.

    Außerdem ist es empfehlenswert, die Angehörigen zu fragen, was sie über die Todesumstände wissen. Wenn ihnen noch keine Details bekannt sind – eine Mutter wird immer fragen, wie ihr Sohn gestorben ist –, sollte man sie damit beruhigen, dass es ein schneller Tod war und ihr Kind nicht leiden musste. Manchen Müttern gibt das etwas Trost. Man darf eine Mutter nie von dem Sarg wegzerren und muss verhindern, dass es die Angehörigen tun. Im ersten Moment sollte man die Tränen und Emotionen fließen lassen, bis sie irgendwann abklingen. Viele machen den Fehler, sie gleich beruhigen zu wollen, sie ziehen sie weg, lassen sie nicht ausweinen. Das ist falsch. Die meisten Begleitpersonen wissen nicht einmal das. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, also sagen sie einfach nichts. Das kommt alles daher, dass es an geschulten Leuten fehlt und sie jeden X-Beliebigen nehmen.

    Ich wurde oft eingesetzt, alle ein oder zwei Wochen. Bei 13 Beerdigungen war ich persönlich dabei. Es gibt auch welche, die noch mehr mitgemacht haben. Der Strom reißt nicht ab. Fast jeden Tag gibt es Ehrenbegräbnisse.

    Noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen

    Am eindrücklichsten ist mir ein Lehrer in Erinnerung geblieben, den ich in ein Dorf namens Bura an der chinesischen Grenze begleiten musste. Er war eingezogen worden und starb an einer Verletzung am Bein, die eigentlich gar nicht lebensgefährlich war. Aber er hat zu viel Blut verloren, weil man das Bein nicht oberhalb der Wunde abgebunden hat, sondern darunter. Dafür wurde nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Er war ein einfacher Lehrer, den man Tausende von Kilometern weit weggeholt hat, um Menschen zu töten. Auf dem Land sind die Leute einfach gestrickt: Man sagt ihnen, ihr müsst „gegen Nazis kämpfen“, also kämpfen sie gegen Nazis. In diesem gottverlassenen Dorf gab es keinen, der ihn als Lehrer ersetzen konnte. Dieser Mann war sehr beliebt, das ganze Dorf schätzte ihn. Ich habe noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen wie bei seiner Beerdigung.

    Dann gab es noch eine Mutter, der ich ihren zweiten Sohn tot zurückbringen musste, nachdem sie schon einen [im Krieg] verloren hatte. Das Dorf hieß Tschara. Der erste Sohn war als Freiwilliger in die Gruppe Wagner eingetreten, der zweite wurde eingezogen, der dritte war noch zu Hause, aber wollte auch bald hingehen. Sie ist natürlich zusammengebrochen, war vollkommen hysterisch. Ich habe mir ihre Hasstiraden anhören müssen, auf Putin, auf Schoigu, einfach auf alle. Ich trug eine Uniform, also war ich an allem schuld, ich habe diesen Krieg entfesselt, alle getötet, ihren Sohn getötet – das volle Programm. Sie tat mir sehr leid. Sie wäre mir am liebsten an die Gurgel gegangen, aber durch den Schock war sie wie gelähmt. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und wäre fast ohnmächtig geworden.

    Ein anderer harter Moment war, als mehrere Tote aus einer Einheit auf einmal in eine Leichenhalle gebracht wurden. Es kamen viele Verwandte, alle waren völlig am Ende. Zwei der Familien wollten unbedingt die Zinksärge öffnen und die Leichen umbetten. Sie hatten einen Trennschleifer dabei, aber als sie es nicht schafften, baten sie mich um Hilfe. Da habe ich zum ersten Mal einen Zinksarg zersägt, unter den Blicken der trauernden Verwandtschaft. Es war eiskalt, meine Hände waren steif gefroren, und dann war einer der Toten schrecklich zugerichtet. Während wir sie in die Leichenhalle trugen, um sie umzuziehen, weinten alle hysterisch. Einen Zinksarg zu zersägen ist nichts für schwache Nerven.

    Ich habe schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind

    Es gibt verschiedene Gründe, warum die Leute die Särge öffnen wollen. Eigentlich haben Zinksärge ein kleines Fenster, damit man das Gesicht sehen kann. Normalerweise, wenn es keine Kopfverletzung gibt, erkennt man den Toten. Manche Angehörigen wollen ihn einfach noch einmal berühren, sie wollen sich von dem Körper verabschieden. In Transbaikalien werden die Toten traditionell zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt. Aber das ist in dem Fall keine gute Idee. Vor allem, wenn es warm ist, dann liegt die Leiche da und rottet vor sich hin. Bei meinen Einsätzen habe ich das eigentlich nie erlaubt. Dazu war ich befugt: Ich konnte entscheiden, ob ein Zinksarg geöffnet wird oder nicht. Wenn man das Gesicht durch das Sichtfenster sehen und den Toten identifizieren kann, dann reicht das. Meistens sind es die Mütter, die ihren Sohn noch einmal sehen wollen, aber sie verstehen nicht, dass da der Geruch ist, und es ist schlicht auch nicht ungefährlich.

    Nur ein Mal habe ich es erlaubt. Es war Winter, da konnte man ihn einen Tag lang offen stehenlassen. Außerdem war er noch nicht lange tot, wir hatten ihn zügig nach Hause gebracht. Alle anderen habe ich in geschlossenen Särgen beerdigt.
    Bis zur Beisetzung wird der Zinksarg an verschiedenen Orten gelagert, nicht unbedingt im Leichenschauhaus, einfach weil es die nicht überall gibt. In ganz abgelegenen Dörfern werden die Särge manchmal in der Schule aufgebahrt – in der Aula oder sogar in der Kantine. Der Tote steht einfach mitten im Raum, die Menschen kommen und verabschieden sich. Das sind oft kleine, arme Dörfer. Die Leute tun, was sie können.

    Ich persönlich habe nie etwas Negatives erlebt, außer von dieser einen Mutter, und der habe ich meine Nummer gegeben und versprochen zu helfen, so gut ich kann. Sie hat sich später bei mir gemeldet, wir haben telefoniert, ich habe ihr mit den Papieren geholfen. Alle anderen haben auf mich nicht feindselig reagiert. Die Leute verstehen, dass ich nichts dafürkann, dass ich sie nicht umgebracht habe. Wenn ich mit den Menschen rede, habe ich schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind. Sie verstehen, dass es völliger Irrsinn ist. Viele haben versucht, ihre Angehörigen davon abzuhalten, aber sie fahren trotzdem und sterben.

    Auf dem Land sind alle arm

    Zum Leichenschmaus bin ich meistens nicht geblieben. Das ist zu hart, furchtbar. Ich habe alle möglichen Ausreden erfunden, damit ich nicht hinmusste, obwohl man mich eingeladen hat. Das Essen war natürlich gut, aber ich bin meistens gefahren. Nur wenn man mit einer Eskorte zu einer Ehrenwache muss, dann hat man Wehrpflichtige dabei, die regelmäßig mit Essen versorgt werden müssen. Und wo versorgt man sie? Beim Leichenschmaus. Also muss man bleiben und dabeisitzen.

    Das ist ein elender Anblick. Auf dem Land sind alle arm, für ein Begräbnis sammelt das ganze Dorf. Die Gegend ist sowieso schon trostlos, aber jetzt ist sie noch trostloser, weil sie buchstäblich alle Männer von dort wegholen. Burjaten, Jakuten, alle Minderheiten, die in diesem Gebiet leben. Die kommen zuallererst an die Front. Mindestens in zwei der Musterungsbehörden, mit denen ich zu tun hatte, hörte ich, dass sie keine „Mobilisierungsressourcen“ mehr hätten. Im Klartext heißt das, dass es in ihren Verwaltungskreisen keine Männer mehr gibt.

    Ich habe etwa drei Monate [als Totenbegleiter] gearbeitet. Das ist eine harte Erfahrung, Ich bin wenigstens ein Militär und dafür ausgebildet, ich wusste immerhin, was auf mich zukommt. Aber es ist trotzdem grauenvoll. Erst war es sehr schwer, aber dann gewöhnst du dich natürlich dran.

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    Hymnen auf den falschen Führer

    Die literarische Karriere des Dichters Gennadij Rakitin war steil aber nicht von langer Dauer. Über den Zeitraum von einem Jahr erschienen unter seinem Namen 18 Gedichte zu patriotischen Themen. Zahlreiche Abgeordnete der Kreml-treuen Staatsduma freundeten sich auf social Media mit ihm an. Er kam sogar fast in die Endrunde eines Literaturwettbewerbs. Doch dann erschien sein letztes Gedicht:

    Lang drehte hier Gennadij
    Aus Z-Gedichten einen Strick,
    Am Ende aber sprach er:
    Scheißkrieg.

    Tatsächlich war es das einzige, das er selbst verfasst hatte. Genauer gesagt: Die Gruppe von Kriegsgegnern, die sich den patriotischen Dorflehrer Rakitin ausgedacht hatten. In Wahrheit handelte es sich bei den Gedichten, die russische Patrioten so begeistert hatten, um Übersetzungen deutscher Dichter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Alexander Estis hat für Mediazona mit einem der Initiatoren über die Aktion gesprochen.

    Gennadij Rakitin, 49 Jahre alt, Lehrer in einer kleinen Schule im Moskauer Umland und Hobby-Poet, war eine Erfindung russischer Anti-Kriegs-Aktivisten. Das Bild ließen sie von einer KI erstellen. / Screenshot: VK

    Der fiktive Poet Gennadij Rakitin ist das Ergebnis kollektiver Arbeit. Wer hat ihn erfunden?

    Aus naheliegenden Gründen können wir die Namen dieser Menschen nicht öffentlich machen. Am besten formuliert man das so: Es handelt sich um gewöhnliche Bürger Russlands, die keiner Partei oder politischen Bewegung angehören. Eine Gruppe von Freunden hat sich einfach zusammengefunden und beschlossen, so ein Projekt zu machen. Ohne jegliches Budget, in der Freizeit. Denn das Schlimmste, was man heute tun kann, wäre zu schweigen und nichts zu tun – im Glauben, jemand würde den Kampf an deiner statt führen.

    Wann und wie entstand die Idee zu diesem Projekt?

    Die Idee entstand größtenteils dank Margarita Simonjan und dem Schriftstellerverband Russlands. Im Frühling 2023 begannen sie, ihre beiden Anthologien von Z-Poesie intensiv zu bewerben. Wir haben sie – natürlich nicht in Gänze – gelesen und waren erschüttert: Darin verströmt beinah jedes zweite Gedicht, wenn man so will, den Geruch von ganz gewöhnlichem Faschismus.

    Mit dem Projekt Gennadij Rakitin wollten wir den Lesern von Z-Poesie demonstrieren, dass sie sich für Texte begeistern, die sich kaum von der Lieblingslektüre der Nationalsozialisten unterscheiden. Ein besonders bedeutsamer Aspekt, über den wir lange nachgedacht haben: Wie können wir ein antimilitaristisches Statement machen, um nicht nur diejenigen zu erreichen, die ohnehin gegen den Krieg sind, sondern umgekehrt solche, die ihn befürworten? Wie können wir ihnen in gewissem Sinn den Boden unter den Füßen wegziehen? Damit sie, sobald sie wieder ein „patriotisches Gedicht“ sehen, darüber ins Grübeln geraten, ob es nicht genau den Nazismus enthält, gegen den sie zu kämpfen vorgeben. Natürlich verstehen wir, dass dieses Ansinnen höchst idealistisch bleibt.

    Hat der erfundene Name des Fake-Dichters irgendeinen bestimmten Sinn?

    So gut wie keinen. Zunächst haben wir über irgendwelche Anagramme oder andere Wortspiele nachgedacht. Aber dann kamen wir zu dem Schluss, dies könne riskant sein: Man sollte uns ja nicht früher entlarven, als wir es selbst wollten. Also haben wir einfach einen Namen gewählt, der möglichst russisch klang – gemäß dem Prinzip Rakitin-Bereskin (von beresa – „Birke“). Dagegen stammen die Fotos der „heimatlichen Gefilde“, die auf Rakitins Profil im Netzwerk VK zu finden sind, aus deutschen Wäldern. Das war eine weitere Stellungnahme zum Thema „Einzigartigkeit der russischen Natur“.

    Auf seinem Profil im Netzwerk Vkontate veröffentlichte Rakitin Bilder der einzigartigen russischen Natur. Auch hierbei handelte es sich in Wahrheit um Fotos aus deutschen Wäldern / Screenshot: VK

    Und was ist mit den Fotos von Gennadij Rakitin selbst? Wie viele Bilder gibt es überhaupt von ihm?

    Das war ein einfacher Prompt an eine KI, so etwas wie „ein russischer Intellektueller auf der Datscha in einem Moskauer Vorort“. Insgesamt gibt es nur zwei Fotos von Gennadij Rakitin.

    Haben Sie sich von der Tradition literarischer Fälschungen und Mystifikationen inspirieren lassen?

    Vielleicht nicht unmittelbar, aber selbstverständlich lieben wir unterschiedliche Mystifikationen. Etwa die Geschichte mit Jonathan Swift und seiner Suppe aus Säuglingen als Beispiel doppelten Trollings.

    Wer erstellte die Übersetzungen und Adaptationen?

    Wir selbst. Ein Kollektiv aus einigen wenigen Freunden.

    Nach welchen Kriterien wurden die Originaltexte ausgewählt?

    Uns stand kein umfangreiches Archiv nationalsozialistischer Poesie zur Verfügung – nur das, worauf man über Google frei zugreifen kann. Tatsächlich folgten wir keinen strikten Auswahlkriterien. Wir wollten, dass die Gedichte zur russischen Gegenwart passen – aber es passten beinah alle. Aussortiert haben wir vor allem diejenigen, die zu eindeutigen Anachronismen geworden wären, weil darin beispielshalber irgendwelche Ackerbauern, Bergmänner, Propeller oder Trommeln erwähnt werden.

    Von welchen Prinzipien ließen Sie sich bei der Übersetzung der Texte leiten?

    Wir haben uns um maximale Nähe zum Wortlaut des Originals bemüht. Nach Möglichkeit fast schon eine Interlinearübersetzung. Es scheint, als sei uns das lediglich beim ersten Gedicht nicht ganz gelungen. Aber bei den meisten Übersetzungen versuchten wir sogar das jeweilige Reimschema beizubehalten, obwohl in unserem Kollektiv weder professionelle Lyriker noch professionelle Übersetzer sind. Wir mussten so gut wie nichts verändern. Außer höchstens „Russland“ statt „Deutschland“ oder einfach „Uniform“ anstelle von „braunes Hemd“. Natürlich nahmen wir uns bei der Übersetzung ab und an kleinere Freiheiten heraus, aber die waren ästhetisch bedingt und hatten nicht das Ziel, die Quelle irgendwie zu verschleiern.

    Wie gelangte Rakitin zu Anerkennung innerhalb der Z-Community?

    Als wir anfingen, wussten wir nicht genau, ob das Projekt Fahrt aufnehmen würde und wie wir es genau vorantreiben sollten. Zuerst wollten wir einfach eine gewisse Menge an Internet-Freundschaften sammeln, in der Hoffnung, dass der Motor irgendwie von selbst anspringt. Dann sahen wir plötzlich, wie Rakitin auf dem Kanal Kriegspoesie zum militärischen Sondereinsatz geteilt wurde – dem größten digitalen Kanal, der ausschließlich der Z-Poesie gewidmet ist. Erst danach verstanden wir, dass wir auch selbst bei verschiedenen Foren anklopfen und um Veröffentlichung von Rakitins Texten bitten konnten. Die meisten publizierten es. Einige Foren mit mehreren hunderttausend Followern verlangten Geld, in diesen Fällen nahmen wir davon Abstand.

    Erhielt Rakitin auch persönliche Zuschrifen?

    Persönlich schrieben nur wenige. Meist wurde direkt unter den Posts kommentiert: „Gut gemacht!“, „Alles richtig!“ Es gab auch einen lustigen Kommentar: „So jung – und schon so ein Guter!“ Dabei ist Rakitin 49 Jahre alt.

    Gab es auch Kritik?

    Eigentlich nicht. Einmal schrieb jemand, es sei inhaltlich alles richtig, aber holprig formuliert. Und einmal wurde Rakitin, nachdem wir ein Gedicht zum Geburtstag des Führers beziehungsweise Putins gepostet hatten, von ein paar Leuten „entfreundet“.

    Hat jemand im Laufe der Zeit Verdacht geschöpft?

    Erstaunlicherweise nicht. Tatsächlich kann man sämtliche Texte Rakitins in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe besteht aus Gedichten, die Krieg und Heimat verherrlichen. Also reinste Z-Poesie. Dass man sich dafür begeistert, das ist das Kranke am heutigen Russland. Die zweite Gruppe bildet gewöhnliche Lyrik über allgemeinmenschliche Kümmernisse (insbesondere über die Trauer des Verlusts), die theoretisch jeder erdenkliche Mensch in einer jeden Epoche und einem jeden Land hätte schreiben können. Dass sie den russischen Patrioten gefielen, bedeutet nicht, dass sie darin nazistische Ideen entdeckt und geschätzt hätten. Es war uns aber enorm wichtig, mit diesen Beispielen zu zeigen, dass es keine besondere russische Spiritualität – keinen kulturellen Code oder was auch immer man heute wieder predigt – gibt, die den russischen Menschen irgendwie den anderen gegenüber abheben, geschweige denn über sie stellen würde. Die dritte Gruppe umfasst zwei „Führergedichte“. Wir waren überzeugt, dass solch ein Unsinn nun wirklich niemandem schmecken könne. Im 21. Jahrhundert jemanden auf diese Art lobpreisen – ernsthaft? Das wäre nur in Nordkorea vorstellbar. Doch dann erwiesen sich diese Gedichte überraschend beinah als die populärsten. Und niemandem fiel etwas auf.

    Wie würden sie die heutige russische Propagandalyrik einordnen?

    Äußerst selten begegnet man guten Gedichten von Z-Poeten, und dies nur, wenn sie über echte menschliche Gefühle schreiben, über den Schmerz. Also wenn es sich letztlich auch gar nicht mehr um propagandistische Poesie handelt. Doch schauen Sie sich ein beliebiges Forum zur Z-Poesie an – eine überwältigende Mehrheit der Gedichte ist schlichtweg grauenvoll. In dieser Hinsicht hatte Rakitin ein Problem: Je besser in künstlerischer Hinsicht ein Gedicht gelang, desto weniger Chancen auf Erfolg hatte es.

    Wie sehr ähnelt diese Art von Lyrik der propagandistischen Literatur des Dritten Reichs?

    Danach zu urteilen, dass wir beinah jedes Gedicht wählen, übersetzen und für ein zeitgenössisches russisches Gedicht ausgeben konnten, ist die Nähe groß. Insbesondere natürlich in der Verherrlichung und Erhebung eines Volkes über alle anderen. Genau das stach sofort hervor in den Sammlungen, die ich oben erwähnte. Darüber hinaus stimmen natürlich auch die Ideen von der Pflicht gegenüber der Heimat überein. (Die Einstellung zum »Führer« kann unter den Z-Dichtern variieren, aber in der Propaganda ist sie naturgemäß einheitlich.) Der einzige Unterschied, den wir bemerkt haben, besteht wohl darin, dass „Disziplin“ als Vorstellung, wie sie in Gedichten nationalsozialistischer Zeit recht oft begegnet, der russischen Propaganda und Z-Poesie völlig abgeht.

    Inwieweit lässt sich das heutige Russland insgesamt mit Hitlerdeutschland vergleichen?

    Einerseits möchte man derartige Vergleiche aufgrund ihrer Begrenztheit immer vermeiden. Andererseits drängen sie sich wie von selbst auf. Bücher über das Deutschland der Dreißiger- und Vierzigerjahre stoßen in Russland – innerhalb bestimmter kleiner Bevölkerungssegmente – in jüngster Zeit auf große Nachfrage. Und eines springt ins Auge: Hier wie dort existiert eine verhältnismäßig kleine Zahl (aber es sind Zehn- oder Hunderttausende) аn Regimegegnern, eine deutlich, wenn auch nicht übermäßig größere Zahl an Hurra-Patrioten, aber zugleich existiert eine enorme Menge, eine erdrückende Mehrheit von Menschen, die versuchen wegzuschauen. Eines der Ziele unseres Projekts war es, dass dort, wohin sie schauen, kein Band mit Z-Poesie stehen möge.

    Warum haben Sie beschlossen, den Fake zu enthüllen?

    Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens ist es sehr bedrückend, sich in derart toxischen Sphären zu bewegen – wenn man einerseits nationalsozialistische Zeitschriften der Dreißiger und Vierziger studieren, andererseits durch den Newsfeed scrollen und die »Werke« neuer russischer Patrioten zur Kenntnis nehmen muss. Und während du derartige Übersetzungen machst, entsteht der Eindruck, als würdest du etwas sehr Schmutziges berühren, etwas, das – ich entschuldige mich für den pathetischen Ausdruck – eine Spur in deiner Seele hinterlässt. Der zweite Grund hat mit gewissen Kommentaren zu tun. Viele der Gedichte thematisieren, das ist augenfällig, Krieg und Tod. Darunter erschienen nun Worte der Dankbarkeit und Sympathie von Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg gegen die Ukraine verloren hatten. Das nun ist ein sehr kompliziertes Gefühl – wenn du diesen Krieg mit Leib und Seele verachtest, aber doch auch diese Menschen bedauern musst, die den Tod ihrer Nächsten beweinen.

    Sind weitere ähnliche Aktionen bereits in Planung?

    Unser kleines Kollektiv von Freunden hat bereits weitere Projekte. Und indem wir dieses beenden, denken wir bereits an neue – aber die decken wir vorerst natürlich nicht auf.

    Was wird jetzt aus Gennadij Rakitin?

    Das wissen wir nicht. Nazidichter wird er jedenfalls nicht mehr übersetzen.

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  • „Unterschreib oder wir vergewaltigen dich“

    „Unterschreib oder wir vergewaltigen dich“

    Seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine versucht der Staat mit äußerster Härte, Proteste gegen den Krieg zu unterdrücken. Die Organisation OWD-Info spricht in ihrem aktuellen Bericht von fast 20.000 Festnahmen und über 800 strafrechtlich Angeklagten und Verurteilten im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten.  

    Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew wurden am 6. März 2022 bei Protesten in Moskau festgenommen und anschließend wegen versuchter Brandstiftung eines Gefangenentransporters angeklagt. Schutschkow wurde später zu knapp zehn Jahren und Sergejew zu knapp acht Jahren Haft verurteilt. Anfang Februar dieses Jahres wurden die beiden Männer aus Omsk an einen unbekannten Ort gebracht. Erst einen Monat später erfuhr die Initiative Sona solidarnosti (dt. Solidaritätszone), die Antikriegsaktivisten unterstützt, dass die beiden in Gefängnisse in Krasnojarsk überstellt worden waren. Schutschkow hat inzwischen selbst Strafanzeige erstattet und spricht von Gewalt und Folter während der Haft. Mediazona berichtet über den Fall. 

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

    Zelle Nr. 169 – Prügel und Androhung von Vergewaltigung 

    Am 17. Februar trafen die Anti-Kriegs-Aktivisten Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew im Untersuchungsgefängnis SISO-1 in Krasnojarsk ein. Dort verbrachten sie etwas mehr als eine Woche, danach sollte Anton Shutschkow für die ersten Jahre der Haft nach Minussinsk und Wladimir Sergejew nach Jenissejsk überstellt werden. 

    Wie Anton Shutschkow seiner Anwältin Xenia Iwanowa erzählte, war er [im Krasnojarsker SISO-1 – dek] am 20. Februar zu einem Gespräch mit dem Ermittlungsbeamten aus der Zelle geholt worden. Auf dem Weg konnte er ein paar Worte mit Wladimir Sergejew wechseln, der ihm erzählte, dass er die Nacht davor in der Zelle Nr. 169 verbracht und „unter Druck“ eine „Einwilligung zur Kooperation“ unterschrieben habe.

    Ich sollte horchen, was die Zellengenossen reden

    Auch Anton Shutschkow wurde am selben Tag auf Kooperation angesprochen. „Sie schlugen mir vor, ihnen zuzuarbeiten: zu horchen, was die Zellengenossen reden, zu beobachten, wer verbotene Sachen versteckt. Ich habe abgelehnt“, erzählte er seiner Anwältin.

    Am 21. Februar kam auch Anton Shutschkow in die Zelle Nr. 169, vor der ihn Wladimir Sergejew schon gewarnt hatte. Dort erwarteten ihn drei Häftlinge, die laut Aussage des Aktivisten über sein Verfahren Bescheid wussten: Sie sagten, sie wüssten alles über ihn, pöbelten herum und nannten ihn mit seinen 40 Jahren verniedlichend „Antoschka“. „Einer war ein kahlrasierter Muskelprotz, der sagte, er sei 31. Der Zweite war angeblich um die 40, ehemaliger Offizier. Vom Dritten weiß ich nur noch, dass er so zwischen 25 und 30 war“, beschrieb sie Anton Shutschkow.

    Noch am selben Tag verprügelten ihn diese Männer, weil er die Kooperation mit den Behörden verweigerte. Wie er später in der Anzeige beim Ermittlungskomitee angab, erfolgte das mit dem Wissen und auf Anweisung der SISO-Bediensteten. 

    Sie steckten mich mit dem Kopf ins Klo und schlugen mir auf den Kopf

    „Sie sagten: Schreib deine Erklärung oder wir vergewaltigen dich. Ich weigerte mich. Da steckten sie mich mit dem Kopf ins Klo und schlugen mir auf den Kopf, in den Nacken, auf den Rücken. Ich dachte, sie hätten mir eine Rippe gebrochen, aber es war ein Knorpel verschoben. Mein Rücken war blau. Einer hielt mich an den Armen fest, der andere an den Beinen. Sie zogen mir die Hose runter und drohten, mich mit der Klobürste zu vergewaltigen, weil kein Schrubber da war“, erzählte Shutschkow. 

    Weil er ihnen das durchaus zutraute, erfüllte Shutschkow die Forderungen der Häftlinge. „Ich sage mich von extremistischem Gedankengut los und verpflichte mich dazu, den Strafvollzugsbehörden der Region Krasnojarsk und den russischen Geheimdiensten beim Aufdecken von Verbrechen zu helfen“, zitierte er den Text seiner Erklärung der Anwältin gegenüber.  

    Mit dieser Erklärung war es aber noch nicht getan — Shutschkow musste einen kurzen Lebenslauf verfassen und Fragen der Häftlinge beantworten: Was er über Sergejews Verbindungen zur Ukraine wisse, ob dieser mit Drogen handle (er antwortete, dass er davon nichts wüsste), und wer ihm, Shutschkow, private Briefe schreibe. „Ich sagte, das seien ganz normale Leute. Sie fragten mich, wer von der Organisation Tschorny krest (dt. Schwarzes Kreuz) mit mir in schriftlichem Austausch stände“, berichtete Anton Shutschkow. Ein paar Tage zuvor war die Federazija anarchitscheskogo tschornogo kresta (dt. Föderation des anarchistischen schwarzen Kreuzes) auf die Liste der „unerwünschten Organisationen“ gekommen.

    Dann wurde Anton Shutschkow in die vorherige Zelle zurückgebracht, doch seine früheren Zellengenossen waren gegen „zwei Wiederholungstäter“ ausgetauscht worden, die ihn unter Druck setzten, ja nicht die Kooperation zu verweigern, und ihn „verbal angriffen und demütigten“.   

    Am 26. Februar wurde Anton Shutschkow ins Gefängnis [in Minussinsk – dek] überstellt.   

    Im Gefängnis – neue Forderungen 

    Derzeit befindet sich Anton Shutschkow im Gefängnis in Quarantäne. Seine Anwältin Xenia Iwanowa berichtete Mediazona, dass es ihm gut gehe und er sich „um Zuversicht bemühe“. Sie habe ihren Klienten zuletzt am 4. März gesehen.  

    „Zu dem Zeitpunkt scheint er im Gefängnis von Minussinsk besser aufgehoben zu sein, weil er mit nur einer Person, einem Muslim, zusammen in Quarantäne ist. Im Grunde hat er dort Ruhe, ich habe ihm einen Brief und ein Antwortschreiben zum Ausfüllen geschickt. Ich hoffe, er schreibt mir, wie es in der neuen Zelle ist und wie sein Tagesablauf aussieht, wenn ihm seine endgültige Zelle zugewiesen wird“, sagt die Anwältin.  

    Shutschkow fordert in seiner Anzeige, die Zellengenossen, die ihn misshandelt haben, strafrechtlich zu verfolgen, und die Kameraaufzeichnungen sicherzustellen, auf denen vielleicht zu sehen ist, wie er von Zelle zu Zelle geführt wird. Außerdem fordert er, von den Aufsehern eine Begründung für diesen Zellenwechsel zu verlangen. Seine Anwältin Xenia Iwanowa hat die Anzeige bereits beim Ermittlungskomitee eingebracht. „Ich habe diesen Fall auch bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Auch die Tatsache, dass ihm danach zwei Wiederholungstäter in die Zelle gesetzt wurden. Jemand, der zum ersten Mal inhaftiert ist, darf nämlich nicht mit Häftlingen zusammengesperrt werden, die zum wiederholten Mal verurteilt sind“, erklärt sie. 

    Sie machen Druck und ich schweige – nein, das muss an die Öffentlichkeit

    Allerdings befürchte Shutschkow ihren Worten zufolge, dass nach dieser Beschwerde eine fabrizierte Anklage gegen ihn erhoben werden könnte. „Er geht davon aus, dass ihm angesichts seiner langen Haftstrafe so oder so noch weitere Paragraphen angehängt werden. Ich versuche, ihm klarzumachen, dass es trotzdem nicht so einfach ist, aus dem Nichts eine Anklage zu erheben. Neuerliche Anschuldigungen kommen meistens dann hinzu, wenn man etwas mit Zellengenossen bespricht, die einen verraten, oder wenn man einen schweren Verstoß begeht“, sagt die Anwältin. Trotz seiner Befürchtungen habe Shutschkow der Publikation seines Berichts über die Folter jedoch zugestimmt, betont Iwanowa. „Sie machen Druck und ich schweige – nein, das muss an die Öffentlichkeit“, zitiert sie ihren Mandanten.     

    Die Bediensteten des neuen Gefängnisses haben dem Aktivisten ebenfalls eine Kooperation vorgeschlagen, aber Iwanowas Einschätzung nach war das eher „ein Routinevorgang“ und hatte nichts mit den Geschehnissen in der Untersuchungshaft zu tun. Laut Iwanowa sah dieser Vorschlag so aus, dass Shutschkow „jede Woche einen Bericht über Gehörtes und Gesehenes“ abgeben solle. Als Shutschkow ablehnte, wurde ihm nahegelegt, noch mal darüber nachzudenken.     

    „Aber er will ganz grundsätzlich nicht mit den Behörden kooperieren, weil das seinen moralischen Prinzipien widerspricht“, erklärt Iwanowa. Als Shutschkow ins Gefängnis überstellt wurde, erzählte er laut Iwanowa anderen Häftlingen, dass er in der Untersuchungshaft gezwungen worden war, eine Kooperationserklärung abzugeben: „Die Reaktionen waren unterschiedlich, die einen sagten, es sei verständlich, dem Druck nachzugeben, die anderen meinten, man müsse sich zu wehren wissen. Bei Anton Shutschkow schwingt Reue mit, dass er sich anders verhalten und nicht hätte unterschreiben sollen, aber ich versuche ihm beizubringen, dass unter Bedrohung des Lebens und der Gesundheit jedes Verhalten gerechtfertigt ist.“         

    Anti-Kriegs-Aktion. Wofür Shutschkow und Sergejew verurteilt wurden

    Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew, die beide vor einigen Jahren aus ihrer Heimatstadt Omsk nach Moskau zogen, wurden gleich zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, nämlich am 6. März 2022, in der Nähe des Puschkin-Platzes festgenommen. Damals gab es in Moskau noch Demonstrationen gegen den Krieg, und zu einer davon waren die beiden Männer unterwegs. Die Silowiki, die sie aufhielten, kontrollierten ihre Ausweise und den Inhalt ihrer Rucksäcke. Danach nahmen Shutschkow und daraufhin auch Sergejew Methadon-Kapseln ein, um sich umzubringen – das gelangte auf die Body-Cams der Polizisten. 

    Da Sergejew Molotow-Cocktails im Rucksack hatte, wurden die zwei Freunde festgenommen. Auf die Frage, warum sie die dabeihätten, wenn sie zu einer Demonstration gehen, sagte Sergejew, bereits unter Methadon-Einfluss: „Wir dachten uns, wir könnten ein paar eurer Flohkisten abfackeln.“ 

    Ihr werdet sitzen, ihr Missgeburten. Auf einem Flaschenhals, bis der Hintern blubbert

    Auf dem Video der Polizei ist zu hören, wie einer der Silowiki den beiden droht: „Ihr werdet sitzen, ihr Missgeburten. Auf einem Flaschenhals, wie verdammte Petuchi, bis der Hintern blubbert, das versprech ich euch verfickten Wichsern.“  

    Schon auf dem Weg zur Polizeistation ging es Shutschkow schlecht. Er verlor das Bewusstsein und kam in die Sklifossowski-Klinik für Erste Hilfe. Dahin kam nach einer Weile auch Sergejew. Die Ärzte diagnostizierten jeweils eine Methadon-Vergiftung.  

    Zehn Tage später wurden sie wegen versuchten Rowdytums in der Gruppe unter Einsatz von Waffen angeklagt. Aufgrund eines Berichts des FSB, in dem Shutschkow und Sergejew als „überzeugte Anhänger einer radikal-anarchistischen Ideologie“ bezeichnet wurden, die „eine gewaltsame Veränderung der verfassungsmäßigen Grundlagen“ Russlands zum Ziel habe, wurde die Anklage noch verschärft und geändert auf: Vorbereitung eines Terroranschlags durch eine Gruppe von Personen.  

    Wladimir Sergejew gestand seine Schuld zuerst ein und erklärte, er habe seinen Protest „gegen die Militäroperation in der Ukraine und die Konfrontation mit dem Westen“ zum Ausdruck bringen wollen. Vom Ermittler gefragt, wie er denn seine Botschaft habe vermitteln wollen, wenn er doch beinah Selbstmord begangen hätte, sagte Sergejew: „Der Sinn meiner Tat wäre klar gewesen, egal ob ich am Leben bleibe oder nicht. Ich war bei einer Anti-Kriegs-Demo und habe protestiert.“ 

    Er sagte auch gegen Shutschkow aus, dass dieser 1,5 Gramm Methadon gekauft und einen Teil davon ihm gegeben habe. So kam für seinen Freund noch ein Paragraph hinzu: Absatz von Drogen in erheblichen Mengen. Später zog Sergejew sein Geständnis zurück und erklärte, er habe es unter dem Druck der Silowiki abgelegt, die ihn verprügelt haben.     

    Shutschkow hat nie ein Geständnis abgelegt, sondern blieb dabei, dass er von den Molotow-Cocktails in Sergejews Rucksack nichts gewusst und lediglich seinen Suizid geplant habe. „Ich habe [das Methadon] genommen, um nicht mehr zu sehen, was auf der Welt abgeht: der Krieg in der Ukraine, die Ereignisse im Donbass, ich habe auch Angst vor einem Atomkrieg“, erklärte er. „Daher wollte ich mir das Leben nehmen, um nicht zu sehen, wo das hinführt – ich hatte auch Angst, dass die jungen Menschen in die Armut rutschen.“    

    Letztes Jahr im April verurteilte das Zweite Westliche Militärkreisgericht Anton Shutschkow zu zehn und Wladimir Sergejew zu acht Jahren Haft. Später wurden diese Freiheitsstrafen um zwei Monate gekürzt. Die ersten drei Jahre müssen sie im Gefängnis verbringen, daher wurden beide 4000 Kilometer von Moskau entfernt in die Oblast Krasnojarsk gebracht.  

    Der Anwältin Xenia Iwanowa zufolge sind in Schutschkows Profil drei Katergorien vermerkt: Suizidgefährdung, Propaganda für eine extremistische Ideologie und Neigung zu Drogen- und Alkoholkonsum.  

    „Er möchte in der Näherei arbeiten und ins Fitnessstudio gehen“, sagt Iwanowa. „Er will sich bei mir melden, falls es wegen seines Urteils Probleme mit der Arbeit geben sollte.“  

    Update vom 14. März, 11:25: Die Anwältin ist hier nicht mit ihrem richtigen Namen genannt. Zudem wurden auf ihre Bitte hin im Text einige geringe Änderungen vorgenommen, um ihren Klienten vor weiteren Risiken zu schützen. 

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  • Eine Karte der Verwüstung

    Eine Karte der Verwüstung

    Bis zur russischen Vollinvasion im Februar 2022 war die ukrainische Hafenstadt Mariupol ein bedeutendes Wirtschaftszentrum. Bei der Belagerung wurden Schätzungen zufolge mehr als 80.000 Menschen getötet, noch mehr flohen, mehr als 80 Prozent der Wohnungen wurden zerstört. Seit September 2022 ist Mariupol vollständig unter russischer Verwaltung. Der versprochene Aufbau geht derweil kaum voran. Geflohene Besitzer werden enteignet, die besten Objekte sichern sich die russischen Besatzer. Mediazona hat Eindrücke gesammelt: Von Bewohnern, von einem Bauarbeiter aus Siribiren, der geschockt wieder heimgefahren ist, und von einem Kartografen, der die Zerstörung von Israel aus dokumentiert.

    „Mariupol gehört zu Russland. Punkt“ steht auf diesen Imbiss-Wägen, bei denen die verbliebenen Bewohner der Ruinenstadt sich eine Mahlzeit besorgen können. Die Bilder hat ein Bauarbeiter mit Namen Michail aufgenommen und der Redaktion von Mediazona überlassen. / Fotos © Mediazona

    Oxana hat mit ihrem Mann und ihrem Kind am 16. März 2022 Mariupol in Richtung Dnipro verlassen. Vor dem russischen Überfall lebte sie im Bezirk Primorski. Im Keller ihres Wohnhauses betrieb sie einen Kosmetiksalon. Dort versteckte sie sich mit ihrer Familie drei Wochen lang, als Mariupol beschossen wurde, erzählt sie Mediazona

    „Ein fünfstöckiges Haus auf einer Anhöhe in der Nähe der Stadtverwaltung“, erinnert sie sich an ihr früheres Zuhause. „Alle Häuser in der Nähe wurden sofort zerstört, zurück blieben nur Ruinen. Aber unser Haus blieb wie durch ein Wunder unbeschadet, bis auf die zerplitterten Fenster natürlich.“

    Vergangenes Jahr, als Oxana schon in Vilnius lebte, ließ die Besatzungsregierung ihre leerstehende Wohnung in Mariupol durchsuchen. Bei ihrer Flucht hat die Ukrainerin zwar die Unterlagen für ihre Wohnung mitgenommen, aber mittlerweile ist es für sie unmöglich, nach Mariupol zu gelangen. Im November 2023 habe sie es von Estland aus versucht, erzählt Oxana, aber am Grenzübergang Iwangorod verweigerte man ihr die Einreise nach Russland.

    Anlass für die versuchte Einreise war allerdings nicht die zurückgelassene Wohnung sondern Oxanas Mutter, die sie seit Kriegsbeginn nicht gesehen hat. Oxana hatte gehofft, ihre Mutter und ihre Großmutter aus Mariupol herauszuholen. Die Mutter wurde im Frühling 2022 bei einem Beschuss zu Hause verwundet, seitdem sei das Haus immer noch „durchlöchert“, sagt Oxana. „Mittlerweile ist Mama dort ganz allein – sie hat weder Nachbarn noch Verwandte. Sie hat meine bettlägerige Großmutter zu sich geholt und pflegt sie, obwohl sie selbst kaum laufen kann. Und sie bekommen weder Gehalt noch Rente. Ich hätte sie da rausholen müssen.“

    Die flächendeckende Inventur 

    Oxana ist sich sicher, dass ihre Wohnung am Meer jetzt verstaatlicht, also beschlagnahmt wird. In der Stadt wird gerade eine sogenannte flächendeckende Inventur durchgeführt. Legt der Eigentümer einer Immobilie der Besatzungsregierung nicht innerhalb von dreißig Tagen seine Dokumente für die Wohnung vor, „verliert er das Recht auf Nutzung“. 

    Bewohner, die ihr Zuhause durch die Kampfhandlungen verloren haben, demonstrieren und fordern die ihnen versprochenen Wohnungen: „Das Haus, in dem wir viele Jahre gewohnt haben, existiert nicht mehr. Man hat uns hängen lassen: Man gibt uns keine Wohnungen, man verspricht sie uns nicht einmal mehr. Helfen sie uns, Wladimir Wladimirowitsch! Sie sind der Garant der Verfassung!“

    Ein Video von den Protesten in der Stadt zeigt eine Frau mit einem Zettel in der Hand, sie redet aufgeregt, verhaspelt sich: „Das ist unser Haus auf der Artjoma 88. Dreißig Jahre haben wir da gewohnt. Und im Februar 2022 wurde es dem Erdboden …“ Sie kommt ins Stocken. Jemand aus der Menge spielt ihr einen Euphemismus zu: „Es hat gelitten.“ Sie korrigiert sich: „… hat unser Haus während der Kampfhandlungen gelitten.“

    „Jetzt sind alle auf der Straße gelandet“, schließt sie, wie um sich zu entschuldigen. „Die Volksrepublik Donezk schränkt unsere Rechte ein und verstößt damit gegen die russische Verfassung.“

    Straßenszenen aus Mariupol. Der russische Dienst Yandex tilgt zerstörte Gebäude aus seinen Karten. Ein Aktivist in Israel dokumentiert jede Ruine und jedes Grab in der Stadt. / Fotos © Mediazona

    Eine Karte der verschwundenen Häuser

    Ihre Pläne, Mariupol wieder aufzubauen, hatte die russische Regierung schon am 24. März 2022 bekanntgegeben, als die Kämpfe um die Stadt noch tobten. Seit dem Herbst 2022 verschwinden von den Karten des Anbieters Yandex zunehmend Einträge von zerstörten Häusern.

    Aber auf einer anderen Karte gibt es diese Häuser noch. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sorgt Witali Stutman dafür, ein Social-Media-Experte aus Israel. Die Zahl der Häuser auf der Karte wächst, mit den genauen Adressen helfen ihm nicht selten auch die Einwohner Mariupols.

    „Bisher sind 2000 Wohnhäuser verzeichnet“, erzählt Stutman. „Nicht alle sind komplett verschwunden, manche sind beschädigt oder die Ruinen stehen noch. Außer den Wohnhäusern finden sich dort an die hundert andere Gebäude: 55 Schulen, 16 Kindergärten, 15 Hochschulen, 20 Krankenhäuser, 16 Kirchen. Und noch knapp hundert Restaurants, Geschäfte, Hotels und so weiter.“

    Im Oktober 2022 hat das Zentralnstitut für Stadtplanung im Auftrag des russischen Bauministeriums einen Plan für den Wiederaufbau Mariupols bis 2025 erarbeitet, der von The Village veröffentlicht wurde. Laut Prognosen des Instituts soll die Stadtbevölkerung von Mariupol bis zum Jahr 2025 von 212.000 auf 350.000 anwachsen. Ganz oben, unter „prioritäre Aufgaben“, ist in diesem Plan der „Wiederaufbau von Wohnobjekten wie Einfamilienhäusern und Wohnblöcken in Leichtbauweise“ verzeichnet. Gefolgt von städtischer Infrastruktur und „der Wiederherstellung und dem Erhalt von Grünflächen“. In dem Bauvorhaben findet sich auch das Theater, in dem bei den russischen Luftangriffen vom 16. März 2022 unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 12 und 600 Zivilisten ums Leben kamen. Vizepremier Marat Husnullin versicherte, das Theater werde bis Ende 2024 wiederaufgebaut.

    Alle Baumaßnahmen in Mariupol werden von einem Unternehmen mit der Bezeichnung Zentraler Auftraggeber im Bausektor geleitet. Im März 2023 veröffentlichte die Firma einen Bericht mit der Gesamtzahl der Gebäude, die zum Abriss bestimmt sind: 407. Davon waren 321 wie berichtet bereits abgerissen worden. An weiteren 1829 Objekten sollten „Sanierungsarbeiten“ durchgeführt werden. Nach Angaben von Bumaga ist der Wert der Aktiva des Unternehmens Zentraler Auftraggeber im Jahr 2022 um 182 Prozent gestiegen. Im Dezember gab das Unternehmen an, 20.000 Bauarbeiter aus allen Teilen Russlands seien nach Mariupol gekommen.

    Im Dezember 2022 zählte die Agentur Associated Press auf Satellitenaufnahmen vom besetzten Mariupol über 10.300 Gräber, die seit Beginn des russischen Angriffs hinzugekommen waren. Auf Witali Stutmans Karte sind über 400 Gräber eingezeichnet; außerdem die Orte, an denen die Menschen umkamen, mit Fotos. Viele befinden sich in den Innenhöfen der Häuser, wo nun gebaut wird. Niemand weiß, ob die sterblichen Überreste der Opfer vor den Bauarbeiten auf einen Friedhof umgebettet wurden. 

    „Nicht anzünden! Dieses Haus ist bewohnt“ hat jemand an die Fassade eines Gebäudes in Mariupol geschrieben. Auf dem Zaun steht „Hier wohnen Menschen“. / Fotos © Mediazona

    „Bei meiner Rückkehr war ich moralisch erschüttert.“ Bericht eines Bauarbeiters

    „Für mich war das in gewisser Hinsicht eine wirklich traumatische Erfahrung“, gibt Michail aus Nowosibirsk im Gespräch mit Mediazona zu. Von Oktober bis Dezember 2022 war er Hilfsarbeiter auf der Baustelle des Hotels Drushba – heute ist es ein Wohnheim für Mariupols Stadtbewohner, die ihre Wohnung verloren haben.

    „Als ich wieder zu Hause war, stand ich unter Schock, ich war moralisch erschüttert von dem, was ich gesehen habe“, erzählt Michail. „Wir haben weder etwas zu essen noch eine Unterkunft bekommen. Die Erfahrung war außerdem traumatisch, weil die Stadt aus ausgebrannten Ruinen bestand, und die Stadtbewohner uns von ihren schrecklichen Verlusten erzählten, die der Preis für ihre ‚Befreiung‘ waren, um die sie nie gebeten hatten, glaube ich.“ 

    Damals reiste Michail schon seit einem Jahr per Anhalter durch Russland und verdiente sich auf Baustellen etwas dazu. Er hatte gehört, dass Mariupol eine gute Möglichkeit sei, auf dem Bau etwas Geld zu machen.

    „Ein Justizangestellter hat mich nach Mariupol mitgenommen. Bei der Baustelle Drushba hat er mich rausgelassen; dort habe ich mich mit ein paar Leuten unterhalten und erfahren, dass sie Arbeit haben“, erinnert sich Michail. „Sie haben mir angeboten, gleich am nächsten Tag anzufangen. Ich weiß gar nicht, ob ich denen meinen Pass gezeigt habe. Ihre Pässe habe ich, glaube ich, auch nicht gesehen. Die haben nur gefragt: ‚Also los?‘, und mich zu sich nach Hause mitgenommen, wo ich schlafen konnte.“

    Das Haus in Guglino, einem Dorf in der Nähe, mietete die Bauarbeiterkolonne für 10.000  Rubel [100 Euro – dek] monatlich. Anfangs gab es weder Strom noch Wasser. Michail verdiente 2000 Rubel [20 Euro – dek] am Tag; er machte alles Mögliche: Verladen, Malern, Spachteln, Putzen. Für welche Firma er in Mariupol arbeitete, weiß er gar nicht. 

    „Unser Vorarbeiter hat auf verschiedenen Baustellen mit zwei unterschiedlichen Firmen zusammengearbeitet: TechnoStroi aus Petersburg und RosKomStroi aus Moskau“, erinnert sich Michail. „Drushba müsste zu der Moskauer Firma gehört haben.“

    Die Webseite des Moskauer Bauunternehmens RosKomStroi wurde seit 2018 nicht aktualisiert, die dort angegebene Telefonnummer funktioniert nicht. Das Unternehmen TechnoStroi wird von Iwan Oryntschuk geleitet, einem Geschäftsmann aus Sankt Petersburg. Im November vergangenen Jahres wurde er von der Regierung „für den Wiederaufbau“ Mariupols ausgezeichnet. 

    „Sehr geehrte Abgeordnete, das, was Petersburg dort leistet, ist eine Heldentat“, sagte Oryntschuk bei der Verleihung. „Ich habe mittlerweile mehr als fünf Monate in Mariupol verbracht. Wir werden alle unsere Aufgaben erfüllen, wir tun es jetzt schon. Sankt Petersburg wird Mariupol wiederaufbauen – so ein Team macht das Unmögliche möglich.“

    Knapp eine Woche später wurde er verhaftet, weil er auf staatlichen Baustellen 70 Millionen Rubel [etwa 700.000 Euro – dek] veruntreut haben soll. 

    Schätzungen zufolge sind bei der Belagerung der Stadt im Frühjahr 2022 mehr als 80.000 Menschen ums Leben gekommen. Viele Leichen werden noch in den Trümmern ihrer zerstörten Wohnungen vermutet. / Fotos © Mediazona

    „Bis heute hausen sie in Kellern.“ Wie die Menschen in Mariupol leben

    Um neuen Wohnraum zu bekommen, muss man bei der Stadtverwaltung der Besatzungsregierung von Mariupol Unterlagen seiner zerstörten Immobilien vorlegen. 

    „Viele haben diese Unterlagen nicht: Als die Stadt beschossen wurde, mussten sich die Menschen in Sicherheit bringen, da haben sie nichts mitgenommen“, erzählt Nikolaj Ossytschenko, der ehemalige Chef des TV-Senders in Mariupol. Er verließ die Stadt am 15. März 2022, betreibt aber immer noch einen Telegram-Kanal und hält nach eigenen Angaben Kontakt zu den Menschen, die vor Ort geblieben sind. 

    „Schon im vergangenen Jahr veröffentlichte die Stadtverwaltung der Besatzer Mariupols erste ‚Listen verlassenen Wohnraums‘ und brach leerstehende Wohnungen auf“, erzählt Ossytschenko. Meldet sich der Eigentümer nicht innerhalb von 30 Tagen nachdem seine Wohnung auf so einer Liste aufgetaucht ist bei der Stadtverwaltung, und legt die Dokumente für die Wohnung vor, wird diese für „herrenlos“ erklärt und „verstaatlicht“.
    „Im letzten Jahr war es noch möglich, sich von einem Nachbarn bestätigen zu lassen, dass die Wohnung dir gehört – das geht jetzt nicht mehr. Jetzt musst du persönlich da sein oder dich von einem russischen Notar vertreten lassen“, erklärt Ossytschenko.

    Aber manchmal helfen selbst die Dokumente für eine Wohnung nicht. Alexandra Borman ist Waise. Zwölf Jahre hatte sie darauf gewartet, dass ihr eine Wohnung zugeteilt wird. Ein Jahr vor dem russischen Angriff hatte sie endlich eine Wohnung im Haus Nr. 29 auf der Uliza Geroitscheskaja (dt. Heldenstraße) bezogen. Da brach der Krieg aus. 

    „Wir verließen unser Haus, und noch am selben Tag wurde es von einer Rakete getroffen, es ist sofort halb eingestürzt“, erzählt sie Mediazona. „Jetzt wohnen wir in einem kleinen Haus in dem Bezirk Mirny, seit vier Tagen haben wir keinen Strom, die Heizung funktioniert nicht, der Ofen auch nicht. Es sind zwei Grad Celsius im Haus, dabei habe ich zwei Kinder.“

    „Das zerstörte Haus blieb lange als Ruine stehen“, erzählt Alexandra. In der Zwischenzeit hat sie alle Unterlagen zusammengetragen: den Wohnbescheid, die Meldebescheinigung, den Vertrag für die Sozialwohnung. Trotzdem wurde ihr Antrag auf eine neue Wohnung abgelehnt. Ohne Begründung. 

    Nikolaj Ossytschenko erzählt, dass als Erstes Beamte von der Besatzungsregierung und zugereiste Bauarbeiter in Mariupol Wohnungen bekämen, die „Unterbringung der einfachen Leute“ sei zweitrangig. Manche Stadtbewohner brachte man in Notunterkünften unter – in diesen Wohnheimen leben sie bis heute, obwohl ihnen zugesichert wurde, das sei eine vorübergehende Lösung. 

    „Es gibt Menschen, die immer noch in Kellern leben“, berichtet Ossytschenko. „Eine Freundin erzählte mir, dass sie mit ihrer Mutter, einer alten Frau, seit anderthalb Jahren in einem Keller wohnt. Ihr Haus wurde zerbombt, sie kann nirgendwo anders hin. Sie wollte wissen, wie teuer es ist, aus Mariupol in die Ukraine auszureisen. Sie sagt, noch einen Winter im Keller überstehen sie nicht.“

    „Da ist alles vollkommen im Arsch.“ Warum nicht alle Bezirke wiederaufgebaut werden

    „Die Besatzungsregierung lässt allem voran das Zentrum und die Bezirke am Stadtrand Richtung Donezk und Saporishshja wiederaufbauen, was natürlich kein Zufall ist“, sagt Ossytschenko.

    „Das sind die Richtungen, aus denen die Gegenoffensive kommen könnte – deswegen wurden sie mit Wohnblöcken zugebaut“, erklärt er. „Aber wenn man die russischen Medien verfolgt, gibt es fast gar keine Berichte über das linke Ufer. Da ist nämlich alles vollkommen im Arsch. Das linke Ufer liegt am nächsten an Russland dran, da waren die heftigsten Gefechte, aus der Richtung hat Russland Mariupol überfallen. Dort liegt fast alles in Trümmern.“

    Oleg war Abgeordneter des Stadtrates, mit der neuen Regierung in Mariupol hat er die Zusammenarbeit verweigert. Er erzählt Mediazona, auf dem Morskoi Boulevard am linken Ufer seien fast alle Häuser abgerissen worden – knapp vier Kilometer entlang der Küste. 

    „Ich denke, da kommen Luxusbauten hin, aber bisher wurde am linken Ufer noch kein einziges Haus gebaut“, sagt er. „Der ganze Bezirk bestand fast nur aus Chruschtschowki. Ein paar wenige stehen noch, auf denen prangen Schriftzüge wie: Wir wollen wieder nach Hause.“ 

    Derweil wächst in Russland das Interesse an Immobilien in Mariupol. Auf YouTube gibt es „Room Tours“ durch die zerstörten Häuser, veröffentlicht werden sie vom Propaganda-Kanal Mirnyje (dt. Die Friedlichen).

    „Vom Balkon hat man eine fabelhafte Aussicht, kommt mit, ich zeige es euch“, sagt in einem dieser Videos eine Maklerin namens Natalja, während sie den Blick von der einstürzenden Decke abwendet und sich ihren Weg durch die zerstörten Möbel in der bombardierten Wohnung bahnt. 

    „Stellen Sie sich das mal vor, ein Bezirk wurde dem Erdboden gleichgemacht und man gibt den Menschen gar nichts“, entrüstet sich Oleg. Als Beispiel führt er das berühmte Haus mit der Uhr an, das 2022 beschädigt und bald darauf abgerissen wurde. Im Juli gab die Stadtverwaltung bekannt, dass die Wohnungen in dem neuen, rekonstruierten Haus mit der Uhr zum Verkauf stünden. Anzeigen in den sozialen Netzwerken zufolge kostet eine Einzimmerwohnung in dem noch nicht fertig gebauten Haus fünf Millionen Rubel [50.000 Euro – dek], für zwei Zimmer bezahlt man achteinhalb Millionen. Oleg ist sich sicher: „Einheimische können sich diese Wohnungen nicht leisten, auch nicht auf Kredit – in der Stadt gibt es keine Arbeit.“  

    Dabei sind die Wohnungen im Haus mit der Uhr längst verkauft, teilte das Büro des Bauunternehmens PKS-Development auf Anfrage von Mediazona mit. Laut dem Sales Manager sind nur noch Wohnungen im neunstöckigen Nachbarhaus verfügbar, das auch noch gebaut wird. 

    „Wir vergeben alle Wohnungen zu gleichen Konditionen“, hieß es in der Stellungnahme des Bauunternehmens. „Als Bauunternehmen sind wir nicht für Entschädigungen zuständig, wir bauen Häuser. Mit Entschädigungsfragen beschäftigt sich die Lokalverwaltung.“ 

    „Die Besatzungsregierung hat nicht die Mittel, um die Stadt vollständig wiederaufzubauen“, sagt Oleg. „Öffentliche Verkehrsmittel funktionieren nach wie vor nicht, obwohl die prorussische Lokalpresse das Gegenteil behauptet. Gleichzeitig boomt der Immobilienbau durch private Investoren.“

    „Es kommen Lkws aus Taganrog oder Rostow mit fertigen Zimmern auf der Ladefläche“, beschreibt Oleg das modulare Bauen. „Das sind Kästen mit Löchern für die Fenster, die werden aufeinandergestapelt, verschraubt, die Übergänge verspachtelt. Eins zwei drei – schon hat man Häuser.“

    Nach einem heftigen Sturm Ende November veröffentlichen ukrainische Nutzerinnen in Sozialen Netzwerken allerdings Bilder vom abgerissenen Dach eines solchen Neubaus im Westen Mariupols. „So viel zur Qualität“, war der Kommentar zum Post.

    „Nach dem Sturm im November blieben 3500 Haushalte in Mariupol ohne Strom“, teilte der stellvertretende Bürgermeister Oleg Morgun mit. „Privathaushalte waren mehr als zehn Tage lang vom Stromnetz abgeschnitten, manche Bezirke sogar bis Ende Dezember.“

    Im März 2023 besuchte Wladimir Putin das besetzte Mariupol. Er war auch in Newski, dem Neubau-Bezirk. Als er sich mit den Leuten auf der Straße unterhielt, rief eine Frauenstimme im Hintergrund etwas, das viele später als „Das ist alles gelogen. Das ist alles nur zum Schein“ erkannten. Diese Sequenz wurde aus dem Beitrag auf der Kreml-Webseite entfernt. Genau wie eine andere, in der ein älterer Herr zu Putin sagt, er habe „mit 70 Jahren alles verloren“. „Jetzt hat er wieder alles“, korrigierte ihn sofort eine Nachbarin mit nervösem Lachen. 

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  • „Die westliche Transgender-Industrie versucht unser Land zu durchdringen“

    „Die westliche Transgender-Industrie versucht unser Land zu durchdringen“

    „Zieh dich aus, dann schauen wir, wer du bist“ – das bekam die trans Frau Elis Femina kürzlich von einer Moskauer Polizistin zu hören, wie sie gegenüber Mediazona berichtet. Auf der Polizeiwache war sie gelandet, nachdem sie ein Türsteher am Wiederbetreten eines Klubs gehindert hatte mit den Worten: „Das ist doch ein Typ im Rock.“ Im Verlauf der Auseinandersetzung rief Femina schließlich „Ruhm der Ukraine!“. Dafür habe man ihr auf der Wache später gedroht, sie in die Ukraine an die Front zu schicken: „Dort kannst du dann unsere Männer ,bedienen‘, du FRAU.“

    Für LGBTQ und speziell für trans Menschen gehören Diskriminierungen in Russland zur alltäglichen Erfahrung – gerade auch von staatlicher Seite. Erst im Dezember unterzeichnete Putin eine Verschärfung des Gesetzes über sogenannte „homosexuelle Propaganda“, das als solche identifizierte Schriften und Medien generell unter Strafe stellt und verbietet.

    Am 14. Juni stimmte die Staatsduma nun in erster Lesung einstimmig für ein neues Transgender-Gesetz. Demnach sollen künftig geschlechtsangleichende Operationen und auch schon Änderungen der Geschlechtsvermerke in offiziellen Dokumenten verboten werden. Menschenrechtsorganisationen kritisierten das Gesetz scharf, selbst das russische Gesundheitsministerium hat sich gegen das Gesetz in der aktuellen Form ausgesprochen und befürchtet, dass es dadurch zu mehr Suiziden kommen kann. Mediazona hat eine Mitschrift der Parlamentssitzung zum Gesetz im Wortlaut veröffentlicht: Dort ist die Rede von einer „westlichen Transgender-Industrie“, es wird gewarnt vor einem „exponentiellen Wachstum“ geschlechtsangleichender Operationen und der Dumavorsitzende Wjatscheslaw Wolodin spricht in diesem Zusammenhang von „reinem Satanismus“. dekoder hat den Eröffnungsbeitrag von Pjotr Tolstoi übersetzt, um zu dokumentieren, mit welcher Rhetorik solche Gesetze in Abkehr von den Normen der WHO in Russland beschlossen werden. 

    Pjotr Tolstoi, stellvertretender Vorsitzender der Staatsduma, Partei Einiges Russland

    „Das ist keine neue Verbotsinitiative der Staatsduma, das ist ein weiterer Schritt für den Schutz nationaler Interessen. Und wir stimmen dem zu, weil sich Russland seit Beginn der militärischen Spezialoperation verändert hat. Die Jungs, die heute mit der Waffe in der Hand unser Land verteidigen, die sollen danach in ein anderes Land zurückkehren, nicht in jenes, was es vor Beginn der militärischen Spezialoperation war. Es ist sehr schade, dass viele das aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht begreifen, und viele erwarten auch einfach, dass sich nichts verändert und dass alles so bleibt, wie es war. Aber nichts wird so bleiben, wie es war.

    Es ist anzumerken, dass die Zahl der Geschlechtsumwandlungen in Russland leider steigt. Zwischen 2016 und 2022 haben nach Angaben des Innenministeriums 3000 Menschen ihr Geschlecht ändern lassen. Es ist tatsächlich so, dass dafür heutzutage als Grundlage ein einfaches ärztliches Attest ausreicht, das nicht offiziell erfasst wird. Man bekommt es in praktisch jeder Privatklinik in Russland. Leider hat das Gesundheitsministerium keinen Überblick, wie viele von diesen Operationen durchgeführt werden. Ein solche Dienstleistung kostet keine 30.000 Rubel [ca. 330 Euro – dek].

    Auf diese Weise kann sich ein Staatsbürger als untauglich zum Militärdienst erklären lassen

    Die Diagnose, von der die verehrten Ärzte sprechen, heißt „Transsexualismus“ und gehört zu den Störungen der Geschlechtsidentität. Unter anderem kann sich ein Staatsbürger auf dieser Grundlage als untauglich zum Militärdienst erklären lassen. Und man darf auch nicht vergessen, dass ein homosexuelles Paar, wenn ein Partner das Geschlecht ändert, das Recht bekommt, ein Kind zu adoptieren. Solche Fälle gibt es in Russland leider auch schon.

    Laut der russischen Verfassung ist die Ehe ein Bündnis zwischen Mann und Frau, irgendwelche unbestimmten, zusätzlichen oder Zwischen-Gender kommen darin einfach nicht vor. Es gibt nicht Elternteil-1 und Elternteil-2. Die Einführung einer solchen Praxis widerspricht einer ganzen Reihe von grundlegenden staatlichen Statuten und Konzepten: So unter anderem der russischen Verfassung, der Strategie der nationalen Sicherheit, den Grundlagen der Staatspolitik zum Schutz von traditionellen russischen geistig-moralischen Werten.

    In dieser Klassifikation gelten Perversionen als Norm. Wenn wir in einer solchen Welt leben wollen, dann muss nichts geändert werden

    Dass es derart rudimentäre Normen gibt, ist das Ergebnis der Arbeit von einigen Beamten im internationalen Bereich, zum Beispiel in der Weltgesundheitsorganisation mit ihrer internationalen Klassifikation von Krankheiten ICD-10 und ICD-11, die aus Gewohnheit immer noch anerkannt und von der russischen Regierung umgesetzt werden. In dieser Klassifikation gelten Perversionen als Norm. Wenn wir in einer solchen Welt leben wollen, dann muss natürlich nichts geändert werden: Es müssen keine Gesetze erlassen werden, und einfach akzeptiert werden muss unter anderem auch die Mitgliedschaft der Russischen Föderation in der Weltgesundheitsorganisation, die uns Geschäftsreisen, Vergünstigungen und eine ganze Reihe von lukrativen Verträgen und so weiter beschert.

    Ich spreche hier nur von der Spitze des Eisbergs. Die westliche Transgender-Industrie versucht auf diese Weise, unser Land zu durchdringen und eine Bresche für ihr millionenschweres Business zu schlagen. In Russland existiert bereits ein etabliertes Netz von Kliniken, die Geschlechtsumwandlungen vornehmen, einschließlich sogenannter trans-friendly Ärzte. Trans-friendly Psychologen arbeiten mit aktiver Unterstützung von LGBT-Organisationen (die vielleicht in den letzten Jahren ihren Namen in einen weniger verfänglichen geändert haben). Bereits heute ist das eine profitable, eine überaus profitable Branche medizinischer Dienstleistungen. Und es ist klar, warum eine ganze Reihe von Ärzten diese Branche so leidenschaftlich verteidigt, unter dem Deckmantel akademischer Kenntnisse, die sie unter anderem im Ausland während der Ausbildung in den USA und anderen Ländern erworben haben. Das ist natürlich gut, wundervoll. Nur scheint mir irgendwie, es ist an der Zeit, in dieser Branche aufzuräumen. Und die Entscheidung heute ist ein Schritt in diese Richtung.“

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    Wörterbuch des Krieges

    Folgt man der Berichterstattung in russischen Staatsmedien, so führt Russland keinen Krieg in der Ukraine, sondern setzt eine „militärische Spezialoperation“ um, um die Zivilbevölkerung zu beschützen. Die Ukraine würde demnach zum „Hauptzentrum des ultrarechten Extremismus“ und in Kyjiw regiert eine „Marionettenregierung“, die von „Angelsachsen“ gelenkt wird. Das Ziel der „Angelsachsen“ bestehe darin, „das einige und unteilbare Volk der Russen und Ukrainer“ zu spalten, was an sich jedoch nur der erste Schritt für die volle Ausrottung der russischen Nation sei. Russische Soldaten kämpfen demzufolge in der Ukraine gegen Nazis und Terrormilizen und falls es für die russische Armee schlecht laufen sollte, zieht sie als „Geste des guten Willens“ die Truppen zurück. 

    Das Online-Medium Mediazona hat die wichtigsten Wörter und Begriffe gesammelt und eingeordnet, mit denen russische Beamte und Staatsmedien den russischen Angriffskrieg erklären. dekoder hat einen Auszug aus diesem Wörterbuch übersetzt: von A wie „Angelsachsen“ bis Z wie „Zwangsumregistrierung“.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
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    A

    Angelsachsen (anglosaksy). Laut der russischen Propaganda ein bestehender Zusammenschluss von diversen englischsprachigen Ländern. Historisch gesehen: zwei Stämme im Süden der Britischen Inseln, die nach der Invasion von 1066 von den Normannen erobert und assimiliert wurden.  

    Anti-Russland (anti-Rossija). Auch „Projekt Anti-Russland“. Herkunft vermutlich: Anpassung des Begriffs „antisowjetisch“ an die neuen Realia. Etwa ein halbes Jahr vor dem 24. Februar 2022 räsonierte Putin ausführlich über die Ukraine als „Anti-Russland“.

    Antirussische Enklave (antirossiiski anklaw). Eine territoriale Einheit, die Wladimir Putin am 1. September 2022 im Rahmen der öffentlichen Unterrichtsstunde „Gespräche über das Wichtige“ ↓ in Kaliningrad erwähnte. Die Liquidation dieser Enklave, so die damals erstmals verkündete Version, sei das Ziel der sogenannten „Spezialoperation“, obwohl Putin in seiner Rede am 24. Februar gesagt hatte, dass „die Volksrepubliken im Donbass Russland um Hilfe gebeten“ hätten und das Ziel der Offensive der Schutz ihrer Bewohner sei.

    Atomterror (jaderny terror). Häufige Formulierung in den gegenseitigen Beschuldigungen der russischen und ukrainischen Seite, wenn es um den Beschuss des Kernkraftwerks Saporishshja geht.

    Aufträge ausführen (wypolnjat sadatschi). Kämpfen; an Kriegshandlungen teilnehmen. Der Begriff wird häufig in den Zusammenfassungen des Verteidigungsministeriums und in Nachrufen auf die in der Ukraine gefallenen Soldaten verwendet.

    Ausländischer Agent (inostranny agent). Eine Person bzw. Organisation, deren Tätigkeit der Regierung extrem missfällt oder die sich gegen den Krieg ausspricht.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
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    B

    Banderowzy/Benderowzy/Binderowzy. Ukrainische Nationalisten, die Stepan Bandera als ihren Held verehren. Meistens als „Benderowzy“ oder „Binderowzy“ ausgesprochen. Vermutlich ein Erbe der sowjetischen Leitfäden des KGB, verstärkt durch den Einfluss der bekannten Film-Komödie Solotoi teljonok.

    Befreiung (oswoboshdenije). Besetzung von Ortschaften in der Ukraine.

    Bunker-Opa (bunkerny ded). Spitzname, der Putin seit der Hochphase der Corona-Pandemie in Russland anhängt. Der Begriff erlebte nach Beginn des Angriffskrieges eine Renaissance angesichts von Spekulationen über Putins geheime Bunker, in denen er sich versteckt halten soll. Bedeutung: inkompetent, durch vorsätzliche Isolation problemlösungsvermeidend. Die russische Propaganda benutzt den Begriff wiederum für den ukrainischen Präsidenten Selensky, weil er sich angeblich entweder in einem Keller versteckt oder seine Videos von Polen aus aufnimmt.

    C

    Canceln der russischen Kultur (otmena russkoi kultury). Absage von Konzerten russischer Kulturschaffender im Ausland, die den Krieg öffentlich befürworten. Achtung: Das Absagen von Konzerten von Künstlern, die in Russland gegen den Krieg auftreten, gilt nicht als „Canceln der russischen Kultur“.

    D

    Demilitarisierung. Gleichbedeutend mit „Denazifizierung“ ↓. Eines der Ziele der „Spezialoperation“ ↓.

    Denazifizierung. Gleichbedeutend mit „Demilitarisierung“ ↑. Eines der Ziele der „Spezialoperation“ ↓.

    Desatanisierung. Eine spontane Wortbildung, mit der man die „Denazifizierung“ ↑ und „Demilitarisierung“ ↑ ersetzen wollte. Hat sich nicht eingebürgert.

    Deukrainisierung. Die Weiterentwicklung von „Denazifizierung“ ↑ und „Demilitarisierung“ ↑.

    E

    Entscheidungszentren (zentry prinjatija reschenii). Tatsächlich weiß niemand wirklich, was das ist. Nach zig Ankündigungen von „Angriffen auf Entscheidungszentren“ entpuppen sich die Ziele der Raketenschläge meist als Transformatoren. Eine Zeitlang kursierte der Ausdruck „Angriffe auf Entscheidungszentren auf der Bankowa“, aber das verleiht der Ukraine eine Subjekthaftigkeit, die der Botschaft der Propaganda widerspricht, Kyjiw sei nichts als eine Marionette in den Händen des „kollektiven Westens“ ↓. Möglicherweise ist der „Washington-Obkom“ ↓ gemeint, aber das ist unsicher.

    Exaltierte, blutrünstige Clowns (eksaltirowannyje, krowawyje klouny). Russlands Feinde, die eines Tages „schlagartig vom Jüngsten Gericht ereilt“ werden, so der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrates Dimitri Medwedew.

    F

    Fakes über die russische Armee (feiki o rossiiskoi armii). Syn. „das öffentliche Verbreiten von Falschinformationen über die Streitkräfte der Russischen Föderation“ ↓.

    Faschismus (faschism). Ein Wort, das in der russischen Propaganda alles Mögliche bezeichet, außer den tatsächlichen Faschismus – ein antiliberales Regime, das auf Revanchismus, Führerkult und der uneingeschränkten Macht des Staates aufgebaut ist.

    Filtration (filtrazija). Durchsuchung und Verhör ukrainischer Staatsbürger beim Verlassen der besetzten Gebiete. Häufig unter Folter.

    Fünfhunderter (ptjatisotyje). Soldaten, die den Kampf in der Ukraine verweigern. Viele von ihnen werden wegen Dienstverweigerung verurteilt. Der Begriff vervollständigt die Liste der „Zweihunderter“ (Tote) und „Dreihunderter“ (Verwundete).

    G

    Gespräche über das Wichtige (rasgowory o washnom). Unterrichtsfach an russischen Schulen, in dem Kinder über den Krieg in der Ukraine erzählt bekommen. Bei Nichterscheinen droht Schulverweis.

    Geste des guten Willens (shest dobroi woli). Rückzug der russischen Truppen von der Schlangeninsel (Insel Smeiny) Anfang des Sommers nach dem Untergang des Kreuzers Moskwa und regelmäßigen erfolgreichen Beschüssen der Insel sowie Schiffen der Schwarzmeerflotte durch die ukrainische Armee. Siehe „peregruppirowka“ ↓, Umgruppierung.

    Goida-a-a-a-a! In der Version von Iwan Ochlobystin handelt es sich um einen „altrussischen Ausruf“. Der Schauspieler verwendete ihn in seiner schillernden Rede anlässlich des Konzerts zu Ehren der Angliederung der DNR, LNR und der Oblaste Cherson und Saporishshja. Vermutlich ist die Wiederentdeckung dieses Schlachtrufs inspiriert durch Vladimir Sorokins Roman Der Tag des Opritschniks.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
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    H

    Helden-Schultisch (parta geroja). Schultische mit Porträts von russischen Helden, die die Partei Einiges Russland in den Schulen gefallener Soldaten installiert.

    Hybrider Konflikt (gibridny konflikt). Das Zusammenspiel von verschiedenen Formen der militärischen Konfrontation, von Kampfhandlungen bis hin zu verdeckter Sabotage und psychologischer Beeinflussung des Gegners. In russischen Schulen und Strafkolonien wird ein Fach mit diesem Namen unterrichtet.

    I

    Importsubstitution (importosameschtschenije). Der Versuch, aus dem Westen importierte Waren durch einheimische Produkte zu ersetzen. Oft werden chinesische Markenzeichen durch eigene überklebt oder sogar Waren von AliExpress mit Stoff getarnt [gemeint ist ein chinesischer Roboterhund, der mit einem schwarzen Stoff überzogen auf der Rüstungsmesse Armija-2022 als russische Innovation präsentiert wurde – dek].

    J

    Jugendarmee (junarmija). Der private Komsomol des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, der im vergangenen Jahr endlich seine Bestimmung gefunden hat: Kinder und Jugendliche halten Ehrenwache bei den Beisetzungen der „auf dem Territorium der Spezialoperation ↓“ Gefallenen.

    Junta (chunta). Begriff, der die ukrainische Regierung charakterisieren soll. Von offiziellen russischen Vertretern und der Propaganda verwendet seit der Flucht von Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch aus Kyjiw.

    K

    Knall (chlopok). Euphemismus für Explosion. Der Begriff existierte auch vor dem 24. Februar 2022, erlebte jedoch dank der zunehmenden Häufigkeit der „chlopki“ einen Aufschwung.

    Kollektiver Westen (kollektiwny sapad). In der russischen Elite gebräuchlicher Ausdruck, der eine bösartige Koalition europäischer Länder bezeichnet, „die zunehmend bemüht ist, Russland einzudämmen“. In der Lesart von Außenminister Sergej Lawrow gehören zu diesen Ländern „die USA und ihre Satelliten“.

    Kriegskorries (wojenkory). Korrespondenten staatlicher Fernsehkanäle, deren Beruf nach Ansicht der russischen Propaganda „nicht minder gefährlich ist als der der Soldaten“ und deren Ziel es ist, „den Hass auf den Feind zu schüren“.

    M

    Militärische Spezialoperation (spezialnaja wojennaja operazija). Krieg.

    N

    Nicht freundschaftlich gesinnte Länder (nedrushestwennyje strany). Alle Länder, die den russischen Überfall auf die Ukraine nicht unterstützen.

    O

    Öffentliche Verbreitung von Falschinformationen über die Streitkräfte der Russischen Föderation (publitschnoje rasprostranenije loshnoi informazii o Woorushonnych silach Rossiiskoi Federazii). Paragraph im Strafgesetzbuch; bis zu 15 Jahre Freiheitsentzug. Betrifft jede Äußerung, die den Berichten des Verteidigungsministeriums widerspricht. Das sensibelste Beispiel für „Falschinformation“ sind Äußerungen zu den Massenmorden in Butscha [siehe Verurteilung von Ilja Jaschin – dek].

    P

    Planmäßige Umgruppierung der Truppen (planowaja peregruppirowka woisk). Rückzug. Diese Formulierung wurde von den Chefs der russischen Besatzungsbehörden und vom Verteidigungsministerium beim Abzug der russischen Truppen aus den Oblasten Charkiw und Cherson verwendet. Beim Rückzug aus der Oblast Kyjiw und Tschernihiw Ende März verwendete das Verteidigungsministerium die Formulierung „Reduzierung der Kampfaktivitäten“. Siehe auch „Geste des guten Willens“ ↑.

    Präzisionsschläge (wyssokototschnyje udary). Das, womit die russische Armee in der Version des Verteidigungsministeriums Militärobjekte in der Ukraine zerstört (Wohnhäuser und zivile Opfer ausgeschlossen).

    Provokation (provokazija). Alles Mögliche.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
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    R

    Rauchentwicklung (sadymlenije). Euphemismus für Feuer. Der Begriff existierte lange vor dem Angriffskrieg, erlebte mit seinem Ausbruch jedoch eine Renaissance.

    Russophobie (russofobija). Mit diesem Begriff wird erklärt, warum die „nicht freundlich gesinnten Länder“ ↑ die „militärische Spezialoperation“ ↑ nicht unterstützen.

    S

    Schmutzige Bombe (grjasnaja bomba). Verteidigungsminister Sergej Schoigu erwähnte sie im November in Telefongesprächen mit seinen westlichen Amtskollegen. Er sagte, die Ukraine habe den Einsatz einer „schmutzigen Bombe“ vorbereitet, um Russland für den Einsatz von Atomwaffen verantwortlich zu machen. Später verschwand der Begriff wieder aus der offiziellen Rhetorik.

    T

    Teilmobilmachung (tschastitschnaja mobilisazija). Massenhafte Einberufung von Männern im arbeitsfähigen Alter in den Krieg, die am 21. September von Putin ausgerufen und formell bis heute nicht beendet ist.

    Territoriale Unversehrtheit. Das, was in Russland per Gesetz nicht angefochten werden darf, und zum Schutz dessen Putin droht, „alle zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen“.

    U

    Ukrainische Nationalisten (ukrainskije nazionalisty). Menschen, die sich gegen die russische Invasion mit der Waffe in der Hand wehren, aber auch Zivilisten, die mit der Okkupation unzufrieden sind. Meist in den Zusammenfassungen des Verteidigungsministeriums zu finden – selbst nach fast einem Jahr seit Beginn des Angriffskriegs kann Russland nicht zugeben, dass es mit einem Land und einer Armee kämpft und nicht mit einer „Junta“ ↑ oder „Bandentruppen“.

    Umbau der Wirtschaft (perestroika ekonomiki). Das fortdauernde Existieren Russlands unter den westlichen Sanktionen.

    V

    Verehrte Partner (uwashajemyje partnjory). Euphemismus für „nicht freundschaftlich gesinnte Länder“ ↑ und den „kollektiven Westen“ ↑. Vor dem 24. Februar 2022 oft von Putin verwendet, jetzt ironisch von seinen Befürwortern.

    Vereinfachte Automobilmodelle (uproschtschennyje modeli awtomobilei). Autos mit „reduzierter Ausstattung“, deren Produktion der Hersteller AwtoWAS im August angekündigt hat. Zuvor hatte die russische Regierung erlaubt, Autos ohne ABS, ESP und Airbags auf den Markt zu bringen.

    Verweigerer (uklonist). Jemand, der den Einzug in die Armee konsequent vermeidet. Seit dem 24. September gelten Änderungen im Gesetzbuch, die die Strafen wegen Dienstverweigerung, Fahnenflucht und der Beschädigung oder Vernichtung von Waffen verschärfen.

    Vorfall, der nicht mit der militärischen Spezialoperation  zusammenhängt (inzident, ne swjasanny so spezialnoi wojennoi operazijei). Eine Phrase, die man noch im Frühjahr verwendete, um die russische Bevölkerung in den an die Ukraine grenzenden Gebieten im Falle eines Ausnahmezustands zu beruhigen. Veraltet.

    W

    Washington-Obkom. Scherzhafter Ausdruck aus den späten 1980er Jahren, der heute ernsthaft verwendet wird. Damit gemeint ist ein Entscheidungszentrum ↑, das hinter den Kulissen die Welt regiert, von dem aber niemand weiß. Das Pendant zum Deep State in amerikanischen Verschwörungstheorien.

    Wirtschaftskrieg gegen Russland (ekonomitscheskaja woina protiw Rossii). Sanktionen.

    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona
    Illustration © Boris Chmelny/Mediazona

    Z

    Zuversicht in den morgigen Tag (uwerennost w sawtraschnem dne). Das, was den staatlichen Medien zufolge die Einwohner der besetzten Gebiete in der Ukraine erlangen sollen.

    Zwangsumregistrierung (prinuditelnaja pereregistrazija). De facto der Diebstahl von Passagierflugzeugen ausländischer Leasingunternehmen, die sich zu Beginn des großflächigen Angriffkriegs in Russland befanden.

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    In einem russischen Gerichtssaal spricht ein junger Mann, ein Journalist. Im Prozess, der ihm gemacht wird, bleibt ihm das Schlusswort, um sich noch einmal zu den Vorwürfen zu äußern. Er entscheidet sich stattdessen – wie viele in Russland, die wissen, dass das Urteil zumeist schon im Vornherein feststeht – in dem Schlusswort über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. 

    Er spricht vieles offen aus, über das man in Russland aufgrund repressiver Gesetze nicht sprechen darf: Er nennt den Krieg einen Krieg, erzählt von bombardierten Krankenhäusern, von getöteten Zivilisten, eingeschlossenen Städten. 
    Der Journalist heißt Wladimir Metjolkin und er gehört zu Doxa, einer Studierendenzeitschrift in Moskau. Gemeinsam mit drei seiner Kollegen – Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch und Alla Gutnikowa (deren Schlusswort ebenfalls häufig geteilt wurde in Social Media) – hat er bereits fast ein Jahr Hausarrest und einen Gerichtsprozess hinter sich. Das Urteil soll am heutigen Dienstag, den 12. April 2022, gefällt werden. Ihnen drohen bis zu zwei Jahre Haft.


    Der Fall Doxa beginnt im Jahr 2021 – ein Jahr des Shifts in Russland, in dem der Druck gegen unabhängige Akteure und auch Medien immer stärker wurde. Das Vergehen der Doxa-Redakteure: Sie hatten in einem Video im Januar 2021 von politischem Druck an den Universitäten berichtet, hatten Drohungen thematisiert, Studierende könnten von der Uni fliegen, sofern sie es wagten, zu Unterstützerprotesten für Kremlkritiker Alexej Nawalny zu gehen, der damals nach seiner Nowitschok-Vergiftung aus Deutschland nach Russland zurückgekehrt war. 

    Dieses Video wurde ihnen als „verbrecherisch“ ausgelegt, als Protestaufruf mit „Gefahr für Leib und Leben“ von Minderjährigen. Dass sie seither von der russischen Justiz verfolgt werden, hat ihr Leben radikal verändert: Wer von ihnen noch an der Uni war, musste sie verlassen. Wer bereits in den Beruf eingestiegen war, hat den Job verloren. Während des Arrestes wurden pro Tag nur zwei Stunden Ausgang gewährt, begleitet von zahlreichen weiteren Verhören, wie die Doxa-Redaktion berichtete. 

    Das besagte Video beendete Doxa damals mit den Worten „Die Jugend sind wir, und wir werden gewinnen“. Während ihr Fall in den vergangenen Wochen auf das Urteil zulief, hat Russland einen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine begonnen. 

    In seinem Schlusswort vor Gericht am 1. April spricht Doxa-Redakteur Wladimir Metjolkin darüber, wie die Zukunft der Jugend in Russland aus seiner Sicht mit der des ganzen Landes und dem Krieg im Nachbarland zusammenhängt. Dabei kommt er auf den Satz von damals zurück. dekoder hat sein Schlusswort in voller Länge übersetzt:


    Update vom 12. April 2022, 16 Uhr MEZ: Wie Mediazona mitteilt, lautet das Urteil 2 Jahre Sozialstunden; 3 Jahre lang dürfen die Vier außerdem nicht als Administratoren von Internetseiten fungieren.

    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa
    Wladimir Metjolkin, Armen Aramjan, Natalia Tyschkewitsch, Alla Gutnikowa von Doxa / © Doxa

    „Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt, doch die Jugend sind wir – und wir werden garantiert gewinnen“, so lautete der von Alla gesprochene Schlusssatz in unserem Video, das wir vor über einem Jahr veröffentlicht haben. Wegen des Videos wurde ein Verfahren gegen uns eingeleitet, und deshalb stehen wir heute hier in diesem Gerichtssaal. Der Satz besteht aus zwei Teilen, in meiner Rede möchte ich auf beide einzeln eingehen. 

    Die Staatsmacht hat der Jugend den Krieg erklärt. Die Metapher des Kriegs gegen die Jugend und deren Bedeutung bedarf eigentlich keiner langen Erklärung: Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft – man hat sie uns genommen. Wenn du jung und anständig bist, dich persönlich weiterentwickeln, einen guten Abschluss und ehrliche Arbeit willst, wenn du auch nur irgendwelche Ambitionen hast, wird dir geraten, Russland zu verlassen – je eher, desto besser. 

    Junge Menschen haben in Russland wenig Perspektiven und Hoffnung auf die Zukunft

    Heute, ein Jahr nach Prozessbeginn, können wir voller Wut und sogar Hass sagen, dass es um diese Dinge noch viel schlechter steht. Die Staatsmacht hat im Wortsinne einen Krieg erklärt. Es geht jetzt nicht mehr um den metaphorischen Krieg gegen die Jugend, sondern um einen bestialischen, zerstörerischen Krieg gegen die Ukraine und deren friedliche Bewohner. Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben. Ich hatte es auch vergessen und dieser Tatsache nicht mehr die nötige Bedeutung beigemessen. Doch jetzt erinnern sich alle, nachdem Russland am Morgen des 24. Februar nach einer irrsinnigen nationalistischen Rede von Wladimir Putin Kiew bombardiert hat.

    Dieser Krieg läuft seit 2014, was viele von uns einfach vergessen haben

    Die Staatsmacht hat Boris Romantschenko den Krieg erklärt. Dieser alte Mann hatte vier Konzentrationslager, darunter Buchenwald, überlebt. Im März 2022 ist eine russische Rakete in sein Haus in Charkiw eingeschlagen und hat ihn getötet. 
    Die Staatsmacht hat Boris Semjonow den Krieg erklärt, einem 96-jährigen Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Er trägt einen Orden für die Befreiung Prags, wo er sich jetzt wieder als Geflüchteter befindet, weil er wegen der Bombardierung zur Flucht aus der Oblast Dnipropetrowsk gezwungen war. Dort wartet er auf eine Wohnung, obwohl ihm auch in Berlin Hilfe angeboten wurde, wo er in Ruhe seinen Lebensabend verbringen könnte.

    An dieser Stelle unterbricht die Richterin Anastassija Tatarulja den Angeklagten, aber er fährt fort.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird und in dem mehr als 90 Prozent aller Gebäude zerstört wurden. Die Einwohner von Mariupol sterben, haben kein Wasser und keine Nahrung, sie beerdigen ihre Angehörigen direkt in den Innenhöfen der Wohnhäuser, weil es keine anderen Möglichkeiten gibt. Sehen Sie sich die Fotos an, sie sind in internationalen Medien zahlreich zu finden. 

    Die Staatsmacht hat den Frauen und Kindern den Krieg erklärt. Russland bombardiert wahllos Wohngebiete und zerstört Schulen, Krankenhäuser, Geburtskliniken. Das bestätigen Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und Regierungen auf der ganzen Welt. Täglich sehen wir massenhaft Fotos und Videos aus der Ukraine, wir können diesen Krieg regelrecht online beobachten. Nur einer scheint die Kriegsberichte immer noch in Aktendeckeln vorgelegt zu bekommen.

    Die Staatsmacht hat Mariupol den Krieg erklärt, das seit Wochen belagert wird

    Die Staatsmacht hat sogar jenen den Krieg erklärt, die diesen Krieg mit ihren Händen für sie führen müssen. An der Front landen unter anderem Wehrdienstleistende. Sie wollen nicht kämpfen, ergeben sich, landen in Gefangenschaft und führen keine Panzerangriffe durch, manche wissen nicht mal richtig, wie man das Kriegsgerät bedient. Die Soldaten werden chaotisch an verschiedene Frontabschnitte verteilt (wobei von einer Verkürzung der Frontlinie die Rede war, wollen wir hoffen, dass es so ist), sie sterben einen schrecklichen Tod – verbrennen bei lebendigem Leib in Panzerkolonnen. 

    In den ersten Tagen des Angriffs wussten russische Soldaten nicht einmal, wo sie waren und wohin sie fuhren – das belegen viele Protokolle und Zeugenberichte. Sie wurden schlichtweg zur Schlachtbank geschickt, ohne anständige Kleidung, Verpflegung oder Deckung.

    An dieser Stelle wird Metjolkin abermals von der Richterin unterbrochen. „Ich finde, es besteht sehr wohl ein direkter Zusammenhang, deswegen fahre ich fort“, erwidert er. 

    Ich kenne aus erster Hand den Bericht einer Frau, deren wehrdienstleistender Neffe in einem sowjetischen Panzer Baujahr 1974 schläft. Wir hören Berichte von Soldaten, deren Leichname nicht überführt und anständig beerdigt werden. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern. Die ukrainische Seite würde sie abholen lassen, aber Russland schweigt.

    Leichname der russischen Soldaten werden nicht überführt. Sie verwesen auf den ukrainischen Feldern

    Die Staatsmacht hat den Aktivisten und Journalisten den Krieg erklärt, die offen über die Ereignisse sprechen wollen, weil es unmöglich ist, darüber zu schweigen. In einem Jahr wird man uns fragen, was wir in dieser Zeit getan haben, wie wir versucht haben, es zu verhindern. Wir werden der nächsten Generation Rede und Antwort stehen müssen. Inzwischen sind die Repressionen in vollem Gang: Es laufen über 200 administrative und einige Strafverfahren. Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur. Die Staatsmacht versucht, uns weiterhin einzuschüchtern, indem sie unter anderem auf die Wiedereinführung der Todesstrafe anspielt. Es gibt die Menschen, die nicht schweigen, aber viele sind wir nicht.

    Für die neue Zeit wurden neue Paragrafen erfunden. Juristen bezeichnen es zu Recht als Kriegszensur

    Jetzt zum zweiten Teil des oben genannten Satzes. Die Jugend sind wir, und wir werden garantiert gewinnen. Was bedeutet das? Ich möchte weg von der gängigen Standardinterpretation dieser Worte als Generationenkonflikt, bei dem die Jungen immer die Alten ablösen, die Alten ausgemustert werden und dadurch vermeintlich alles besser werden soll. Das würde zu kurz greifen.

    Meiner Ansicht nach geht es bei diesen Worten darum, dass sich die Zukunft nicht aufhalten lässt. Wir wissen nicht, wie sie aussehen wird, momentan ist das schwer zu sagen. Aber das Putin-Regime wird zweifellos früher enden, als es der (noch Haupt-)Akteur will. Mit seinem Versuch, lebenslang Präsident zu sein, ruiniert er das ganze Land.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte – jener „tausendjährigen Geschichte“, wie sie die Propaganda so gerne nennt. Eine Grundannahme dieses Diskurses ist die Behauptung, Russland habe immer nur gerechte und Befreiungskriege geführt.

    Vor unseren Augen passiert das schlimmste Ereignis in der Geschichte des modernen Russland. Vielleicht sogar in der ganzen russischen Geschichte

    Ich will mich nicht in historischen Details verlieren – die Fotos, die nach dem 24. Februar 2022 in Kiew, Mariupol und Cherson gemacht wurden, sprechen für sich. Sie genügen, um zu begreifen, dass das Narrativ von den Russen als Befreiern hinfällig geworden ist. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen – mit Streumunition und Minenbomben. Die Russen reagieren darauf wie sie können, aber sie können wenig. Dafür reagiert die Welt umso stärker. Das Leben in Russland hat sich seit dem Beginn des Krieges rasant verschlechtert, und das wird lange so bleiben. Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung – alles ist zerstört. Alles ändert sich im Lauf der Zeit, aber jetzt gerade beschleunigt ein Einzelner mit seinen wahnwitzigen Aktionen die Veränderungen massiv.

    Das Narrativ von den Russen als Befreiern ist hinfällig geworden. Heute bombardieren wir Frauen, Kinder und alte Menschen

    Zum Thema „Entnazifizierung“: Russland hat den Buchstaben Z als ein Symbol des Kriegs gewählt, in dem viele zu Recht ein halbes Hakenkreuz erkennen. In manchen Ländern will man dieses Zeichen bereits gesetzlich mit den Nazi-Symbolen gleichsetzen. Anders kann man es auch gar nicht nennen – ein neues Hakenkreuz, ein neuer Hitlergruß. In Z-Formation werden in Russland Studenten, Schüler und sogar Kindergartenkinder aufgestellt.    

    Die russischen Propagandisten haben die gesamten acht Jahre seit 2014 über Nazis in der Ukraine gewettert: Zuerst seien sie auf dem Maidan aufgetreten und dann plötzlich an die Macht gekommen. Man hat uns Bilder von Fackelzügen gezeigt, die tatsächlich gruselig aussahen. Aber wo sind diese ukrainischen Ultrarechten jetzt? Die vereinigten Rechten haben es mit gerade mal zwei Prozent bei den letzten Wahlen nicht einmal in die Rada geschafft. Einzelne nationalistische Veteranen des Kriegs in der Ostukraine konnten sich unter Poroschenko einen Platz in der Politik oder einen Posten in den Sicherheitsbehörden verschaffen, aber von einem maßgeblichen Einfluss auf die Politik in den letzten Jahren kann nicht die Rede sein. Wolodymyr Selensky hatte bereits Kurs aufgenommen auf eine Versöhnung der ukrainischsprachigen und der russischsprachigen Bevölkerung des Landes.

    Wir brauchen eine Entnazifizierung und Dekolonialisierung Russlands

    Wir haben die ukrainischen Nationalisten schon sehr sehr weit überholt. Wir sind es, die eine Entnazifizierung und eine Dekolonialisierung Russlands brauchen. Und eine Absage an den imperialistischen Chauvinismus, an den Spott über Sprachen, Kulturen und Symbole anderer Länder und anderer Völker Russlands. Fehlende Empathie gegenüber deinen Nachbarn – das genau ist der Grund, warum Kriege beginnen. 

    Wir fahren nach Jerewan oder Tbilissi und erwarten, dass man dort Russisch mit uns spricht, erwarten einen Service wie in Moskau, erwarten, dass sich alle über uns freuen. Wir betrachten diese Orte als Scherben des großen Russland. Genau das ist imperialistisches Denken. Wie alle sehen, tut Russland seinen Nachbarländern nichts Gutes. Wir müssen viel mehr darüber reflektieren, was es heißt, Russen zu sein. Und wir müssen jetzt maximal streng mit uns selbst sein.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert, und nun hat unser Land einen Krieg entfacht, den allerschrecklichsten seiner Geschichte. Wir müssen diese Fehler beheben. Wir müssen einsehen, dass jetzt nichts wichtiger ist als die Politik. Politik, verstanden als eine Teilnahme am eigenen Leben, als Selbstbestimmung, als Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, als Sorge um das, was rundherum passiert. All das ist die Grundlage, auf der wir eine neue russische Gesellschaft aufbauen müssen. Die Flucht in die heimeligen Sphären von privaten Interessen und Konsum hat unsere autoritäre Gesellschaft in die Katastrophe geführt. Das muss aufhören und darf sich nie mehr wiederholen.

    Wir haben aufgehört, Verantwortung für das zu übernehmen, was in unserem Land passiert

    Die Gemeinschaft der Aktivisten, Journalisten und Wissenschaftler, zu der ich mich zählen darf, weiß, was sie zu tun hat. Wir sind bereit, hart zu arbeiten, geduldig zu sein und zu hoffen – die Veränderungen werden kommen, aber wir müssen uns alle gemeinsam darauf vorbereiten. Und dafür müssen wir in Freiheit sein. 

    Ich möchte den letzten Satz des Videos ein bisschen korrigieren, Alla möge mir verzeihen, wir haben den Text ja, soweit ich mich erinnere, zusammen verfasst. Ich hätte ihn lieber so: Die Staatsmacht hat den friedlichen Menschen den Krieg erklärt und stellt jetzt eine massive Bedrohung dar. Aber die tatsächliche Macht sind wir, und wir werden dieses Grauen garantiert stoppen.

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    Nachdem lange unklar war, wohin der verurteilte Alexej Nawalny gebracht wurde, steht nun fest: Er ist in Lagerhaft in der Strafkolonie IK-2, auch Pokrowskaja-Kolonie genannt. Dieses Straflager in der Oblast Wladimir, knapp 100 Kilometer von Moskau entfernt, gilt als besonders hart. 

    Über Folter in russischen Lagern und Gefängnissen wird immer wieder berichtet. Nun druckte die Redaktion von Mediazona Auszüge aus einem 60-seitigen Brief ab, den der Häftling Iwan Fomin schrieb. Darin berichtet er über systematische Folter und sexuelle Gewalt in der Strafkolonie IK-6 in Melechowo, Oblast Wladimir. 

    Brisant ist das Schreiben nicht nur wegen der drastisch geschilderten Folter, sondern auch, weil Fomin behauptet, dass der Leiter der Kolonie Roman Saakjan ihn dazu nötigen wollte, seinen Anwalt aufzugeben. Saakjan wurde im Januar 2020 Leiter der IK-6 und diente zuvor in der IK-2 – wo Alexej Nawalny derzeit in Haft ist. 

    Nawalny selbst hatte erst Anfang der Woche in einem Instagram-Post seinen derzeitigen Aufenthaltsort bestätigt. Darin schreibt er, er habe noch keine Gewalt erfahren, aber „aufgrund der angespannten Haltung der Sträflinge, die Angst haben, auch nur den Kopf zu drehen, glaube ich die Geschichten gern, dass hier in IK-2 noch bis vor Kurzem Menschen mit Holzhämmern fast zu Tode geprügelt wurden“. Er nenne sein neues Zuhause „unser freundliches Konzentrationslager“.

    Iwan Fomin wiederum stammt aus Usbekistan, er wurde 2014 verhaftet, einige Jahre zuvor war er zum Islam übergetreten, ihm wird Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Wie sein Anwalt sagte, wandte sich Fomin an Mediazona, um sich gegen die Terrorismus-Vorwürfe zu wehren. Mediazona widmet sich in zahlreichen Reportagen und Analysen dem russischen Strafsystem. Das Online-Medium wurde von den Pussy-Riot-Aktivistinnen Nadja Tolokonnikowa und Maria Aljochina nach deren Lagerhaft gegründet.

    dekoder bringt einen Auszug der teilweise äußerst drastischen Schilderungen Fomins.

    Ich komme ins Lager in der Oblast Wladimir, im Dorf Melechowo. Die Lagerverwaltung und die ganze Führungs-Bande der Insassen – die Stubenältesten Sawchosy und deren Helfer, die sogenannten Dnewalnyje – freuen sich sehr über meine Ankunft. Das sind sieben oder acht Männer, alles 100-Kilo-Riesen, wie aus dem Bilderbuch. Ich werde sofort aus der Menge rausgepickt, von den anderen getrennt und angebrüllt; dann müssen wir uns an die Wand stellen. Die Hände an die Wand, den Kopf und Blick nach unten gerichtet. Einer schreit mir direkt ins Ohr: „Fomin! Vorname, Vatersname? Wo geboren?“ Dann beschimpfen sie mich mit vulgären Worten und wollen meinen muslimischen Namen wissen. Ich sage: „Umar.“ Als sie das hören, sind sie beleidigt, sagen, ich hätte „meinen Glauben verraten“ und dass man „solche wie mich umbringen“ müsse. Sie nehmen mir meine Tasche mit den Büchern weg, es sind einige: Englischbücher und der Koran, ein Gebetbuch, verschiedene Klassiker. Nach dem Filzen bringen sie uns für zwei Wochen auf die Quarantänestation.

    Wir müssen uns auf Hocker setzen, kerzengerade müssen wir dort sitzen, den Rücken durchgedrückt. Fünf Dnewalnyje und ein Sawchos, der Chef von denen, bewachen uns. Mir wird der Kopf kahlgeschoren, ich muss irgendwas unterschreiben – was, weiß ich nicht, ich darf nicht lesen, was genau ich da unterschreibe. Dann muss ich die Namen aller Verwaltungsmitarbeiter auswendig lernen. Danach nehmen sie einen von uns mit und führen ihn durch die „Küche“ raus – das heißt, durch den Wach- beziehungsweise Dienstraum nebenan –, von dort hören wir Stöhnen und Geräusche, als würde jemand gegen die Wand schlagen. So geht das jeden Abend. Zurück kommt der erste mit zerrissener Gefängnishose, humpelnd, setzt sich wieder hin. Dann holen sie den nächsten.

    Wir hören Stöhnen und Geräusche, als würde jemand gegen die Wand schlagen. So geht das jeden Abend

    Die ersten fünf Tage werde ich nicht aufgerufen, nur jeden Tag angeschrien. Morgens vor dem Frühsport sagt der Sawchos Roma Nowikow zu mir: „Bald werd ich dich f***.“ Ich halte mich gerade und schweige. Das sagt er jeden Tag zu mir, genau wie die Dnewalnyje – mir als einzigem von den ungefähr 20 Männern.

    Außerdem fragen sie jeden Tag: „Trittst du zum Christentum über?“ Ich sage nein. Am sechsten Tag der Quarantäne bringen sie mich in einen Verschlag ohne Kameras. Sawchos Roma Nowikow sagt zu mir: „Heute ist deine letzte Chance, dich vor dem Petuschatnik [Sonderbaracke für missbrauchte Gefangene, die sogenannten Petuchidek] zu retten.“ Dort würde ich sonst durchge***** hinkommen und wie ein Sklave Klos putzen oder auf der Müllkippe arbeiten wie die anderen Petuchi. Er beschreibt, wie sie mich vergewaltigen würden, mir die Füße und Hände auf dem Rücken fesseln, ich würde daliegen, während sie mir die Fußsohlen und den Arsch versohlen. Wenn ich danach nicht gehorchte, würden sie mich mit einem Besenstiel vergewaltigen, erst von hinten und dann in den Mund. Wenn ich dann immer noch nicht gebrochen wäre, würden sie einen Petuch mit einem Steifen holen, der würde sich an mir aufgeilen, aber vorher würden sie mich an den Tisch fesseln, ohne Hose, die Beine auseinander, fast im Spagat. Ich würde auf diesem Tisch liegen, nach vorne gebeugt und die Beine gespreizt, die Hände an die Tischbeine gefesselt, und einer würde auf meinem Rücken sitzen. Und dann würde mich der Petuch mit seinem harten Schwanz in den Arsch f*****. Das erzählt mir der Sawchos alles ausführlich. Sagt, dass sie ihn genau so gebrochen hätten. Noch nie sei einer ungebrochen davongekommen, und das würde auch so bleiben. Er sagt, er sei russischer Nationalpatriot, kein Christ, sondern orthodox, und dass er ein Feind des Islam sei und immer sein werde.

    Ich antworte: „Dann bringt mich lieber um, brecht mir alle Knochen.“ Er sagt, es gebe für mich „nur einen Ausweg“ – und wirft mir eine Schachtel mit Rasierklingen hin. Er sagt: „Die Ermittler haben dich freigegeben, ich soll dich mit allen Mitteln brechen, der Auftrag kommt von draußen.“ Und dann: „Ich komme in 30 bis 40 Minuten wieder und hoffe, dass dann die gesamte Decke mit deinem Blut vollgespritzt ist, aber wenn du noch lebst, nähen sie dich zu und bringen dich wieder zu uns in die Quarantäne.“ Er sagt, dass er mir keine zweite Chance geben würde, dass er mich selber ***** [vergewaltigt], das wär ihm ****** [egal]. Er lacht, geht weg und lässt mich mit den Rasierklingen allein.

    Dann bringt mich lieber um, brecht mir alle Knochen

    Ich sitze da und denke lange nach. Ich kann nicht Hand an mich legen, ich kann es nicht, wegen der Todsünde. Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie tränenüberströmt gegen die Lagertore hämmert. Als er dann wiederkommt, sage ich: „Gut, ich bin einverstanden. Ich nehme den orthodoxen Glauben an, nicht den christlichen.“

    Es vergehen zwei Tage. Ich sitze auf meinem Hocker und verrichte im Sitzen das Namas [das muslimische Gebet]. Aber die Kamera verrät mich. Sie rufen ihn an, und abends werde ich geholt. Er sagt: „Du Hurensohn hast mich angelogen.“ Sie fangen an, mich mit Fäusten zu schlagen und zu treten, dann werde ich von den Dnewalny weggebracht. Er sagt: „Jetzt f***** wir dich.“ 

    Ich sage ihm: „Du irrst dich. Ich habe Sport gemacht, auf dem Hocker, Gleichgewichtsübungen, und die Zeit dabei gezählt. Mir war kalt und ich wollte mich auf diese Art aufwärmen.“ Er glaubt mir: „Wenn dir kalt ist, geh in die Küche und bitte den Dnewalny um Tee.“

    Sie holen einen Mann, er heißt Myschkin mit Nachnamen, glaube ich. Erst schlagen sie ihm mit der Faust in den Magen, dann werfen sie ihn auf den Boden, binden mit Klebeband seine Knöchel zusammen, die Handgelenke auf den Rücken. Einer stellt sich mit dem Knie auf ihn und biegt ihm die Arme zurück. Roma, der Sawchos der Quarantäne, sagt: „Jetzt machen wir ihm heiße Sohlen“. Sie fangen an, ihn mit einem Knüppel zu schlagen, der Knüppel ist extrem hart: ein schweres, dickes Stück Plastikrohr, mit einem winzigen Loch in der Mitte – solche Rohre habe ich noch nie gesehen. Mit diesem Rohr schlagen sie ihm auf die Fußsohlen und dann auf den Arsch. Dann holen sie einen Besenstiel, an dem angetrocknete Scheiße klebt. Dieser Sawchos Roma Nowikow zieht ihm die Arschbacken auseinander, spuckt in die Öffnung und schiebt ihm den Besenstiel hinten rein. Dann zieht er ihn wieder raus und hält ihn Myschkin unter die Nase. Fragt: „Was riechst du?“ – „Scheiße.“ Dann steckt er ihm das kotverschmierte Teil bis zum Anschlag in den Mund. Danach holen sie den Tataren (seinen Namen weiß ich nicht mehr), den sie „Mongole“ nennen. Mit dem machen sie dasselbe. Myschkin zwingen sie so zu einer Aussage, den Mongolen zwingen sie ebenfalls zu einer Aussage – über ein Verbrechen von anderen, von irgendwelchen Dealern. So zeigen sie mir, was sie mit den Leuten machen. Mir verzeihen sie und machen mich zum Gehilfen des Dnewalny.

    Illustration © Maria Tolstowa/Mediazona
    Illustration © Maria Tolstowa/Mediazona

    Wir kommen schließlich in die untere Quarantäne – Block Nummer sieben, in den alle [Neuankömmlinge] kommen. Gleich am ersten Tag bringen mich der Sawchos und der Dnewalny in eine Lagerkammer. Keiner sagt irgendwas, ich stehe da und weiß nicht, was sie von mir wollen. Dann sagt der Sawchos von Block sieben, Renat Kurban: „Gleich wird einer hergebracht und setzt sich auf diesen Stuhl da. Du stellst dich hinter ihn.“ Bolschoi [dt. der Große – dek] und Bely [dt. der Weiße – dek] bringen einen Russen rein, seinen Namen weiß ich nicht mehr. Der setzt sich ruhig auf den Stuhl, sie stellen ihm Fragen, er antwortet. Dann gibt uns Kurban ein Zeichen, wir werfen ihn auf den Boden, binden mit einem weißen Seil seine Knöchel zusammen. Dann ziehen wir ihm die Hose runter und schlagen mit dem selben Rohr auf seine Fußsohlen und seinen Arsch, aber nicht lange, so 10 oder 15 Minuten. Der Sawchos fragt, was er draußen gearbeitet hat. Ich weiß nicht mehr, was er antwortet, aber er bietet seine Dienste an – Plastikfenster einsetzen (in der Kolonie). Dann holen sie noch zwei Männer und machen mit denen dasselbe.

    Zwei Tage später machen sie mich zum Dnewalny: Roma Nowikow, der Sawchos der oberen Quarantäne, holt mich ab und wir gehen zusammen ins Büro des Ermittlers – das ist damals Hauptmann Michail Lwowitsch Stepanow. Er sagt, ich sei jetzt ihr Mann, er werde mir helfen und dann würde „alles gut“ werden. Er sagt, ich müsse dem Sawchos Kurban nun bei allem helfen: Leute schlagen und ****** [vergewaltigen], wenn nötig. Ich habe keine andere Wahl, als ihm zu gehorchen. Das war im Juni 2018.

    Als ich Besuch von meinem Anwalt Schamil [Meshijew] bekomme, ruft man mich ins Lagerbüro und will wissen, warum ein Anwalt zu mir gekommen ist und was ich ihm sagen würde. Ich antworte, er sei nur wegen meiner Strafsache gekommen. Dann muss ich versprechen, dass ich nichts über das Lager sagen werde, nur dass alles gut sei und es mir gut gehe. Nur so kann ich mit meinem Anwalt sprechen, die Gespräche werden aufgezeichnet.

    Dann bringt uns Roma Nowikow einen Typen aus Block fünf, besser gesagt zwei: einen Tadshiken und einen Armenier. Die beiden haben sich über irgendwas gestritten und eine Schlägerei angefangen. Sie bringen den Armenier in die Kompaniekammer, dort warten wir schon: ich, Bolschoi, Bely und der Sawchos Kurban. Er muss sich auf den Stuhl setzen, wir stehen dahinter. Der Sawchos befragt ihn zu der Schlägerei, das Gespräch dauert etwa fünf Minuten. Dann gibt uns Kurban ein Zeichen mit dem Blick, wir werfen ihn zu Boden, fesseln seine Hände und Füße, Bely setzt sich auf seinen Rücken, biegt die gefesselten Arme zurück und zieht ihm die Hose runter. Ich trete auf das Seil, mit dem die Füße zusammengebunden sind, Bolschoi schlägt ihm mit dem Knüppel auf die Fußsohlen, erst auf die eine, dann die andere und prügelt ihm den ganzen Hintern weich. Es wird laute Musik aufgedreht, da kommt Roma Nowikow, setzt sich hin und raucht eine, während wir den anderen schlagen. Ich versuche es ein paar Mal, aber ich verfehle die Fußsohlen. Also wechseln sich die beiden anderen ab, ich halte ihn nur fest, weil er schreit und nach seiner Mutter ruft. Dann kommt der Ober-Sawchos rein – sowas wie der Lager-Boss, er heißt Tocha – und schlägt ihm auf den Brustkorb, dahin, wo die Lunge ist. Der Armenier weint, fleht unter Tränen um Gnade, sagt, er habe alles verstanden. Als er danach aufsteht, ist sein Hintern riesig. Er war auch schon als er die Hose auszog lila und dreimal so groß wie normal gewesen, auch die Fußsohlen waren bereits geschwollen. Drei Tage danach kann der Armenier immer noch nicht laufen, er bekommt Bettruhe verordnet: Seine Füße schwellen immer weiter an, unter der Haut sammelt sich Wasser.

    Wie aus Iwan Fomins Brief hervorgeht, erliegt der armenische Verurteilte später den Folgen der Schläge. 

    Im Juli 2018 berichtet die Novaya Gazeta vom Tod des 33-jährigen Gor Owakimjan, der in der Kolonie IK-6 in Melechowo seine Haftstrafe verbüßte. In den Unterlagen heißt es, er sei im Krankenhaus an einer doppelseitigen Lungenentzündung gestorben, aber die Familie des Opfers behauptet, auf seinem Körper seien Folterspuren zu sehen gewesen. Der Regionalsender Zebra TV berichtet, gegen die Gefängnisärzte werde wegen fahrlässiger Tötung aufgrund von unterlassener Hilfeleistung ermittelt (Absatz 2 Artikel 109 StGB).

    Ich kann nicht mehr dort bleiben, aber ich weiß nicht, wie ich weglaufen soll, die ganze Zeit zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie ich da rauskomme. Ich stehe unter Dauerüberwachung, zum Münztelefon begleitet mich ein Dnewalny, in seiner Anwesenheit kann ich nicht sprechen.

    Eines Tages werde ich zum Lagerleiter Roman Saakowitsch Saakjan gerufen. Ich setze mich ihm gegenüber, er sagt: „Erzähl.“ Ich erzähle sehr viel, auch, wie wir den Armenier umgebracht haben. Er sagt: „Ich weiß. Du hast uns, der Gefängnisleitung, sehr geholfen. Und dem FSB.“ „Und jetzt“, sagt er dann, „schreib eine Erklärung, dass du auf einen Rechtsanwalt verzichtest, ich habe einen Anruf bekommen, dass man dich in drei, vier Tagen abholen kommt. Du stehst unter meinem persönlichen Schutz. Wegen Artikel 205 brauchst du dir keine Sorgen zu machen, das garantiere ich dir.“

    Ich sagte: „***** nochmal, Roman Saakowitsch, ich werde keine Verzichtserklärung schreiben.“ Er: „Du bist ja bekloppt! Hast du nicht zugehört? Ich sage, wir setzten uns hin und besprechen hier, warum man dich angelogen hat.“ Ich antworte: „Verstehen Sie doch, ich will nicht in Haft sein, außerdem gibt es bei Artikel 205 sowieso keine vorzeitige Entlassung.“ Und er: „Du bist wirklich bekloppt! Schreib das jetzt auf. Um deinetwillen. Weißt du denn nicht, wer ich bin?“. Ich sage, ich hätte davon gehört. Er: „Gegen mich werden laufend Beschwerden geschrieben, aber das ist mir ***** [egal]. Ich habe keine Angst, ich hab breite Schultern.“ Und dann: „Hör mir mal zu, mein Guter, du könntest uns verlorengehen in diesem unermesslich großen Land.“ Ich versuche es noch einmal: „Lassen Sie mich ihn [den Anwalt] wenigstens sehen.“ Er daraufhin: „Denk lieber an die Sicherheit deiner Verwandten.“

    An jenem Tag bekommt Iwan Fomin seinen Anwalt Schamil Meshijew nicht mehr zu sehen, aber die Verzichtserklärung unterschreibt er nicht. Fomin will sich gegen die Terrorismus-Vorwürfe wehren, genau aus diesem Grund habe er sich an Mediazona gewandt, sagt sein Anwalt Meshijew. Derzeit befindet sich Fomin im Untersuchungsgefängnis Nr. 3 der Stadt Serpuchow. Seinen Fall hat die Leitung des Ermittlungskomitees Naro-Fominsk übernommen.

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    „Sie werden sitzen und Sie werden verurteilt!“

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny ist am 18. Januar 2021 zu 30 Tagen U-Haft verurteilt worden. Der Prozess gegen den Kreml-Kritiker fand in einer Moskauer Polizeistation statt. Seine Anwältin hatte erst wenige Minuten vor Beginn erfahren, dass überhaupt eine Verhandlung stattfindet. Beobachter und Anhänger Nawalnys sprechen von einem beispiellosen Vorgang. Zudem könnte Nawalnys Bewährungsstrafe im Fall Yves Rocher demnächst in eine Gefängnisstrafe umgewandelt werden. Ihm drohen dreieinhalb Jahre Haft, abzüglich bereits verbüßter zehn Monate Hausarrest. Darüber soll am 2. Februar entschieden werden.

    2014 waren Nawalny und sein Bruder Oleg wegen Betrugs des französischen Kosmetikkonzerns Yves Rocher zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Oleg Nawalny musste die Strafe absitzen, Alexej bekam Bewährung. Schon den Prozess damals hielten viele Beobachter für politisch motiviert, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) befand das Urteil 2017 für „willkürlich und deutlich rechtswidrig“. Das Präsidium des Obersten Gerichts in Russland bestätigte es im April 2018 trotzdem. 

    Beim Prozess in der Moskauer Polizeistation wurde Nawalny gestern nun vorgeworfen, gegen die Bewährungsauflagen verstoßen und sich nicht bei den Behörden gemeldet zu haben: und zwar „mindestens sechs Mal“ noch vor seiner Ausreise nach Deutschland. Außerdem sei der „Angeklagte Nawalny auch in der Zeit vom 17.08.2020 bis zum 29.12.2020“ nicht zur Registrierung bei den russischen Behörden erschienen. Nach dem Nowitschok-Anschlag auf ihn am 20. August 2020 war Nawalny eine Zeit lang in der Berliner Charité in Behandlung gewesen. Erst am Sonntag war er aus Deutschland nach Moskau zurückgekehrt. Noch am Flughafen wurde er festgenommen.

    Die Umstände des Prozesses in der Polizeistation gestern sorgten für großen Unmut in liberalen Kreisen. Nawalnys Stab rief zu landesweiten Demonstrationen am kommenden Samstag auf. Den bislang ausbleibenden Massenprotest in der russischen Gesellschaft erklärten Kommentatoren in unabhängigen Medien unter anderem damit, dass viele der offiziellen Propaganda Glauben schenkten, wonach Nawalny wahlweise ein Niemand beziehungsweise Agent des Westen sei. Zudem hat die Duma erst Ende 2020 eine ganze Reihe von Gesetzesänderungen verabschiedet, die auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit weiter einschränken.

    Die unabhängige Plattform Mediazona, mitbegründet von den Pussy Riot-Mitgliedern Nadeshda Tolokonnikowa und Maria Aljochina, begleitet und dokumentiert viele Gerichtsprozesse in Russland. Sie hat eine Tonbandaufzeichnung der Verhandlung erhalten. Das gekürzte Transkript, das sie schließlich veröffentlichte, überträgt dekoder ins Deutsche:
     

    Der Prozess gegen Alexej Nawalny fand in der Moskauer Polizeistation in Chimki statt / Foto © Dawid Frenkel/Mediazona
    Der Prozess gegen Alexej Nawalny fand in der Moskauer Polizeistation in Chimki statt / Foto © Dawid Frenkel/Mediazona



    Die Richterin Jelena Morosowa betritt den Saal und bittet Nawalny, sich vorzustellen; der macht mit müder Stimme seine persönlichen Angaben. Morosowa verliest seine Rechte und fragt, ob er Fragen dazu hat.

    Nawalny (beginnt mit müder Stimme, echauffiert sich dann aber mehr und mehr): Ich … Verstehen Sie, ich weiß, dass Sie da irgendwelche Worte gesagt haben – ja, die habe ich wohl verstanden. Aber, verstehen Sie, bewerten Sie doch mal bitte selber die Situation. Ich habe nicht ohne Grund den Prozess mit den Worten begonnen, dass Sie wohl verrückt geworden sind. Sie sagen, dass ich bestimmte Rechte hätte. Sie haben erklärt, dies sei ein öffentlicher Prozess, doch Sie lassen nicht einen einzigen Journalisten herein, der …

    Morosowa: Das Gericht hat gefragt, ob Sie Ihre Rechte verstanden haben, die Ihnen vom Gericht erklärt wurden.

    Nawalny (lauter): Ne-i-n! Gestatten Sie mir zu antworten. Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft! Nur weil Sie eine Robe tragen, ist das hier noch lange kein Gericht! Das Gericht sollte 100 Meter von hier entfernt im Gericht von Chimki tagen.

    Sie haben mich hierher gezerrt, Sie haben niemanden darüber informiert, Sie haben hier niemanden hereingelassen! Sie nennen das hier eine öffentliche Verhandlung, doch Sie lassen keine Journalisten herein. Sie sagen, Publikum habe freien Zutritt, lassen aber niemanden rein; das Gebäude ist bewacht. Das ist kein Gericht!

    Hier ist überhaupt kein Gericht! Das ist irgendein Mist, verstehen Sie, irgendein Quatsch ohne Rechtskraft!

    Vorhin haben Sie mir gesagt, vor einer halben Stunde: „Ich gebe Ihnen Zeit für ein vertrauliches Gespräch mit Ihrem Anwalt.“ Die ganze Zeit über war ich in Begleitung von zwei Polizeibeamten mit Scheiß-Bodycams! Verstehen Sie?! Das ist absurd! Sie sagen das eine, und sofort geschieht das Gegenteil!

    Morosowa: Ich bitte Sie, während der Verhandlung nicht zu schreien. Ich bitte Sie, die Prozessordnung einzuhalten.

    Nawalny: Was soll ich denn sonst tun?! So, wie Sie diese Ordnung verletzen, verletzt sie sonst niemand! (Senkt die Stimme.) Gut. Nur unterbrechen Sie mich bitte nicht, hören Sie mich bitte an.

    Morosowa: Sie verstoßen gerade gegen die Prozessordnung.

    Nawalny: Sie tun das. Euer Ehren, so wie Sie dagegen verstoßen … (Fängt wieder an zu schreien.) Entlassen Sie mich bitte aus dem Verhandlungssaal!

    Morosowa (teilnahmslos, leicht genervt): Ins Verhandlungsprotokoll wird aufgenommen, dass im Verhandlungssaal gegen die Prozessordnung verstoßen wird … durch Nawalny.

    Die Richterin bittet die Zuhörer, Mobiltelefone mit Videokameras auszuschalten. Sie wiederholt nochmals die einzuhaltende Prozessordnung: Dem Gericht ist im Stehen zu antworten, die Ansprache ist „Hohes Gericht oder „Euer Ehren, Zwischenrufe sind nicht gestattet.

    Nawalny: Lassen Sie uns bitte die Prozessordnung einhalten. Eine Gerichtsverhandlung ist nicht möglich ohne Ladung der Anwälte – in den Unterlagen fehlt eine solche. Eine Verhandlung ist unmöglich ohne Kenntnis der Unterlagen und ohne vertrauliches Gespräch mit einem Anwalt – Sie sagten mir, Sie würden mir 30 Minuten gewähren. Was ist das bitte für ein vertrauliches Gespräch, wenn ich mit den Anwälten und zwei Polizeibeamten mit Bodycams zusammensitze? Erscheint Ihnen das nicht merkwürdig? Mir schon. Welche Achtung vor dem Gericht möchten Sie von mir? Das ist doch kein Gericht. Sie begehen gerade eine Straftat, und Sie werden hundertprozentig sitzen. Sie sind doch eine junge Frau. Ihr Putin stirbt schneller, als …

    Morosowa (lauter): Das Gericht ruft Sie zur Ordnung …

    Das ist doch kein Gericht. Sie begehen gerade eine Straftat, und Sie werden hundertprozentig sitzen

    Nawalny: Deswegen werden Sie sitzen, aber in einem normalen Gericht, und man wird Sie verurteilen.

    Morosowa: Ein weiterer Ordnungsruf mit Eintrag in das Verhandlungsprotokoll.

    Nawalny: Tragen Sie ein, was Sie wollen, mir ist Ihr Protokoll vollkommen schnurz.

    Morosowa: Setzen Sie sich, bitte. Sie haben die Gelegenheit zur Stellungnahme und zum Stellen von Anträgen.

    Nawalny: Ich stelle einen Antrag auf Einlass von Journalisten, die sich zum jetzigen Zeitpunkt hier befinden, mindestens zwei. Wenn Sie aus dem Fenster schauen, sehen sie: Dort stehen Journalisten, viele. Doch unsere werte Staatsanwaltschaft hat gesagt, dass wir nicht alle hier hereinlassen können. Ich stelle den Antrag, ich fordere, dass Sie die Journalisten der Medien Doshd und Mediazona zulassen. Sie stehen dort und können Ihnen nicht persönlich ihre Anträge übergeben, denn es wird ihnen nicht erlaubt. Aber wenn wir einen transparenten öffentlichen Prozess haben, dann fordere ich eine dreiminütige Pause, in der wir mindesten zwei Vertreter der Medien hereinrufen.

    Die Verteidiger Olga Michailowa und Wadim Kobsew unterstützen den Antrag Nawalnys. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Koloskowa sagt, dass der Antrag auf Anwesenheit von Vertretern der Medien schon gestellt und geprüft wurde. Die Richterin lehnt das sofort ab, da sich „im Gerichtssaal akkreditierte Medien befinden, die für eine Videoaufzeichnung sorgen“.

    Der Anwalt Kobsew nimmt auf den Antrag Nawalnys Bezug und sagt, dass er gezwungen war, sich mit seinem Mandanten in Anwesenheit von Polizisten mit Bodycams zu besprechen. Er bittet um Zeit, um mit Nawalny unter vier Augen zu reden. [Staatsanwältin] Koloskowa insistiert, dass „genug Zeit gegeben worden sei“. Die Richterin lehnt den Antrag der Verteidigung ab.

    Kobsew: Wir haben die Unterlagen nicht in vollem Umfang erhalten. Wir haben weder einen Beschluss noch irgendein anderes gerichtliches Schreiben gesehen, demzufolge heute um 12:30 Uhr ein Prozess angesetzt war, in diesem Format einer Sitzung außerhalb des Gerichts.

    Michailowa: Ich möchte das unterstreichen und darauf hinweisen, dass die Unterlagen überhaupt keine Angaben darüber enthalten, dass eine Verhandlung anberaumt worden ist.

    Wir haben weder einen Beschluss noch irgendein anderes gerichtliches Schreiben gesehen, demzufolge heute um 12:30 Uhr ein Prozess angesetzt war

    Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und der Behörden des Inneren weisen das zurück und die Richterin weist den Einwand der Verteidigung zurück.

    Kobsew: Gestern wurde im Lauf der Festnahme bei einer Durchsuchung Nawalnys der Auslandsreisepass beschlagnahmt. Eine Kopie des Passes findet sich in der Akte. Im Festnahmeprotokoll ist der Pass unter den Gegenständen, die beschlagnahmt wurden, nicht aufgeführt. Wir bitten darum, den Pass ausfindig zu machen und ihn Nawalny oder uns, seinen Verteidigern, auszuhändigen.

    Nawalny: Das ist eine komische Situation. Gestern wurde mir mein Pass an der Grenze abgenommen. Man hat mich hierher gebracht und alle Sachen protokolliert: Schnürsenkel, Gürtel und so weiter. Aber der Pass wird im Festnahmeprotokoll nicht unter den beschlagnahmten Gegenständen aufgelistet. Das heißt, sie haben ihn gestohlen, verloren oder was auch immer mit ihm gemacht. Er sollte entweder Teil der Prozessunterlagen oder im Festnahmeprotokoll aufgeführt sein. Ich möchte, dass das festgehalten wird. Vielleicht wurde er aus Versehen nicht aufgenommen, einfach vergessen in dem Getümmel. Das ist ein wichtiges Dokument, in der Tat mein einziges Dokument, das mich ausweist in diesem Gericht.

    Die Vertreter der Staatsanwaltschaft und des Inneren sind dagegen, die Richterin weist den Antrag unverzüglich ab, „da diese Frage den Rahmen der Prüfung der vorliegenden Unterlagen sprengt“.

    Anwältin Michailowa bittet darum, Nawalnys Pressesprecherin Kira Jarmysch in den Saal zu lassen, doch laut Vertreterin der Behörden des Inneren ist „die Höchstzahl der für diesen Saal zugelassenen Personen bereits erreicht“. Die Richterin lehnt unverzüglich ab unter Berufung auf „Maßnahmen zur Sicherstellung der Hygieneregeln“. Nawalny bittet, Ilja Pachomow und Ruslan Schaweddinow vom FBK ins Gericht zu lassen. Die Richterin lehnt unverzüglich ab.

    Nawalny: Da das Gericht offensichtlich die Seite der Anklage eingenommen hat, da mir mein Grundrecht auf Verteidigung verweigert wurde, da Medien und Publikum nicht zum Prozess zugelassen wurden und sich hier nur Personen befinden, die auf unklare Weise hierher geraten sind und von der Staatsanwältin, der Richterin oder von Polizeibeamten hierher gebracht wurden, da es kein Dokument gibt, in dem ein Gerichtsprozess festgelegt wurde – das kann nicht einfach aus dem Nichts auftauchen, man kann nicht einfach loslegen und jemanden in der Küche verurteilen, irgendwer hätte dieses Gericht einberufen müssen und dann hätte es irgendwer hierher verlegen müssen – in Folge dessen lege ich Einspruch gegen die Anberaumung dieser Sitzung ein.

    Man kann nicht einfach loslegen und jemanden in der Küche verurteilen, irgendwer hätte dieses Gericht einberufen müssen

    Anwalt Kobsew meint, dass Richterin Morosowa befangen sei und eine Sitzung außerhalb des Gerichts in einer Polizeistation eine „beispiellose Maßnahme, wie ich sie noch nie in Russland gesehen habe“. Die Anwältin Michailowa ergänzt, dass Morosowa über keine gesetzlichen Vollmachten zur Verhaftung eines auf Bewährung Verurteilten verfüge, und „diese Gerichtsverhandlung gar nicht stattfinden dürfte“. Die Vertreter von Staatsanwaltschaft und der Behörden des Inneren weisen das zurück. Die Richterin zieht sich für zehn Minuten ins Beratungszimmer zurück. Danach lehnt sie Nawalnys Einspruch ab. Die Verhandlung wird fortgesetzt.

    Das Wort ergreift Naumowa, Vertreterin der Polizeiverwaltung von Chimki. 

    Naumowa: Sehr geehrtes Gericht, am 03.03.2015 wurde der Verurteilte Nawalny in die Zweigstelle №11 der Strafvollzugsverwaltung (FSIN) der Stadt Moskau bestellt. Am 10.03.2015 fand mit Nawalny ein Aufklärungsgespräch statt, es wurden die Bedingungen der Bewährungsstrafe erklärt und die ihm auferlegten Pflichten. Die Verpflichtungserklärung wurde unterzeichnet …

    Naumowa erzählt mehrere Minuten die gesamte komplizierte Geschichte der Beziehungen zwischen Nawalny und dem FSIN. Nach dem Urteil im Fall Yves Rocher wurde der Politiker dazu verpflichtet, sich zweimal im Monat – je am ersten und dritten Montag – in einer Zweigstelle des FSIN zu melden. 

    Im Jahr 2020 sei Nawalny „systematisch“ nicht zur Meldung erschienen, erzählt Naumowa: Zweimal im Januar 2020, einmal im Februar, zweimal im März, dann im Juli und im August.

    Nach der Vergiftung am 20. August 2020 wurde Nawalny zur Behandlung nach Deutschland ausgeflogen, worüber man beim FSIN „aus den Medien“ erfahren habe. Die Behörde habe Angaben über Nawalny beim Omsker Krankenhaus erfragt und am 16. Oktober „per Einschreiben an die Meldeadresse“ über seine Meldepflicht bei der Strafvollzugsbehörde (FSIN) informiert. 

    Dann legt Naumowa eine Auskunft der Berliner Charité vom 11. November vor, wonach Nawalny dort vom 22. August bis zum 23. September behandelt wurde. Nach seiner Entlassung befand sich Nawalny in ambulanter und physiotherapeutischer Behandlung. Nach der schweren Vergiftung brauchte er eine lange Rehabilitation, doch, so merkt Naumowa an, sei in den Dokumenten der Charité keine genaue Angabe über die benötigte Zeit bis zur Genesung gemacht worden.   

    Der Auftritt der Vertreterin der Polizei von Chimki wird übertönt durch die „Lasst ihn frei!-Rufe vor den Fenstern der Polizeistation.

    Naumowa: … zur Feststellung des faktischen Aufenthaltsorts des Verurteilten Nawalny hat die Strafvollzugsbehörde unter der Meldeadresse des Verurteilten nachgeforscht. Am 16.09.2020 und am 16.12.2020 haben Mitarbeiter im Rahmen der Besuche bei der Meldeadresse festgestellt, dass der Verurteilte zum Zeitpunkt der Überprüfungen nicht an der Meldeadresse anwesend war. Daher ist der Strafvollzugsbehörde der faktische Aufenthaltsort des Verurteilten Nawalny seit dem 24.09.2020 unbekannt. Mit der Anordnung der regionalen Strafvollzugsbehörde Moskaus vom 29.12.2020 wurde der Verurteilte Nawalny zur Fahndung ausgeschrieben.

    Am 17.01.2021 [bei der Landung Nawalnys in Moskau – dek] wurde der Aufenthaltsort des Verurteilten festgestellt. Mitarbeiter der Moskauer FSIN-Behörde und Mitarbeiter der Polizei des Stadtkreises Chimki haben Nawalny für eine Frist von bis zu 48 Stunden festgenommen.

    Naumowa beantragt beim Gericht, Nawalny für eine Frist von 30 Tagen zu inhaftieren. Die Richterin Morosowa zählt die im aktuellen Fall vorliegenden Unterlagen auf, während von draußen Rufe hereindringen. 

    Die Gerichtsverhandlung wird immer wieder übertönt durch „Lasst ihn frei“-Rufe von draußen / Foto © Dawid Frenkel/Mediazona
    Die Gerichtsverhandlung wird immer wieder übertönt durch „Lasst ihn frei“-Rufe von draußen / Foto © Dawid Frenkel/Mediazona
    Morosowa: Bitte, Herr Alexej Anatoljewitsch Nawalny, wie stehen sie zu den vorliegenden Anschuldigungen?

    Nawalny: Ich hab nicht verstanden, was die Polizeidirektorin von Chimiki mit all dem zu tun hat? Kann die Polizeidirektorin von Chimiki Sie in einer Anordnung darum bitten zu heiraten? Oder ein Gericht dazu verpflichten, dass dieses entscheiden möge, dass sie verheiratet werden? Was hat die Polizeidirektorin von Chimki damit zu tun?

    Ich hab nicht verstanden, was die Polizeidirektorin von Chimiki mit all dem zu tun hat? Kann die Polizeidirektorin von Chimiki Sie in einer Anordnung darum bitten zu heiraten?

    Es wurde ein Prozess angesetzt, es gibt die Strafvollzugsbehörde FSIN. Der FSIN glaubt, dass ich irgendwo nicht erschienen sei, der FSIN setzt eine Gerichtsverhandlung an. Ich bin ein auf Bewährung Verurteilter. In Ihren Unterlagen ist die Fahndungsausschreibung, da steht schwarz auf weiß, in Großbuchstaben, extra für die Staatsanwälte und Richter aus Chimki: „Eine verfahrenssichernde Maßnahme gibt es nicht.“ Und dann kommt die Polizeichefin von Chimki und sagt: „Kommt, wir inhaftieren ihn!“ Wie soll man das denn überhaupt verstehen?

    Der Verfahrensweg ist wie folgt, so steht es schwarz auf weiß im Gesetz: „Der FSIN kann beantragen, eine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe umzuwandeln.“ Und sie haben es beantragt. Es wurde ein Gerichtstermin festgelegt. Wenn die Polizei glaubt, dass ich festgenommen werden muss, dann kann sie mich für 48 Stunden festnehmen.

    Wie kann sich (lacht) eine Polizeichefin von Chimki überhaupt in dieses System einmischen und meine Festnahme beantragen? Das ist doch lachhaft.  

    Anwältin Michailowa sagt, dass die Behördenleiterin sich auf drei Artikel des Strafgesetzbuches bezieht: Und zwar auf Artikel 46 über die Nichteinhaltung der Auflagen für gemeinnützige Arbeit, Artikel 397 über die Inhaftierung von Verurteilten, die sich Geldstrafen, Arbeiten oder Freiheitsbeschränkungen entzogen haben, und Artikel 399 [Strafvollstreckungsordnung – dek].  Keiner dieser Artikel sehe Freiheitsstrafen von 30 Tagen für Verurteilte während der Bewährungszeit vor.

    Michailowa: Außerdem möchte ich das Gericht auf Folgendes aufmerksam machen. Erstens, Nawalny ist nicht untergetaucht. Er hat der Strafvollzugsbehörde mitgeteilt, dass er in Deutschland in ärztlicher Behandlung ist, ein ärztliches Attest der Charité wurde vorgelegt, und dieses befindet sich, soweit ich weiß, in den Unterlagen …

    Kobsew: Es ist nicht in den Unterlagen. Wir verweisen darauf in unserer Stellungnahme.

    Michailowa: Leider ist bei dieser Gerichtssitzung kein Vertreter des Strafvollzugsdienstes FSIN anwesend, der uns aufklären könnte. Ich denke selbstverständlich, dass das nicht richtig ist – man hätte auch einen Vertreter des Strafvollzugsdienstes zu dieser Gerichtsverhandlung laden müssen.
    Der FSIN wurde darüber informiert, wo Nawalny sich aufhält, dass er sich nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus in ambulanter Behandlung befindet und von Ärzten der Charité beobachtet wird. Diese Dokumente sind einsehbar in den Unterlagen, die dem Simonowski-Gericht vorgelegt wurden, wo eine Anhörung für den 29. Januar anberaumt wurde [diese wurde inzwischen auf den 2. Februar verschoben – dek]. Da die Frage der Umwandlung der Bewährungsstrafe in eine Gefängnisstrafe bei dieser Gerichtssitzung am 29. Januar verhandelt wird, entspricht die jetzige Verhandlung wiederum nicht dem Gesetz.

    Wir haben eine Bescheinigung, die wir ganz kürzlich von der Charité erhalten haben. Da die Gerichtsverhandlung so notfallmäßig anberaumt wurde, hatten wir leider keine Zeit, diese Bescheinigung ins Russische übersetzen zu lassen. Sie ist auf den 15. Januar datiert, ich bitte, sie der Akte beizufügen. Daraus geht hervor, dass Nawalny in der Charité behandelt wurde, dann unterzog er sich einer Reha, und diese endete am 15. Januar.

    Michailowa führt an, dass Nawalny auf Russlands Ersuchen hin im Rahmen einer Übereinkunft für Rechtshilfe in Deutschland vernommen wurde. In dem Ersuchen wurde Nawalnys Adresse in Deutschland angegeben, was bedeutet, dass die russischen Behörden wussten, wo sie ihn finden konnten. Am 20. Januar 2021 ist für den Politiker ein Gerichtstermin angesetzt, im Fall einer Verleumdungsklage; die Gerichtsvorladung dafür wurde an Nawalnys deutsche Adresse geschickt. An diese Adresse schickte auch das Bezirksgericht Simonowski der Stadt Moskau seine Vorladung an Nawalny.

    Als Michailowa fertig ist, listet der Richter die Dokumente und Anträge auf und fragt, ob alle mit der Zulassung der Bescheinigung in deutscher Sprache einverstanden sind. Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft erhebt Einspruch, da „Gerichtsverfahren in der Russischen Föderation auf Russisch geführt werden“, der Richter lehnt [die Zulassung] ab.

    Kobsew: Ich unterstütze die Position von Alexej Anatoljewitsch und meiner Kollegin. Ich bin auch deshalb der Meinung, dass dem Antrag der Polizeichefin von Chimki nicht stattzugeben ist, weil Nawalny – wie gesagt – vom Zeitpunkt seiner Vergiftung bis zu seiner gestrigen Rückkehr nicht zur Inspektion erschienen ist. Und aus hinreichendem Grund. Damit gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, seine Bewährungs- in eine Haftstrafe umzuwandeln. Insofern als zudem alle staatlichen Stellen sehr wohl über Nawalnys Wohnsitz in Deutschland Bescheid wussten … Eine Person zur Fahndung auszuschreiben ist nur möglich, wenn der Aufenthaltsort der Person nicht bekannt ist. In diesem Fall war der Aufenthaltsort bekannt. Wenn der Aufenthaltsort festgestellt ist, es aber nicht möglich ist, die Person zu vernehmen, ist dies kein Grund, sie zur Fahndung auszuschreiben. Genau aus diesem Grund hat Nawalny gezielt Eingaben sowohl beim Gericht als auch bei der Strafvollzugsbehörde gemacht, wo er seine Adresse in Berlin angab. Deshalb wurde er unrechtmäßig auf die Fahndungsliste gesetzt.

    Kobsew führt die Erklärung des Obersten Gerichtshofs an, dass es möglich ist, eine Bewährungsstrafe in eine Haftstrafe zu verwandeln, wenn Verstöße gegen Auflagen vor Ablauf der Bewährungszeit begangen wurden oder wenn sich herausstellt, dass der Verurteilte untergetaucht ist. Nawalny sei jedoch aus einem triftigen Grund nicht zur Strafvollzugsbehörde erschienen und habe keine Verstöße begangen.
    Nach Kobsews Rede steht die Vertreterin der Staatsanwaltschaft Koloskowa auf und ersucht, dem Antrag auf Verlängerung von Nawalnys Haftzeit stattzugeben.
    Die Richterin zieht sich unter Rufen von der Straße in den Beratungsraum zurück. Sie verspricht, in 15 Minuten zurück zu sein, kommt aber erst eine Stunde später wieder und verliest ihre Entscheidung: Nawalnys U-Haft wird auf 30 Tage verlängert.

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  • „In jenem Jahr kündeten die Ikonen von Unglück“

    „In jenem Jahr kündeten die Ikonen von Unglück“

    Jegor Skoworoda nimmt den Leser mit tief ins sibirische Nirgendwo, wo der Wald „ganz dicht“ ist, „überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken“. Er stellt unterschiedliche Gruppierungen von Altgläubigen vor und die abgelegenen Klöster, sogenannte Skiten, der Tschassowennyje. Zu ihnen führen keine Wege, „man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet“. 

    Skoworoda protokolliert außerdem die Geschichte von Jelisaweta, einer jungen Amerikanerin russischer Abstammung. Sie floh aus einem Kloster am Dubtsches, 40 Kilometer zu Fuß, weiter mit dem Boot – aber erst 15 Jahre nachdem ihre Verwandten sie zu einem „Besuch“ ins Kloster gebracht hatten. 

    Skoworodas Bericht über Jelisawetas Schicksal erfuhr einige Aufmerksamkeit, er ist einer der mit Abstand meistgelesenen Beiträge auf dem unabhängigen Portal Mediazona. Dort sind auch die O-Töne Jelisawetas zu hören. dekoder hat ihre Geschichte nun ins Deutsche übersetzt.

    Illustrationen © Anja Leonowa/Mediazona
    Illustrationen © Anja Leonowa/Mediazona

    Die Skiten am Dubtsches bilden das geistige Zentrum der Tschassowennyje, einer Strömung innerhalb der priesterlosen Altgläubigen. Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten flohen viele Tschassowennyje zunächst nach China und zogen später nach Süd- oder Nordamerika weiter. Diejenigen, die das Land nicht verlassen hatten, wichen immer weiter in die Peripherie zurück, um der Verfolgung und Kollektivierung zu entgehen.

    So fanden sie sich Ende der 1930er Jahre in der tiefsten Taiga im Turuchanski Krai wieder – mitten in der rauen, sumpfigen Wildnis. Von dort, wo der Dubtsches in den Jenissei mündet, sind es noch 500 Kilometer bis nach Krasnojarsk. Stromaufwärts einsam am Dubtsches liegen die kleinen Skiten, Klöster und Höfe der Tschassowennyje. Dorthin gelangt man nur auf dem Wasserweg und nur bei hohem Wasserstand.

    In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück

    1951 wurden die Skiten von der Sowjetmacht entdeckt und zerschlagen. Die Häuser wurden in Brand gesteckt und ihre Bewohner gewaltsam deportiert.

    „In jenem Jahr kündeten die Ikonen in unserer Skite von Unglück. Sie knarzten und knackten. Die Starzen verspürten Unruhe in ihren Herzen. Die Ikonen würden von etwas künden, sagten sie …“, so schildert Afanassi Gerassimow die letzten Tage vor dem Einfall der Strafexpedition.

    Auch er wurde festgenommen, konnte jedoch fliehen. Die Gefangenen wurden auf einem Floß transportiert. Als die Aufseher eingeschlafen waren, sprang Afanassi ins Wasser. Heute weiß man, dass außer ihm noch ein paar anderen Altgläubigen die Flucht gelungen ist.

    Viktor Makarow, einer der Soldaten von damals, erinnert sich ebenfalls an den Gefangenentransport:

    „Die Männer aus der Taiga haben mit unserer Hilfe Flöße gebaut, und als der Dubtsches über die Ufer trat, machten wir uns zur Abfahrt bereit. Man hatte Fladenbrot gebacken und irgendwelche anderen Speisen als Proviant vorbereitet, alles ohne Salz. Kurz vor der Abfahrt setzte noch ein Mitarbeiter der Staatssicherheit das Kloster in Brand. […] Der Wasserpegel war hoch. Auf den Flößen befanden sich etwa 130 Personen, wir trieben Tag und Nacht mit dem Strom, wie Eisschollen. Das Wetter war kalt und regnerisch. Es donnerte und blitzte unaufhörlich. Durchnässt bis auf die Knochen trieben wir mehrere Tage so dahin. Als wäre das nicht genug, lief unser Floß auch noch auf eine Wurzel auf und zerschellte. Plötzlich waren die Menschen im Fluss, und wir mussten einen nach dem anderem aus dem eiskalten Wasser ziehen. Unter großer Anstrengung gelang es uns, anzulegen, wir machten Feuer und wärmten uns ein wenig auf. Während dieser Rast baten zwei oder drei Leute, austreten zu dürfen und kamen nicht wieder. Sie liefen zurück in die Taiga.“

    Von denen, die bis Krasnojarsk gebracht wurden, wurden 33 wegen „geheimen antisowjetischen Zusammenschlusses von altgläubigen Sektierern“ zu zehn bis 25 Jahren Lagerhaft verurteilt. Vater Simeon, der Gründer der Klöster am Dubtsches starb im Lager. 
    Ziemlich bald nach Stalins Tod, im Jahr 1954, wurden alle verurteilten Tschassowennyje amnestiert und kehrten allmählich an den Dubtsches zurück, wo sie ihre Höfe und Klöster wieder aufbauten.

    Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten

    „Auch der unter den Altgläubigen hochgeschätzte Vater Antoni kehrte in die Taiga am Dubtsches zurück. Von nun an erfuhr niemand mehr den genauen Standort der Skiten, er unterlag strengster Geheimhaltung. Um sich keiner Gefahr auszusetzen, pflegte Vater Antoni sehr einseitigen Kontakt mit den Weltlichen und seinen geistlichen Zöglingen und suchte sie für seelenrettende Gespräche und Abnahme der Beichte in den Ortschaften auf. Begleitet von Jungmönchen nahm er stets einen anderen Weg, um zu vermeiden, dass sich Pfade herausbilden“, schrieb der Diakon Alexander Kolnogorow nach seinem Besuch bei den Skiten Anfang der 2000er.

    Anfang der 1970er verstarb Vater Antoni, und Vater Michail nahm seinen Platz ein. Er war es auch, der den Skiten bis vor kurzem vorstand. Nach dem Zerfall der Sowjetunion lebte die Beziehung zwischen den Tschassowennyje aus der Taiga und ihren Glaubensbrüdern im Ausland wieder auf. Seitdem besuchen Nachfahren der Emigranten regelmäßig die Skiten oder schließen sich sogar der Klostergemeinschaft an.

    „Die Zahl der Klosterbrüder wächst beständig, und die Zahl der Schwestern hat sich sogar verdreifacht“, berichtet Kolnogorow. „Derzeit wird die gesamte Klosteranlage erneuert. Eine Kapelle wird errichtet, ein Refektorium und neue Klosterzellen entstehen. Vor allem aber werden die leicht abgelegen vier Frauenklöster ausgebaut.“

    Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören

    Laut Kolnogorow stammen die meisten Mitglieder der heutigen Klostergemeinschaft aus anderen altgläubigen Ortschaften. Als der Diakon Mitte der 2000er Jahre über die Skiten schrieb, lebten „in den Männer- und Frauenklöstern insgesamt über 3000 Personen“. Dabei seien es in den 1990ern gerade mal „60 bis 70 Personen im Männerkloster und circa 300 Personen in den vier Frauenklöstern“ gewesen.

    Vor allem seit ein Teenager aus den USA in das Kloster gezogen ist, weil er so beeindruckt von der Strenge der Skiten-Ordnung war, festige sich der Kontakt der Tschassowennyje mit den US-amerikanischen Altgläubigen. „Heute ist unter den Novizen immer öfter Englisch zu hören, auch wenn ihnen das Beten auf Englisch bisher verboten ist“, heißt es in Kolnogorows Aufzeichnungen.

    Aber nicht alle entscheiden sich freiwillig für ein Leben in den sibirischen Klöstern. Gut möglich, dass der Diakon Kolnogorow bei seinem Besuch Anfang der 2000er Jahre auch auf Jelisaweta traf (ihr Nachname bleibt auf ihren Wunsch hin ungenannt – Mediazona) – eine US-Amerikanerin, die von ihren altgläubigen Verwandten noch als Teenagerin unter falschem Vorwand in die Skiten am Dubtsches gebracht wurde. Erst nach 15 Jahren gelang der jungen Frau die Flucht.

    Jegor Skoworoda hat ihre Geschichte aufgeschrieben:


    Ich heiße Jelisaweta. Eigentlich bin ich aus Oregon in den USA. Meine Großeltern waren richtige Russen, sie haben noch da gelebt. In der Stalinzeit mussten sie nach China fliehen und versteckten sich dort in den Bergen, meine älteren Onkel kamen in China zur Welt. Irgendwann haben sie gehört, dass es in Südamerika besser sein soll, weil man da wegen der Religion nicht verfolgt wird. Also gingen sie nach Südamerika, dort wurde meine Tante geboren. Und dann haben sie gehört, dass es in den USA noch besser sein soll und sind dahin weitergezogen. Dort kamen dann meine Mutter und ihre zwei Brüder zur Welt. Sie alle waren Altgläubige.

    Mit 16 ist meine Mutter von zu Hause abgehauen und mit einem Amerikaner zusammengezogen. Das war mein Vater. Mamas Brüder und Schwestern sind alles Altgläubige, aber sie wollte weg von der Religion. Unser Vater hat uns verlassen, als ich fünf war. Sie waren beide Alkoholiker, haben Drogen genommen.

    Mama wollte weg von der Religion, zwischendurch war sie im Knast

    Eine Weile wohnte ich bei einer Tante, später bei einem Onkel, noch später beim Großvater. Zwischendurch war Mama im Knast. Ich hatte immer mehr mit meiner Tante zu tun, und mit ihren Kindern. Sie hatte elf. Wir standen uns sehr nahe. Im Sommer war ich oft bei ihnen zu Besuch. Meine beste Freundin war auch eine Altgläubige.

    Mir wollten sie das Altorthodoxe auch nahebringen und haben mir gezeigt, wie man betet. Als ich 13 war, haben sie ihre Kinder in die Klöster nach Sibirien geschickt. Zu mir sagten sie, ich könne sie dort besuchen. Ich hab damals nicht weiter drüber nachgedacht, weil ich gar nicht vorhatte, dahin zu fahren. Ich ließ mich taufen, aber nur, weil ich später mal einen Christen heiraten wollte. Die Taufe hatte noch gar nicht stattgefunden, da hat meine Tante einen Reisepass für mich machen lassen, heimlich, ohne mir ein Wort zu sagen. Sie hatte  schon alles geplant – wie sie mich nach Russland schickt, in die Klöster. Nur ich wusste davon nichts.

    Meine Tante hatte heimlich einen Reisepass für mich machen lassen

    Ich wurde also getauft, und kurz nach der Taufe … es waren grad mal zwei Wochen vergangen, am 10. Mai 2000, da sagt die Tante zu mir: „Du fährst morgen ins Kloster.“ Ich reiß die Augen auf: „Wie bitte?! Ich kann nicht mal Russisch und du willst mich dahin schicken?!“ Die Koffer waren längst gepackt, die Tickets gekauft, also überredeten sie mich, wenigstens für zwei Wochen auf Besuch dahin zu fahren, einfach nur, um mir Russland anzusehen. Keiner hat mir gesagt, dass es keine Rückfahrtickets sind. Die haben mich angelogen und dahin geschickt. Wir kamen zum Kloster, und da blieb ich dann die nächsten 15 Jahre.

    Jetzt bleibst du für immer hier

    Im Turuchanski Krai mündet ein kleiner Fluss in den Jenissei – der Dubtsches. Den genauen Ort, wo wir gewohnt haben, findet man auf keiner Karte. Aber den Jenissei kennt jeder. Wo wir gewohnt haben, fließen auch noch der Tyna und der Tugultsches. Wenn man etwa 48 Stunden auf dem Dubtsches mit dem Boot fährt, kommt man in das Dorf Sandaktsches. Von Sandaktsches sind es dann noch circa 300 Kilometer bis zu uns. Dahin führen keine Straßen mehr, dahin kommt man nur noch zu Fuß.

    Entlang des Dubtsches erstrecken sich immer wieder kleine Höfe, hier ein paar Hütten, da drei oder vier, dort vielleicht zehn. Aber das größte Dorf ist Sandaktsches. Dort gibt es sicher um die 200 Familien und genauso viele Häuser. Alles Altgläubige, wirklich alle. 

    Am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß

    Wir hatten einen Flug bis Moskau. Da war ein junger Russe, Andrej Muratschew. Er war für ein halbes Jahr bei Mamas Stiefschwester (in den USA – Mediazona) zu Besuch gewesen, und als er wieder zurückflog, musste ich mit. Er konnte kein Englisch und ich kein Russisch. Es war sehr hart. Fünf Tage war ich bei seiner Familie in Tscheremschanka, dann ging es weiter nach Krasnojarsk. Erst da traf ich auf andere Amerikaner. Ich wusste gar nicht, dass wir jemanden treffen sollten. Aber es war schon alles ausgemacht. Wir flogen mit einem Hubschrauber nach Sandaktsches, fuhren dann zwei Tage mit einem Motorboot, und am Ende liefen wir noch 40 km zu Fuß.

    Der Wald ist da ganz dicht, überall Fichten, Zedern, Tannen, Birken. Kiefern gibt’s auch, aber nicht so viele. Man geht einfach querfeldein, über Wurzeln, durch Sumpfgebiet.

    Dort gibt’s sieben Klöster, jedes Kloster hat seine eigene Kirche. Männer und Frauen leben getrennt, nicht in Familien. Da, wo ich gewohnt habe, waren wir 150 Frauen. Es gab noch drei andere Frauenklöster, in allen zusammen waren wir um die 700 bis 800. Manche Klöster liegen drei Kilometer auseinander, andere 15, wieder andere 30. Das weiteste Kloster war rund 60 Kilometer entfernt, würde ich sagen.

    Je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt

    Man hat uns nett empfangen, die sind dort … es sind gute Menschen, sie haben nur ganz andere Vorstellungen, ganz anders als der Rest der Welt. Sie meinen zum Beispiel, dass wir der Welt entgegengesetzt leben müssten. Damit wir nicht zugrunde gehen. Sie haben so einen ganz strengen Glauben. Sie denken, je mehr du leidest, desto mehr wirst du im Jenseits dafür entlohnt. Sie denken, wenn du hinausgehst in die Welt, wirst du zugrunde gehen. Du musst dort leben und dort sterben.

    Ich war 15 als wir dort ankamen. Wir blieben alle, es war noch ein anderes Mädchen dabei. Die Amerikaner sagten mir, sie würden in zwei Wochen fahren. Aber sie sind eher gefahren und haben uns nichts gesagt, sind einfach weggefahren. Wie sollte ich da wegkommen? Ich war ja grad mal 15.

    Wenn du da weg willst … 40 Kilometer musst du laufen, dann fährst du mit dem Boot – und wie sollte ich allein Boot fahren? Ich brauchte ja jemanden, der mich fährt. Später, als ich schon eine Weile da gelebt habe … ich war schon vier Monate da – kamen die Amerikaner nochmal zu Besuch. Es waren sogar Verwandte von mir dabei. Aber die wollten mich auf keinen Fall wieder mitnehmen, da war nichts zu machen. Ich habe geweint, gebettelt, sie angefleht. Ich hatte ja kein Geld und gar nichts, aber sie wollten nicht für mich zahlen.

    Ich saß dort fest. Vier Jahre später haben sie dann meinen Pass verbrannt. Jetzt bleibst du für immer hier, haben sie gesagt.

    Einen Pflug hatten wir, aber ziehen mussten wir ihn selbst

    Ich wurde nicht geschlagen. Sie haben mich einfach nur dazu gezwungen, genauso ein strenges Leben zu führen wie sie. Wir haben ständig gefastet – jeden Montag, Mittwoch und Freitag. Und dann noch vor Weihnachten und Ostern. Fleisch aßen wir überhaupt nicht. Zu essen gab es nur zweimal am Tag – mittags und abends, alles andere war verboten. Gekocht wurde in der Küche, da kam man hin und musste essen, was da war. Alle aus einer Schüssel. Zur Großen Fastenzeit war es noch strenger: Die erste Woche durfte man nichts Gekochtes essen – nur ein klein bisschen Möhren und Rote Bete und das auch nur einmal am Tag.

    Für mich war es besonders schwer, weil ich ja kein Russisch konnte, und mit Englisch kommt man da nicht weit. Ich glaube, ungefähr nach einem Jahr konnte ich es so einigermaßen. Lernte langsam lesen und schreiben. Die ganzen Jahre habe ich weitergelernt.

    Alles dort war selbstgemacht. Wir hatten noch nicht mal Vieh. So weit draußen wie wir lebten, gab es auch keine Geschäfte, alles musste selbst angebaut werden. Es war richtig harte Arbeit – kochen, sägen, Holz hacken und schleppen. Wir haben alles auf Schlitten geladen und sie selbst gezogen. Die ersten Jahre hatten wir keine Pferde, wir haben alle Felder von Hand umgegraben. Dann bekamen wir einen Pflug, aber den mussten wir auch selbst ziehen. Erst in den letzten Jahren, als wir schon ein Pferd hatten, hat dann das Pferd die Felder umgepflügt. Die Schlitten mussten wir selbst ziehen, wir mussten Brennholz heranschaffen. Und unser Boden da war sehr schlecht, wie Lehm. Deshalb haben wir am Fluss weiche Erde gesucht, sie in große Säcke geschaufelt und heimgeschleppt. Dann wurde noch Erde verbrannt und alles miteinander vermischt. Wir lebten in Blockhütten, die Kerben schlugen wir mit der Axt in die Baumstämme. In einem Haus wohnten zwischen vier und zehn Personen.

    Und die Mücken! Furchtbar, wie viele es waren! Einfach nicht auszuhalten. Wir liefen den ganzen Sommer in Netzen herum, ohne konntest du gar nicht vor die Tür. Und dann auch noch diese kleinen Stechfliegen! Immer musste man langärmlige Sachen tragen, Hosen, zwei Paar Socken – alles aus ganz festem Stoff. Die kommen nämlich durch alles durch. Deswegen liefen wir immer in Netzen rum, wirklich immer.

    Altgläubige kamen von überall her und zahlten, damit man für sie betete

    Ich war so ein Leben nicht gewohnt. Im ersten Sommer war es sehr heiß, aber nachts gab es Minusgrade. Die Kartoffeln durften keinen Frost abkriegen, deswegen machten wir Lagerfeuer rund ums Feld, deckten alles mit Stoff ab, deckten den Kohl zu. Geschlafen haben wir kaum. Dort liegt nur drei Monate im Jahr kein Schnee, in denen muss man alles schaffen. Morgens musste man gleich weiterarbeiten. Und nachts wieder alles abdecken. In diesem Winter hatten wir fast keine Kartoffeln.

    Die Leute dort [im Kloster – dek] haben viel gebetet, deswegen kamen Altgläubige von überall her und wollten, dass man für sie betet, sie zahlten dafür, brachten einfach Spenden. Man kommt aber nur rein, wenn man getauft ist. Also kommen Verwandte, die selbst Altgläubige sind, zu Besuch und bringen Geld oder Milch mit.

    Im Frühling fuhren wir mit dem Boot in die Stadt, holten Mehl, Zucker, Getreide. Ich meine natürlich, nicht wir, sondern die Männer fuhren ins Dorf. Sie fuhren mit dem Boot nach Krasnojarsk. Sie blieben lange fort, mehrere Monate.

    Ich war in den 15 Jahren kein einziges Mal woanders, ich durfte nicht. Und dann bin ich weggelaufen.

    Bald wirst du sterben und dann kommst du in den Himmel

    Nach vier Jahren hatte ich mich etwas eingelebt, mich an das alles ein bisschen gewöhnt. Sie sagten mir noch, dass … dass ich ein gutes Leben haben werde. Sie haben das jeden Tag wiederholt und geredet und geredet, man darf dies nicht, das ist nicht gut, und jenes führt ins Verderben. Mach es so, dann kommst du in den Himmel. Das haben sie mir immer und immer wieder gesagt. Irgendwie glaube ich immer noch an Gott, aber so wie sie leben, das ist grausam.

    Ich war sehr traurig, niedergeschlagen, dass sie meinen Pass verbrannt hatten, aber … in dieser Zeit habe ich auch noch Asthma bekommen, und sie sagten mir die ganze Zeit, dass ich bald sterben und in den Himmel kommen würde. All diese Jahre, elf Jahre war ich krank, konnte ich nicht sterben.

    Mir ging es damals immer schlechter, die letzten zwei Jahre war ich dann sehr krank. Im Frühling 2015 konnte ich mir nicht mal mehr selbst die Haare kämmen, hatte nicht genug Kraft. Ich war verzweifelt, wusste einfach nicht weiter …
    Sie ließen mich keine Medizin nehmen. Erst durfte ich ein bisschen, aber dann sagten sie, es wäre Gottes Wille, mein Kreuz. Du musst das ertragen.

    Und dann wurde ich einfach wütend

    Und dann, weißt du, dann wurde ich einfach wütend. Ich kann nicht leben, kann nicht gesund werden, und sterben kann ich auch nicht. Ich wurde wütend, überlegte, wie ich von da wegkomme. Ich fing an, heimlich was gegen das Asthma zu tun, ging nachts mit einem anderen Mädchen zum Fluss, wir bauten uns Holzwannen, dann machten wir in einem Bottich Wasser warm und legten da Fichtenzweige rein. Ich hatte gelesen, dass das gegen Asthma hilft.

    Dann fing ich an zu essen, weil … also, wir hatten dort keine Kühe, keine Milch. Sechs Jahre lang hab ich nichts mit Milch gegessen, nur Brei und eingekochte Beeren. Kein Brot, kein Gebäck, nichts. Ich habe sehr abgenommen. Sie haben mich ständig ermahnt, ständig kontrolliert. Dann fing ich an, mir einfach was aus der Küche zu holen, aus dem Keller, und nahm es mit in meine Hütte. Im Sommer sammelte ich Beeren und sowas. Mit dem Essen und den Kuren ging es mir langsam besser.

    Wir kommen vom Kloster, Geld haben wir nicht

    Sie sagten mir, es gäbe keine Hoffnung, ich müsse sterben und Punkt. Aber als es mir etwas besser ging, fing ich an zu überlegen, wie ich von da wegkomme. Ich wollte nur ins Krankenhaus fahren, wissen, was mit mir los ist.

    Wir hatten dort Klöster für Frauen und für Männer. Als alle schliefen, bin ich weggerannt, zu Fuß – da ist so ein Kloster am Dubtsches, das war näher an der Stadt. Da habe ich mich mit einer verabredet, und eine andere wollte uns ins nächste Dorf bringen.

    In dem Kloster blieb ich vielleicht zwei Wochen, dann hörten wir, dass in dem Dorf, es lag 15 Kilometer entfernt, eine Frau schwer krank war und in die Stadt ins Krankenhaus wollte. Also sind wir dorthin und haben sie gebeten, uns mitzunehmen. Das sind Altgläubige, sie wussten, dass wir aus dem Kloster sind und kein Geld haben. Wir haben nichts bezahlt, und sie wollten auch nichts haben. Wir sind bis nach Sandaktsches gefahren, und von da aus mit anderen Leuten bis Jenisseisk.

    In Jenisseisk haben die Amerikaner, die wir unterwegs aufgegabelt hatten, ein Taxi genommen, und wir sind einfach mitgefahren.

    Sie sagten mir, ich sei allergisch gegen Kälte

    Das war im August 2015. Ich hatte zwei Telefonnummern, rief von Krasnojarsk aus in Amerika an, bei meinen Verwandten, und sie schickten mir Geld. Die Tante, die mich hergeschickt hatte, war schon tot, seit fünf Jahren. Ich habe meinen leiblichen Bruder angerufen, meinen Onkel, Mamas leibliche Schwester, meine leibliche Tante, und alle schickten ein bisschen Geld. Dann bin ich zu verschiedenen Ärzten, ließ mich untersuchen.

    Die Ärzte bezahlte ich sofort, alles funktionierte (ohne Pass und Papiere – Mediazona). Das ist das Gute an Russland, da ist das alles viel einfacher, hier in Amerika ist es schwieriger. Ich lag dann sogar im Krankenhaus, ohne Papiere. Sogar Inhalatoren gaben sie mir, ich habe nie groß etwas dafür bezahlt.

    Ich hatte Freunde in Krasnojarsk, die haben auf ihren Namen eine Wohnung gemietet, die habe ich bezahlt. Ohne Pass konnte ich nichts mieten.

    Der Fluss war schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr

    Im Oktober dann … ich wollte ja eigentlich zurück ins Kloster, da man mir gesagt hatte, wenn du irgendwohin fährst, wirst du kein Glück haben, du wirst sterben. Das war alles in meinem Kopf. Außerdem hatte ich keinen Pass. Keinen Pass, kein Visum. Ich bin ja mit 15 weg, ich wusste nichts.

    Ich dachte, einfach wegfahren ist unmöglich. Am wichtigsten war für mich, dass die Krankheit ein bisschen besser wird. Im Oktober habe ich dann ein Ticket gekauft für das letzte Schiff von Jenisseisk nach Worogowo, glaube ich, in irgendein Dorf da oben. In diesem Dorf gab es Altgläubige, die sollten mich bis Sandaktsches bringen, und wieder andere Altgläubige von Sandaktsches aus weiter.

    Aber am 6. Oktober bin ich zum Arzt. Es hatte sich rausgestellt, dass ich allergisches Asthma habe, und ich brauchte den passenden Inhalator. Naja, später haben sie mir dann gesagt, dass ich Asthma und eine Kälteallergie habe. Ich würde Kälte nicht vertragen.

    Ich saß da bei diesen Ärzten, und plötzlich bekam ich keine Luft mehr, bekam einen Anfall. Sie riefen den Notarzt, und ich kam sofort ins Krankenhaus und blieb dort eine Woche. Da war der Fluss schon zugefroren, es fuhren keine Schiffe mehr. Ich saß fest, bis der Schnee kam.

    Ich kaufte mir das billigste Smartphone und meldete mich bei facebook an

    Im Kloster habe ich ohne Strom gelebt, ohne Technik, ohne Telefon. Als ich 2000 weg bin, gab es noch keine Smartphones. Aber als ich in Krasnojarsk war, habe ich für 2000 Rubel [knapp 30 Euro – dek] das billigste Smartphone gekauft. Ich wusste nicht genau, wie es funktioniert, aber im Krankenhaus hatte ich nichts zu tun und brachte es mir bei und meldete mich bei facebook an. Da haben mich dann meine leiblichen Brüder gefunden. Ich hatte meine Brüder seit 15 Jahren nicht gesehen, nicht gesprochen. Meine Brüder – die sind keine Altgläubigen, sie sind nicht getauft, haben vom Glauben noch nie was gehört. Die sind einfach nur Amerikaner.

    Sie wollten, dass ich nach Hause komme: Wir schicken dir Geld, wir kaufen dir ein Ticket, komm nach Hause. Ich war eine ganze Woche im Krankenhaus, und die ganze Zeit hörte ich von den Ärzten: „Du darfst nicht in Russland leben, es ist hier zu kalt für dich. Du hast sowieso keine russischen Papiere, du kannst hier nicht leben, fahr zurück nach Amerika.“ Das kriegte ich jeden Tag mehrmals zu hören. Ich überlegte hin und her und beschloss, nach Amerika zurückzugehen. Weil die Ärzte zu mir gesagt haben: „So lange du hier in Sibirien bist, so lange wirst du krank bleiben.“ Da wo ich gelebt habe, im Turuchanski Krai, wurde es manchmal bis zu -60° C kalt.

    Da, wo ich gelebt habe, wurde es bis zu -60° C kalt

    Meine Brüder haben mir geholfen, mir Telefonnummern gegeben. Meine Freunde in Krasnojarsk haben mir auch geholfen, wir sind zur Polizei und haben erzählt, dass ich meinen Pass verloren hätte. Die haben mir (eine Bescheinigung – Mediazona) ausgestellt, dass mein Pass weg ist. Dann bin ich zum Migrationsamt UFMS, und die haben mir gesagt, dass ich nur in Moskau oder in Wladiwostok einen Pass bekomme, weil es da amerikanische Botschaften gibt. Aber ich war in Krasnojarsk.

    Bei diesem Amt hat man mir gesagt, ich müsse dort erst eine Strafe zahlen, danach würden sie mich irgendwo einsperren, kein richtiges Gefängnis, aber man sitzt da einen Monat, und dann würden sie mich rauslassen. Ich sagte: „Nein.“ Ich war schon 15 Jahre eingesperrt gewesen.

    Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau suche Mitfahrer

    Also suchte ich nach anderen Möglichkeiten, meine Freunde halfen mir dabei. Erst dachten wir, vielleicht mit dem Zug, aber das ging auch nicht, dafür braucht man einen Pass. Irgendwann suchten wir einfach im Internet, und kaum hatten wir angefangen, stießen wir auf eine Anzeige: „Fahre morgen mit dem Auto nach Moskau, allein, suche Mitfahrer, nehme fünftausend Rubel [knapp 70 Euro – dek].“ Das war perfekt für mich. Aber das war schon morgen, ich war nicht vorbereitet, hatte für den nächsten Monat schon die Wohnung gemietet. Naja, ich rief da erst mal an, unterhielt mich ein bisschen mit ihm, er klang nett.

    Als ich meinen Freunden davon erzählte, sagten sie: „Du spinnst doch, du kennst ihn gar nicht, wie kannst du da mitfahren?“ Ich sagte, ich habe keine Wahl, ich will nicht irgendwo festsitzen, will keine Strafe zahlen, ich fahre einfach. Das war meine einzige Möglichkeit.

    Moskau – Seattle

    Ich beeilte mich, packte alles zusammen, und wir fuhren los. Ich habe immer noch Kontakt zu diesem Menschen. Ich hatte auch Angst, weil ich in Moskau niemanden kannte, mein Geld war fast alle, reichte nur noch für ein Ticket. Er hatte einen Freund, der in Moskau in einem Wohnheim lebte, und zu dem brachte er mich, sein Name war Anatoli. Ein sehr guter Mensch. Da blieb ich einen Monat, weil ich auf die Tickets wartete. Ich kam im Dezember dort an, Neujahr und Weihnachten standen vor der Tür, deswegen waren die Tickets furchtbar teuer, bis zu 100.000 oder 150.000 Rubel [1300 bis knapp 2000 Euro – dek]. Ich wartete bis zum 15. Januar und kaufte dann für 25.000 [330 Euro – dek] ein Ticket nach Seattle.

    In der Botschaft haben sie mir innerhalb von drei Stunden einen Pass ausgestellt, ich hatte ja diesen Schein von der Polizei, dass ich ihn verloren hatte, dadurch ging das alles sofort, ich musste 150 Dollar bezahlen, glaube ich. Und dann, ach, dann bin ich durch ganz Moskau zu diesem Amt für Migration, weil die einen sagten, dass ich ein Visum brauche, die anderen sagten, ich brauche keins … Das ist es, was ich nicht mag an Russland: Sie lieben es, dich irgendwohin zu schicken, geh hierhin, geh dorthin. Niemand will einem helfen, sie schicken dich bloß ständig irgendwohin.

    Ich fuhr quer durch Moskau, und niemand wollte mir helfen. Dann wurde ich zum Chef geschickt, ich musste ganze zwei Stunden auf ihn warten, und dann sagte der: „Geh zur Polizei, sag, ich bin Amerikanerin, habe 15 Jahre hier gelebt und kein Visum, alles ist abgelaufen, bitte lassen sie mich raus.“ Ich ging zur Polizei, aber da hat man mich ausgelacht und gesagt: Kauf dir ein Ticket und fahr. Also bin ich geflogen.

    Nach meiner Rückkehr habe ich meine alten Freunde wiedergetroffen, aber andere Altgläubige nicht. Ich habe noch Verwandte, die Altgläubige sind, aber die finden nicht gut, dass ich zurückgekommen bin.

    Irgendwie ist alles glücklich ausgegangen für mich, obwohl sie mir im Kloster immer gesagt haben, dass ich kein Glück haben werde, kein Leben – aber es ist alles gut ausgegangen. Ich habe nicht damit gerechnet, ich kannte niemanden, hatte kein Geld, und trotzdem ging alles irgendwie gut, alles hat geklappt.

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