дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Keiner hat ein Bild von der Zukunft“

    „Keiner hat ein Bild von der Zukunft“

    Wie sprechen die Menschen in Russland über den Krieg? Was denken sie wirklich? Wie sehen sie ihr Leben, ihre Rolle im militarisierten Getriebe der Putinschen Kreml-Diktatur?  

    Einwandfreie, wissenschaftlich saubere, freie und offene Meinungsstudien sind in einem Land wie dem heutigen Russland schon seit mehr als zehn Jahren unmöglich. Informationskanäle sind beschränkt, die Versammlungs- und Meinungsfreiheit beschnitten und Regimekritiker werden verfolgt, verhaftet, verurteilt und gefangen gehalten. 

    In den ersten zwei Jahren des vollumfänglichen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gab es Versuche, die Haltung der „normalen“ russischen Bevölkerung zum Krieg zu ergründen: zum Beispiel vom Meinungsforschungszentrum Lewada oder auch von dem russischen Exil-Medium Meduza. Die Frage nach Schuld und Mitverantwortung spaltet selbst oppositionelle Kreise bis heute. 

    Um trotz allem wenigstens einen Eindruck von der Stimmung im Land im vierten Kriegsjahr zu bekommen, hat das Onlinemagazin Ljudi Baikala einen unabhängigen Sozialpsychologen (aus Sicherheitsgründen anonym) mit einer Umfrage beauftragt. Der Wissenschaftler sollte herausfinden, was sich die Leute von einem irgendwann vielleicht möglichen Ende der sogenannten „militärischen Spezialoperation“ („SWO“) erwarteten und wünschten.  

    Aufgrund der repressiven Kremlpolitik gestaltete sich die Teilnehmersuche schwierig: Der Autor befragte zehn Personen aus verschiedenen Regionen Russlands sowie eine Fokusgruppe aus acht Personen in der Region Irkutsk. Die Interviewpartner konnte er nur „über Bekannte von Bekannten“ finden. „Man merkt, dass es nicht okay ist, einfach so von einer fremden Nummer anzurufen und dann zu sagen: ‚Wissen Sie, wir machen da so eine Recherche …‘ Die Leute sind sehr angespannt“, so der Forscher gegenüber Ljudi Baikala. Trotzdem konnte er Gesprächspartner:innen für seine Studie gewinnen: „Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte nach Alter, sozialem Status und beruflicher Stellung, um Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zu erreichen. Ich habe versucht, die Positionierung einer Person zur ‚SWO‘ zu berücksichtigen. Nicht im Sinne von positiv oder negativ, sondern danach, ob er oder sie Verwandte hat, die vielleicht tot oder verschollen sind.“ 

    Der Wissenschaftler legte den Befragten keine vorgefertigten Antwortmöglichkeiten vor, wie in der quantitativen Forschung üblich. Stattdessen sollten die Teilnehmenden möglichst ausführlich auf offene Fragen antworten. Daher liefert die Studie keine Prozentzahlen zu bestimmten Standpunkten, aber einen Einblick in die Weltsicht der Antwortenden. 

    Ljudi Baikala fasst Antworten einzelner Befragter und Fokusgruppenteilnehmenden zusammen. Deutlich wird: Eine überwiegende Mehrheit verbindet „positive Veränderungen“ mit einem Kriegsende, aber eine konkretere Vorstellung von der Zukunft hat niemand. 

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    Frage: Wie stellen Sie sich Ihr eigenes und das Leben Ihrer Familie in fünf bis sieben Jahren vor? 

    Diese Frage war für die Befragten offensichtlich die schwierigste. Es fiel ihnen schwer, ihr Leben auch nur ein Jahr im Voraus zu planen – selbst denjenigen, deren Arbeit von effektiver Planung abhängig ist, zum Beispiel Unternehmer. 

    Die Hälfte der Befragten antwortete verallgemeinernd: „Ich glaube, alles wird gut“, „Ich hoffe, dass alle gesund und glücklich werden.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Ich denke, es wird besser werden, irgendwann muss der Krieg ja zu Ende gehen und sich alles normalisieren. Also … insgesamt wird es in unserem Land einen positiven Trend geben. Auch in der Familie wird es bergauf gehen.“ 

    Die andere Hälfte hielt Zukunftsplanung für grundsätzlich unmöglich. Die Menschen fühlten sich, so fasst es der Forscher zusammen, „abhängig von äußeren Umständen“. Sie müssten „sich von heute auf morgen überlegen, wie sie unter den sich verändernden Umständen leben sollen, anstatt einem Plan zu folgen“. 

    Mitarbeiter einer NGO, 36, Oblast Irkutsk:  

    „Der Planungshorizont in unserem Land ist generell sehr kurz. Über eine Zeitspanne von fünf bis zehn Jahren zu sprechen, ist reinste Spielerei. Es wäre eine glatte Lüge zu sagen, dass wir für die nächsten zehn Jahre etwas genau vorhersagen könnten. Für das nächste Jahr ist das schon schwierig. Buchstäblich vor drei Wochen lebten wir in der einen Realität, und dann kommen – zackbumm – plötzlich irgendwelche Firmen nach Russland zurück. Was bedeutet das? Dass sich das Schicksal tausender Menschen verändert. Heute arbeiten sie in einer Branche ohne Konkurrenz, morgen haben sie plötzlich Konkurrenz usw. Ich wünsche mir sehr, dass alles gut wird, aber wie es tatsächlich wird, kann ich nicht sagen. Das kann nur die Zeit zeigen.“  

    „ZU VIEL STERBEN“ 

    Frage: Was denken Sie, wie sich ein Ende der „Spezialoperation“ auf Ihr Leben auswirken wird? 

    Die Mehrheit der Befragten erwartet von einem Ende des Krieges, dass ihre Ängste und Sorgen abnehmen. 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Die Nachrichten drücken natürlich auf die Stimmung. Also, der Krieg an sich, meine ich. Wenn das alles vorbei ist, gibt es sicher mehr Positives. Rein emotional wird alles leichter, glaube ich.“ 

    Nachfrage: „Was empfinden Sie gerade als emotional schwierig?“ 

    „Das ständige Sterben in den Nachrichten. Der Tod ist überall … Die Nachrichtenkanäle sind voll von Videos davon, überall Mord und Totschlag. Egal ob es ‚unsere‘ Toten sind oder ‚deren‘ Tote. Es gibt einfach zu viel Sterben.“ 

    Drei der Befragten sagten, dass sich ihr Leben gar nicht verändern würde. Vier glaubten, dass nach dem Krieg eine neue Krise im Land ausbrechen könnte. Sie befürchteten, dass Medikamente knapp werden, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch die Kriegsrückkehrer zunehmen und der Staatshaushalt nur noch in den Aufbau der zerstörten Regionen fließen könnte. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Mein Leben hängt nicht so sehr von dem Beginn oder Ende der ‘Spezialoperation’ ab. Ich habe zum Beispiel monatsweise auf einer Baustelle gearbeitet. Als das im Februar 2022 losging, saßen wir ganz entspannt irgendwo hinter Magistralny (Dorf in der Oblast Irkutsk – Anm. d. Red.), bauten ein Wohnheim für Gasarbeiter, und da ging’s los. Unsere Arbeit ging weiter und weiter, und wir hatten das Gefühl, in einer Art Kapsel zu sein. Als wir vom Bau wiederkamen, so im Mai, hatte sich in der Stadt nichts verändert.“ 

    „Ich habe davon gehört bzw. eine Sendung im Fernsehen gesehen, dass die Kriminalität explodieren wird, der Alkoholismus, Schlägereien, Morde. ‚Ich war da [an der Front – dek], und du nicht‘ – diese Art von Konflikten. Vor der wachsenden Kriminalität habe ich Angst. Wie gefährlich wird das Leben dann sein? Außerdem macht mir die ganze Atmosphäre Angst. Also, ich meine, die Frauen gehen regelrecht auf die Jagd nach ‚SWO‘-Teilnehmern: Sie bringen ein Kind zur Welt, er stirbt, sie bekommt Geld. Das ist die Tendenz, ich sehe das, weil ich in solchen Chatgruppen sein muss. Das ist keine gesunde Situation, alle sind Konkurrentinnen. Männer gab es sowieso nicht viele, und die, die jetzt da sind, werden Folgen davontragen, Verletzungen, Komplikationen, Behinderungen. Vor den Invaliden habe ich Angst.“ 

     

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    Frage: Was denken Sie, wie sich Ihre Stadt bzw. Ihr Land nach dem Ende der „Spezialoperation“ verändert wird? 

    Der Sozialpsychologe hat während der Gespräche bemerkt: „Es ist einfacher, über die Veränderungen im Land zu sinnieren, weil man darüber was in den Nachrichten gehört hat, oder man schöpft aus seinem Geschichtswissen. Aber wenn es um die eigene Stadt geht, gibt es keine vorgegebenen Antworten, du musst selbst überlegen, was sich hier verändert. Du musst also deine eigene Wahrnehmung einschalten, über den Tellerrand schauen, nicht nur: ‚Was habe ich im Kühlschrank, wie sieht mein Kontostand aus?‘, sondern: ‚Was passiert in meiner Stadt? Ich lebe hier ja nicht alleine.‘ Wenn die Leute über lokale Veränderungen nachdenken, wird es kompliziert, das sieht man auch bei anderen Befragungen.“ 

    Etwa ein Drittel der Befragten äußerte dann auch die Einschätzung, dass sich ein Ende der „Spezialoperation“ gar nicht auf das Leben in ihrer Stadt auswirken würde. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Wenn der Krieg zu Ende geht, fangen sicher irgendwelche Steuerrepressionen an. Unseren Staat kann man nicht verkohlen. Ich glaube, die Wirtschaft ist etwas gereift, gesünder, also wird es die Möglichkeit geben, sich etwas zu entspannen, aber insgesamt die Veränderungen in der Stadt … ehrlich gesagt, haben wir uns abgewöhnt, an die ganzen Versprechungen zu glauben. Sie machen irgendwas zum Schein, aber nicht wirklich.“ 

    Ein Drittel der Befragten erwarteten negative Veränderungen wie sinkende Löhne und einen Anstieg der Kriminalität: „Das Geld wird immer knapper werden“, „Wir werden nachts nicht mehr auf die Straße gehen können, nicht in Clubs oder Restaurants“.  

    Aber ebenso viele hofften auf Besserung: „Es wird mehr Arbeitskräfte geben“, „Das Budget der Stadt wird wachsen“, „Es wird wieder mehr gebaut“. 

    Nach den Veränderungen im ganzen Land gefragt, stellen die Befragten ebenfalls genauso viele positive wie negative Prognosen auf. Zu den positiven zählten sie auch eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Russland und den USA. Außerdem, dass dann mit dem Wiederaufbau der „neuen Gebiete“ begonnen wird, dass das Leben insgesamt positiver und die Menschen ruhiger werden, dass es finanziell leichter werden könnte, eventuell sogar durch Steuererleichterungen durch den Staat. 

    Die Negativprognosen indes lauten: Das Land wird ärmer werden; das Land wird geächtet; der technische Rückstand wird sich drastisch bemerkbar machen; jeder wird in den Staatsapparat streben, um sein Stück vom Kuchen abzukriegen; die Kriminalität wird zunehmen. 

    Dabei lässt sich nicht beziffern, wie viele der Befragten positiv und wie viele negativ gestimmt sind, weil ein und dieselbe Person zuweilen beide Meinungen äußert. So versuchten die Menschen, die Situation objektiv zu bewerten, meint der Forscher. 

    Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk: 

    „Vielleicht werden die Menschen ruhiger, die nicht wollen, dass ihre Angehörigen bei der ‚Spezialoperation‘ landen oder dass die überhaupt stattfindet. Aber sonst, nein, ich denke nicht, dass sich groß was ändert. Vielleicht wird es sogar schwieriger … Schwieriger, weil eine große Masse von Menschen Gewalterfahrungen gemacht hat. Weil man, wenn man jemanden getötet hat, wahrscheinlich nicht mehr so leben und denken kann wie vorher. Wenn da plötzlich so viele solche Menschen sind, ist das nicht gut. Es wird nicht leichter. Irgendwann wird sich natürlich wieder alles zum Besseren wenden, aber das braucht Zeit.“ 

    „WAHRSCHEINLICH KOMMT DAS MILITÄR AN DIE MACHT“ 

    Frage: Welche Schwierigkeiten sehen Sie für eine Zukunft nach der „Spezialoperation“? Was muss der Staat nach deren Ende sicherstellen? 

    Bei diesen Fragen kommen die Teilnehmenden häufig auf die Kriegsrückkehrer zu sprechen, sowohl im positiven als auch im negativen Sinn. 

    Rentnerin, 65, Kaukasus:  

    „Wahrscheinlich wird das Militär an die Macht kommen. Die kehren aus dem Krieg zurück und fangen an, die Korruption zu bekämpfen, aber richtig. Beseitigen alle Diebe, die jetzt die Staatskassen leerräumen. Weil sie als Helden zurückkommen und vor nichts mehr Angst haben … Ich glaube, wenn das Militär an die Macht kommt, werden sie den Präsidenten unterstützen, aber sie werden viel strenger sein. Weil sie jetzt an das Gesetz der Zeit gewöhnt sind – erschießen und fertig. Das wird dem ganzen Land guttun.“ 

    Andererseits werden mit den Veteranen der „Spezialoperation“ auch künftige Probleme verbunden. Etwa ein Drittel der Befragten sehe zwar keine Schwierigkeiten, vor denen sie Angst hätten. Doch der Rest fürchte vor allem einen Zuwachs der Kriminalität, eine mögliche Überlastung des Gesundheitswesens und der sozialen Dienste durch die Kriegsrückkehrer. Manche befürchteten auch, dass es zu einer Ungleichheit zwischen den Teilnehmern der „Spezialoperation“ und dem Rest der Bevölkerung kommen könnte und damit zu einem Wertekonflikt zwischen diesen Gruppen. 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Bald wird ein Kind, ein normales, gesundes Kind aus einer vollständigen Familie nicht mehr studieren können, wenn die Männer dieser Familie nicht im Krieg waren. Weil es Quoten geben wird, Vorrang für Kinder von Kriegsversehrten, ‚SWO‘-Teilnehmern, Gefallenen und so weiter. Es wird eine Spaltung geben, ein Kastensystem, Benachteiligungen. Wenn einer studieren will, kann er ja nichts dafür, dass keiner aus seiner Familie an der Front war. Aber wenn einer im Gefängnis war und als Soldat gedient hat – dessen Kind wird aufgenommen, auch wenn es schlechte Noten hat. Ist das etwa gerecht?“ 

    „Vor allem, wenn der im Krieg gefallen ist.“ 

    „Und noch etwas, wissen Sie, plötzlich haben Frauen von Häftlingen einen ganz anderen Status. Früher nannte man sie verächtlich Knastweiber. Heute zieht der Mann in den Krieg, wird getötet, die Frau kriegt eine Rente, extra Kindergeld, einen Haufen Geld. Und schon ist sie eine gute Partie.“ 

    Der Studienautor weist darauf hin, dass die Kriegsheimkehrer generell als neue soziale Schicht gelten. Und das, obwohl keiner der Befragten von persönlichen Erfahrungen im Umgang mit ihnen berichtete, weder positiv noch negativ. Die bestehenden Befürchtungen seien wahrscheinlich auf Nachrichten zurückzuführen, die die Leute in den Medien und sozialen Netzwerken sehen.  

    An den Antworten auf die Frage, was der Staat nach Kriegsende gewährleisten müsse, sehe man außerdem: In erster Linie sollten sich die Behörden sich um die Integration der Kriegsheimkehrer kümmern. Gefragt seien vor allem psychologische Unterstützung für Soldaten und ihre Familienmitglieder, ihre Integration in den Arbeitsmarkt und Rehabilitationsangebote.

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    „DIE MENSCHEN KÖNNEN DIE REALITÄT, IN DER SIE LEBEN, NICHT AKZEPTIEREN“ 

    Frage: Welche Perspektiven eröffnen sich nach Kriegsende für Sie und Ihre Angehörigen? 

    In der Befragung ging es an keiner Stelle darum, ob der Krieg mit einem Sieg oder einer Niederlage für Russland enden würde oder sollte. Dennoch zeichnete sich ab, dass diejenigen Befragten, die dieses Thema überhaupt in ihren Antworten aufgriffen, ausschließlich von einem Sieg Russlands sprachen. Sie gehen aber auch davon aus, dass ein Sieg Russlands den Hass anderer Länder hervorrufen könne.  

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Das war ganz richtig formuliert: Wir sagen ‚nach der SWO‘ und meinen damit, dass wir siegen und das alle akzeptieren. Dass die Sanktionen vorbei sind, zumindest die meisten. Und dass wir wieder reisen können, dazu müssen auch etliche Sanktionen weg, sonst kriegen wir kein Schengenvisum, zumindest nicht als normale Staatsbürger. Wenn es in diese Richtung geht, dann ist hoffentlich Aussicht auf Freiheit. Weiß’ nicht, ob es Instagram wieder geben wird, aber YouTube wäre schon gut. Ich will Freiheit.“  

    „Ideal wäre: Wir siegen, und alle freuen sich darüber. Ich weiß ja, dass sich keiner freuen wird. Weil die besiegte Partei sich nicht freuen kann, und das sind leider alle, mit denen wir so gern wieder Friede-Freude-Eierkuchen machen würden. Sie werden zwar aufhören, diese ganzen Sachen über uns zu schreiben, werden die Sanktionen aufheben und wieder unsere Ressourcen nutzen und Handelsbeziehungen aufnehmen, aber verzeihen werden sie uns nicht.“ 

    Obwohl es vor allem um Persönliches ging, kamen die Befragten in ihren Überlegungen immer wieder auf Perspektiven zu Russland und seiner Gesellschaft im Ganzen zu sprechen. Der Sozialpsychologe vermutet dahinter ein Streben nach Gemeinsamkeit. Und obwohl die Frage auf positive Entwicklungen abzielte, sprach rund ein Viertel der Befragten auch über negative Konsequenzen. Offenbar haben diese Menschen Schwierigkeiten damit, die Realität, in der sie leben, zu akzeptieren.

    „In der Psychologie gibt es den Begriff der Selbstidentifikation“, so der Wissenschaftler.  „Wenn ein Mensch sich nicht mit der Umgebung, mit der Situation um sich herum identifizieren kann, dann sieht er Dinge eher negativ. Das heißt, es geht ihm schlecht, weil er sich in diesem Kontext nicht wiederfindet. Das heißt nicht, dass solche Leute nichts tun oder nicht arbeiten, nein, sie leben ganz normal, haben Arbeit, haben Geld. Das sind keine gescheiterten Existenzen. Aber auf emotionaler Ebene haben sie es schwer.“  

    Unternehmerin, 60, Oblast Irkutsk:  

    „Positive Perspektiven sehe ich überhaupt keine. Na ja, vielleicht lassen die Sanktionen nach. Vielleicht können die Leute doch wieder ein bisschen in die Welt hinaus. Natürlich wünsche ich mir, dass die Grenzen wieder aufgehen, dass man wieder reisen kann, wieder in den Urlaub fahren … einfach in Ruhe leben. Das Leben ist sowieso kurz, und wenn man dann noch lauter Stress hat, bleibt gar nichts mehr davon übrig. Jeder Tag sollte einem Freude machen. Ich weiß ja nicht, meiner Meinung nach ist nichts Gutes in Sicht.“ 

    BACK TO USSR  

    Frage: Was wird es in der Gesellschaft nach Kriegsende Neues geben, was es vorher nicht gab? 

    Etwa ein Drittel der Befragten glaubt, dass es in der Gesellschaft nichts Neues geben wird, rund 20 Prozent befürchten negative Veränderungen. Rund die Hälfte kann sich aber auch positive gesellschaftliche Veränderungen vorstellen. Genannt werden beispielsweise eine neue „patriotische“, „heroische“ Erinnerungskultur, neue Werte abseits von materiellen Zielen und „Raffgier”.  

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Was Neues – das klingt, als ob es was Gutes sein müsste. Na ja, wahrscheinlich ziehen sie irgendwann die Schrauben an. Sagen darf man nichts, Versammlungen und Demonstrationen verboten. Irgendwas werden sie sich bestimmt einfallen lassen und uns allen Zügel anlegen, damit wir nicht Reißaus nehmen, sobald die Grenzen aufgehen.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Ich hoffe, dass die Männer, die von dort [von der Front – dek] zurückkommen, neue Werte mitbringen. Auch was Gutes, nicht nur Negatives. Was hat die heutige Gesellschaft denn für Werte? Immer nur das scheiß Geld. Überall Geld, Geld, Geld. Schön wär’s, wenn es auch andere Werte gäbe, ich weiß nicht … Vielleicht eine Art Gleichheit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit. Wahrheit, endlich mal.“ 

    Rentnerin, 65, Kaukasus:  

    „Was Neues … Ich glaube, in der Kindererziehung wird das Gewissen eine größere Rolle spielen. Unsere Kinder werden mehr auf ihr Gewissen hören. Wir kämpfen ja gegen den Faschismus, nicht? Es wird keine Hakenkreuze mehr geben, auch nicht mehr diese schrecklichen Filme, die müssen einfach aus unserem Leben verschwinden, dann wird alles anders.“ 

    Ausschnitt aus Fokusgruppengesprächen: 

    „Ein Aufschwung des Patriotismus, mehr Zusammenhalt. Weil wir ja wirklich in der Sowjetunion ein Riesenland hatten, wir waren echt tüchtig, die Ersten im Weltall, aber nach dem Zerfall kam erstmal sehr lange nichts. Jetzt kann das, wie es aussieht, wiederkommen, an den Schulen wird schon Patriotismus unterrichtet.“ 

    Bei ihren Überlegungen zu Werten sprechen Teilnehmer verschiedenen Alters über die Sowjetunion wie über ein Land, in dem sie gelebt haben. Sie idealisierten die Sowjetzeit mit ihrer „richtigen Ideologie“ und ihrem „richtigen Umgang mit Menschen“: „Bemerkenswert ist, dass auch Jugendliche so reden“, sagt der Forscher. „Allerdings halte ich das für einen Informationseffekt. Also, das sind Sachen, die viele sagen und die auf Social Media verbreitet werden. Und so hört und liest das alles auch die Jugend und nimmt es auf wie ein Märchen, an das zu glauben schön und beruhigend ist.“ 

    „POTENZIAL FÜR DIE ARBEIT AN DER GESELLSCHAFT“ 

    Frage: Wie müssen sich die Menschen nach dem Krieg verändern? In welche Richtung müssen die Regierung, die Wirtschaft gehen? 

    Auch auf diese Frage hin sprachen die Teilnehmenden von „Wertewandel“, darüber, dass die Menschen kollektive Verbesserungen anstreben müssten und nicht nur persönlichen Reichtum. Sie sollten warmherziger und mitfühlender sein. Laut dem Autor der Studie sei diese Sehnsucht nach Miteinander in der russischen Gesellschaft bereits vor rund zehn Jahren aufgekommen: „Das war natürlich noch ein schwaches Stimmchen, wenn man so will, aber es war schon vor der ‚SWO‘ da. Es kann eben sein, dass die ‚SWO‘ diesem Kollektivdenken, der Zusammengehörigkeit mehr Schwung verliehen hat.“ 

    Unternehmerin, 61, Sankt Petersburg:  

    „Die Menschen müssen zu 100 Prozent freundlicher werden. Humaner, auch zu den besiegten Feinden. Ich finde diesen Tanz auf den Knochen widerlich, dieses ‚Ätsch-bätsch, sie haben verloren!‘, verstehst du? Man kann ja trotzdem nett sein.“ 

    Außerdem sind in den Antworten auf diese Frage zum ersten Mal auch jene Russen erwähnt worden, die das Land verlassen haben.  

    NGO-Mitarbeiter, 36, Oblast Irkutsk:  

    „Ich finde, es gibt in der Gesellschaft widersprüchliche Signale. Einerseits hält ein Teil der Bevölkerung angesichts des gemeinsamen Problems umso besser zusammen. Da steckt Potenzial für die Arbeit an der Gesellschaft. Andererseits sehen wir eine Tendenz zur Spaltung, da manche das Land verlassen haben. Superbrutale, drakonische Maßnahmen vonseiten des Staates gab es nicht gegen sie. Ich glaube, wir müssen als Gesellschaft einfach einsehen, dass die Menschen eine Wahl haben, für die sie dann auch die Verantwortung tragen.“   

    Um einiges vielfältiger waren die Antworten auf den zweiten Teil der Frage – wie sich die Regierung ändern müsse. Zwei der Befragten sagten, sie könne bleiben wie sie ist, zwei andere bezweifelten das. 

    Hausfrau, 47, Krym:  

    „Oj, ich weiß gar nicht, wie sich die Regierung ändern sollte und ob überhaupt. Ich hab in meinem Leben so viele Machtwechsel erlebt, dass ich heute finde – besser bleibt alles beim Alten.“ 

    Unternehmer, 40, Oblast Irkutsk:  

    „Die Regierung muss sich grundlegend ändern, weil sie es war, die diese ‚SWO‘ zugelassen hat. Auf Kosten von Menschenleben wird der Krieg zu Ende gehen, und die Überlebenden müssen Entschädigung fordern. Damit so was nicht wieder passiert.“ 

    Alle anderen Befragten nannten außerdem Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen: Ausbau von psychosozialen Diensten und Landwirtschaft, Aneignung von Territorien, Bekämpfung der Korruption, Milderung von Verboten und Beschränkungen, Verringerung von Kreditzinsen und so weiter.  

    Wie stellen sich Russ:innen ihr Leben nach einem möglichen Kriegsende vor? / Bild © KI/Ljudi Baikala 

    „EINE INNERE KAMPFBEREITSCHAFT HABEN DIE LEUTE DEFINITIV NICHT“ 

    Ziel der Befragung war es auch, Ressourcen und Motivation der Teilnehmenden zur Beteiligung am Wiederaufbau eines Lebens nach Kriegsende zu ermitteln. In Summe ergeben aber die erhaltenen Antworten, dass vor allem staatliche Ressourcen gefordert würden. „Damit sind nicht nur materielle Ressourcen gemeint, sondern auch organisatorische Ressourcen und Informationsstrukturen, auch moralische und emotionale Unterstützung“, sagt der Sozialpsychologe und Leiter der Befragungen. Die Teilnehmenden erwähnen oft psychologische Hilfe, die zur Stabilisierung der Gesellschaft, zur Versöhnung verschiedener Bevölkerungsgruppen und für die Arbeit mit Kriegsrückkehrern und ihren Angehörigen notwendig sei.   

    Rund 70 Prozent der Befragten rechnen mit positiven Veränderungen nach Kriegsende: „Sie sagten nicht direkt: ‚Wir haben diesen Krieg satt, wann ist er endlich vorbei‘, aber es war klar, dass alle schon auf den Frieden warten. Eine innere Kampfbereitschaft haben die Leute definitiv nicht.“  

    Oft erwähnten die Befragten gewünschten Werte wie Zusammenhalt, Kollektivdenken, Patriotismus. Die vorherrschende Stimmung sei allerdings ängstliche Besorgnis, weil keiner so recht wisse, wie das Leben nach dem Krieg wirklich aussehen könnte.  

    Weitere Themen

    Der Anfang der Geschichte

    „Putins Siegeskult erinnert an Kriegskult in Nazi-Deutschland“

    Krieg im Kindergarten

    Die unzivile Gesellschaft und ihre Rolle im Krieg

    Wie Russland den Krieg verdrängt

    Frachtgut Zinksarg: Unterwegs mit einem Leichenkurier

    „Normale gibt‘s hier nicht – Normale ziehen nicht in den Krieg“

    Der Patriarch und das kosmische Böse

    „Millionen Russen leben derzeit ihr bestes Leben“

  • „Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

    „Alles hier ist durchdrungen von Leichengeruch“

    Wie viele russische Soldaten sind seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gefallen? Woher stammen sie? Und führt die große Zahl der Toten zu einem Umdenken in der russischen Gesellschaft gegenüber der offiziellen Darstellung einer „militärischen Spezialoperation“?  

    Was die Gefallenen angeht, so gibt es kaum offizielle Zahlen. Das russische Verteidigungsministerium hält sich weitgehend bedeckt. Nur zwei Mal wurden Angaben gemacht: Am 2. und am 25. März wurden 498 beziehungsweise 1351 Tote vermeldet. Es sind spärliche Zahlen, an denen schon mit Blick auf die Propaganda Zweifel mehr als berechtigt sind. Experten wie Sönke Neitzel gehen von einer vielfach höheren Zahl aus. Der Militärhistoriker hält beispielsweise US-Angaben von bis zu 15.000 für plausibel.

    Die Redaktionen von Mediazona und BBC versuchen sich mit Recherchen über Soziale Netzwerke ein genaueres Bild zu machen, haben bis Ende Juli mehr als 5100 Tote aus den Reihen des russischen Militärs identifizieren können.

    Dafür sind auch Berichte in Regionalmedien wichtig. Sie sind es, die vor Ort recherchieren, zu Beerdigungen gehen, bei Verwandten nachfragen und sich dabei von lokalen Behörden nicht einschüchtern lassen. Ein solches Medium ist Ljudi Baikala aus Irkutsk. Das Online-Magazin, seit April im russischen Internet blockiert, berichtet über den Krieg und die Beerdigungen in Russland – auch, nachdem Dutzende russische Journalisten wegen des neuen Zensurgesetzes ins Exil gegangen sind. Was ihnen hilft: Es gebe deutlich mehr Spenden, wie Chefredakteurin Olga Mutowina der The New Times sagte. Um ihr Magazin  trotz Websperre weiter lesen zu können, hätten viele russische Leser VPN installiert. 

    Oftmals haben Angehörige der Toten erst von den Journalisten erfahren, dass ihre Söhne in der Ukraine eingesetzt wurden oder in Gefangenschaft geraten sind – und aus Angst dennoch jede Kommunikation mit den Medien verweigert, wie Ljudi Baikala-Redakteurin Jelena Trifonowa in einem Interview erzählt.

    Für die folgende Reportage ist Trifonowa zu einer Trauerfeier in einer Turnhalle von Ulan-Ude gegangen, in den Sportkomplex Lukodrom, dort hat sie auch zur Frage recherchiert, „die in jeder Küche der Republik diskutiert wird“: Warum fallen in der Ukraine so viele Männer aus Burjatien? 
    Denn die verfügbaren Daten zeigen: Die meisten Soldaten kamen bisher aus den ärmsten Regionen Russlands, allen voran aus dem nordkaukasischen Dagestan und aus der Teilrepublik Burjatien (im Südosten Sibiriens). Armut und Perspektivlosigkeit führt sie oft zu einem Vertrag mit der Armee, die in diesen Regionen häufig der einzig stabile Arbeitgeber ist. Aus den beiden – sehr viel wohlhabenderen – Metropolen Moskau und Sankt Petersburg gab es dagegen bisher die wenigsten Toten. 

    Trifonowas Reportage zeigt, wie Trauerfeiern für tote Soldaten in Russland ablaufen, wie offizielle Amtsträger im Angesicht der Gräuel, des Massakers von Butscha und all der zerbombten ukrainischen Städte wie Mariupol und Charkiw in jenem Lukodrom verkünden: „Sie sind nicht umsonst gestorben.“ Und dass viele Menschen selbst dann keine Zweifel bekommen, wenn sie, wie in Ulan-Ude, am Sarg mit dem eigenen Sohn oder Enkel stehen. 

    Das Lukodrom wurde vor einem Jahr fertig gebaut. Mit seinem gelben Dach und der Fassade aus weiß-blauen Platten sieht man es inmitten der windschiefen Holzbaracken mit Plumpsklos schon von Weitem. Es ist in Burjatien das wichtigste Zentrum für Bogenschießen – ein Nationalsport, der sehr beliebt ist. Hier trainiert der Nachwuchs, hier finden Wettkämpfe statt, zu denen Sportler aus der Umgebung und anderen Städten anreisen.

    Seit Anfang März werden in der großen Halle des Lukodrom Trauerfeiern für die in der Ukraine gefallenen Soldaten abgehalten. Die Kindermannschaften haben in dieser Zeit nicht aufgehört zu trainieren. Sie tun das gleich nebenan, im angrenzenden Gebäudeteil. Von der Tür zu den Trainingsräumen ist die Tür, aus der die Särge herausgetragen werden, nur wenige Meter entfernt.   

    „Die Eltern sind nicht erfreut darüber, dass die Sportanlage als Trauerhalle umgenutzt wird“, sagt Tatjana, deren Sohn hier Bogenschießen lernt. „Kürzlich hat es dort, wo die Kinder trainieren, auch begonnen, nach Tod zu riechen. Alles hier war von Leichengeruch durchdrungen.“

    Das Lukodrom steht direkt an einer Straße, die Verkehrspolizei hat die Zufahrt zum Gebäude abgesperrt. Am Eingang stehen noch keine Polizisten, aber zwei Tage später werden auch hier welche positioniert sein. Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die für die Organisation der Zeremonie zuständig sind, begrüßen die Trauergäste. Sie fragen: „Von wem möchten Sie sich verabschieden?“

    Die regionalen Medien haben berichtet, dass am Montag, den 28. März, im Lukodrom eine Trauerfeier für einen Soldaten anberaumt ist – für Naidal Zyrenow. Doch zur angesetzten Zeit stehen vier Särge in der Sporthalle. 
    An den Särgen sind weder Schilder noch Fotos. Wer in welchem Sarg liegt, erklären die Mitarbeiter der Stadtverwaltung. 

    Im ersten liegt der 24-jährige Naidal Zyrenow, KWN-Mannschaftskapitän seiner Schule und Schüler des Jahres 2016. Er war Sanitäter. Naidals Hände sind auf der Brust seiner grauen Uniformjacke übereinander gelegt. Eine Hand ist bandagiert. 
    Im zweiten liegt der 35-jährige Bulat Odojew, der in der fünften Panzerbrigade gedient hat und eine schwangere Frau und eine Tochter hinterlässt. „Alle fragten ihn: Wozu? Aber er sagte immer: Soll ich denn meine Kameraden im Stich lassen?“, erzählt Olga, die Frau seines Cousins. 
    Im dritten liegt Shargal Daschijew, 38. Er hinterlässt ebenfalls eine schwangere Frau und zwei Töchter. 
    Im vierten liegt der 20-jährige Wladislaw Kokorin, der im Kinderheim aufwuchs und dann in eine Pflegefamilie kam. 

    An jedem Sarg stehen Verwandte. Nur bei Wladislaw fast niemand. 

    Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft

    Die Särge stehen in jenem Teil der Halle, wo sonst Kinder mit Pfeil und Bogen um die Wette schießen. Jetzt sitzen Trauergäste auf den Zuschauerbänken. Ein Teil von ihnen muss stehen, es gibt zu wenig Sitzplätze. Die große Halle der Sportanlage ist brechend voll, mindestens 600 Menschen sind gekommen.
    An den Kopfenden der Särge stehen Soldaten stramm. Die Rücken gerade, die an Riemen hängenden Maschinengewehre an die Brust gedrückt. Mit ihren jungen Gesichtern wirken sie wie Oberschüler bei der Ehrenwache am Ewigen Feuer. Manche der Soldaten weinen. Die Tränen dürfen sie nicht abwischen, so laufen sie die Wangen herunter. 

    Zwischen den Särgen und den Menschen, die sich verabschieden wollen, steht ein Tisch. An dem sitzen vier buddhistische Lamas in ihrer bordeauxroten Tracht, Chubsahan genannt. Drei der Gefallenen waren Buddhisten, sie werden nach buddhistischem Ritual bestattet. Auch ein orthodoxer Priester ist anwesend, doch hält er für Wladislaw Kokorin keine Begräbnisfeier ab, sondern steht etwas abseits mit Beamten. 

    Vor den Lamas steht ein mit rot-gelben Fransen verziertes Gefäß mit einer Pfauenfeder auf dem Tisch, und auf einem Stück roten Stoffs liegt ein offenes Buch. Daraus lesen die Lamas tibetische Trauergesänge. Und eine Sula steht auf dem Tisch, ein buddhistisches Lämpchen mit einer Flamme. Auf einem Kupfertellerchen glimmt Räucherwerk. 
    Das penetrante Aroma des Rauchs mischt sich mit dem ekelerregenden Leichengeruch. Die Toten müssen über weite Strecken transportiert werden, manchmal vergeht zwischen Tod und Beerdigung ein ganzer Monat oder sogar zwei. Man kriegt in der Halle kaum noch Luft. 
    Die Nacken der Lamas schaukeln im Takt ihrer Gesänge. Durch die kurzen Stoppel ihrer schwarzen und grauen Haare schimmern unzählige Narben auf ihrer Kopfhaut. 

    Ohne ihre Gebete zu unterbrechen, stehen die Lamas auf und beginnen, rund um die Särge herumzugehen – das buddhistische Trauerritual geht dem Ende zu. Alle die möchten, treten noch einmal an die Verstorbenen heran und verabschieden sich. Auch sie umrunden den Sarg, berühren dabei eine Sekunde lang die Schuhe des Toten oder die Sargwand.
    Weinen ist nicht zu hören. Buddhisten dürfen bei Bestattungen nicht weinen und sollen überhaupt nicht allzu sehr um ihre Verstorbenen trauern. Nach dem Tod muss die Seele ihren Weg über den Himmel nehmen und nach 49 Tagen in einem neuen Körper zur Welt kommen. Tränen versperren dem Toten den Weg und lassen ihn nicht ziehen.

    Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände

    Am nächsten Tag werden Amgalan Tudupow und Eduard Shidjajew verabschiedet. Am übernächsten wieder zwei: der 23-jährige Bator Dondokow und Anton Chatchejew. „Die Eltern eines Gefallenen haben uns angesprochen und gesagt: ‚Was ihr für ein Glück habt! Eurer ist in einem Stück hier angekommen. Wir haben nur den Kopf und beide Hände‘“, erzählt eine Verwandte von Bator Dondokow.
    Zusammen mit einem weiteren Soldaten, der in seinem Heimatdorf bestattet wird, sind es im Laufe einer Woche zehn Bestattungen. 

    Nach der Zeremonie beginnt einer Trauerkundgebung.
    „Sie sind nicht umsonst gestorben“, sagt der Vizepräsident der Republik, Bair Zyrenow, zuerst auf Russisch, dann auf Burjatisch. „Sie sind für Russlands Größe gestorben. Für das Ende des Blutvergießens in der Ukraine.“
    „Sie sind gefallen, als sie die freie Zukunft unseres Landes verteidigten“, sagt der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow.
    „Niemand hat Russland jemals besiegt. Und niemand wird es je besiegen!“, sagt Zyren Dorshijew, Vizesprecher des Burjatischen Volkschurals
    „Die Fallschirmspringer haben ihren letzten Sprung in den Himmel getan. Der Schmerz ist groß. In ewiger Erinnerung“, sagt der Statthalter des Kommandanten der 11. Luftsturmbrigade, Unterleutnant Witali Laskow. Denselben Satz mit dem letzten Sprung hatte er einen Monat zuvor bei der ersten Versammlung gesagt.   

    Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen. Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen

    In der Halle steht ein Dutzend Polizisten. Sie achten darauf, dass niemand fotografiert oder Videoaufnahmen macht. 

    Etwa 15 Minuten nach Beginn der Zeremonie tritt ein Polizist an die Journalisten heran.
    „Wer sind Sie?“
    „Presse.“
    „Hier ist Fotografieren und Filmen verboten. Sie müssen sich eine Genehmigung des Organisators besorgen.“
    Die Organisation der Trauerfeiern obliegt Larissa Stepanowa, der stellvertretenden Vorsteherin des Sowjetski-Bezirks von Ulan-Ude, zuständig für Soziales. Sie bespricht gerade lebhaft etwas mit dem Bürgermeister.
    „Nein, hier ist Filmen verboten. Nein, kein Kommentar“, sagt sie zu unserer Frage, wie oft hier Bestattungen stattfänden. Vollkommen unerwartet schluchzt Frau Stepanowa auf, ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Wissen Sie, wie viele dieser Trauerfeiern ich schon organisiert habe … Und mein Sohn ist auch dort … in der Ukraine.“  

    Der Bürgermeister von Ulan-Ude, Igor Schutenkow, und der Vizesprecher des Volkschurals, Zyren Dorshijew, lehnen einen Kommentar ab.
    Die Angehörigen aller vier Gefallenen lehnen es ab, mit den Journalisten zu sprechen.

    Die Polizisten bitten uns, die Sporthalle zu verlassen. Auf der Straße steht ihr Dienstwagen, dort nehmen sie unsere personenbezogenen Daten auf.

    „Wenn Sie noch mal filmen, nehmen wir Sie mit auf die Wache.“
    Aus der windschiefen Holzbaracke neben dem Lukodrom torkelt ein Mann in einer schmutzigen Jacke heraus, er riecht nach Schnaps.
    „Wissen Sie zufällig, wie oft im Lukodrom Bestattungen stattfinden?“, frage ich ihn.
    „Hey, mich braucht ihr nicht zu filmen!“ Er winkt mit den Armen, als wollte er mich verscheuchen. „Spione wie euch erkenn ich von Weitem. War selbst beim Geheimdienst.“  

    ‚Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber‘, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht 

    Am 26. April umfasst die Liste, die Ljudi Baikala führt, 102 gefallene Soldaten aus Burjatien. Sie alle haben in der Republik gedient oder sind dort geboren. Ihren Tod haben entweder Verwandte oder regionale Behörden gemeldet, oder es waren Journalisten von Ljudi Baikala bei ihrer Bestattung anwesend. 
    Die Republik steht bei der Anzahl der Verluste an zweiter Stelle. Mehr gefallene Soldaten verzeichnet nur Dagestan. Mediazona (in der Russischen Föderation als ausländischer Agent gesperrt) zufolge waren es zu dem Zeitpunkt, als es in Dagestan 125 waren, in Burjatien 85. Bewohner Moskaus oder Sankt Petersburgs, wo fast zwölf Prozent der Bevölkerung Russlands leben, scheinen in der Statistik der Gefallenen fast keine auf. [Die Zahlen sind aus dem Erscheinungszeitraum des Textes bei Ljudi Bajkala vom April 2022; aktuelle Zahlen, soweit bekannt, stehen in der Heranführung zu diesem Text – dek]
           
    Seit März werden die Namen der Gefallenen in Burjatien nur in Bezirkszeitungen oder Sozialen Netzwerken veröffentlicht. 
    Auf der Website der Regionalverwaltung findet man keine Informationen zur Zahl der Verluste. Der Militärkommissar der Oblast Irkutsk, Jewgeni Fushenko, sagte, er wolle die Zahl der Verluste nicht angeben, sie sei nicht wirklich „nennenswert“. Der Militärkommissar der Region Krasnojarsk, Andrej Lyssenko, antwortete, es sei „unanständig und ungehörig, nach der Statistik zu fragen“. Niemandem seien in Burjatien öffentlich Fragen zum Ausmaß der Verluste gestellt worden. 
    „Wir bekommen zu hören: Schreibt doch einfach nicht darüber“, erzählt eine Journalistin einer Zeitung, die unter Kontrolle der Regierung von Burjatien steht. Sie möchte nicht namentlich genannt werden. „Selbst wenn wir darüber schreiben, führt das nur zu Tränen und Skandalen.“

    Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen 

    Eine andere Journalistin hat versucht, die Verwandten eines gefallenen Soldaten zu kontaktieren. Diese haben beim Militär um Erlaubnis zu dem Gespräch angefragt. Am selben Abend teilte ihr der Chefredakteur ihrer Zeitung mit, er habe einen behördlichen Anruf erhalten mit der Anweisung, nicht mit Angehörigen zu sprechen. „Bei diesem Thema herrscht ein ungeschriebenes Verbot“, fügt unsere Gesprächspartnerin hinzu.

    Shambo Chozajew, Arzt in einer Klinik für traditionelle östliche Medizin in Ulan-Ude, beerdigt am 28. März seinen Neffen Sorigto Chozajew. Er erklärt uns: Das Militär hat alle gewarnt – keine Fotos bei der Beerdigung, niemandem irgendetwas erzählen und keine Anrufe von unbekannten Nummern annehmen. „Ukrainische Hacker stehlen Informationen und machen daraus Fakes, das haben uns die vom Militär gesagt.“   
    Wie die „ukrainischen Hacker“ die „Daten“ verwenden sollen, weiß Chozajew nicht genau. Vor ein paar Tagen hat seine Frau auf Viber eine Nachricht von einer unbekannten Nummer mit einer Beileidsbekundung zum Tod ihres Neffen erhalten. Shambo und seiner Frau gefiel das nicht. Oft gehen bei Verwandten Beschimpfungen von ukrainischen Nummern ein. So etwas schreiben ukrainische User auch unter fast jeden Post in Sozialen Netzwerken, in dem es um den Tod russischer Soldaten geht.

    Als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen

    Am 19. April hat das Verteidigungsministerium auf den Weg gebracht, den Zugang zu Daten der Verwandten von gefallenen Soldaten zu beschränken. In einem Video über die Rückkehr von Truppen aus der Ukraine sind die Gesichter sowohl der Soldaten als auch ihrer Verwandten verpixelt.   

    Naidal Zyrenow, Bulat Odojew, Wladislaw Kokorin und Shargal Daschijew werden aus dem Lukodrom hinaus auf den Südfriedhof gefahren, an den Stadtrand von Ulan-Ude. Der Trauerzug ist einen Kilometer lang. In dem Augenblick, als Soldaten die Särge aus den schwarzen Kleinbussen mit der Aufschrift „Bestattungsdienst“ ziehen und auf ihre Schultern heben, beginnt ein Blasorchester zu spielen.   

    Gefallene Soldaten werden entweder hier auf dem Südfriedhof beerdigt oder in ihren Heimatstädten beziehungsweise -dörfern. Das entscheiden ihre Verwandten. Am Rand des Südfriedhofs hat das Verteidigungsministerium seinen eigenen Bereich. Seit Ende Februar sind 27 Gräber dazugekommen. Noch einmal 15 sind ausgehoben, und die Totengräber arbeiten an weiteren. 
    „Wir sollen bis morgen zwei Reihen fertigstellen, es wird wieder ein Flugzeug mit Gefallenen erwartet“, erklärt Dimitri, der hier Gräber aushebt. Es fehlen noch sechs Gräber, bis die beiden Reihen voll sind. „Man kann nicht sagen, dass viel mehr als sonst beerdigt werden“, fügt Dimitri hinzu. „So zwei oder drei Soldaten pro Tag. Während der Pandemie waren es 15 am Tag. Da hatten wir wirklich zu tun.“

    Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. ‚Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.‘ 

    Die Frage, warum so viele Burjaten umkommen, wird in jeder Küche der Region diskutiert. Manchmal dringt der Unmut nach außen.
    „Was glauben Sie, warum so viele Soldaten aus Burjatien fallen?“, sagt Jekaterina, die Schwester des gefallenen Michail Garmajew. „Es gibt überhaupt keine Arbeit, daher werden die Jungs Vertragssoldaten.“ Dasselbe sagen andere Angehörige. Michail Garmajew interessierte sich als Jugendlicher fürs Theater und zeichnete. Nach dem Wehrdienst fing er zusammen mit seinem Bruder bei einer Firma an, die Alarmanlagen installierte. Er verdiente 10.000 bis 20.000 Rubel. Nach etwa zwei Jahren kündigte er und wurde Vertragssoldat. 
    Der Bruder, Alexander, arbeitet immer noch bei dieser Firma. Jetzt bezieht er „ein normales Gehalt, 30.000 bis 35.000&ldquo. Er arbeitet in Schichten und ist fast nie zu Hause. 

    Amgalan Tudupow hat an der Burjatischen Staatlichen Universität Sport studiert. Er unterrichtete Sport an einer Schule. „Alles hat er mit den Kindern gemacht, Skifahren, Basketball. Er hatte seine Arbeit gern“, sagt seine Mutter Zyrema Tudupowa. Aber sein Gehalt lag bei 7000 Rubel. Damals wurde sein erstes Kind geboren, Amgalan brauchte Geld. „Ein Jahr hielt er noch durch, dann ging er zur Armee.“ Dort bekam er sofort 40.000 bis 50.000 Rubel. „Er war so froh und so glücklich“, erinnert sich Zyrema. „,Mama, sie nehmen mich!‘ Früher haben sie nicht alle genommen, jetzt schon.“

    Der Dienst gefiel Amgalan, obwohl er sagte, dass „die Arbeit schwer“ sei. Er kam immer spät nach Hause. Ganz früh am Morgen, gegen drei oder vier, stand er auf und fuhr wieder los. „Ich sagte zu ihm: ‚Vielleicht lässt du es doch lieber?‘“, erzählt Zyrema. „Aber er meinte: ‚Und wie soll ich dann die Kinder durchfüttern?‘“
    Die Soldaten, die in die Ukraine mussten, sagen anonym, dass sie mindestens 250.000 Rubel im Monat bekommen.

    2020 stand Burjatien bezüglich Lebensqualität von den 85 Föderationssubjekten auf dem 81. Platz. Die angrenzende Oblast Irkutsk landete auf Platz 55. Laut offizieller Statistik der Republik hatten 20 Prozent der Einwohner im Jahr 2020 ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums. 2013 waren das 17,5 Prozent gewesen. 2019 schnitt Ulan-Ude bei einem Vergleich der Lebensqualität in 78 Städten mit über 250.000 Einwohnern am schlechtesten ab. 

    Öffentlich zugänglichen Informationen zufolge verfügt die Republik über 15 Militäreinheiten. Die Zahl der Vertragssoldaten ist nicht bekannt. 2015 wurde von einer Verdoppelung berichtet. Damals war geplant, die Zahl im östlichen Militärbezirk um 26.000 Soldaten aufzustocken. 2020 schlossen weitere 1300 Soldaten einen Vertrag ab, 2021 noch einmal 600.     

    Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht‘

    Am 28. März, dem Tag, an dem auf dem Südfriedhof die vier jungen Männer begraben werden, findet im Dorf Alla die Trauerfeier für den 22-jährigen Sorigto Chozajew statt. Seine Familie ist 2014 nach Ulan-Ude gezogen, hat jedoch beschlossen, Sorigto in seinem Heimatdorf zu bestatten. „Dort sind schöne Berge, sauberes Wasser. Dort ist die Nabelschnur, über die er mit der Erde verbunden ist“, sagt der Onkel des Verstorbenen, Shambo Chozajew.

    Sorigto war das älteste von drei Kindern. Er hat in einer technischen Berufsschule programmieren gelernt, ging zur Armee und wurde Vertragssoldat. Bei der 11. Sturmbrigade saß er an den Geschützen und hat in Syrien gekämpft. Er hinterlässt seine Eltern, seinen Bruder und seine kleine Schwester, die in die zweite Klasse geht.  
    Am 25. Februar ist er gefallen, begraben wurde er am 28. März. „Wir wurden als erste zur Identifizierung geholt“, sagt Shambo Chozajew. „Fünf aus der Stadt und zehn vom Dorf lagen im Leichenschauhaus. Unserer war am stärksten verbrannt. Man musste ein genetisches Gutachten machen, darum wurde er so lange nicht bestattet.“ 
    Als auf dem Friedhof den Verwandten das Wort gegeben wurde, hat Shambo sich beim Militär bedankt: „Ich sagte: ‚Neffe, die lassen dich nicht hängen. Du bist gefallen, aber sie haben dich gefunden und hierher gebracht. Zwölf Stunden Flug bis Ulan-Ude. 450 Kilometer bis Alla, eine ganze Nacht im Bus. ‚Wir lassen die Unseren nicht im Stich‘ – das sind keine leeren Worte‘“, so erzählt uns Shambo von seiner Abschiedsrede.   

    Shambo sagt, es seien jetzt viele aus Alla in der Ukraine, aus manchen Familien sogar zwei Söhne auf einmal. Bei der Trauerfeier für Sorigto haben viele geweint – sie mussten an die eigenen Söhne denken. 

    „Wenn man sagt‚ gegen den ‚[von Roskomnadsor verbotenes Wort]‘, dann ist das schlecht, das ist eine Verneinung“, fügt Shambo hinzu. „Man muss sagen ‚für den Frieden‘. Wir sind alle für den Frieden. Ich rechtfertige keinen [von Roskomnadsor verbotenes Wort], aber es ist dieselbe Situation wie 1941, derselbe Faschismus. Ich habe nicht alle Informationen, aber das weiß ich.“    

    Weitere Themen

    Zensierte Medien – Journalisten in Gefahr

    Fototagebuch aus Kyjiw

    „Man hat das Gefühl, das Leben eines Menschen ist nichts wert“

    „Das ist ein Krieg, in dem die Bevölkerung nur verlieren kann“

    Entfesselte Gewalt als Norm

    „Du leckst mir gleich mit der Zunge das Klo aus“