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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Jeder Verwaltungsbeamte ist ein kleiner Lukaschenko“

    „Jeder Verwaltungsbeamte ist ein kleiner Lukaschenko“

    Die Tschinowniki, die Beamten, sind eine feste Stütze des Systems von Alexander Lukaschenko. Sie sorgen in den Regionen und ihren Amtsbereichen auf zahlreichen Ebenen dafür, dass Entscheidungen im Sinne der Machthaber umgesetzt werden. Zudem agieren sie als politische Kontrolle und mitunter als Verhinderer von Problemlösungen.

    Rudabelskaja Pakasucha (dt. Rudabelka-Show) auf YouTube hat über 45.000 Abonnenten. Der Kanal geht auf den historischen Namen (Rudabelka) für die kleine Gemeinde Oktjabrski zurück, die in der Oblast Gomel liegt. Von dort stammen Olga Pauk und ihr Ex-Ehemann Andrej. Sie haben den Kanal 2011 gegründet, weil sie nicht hinnehmen wollten, dass so Einiges in ihrer Gemeinde falsch lief. Also begannen sie, zuständige Beamte in ihrer Sendung mit den Problemen zu konfrontieren, um Öffentlichkeit zu schaffen. Angespornt durch kleine Erfolge und Zuspruch weiteten sie ihr Engagement auf das ganze Land aus. Im Zuge der Repressionen, die infolge der Proteste 2020 begannen, mussten sie ihre Heimat verlassen und flohen nach Litauen. Im Mai 2023 wurde der Kanal von den belarussischen Behörden als „extremistische Vereinigung“ eingestuft.

    Dennoch betreiben sie den Kanal weiter und rufen jede Woche bei den lokalen Behörden an, um zu verstehen, warum sie so handeln, wie sie es eben tun, bzw. nicht handeln. Die Redaktion des Online-Magazins KYKY hat Olga Pauk getroffen und sich mit ihr über ihr Engagement unterhalten. Entstanden ist ein Gespräch, das seltene Einblicke in den berüchtigten, aber sehr verschlossenen Verwaltungsapparat Lukaschenkos ermöglicht.

    Die belarussische Beamtenschaft dekodieren – Olga Pauk bei der Arbeit / Foto © Screenshot/YouTube
    Die belarussische Beamtenschaft dekodieren – Olga Pauk bei der Arbeit / Foto © Screenshot/YouTube

    Irina Michno: Wie wählt ihr die Personen aus, die ihr anruft?

    Olga Pauk: Ich rufe nur Verwaltungsbeamte an – mit Sicherheitsleuten wie den Silowiki oder auch mit Denunzianten kann ich nicht sprechen, dafür sind mein Unverständnis und mein Groll zu groß. Ich habe dafür keine emotionalen Koordinaten, denn wenn ich mit jemandem spreche, der den Krieg und Lukaschenko unterstützt, zerreißt mich das innerlich. Die Verwaltungsbeamten wurden für mich in den letzten drei Jahren  zu einem Monolith: Ich mache keinen Unterschied, was sie jeweils für Menschen sind und auf welcher Stufe der Hierarchie sie stehen.

    Um im Lukaschenko-System zu bestehen, muss man anständig und Arschloch sein – oder dumm genug und ohne moralischen Kompass. 20 Jahre negative Auswahl bleiben nicht ohne Folgen. 

    Stell dir jemanden vor, der Gewalt und Manipulation ablehnt – er würde in jedem beliebigen Gebietsverwaltungsamt verrückt werden, er würde selbst kündigen oder gefeuert werden. Ich bin davon überzeugt, dass nur diejenigen geblieben sind, die das System vollumfänglich unterstützen. 

    Für jeden unserer Anrufe gibt es einen Anlass, zum Beispiel eine Meldung aus den Nachrichten. Ich bin immer auf der Suche nach Geschichten aus den Regionen (und an dieser Stelle möchte ich dem Telegram-Kanal Belarus hinterm Minsker Autobahnring danken, der die Ereignisse hervorragend filtert). Außerdem lese ich ab und zu die Propagandapresse. Und die Menschen aus Belarus schicken uns immer wieder Anfragen, ob wir etwas über Zustände in ihrem Dorf oder ihrer Stadt herausfinden können. Wo ich anrufe, hängt also davon ab, aus welchem Rajon ich Anfragen erhalte. 

    Ich rufe an, um den Sinn bestimmter Ereignisse zu hinterfragen, auch wenn ich weiß, dass ich im Grunde keine Antworten bekommen werde. Es sei denn, die Fragen betreffen Schlaglöcher oder allgemeine Infrastruktur. Alle unsere Beamten sitzen eigentlich in der Wohnungsverwaltung (lacht). Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft – das ist alles schon Ideologie, dazu kann man nur rhetorische Fragen stellen. Jetzt werden die Kinder zum Beispiel in patriotische Ferienlager gesteckt, in die Silowiki in voller Montur kommen, inklusive Waffen. Ich rufe also in der Kreisverwaltung an und frage: „Was wollen Sie den Kindern damit sagen? Worauf bereiten Sie sie vor?“


    Die, die für den Regen beten: Olga Pauk von Rudabelskaja Pakasucha nimmt lokale Verwaltungsbeamte in die Zange

    Ich musste bei einem der Videos sehr lachen, in dem du mit einem Beamten sprichst, der für Regen gebetet hat. War das für dich auch der Hammer? Du hast ja sicher auch nicht mit einer sinnvollen Antwort gerechnet. 

    (lacht) Manchmal schreiben mir Leute in den Kommentaren: „Du musst dich besser vorbereiten!“ Aber wie soll man sich auf sowas vorbereiten? Es gab noch einen anderen interessanten Anruf: In Slonim wurde eine „taktische orthodoxe Vorbereitung der Panzersoldaten“ durchgeführt. Die Popen brachten den Panzerfahrern irgendwelche Strategien bei – das ist so hirnlos, dass man darin kaum irgendeine Logik oder einen Sinn finden kann. Und wenn man dann anruft und Fragen stellt, geraten sie ins Stocken. Es sei „von oben“ aufgetragen worden und sie hätten es gemacht, alles wie immer. Aber wenn du dann fragst, „Warum?“, dann wissen sie keine Antwort. Aber mir geht es bei diesen Anrufen nicht um Spaß. Mich interessiert wirklich, wer diese Menschen sind, die da über uns bestimmen.

    Man kann darüber lachen, aber man muss sich auch im Klaren darüber sein, dass dieser Beamte, der für Regen betet, über das Schicksal eines ganzen Rajons entscheidet. Über seinen Tisch gehen debile Entscheidungen, die Menschen verschiedenen Alters und in verschiedenen Einrichtungen dann umsetzen müssen. 

    Jeder etwas gescheitere Beamte ist eine Bedrohung für seinen Vorgesetzten 

    Es gibt Beamte, besonders in den weiter von Minsk entfernten Regionen, die ihre Arbeit machen und nicht darüber nachdenken, ob irgendetwas daran vielleicht nicht stimmt – das merkt man deutlich an ihren Antworten. Andere wiederum sind Parasiten, sie wissen, was sie tun und richten bewusst Schaden an. Mir ist es wichtig, diese Typen zu unterscheiden, denn ich werde mich mit aller Kraft für eine Lustration in Belarus einsetzen. Die heutigen „Jabatki“, diese Pro-Lukaschenko Leute, leben großartig mit dem Regime, kaufen ihren Kindern Wohnungen, schicken sie zum Studium ins Ausland – so, wie es die Machtelite im Sowok, den Zeiten der Sowjets, getan hat. Und es gibt unsereins in den Regionen, die wir uns nicht einmal die notwendige medizinische Behandlung, hochwertige Kleidung oder Essen für unsere Kinder leisten können. Von Bildung jenseits der nächsten Großstadt ganz zu schweigen, dafür ist einfach kein Geld da. Deshalb denke ich nicht, dass Lukaschenko der allerschlimmste Menschenfresser im Land ist, und all diese Vorsitzenden der Gebietsverwaltungen nur ganz kleine – in meinem Kopf sind sie alle gleich. Jeder Verwaltungsbeamte ist in seinem Amt ein kleiner Lukaschenko. 

    Das ist ja auch eine spezifische Art Mensch, noch dazu sorgsam ausgewählt. Ich habe sie oft gefragt: „Wie wird man in Belarus Staatsbeamter?“ Ich weiß nicht, warum das so ist, aber sie beantworten diese Frage nicht. Es gibt keine Wahlen, alle Rajonchefs werden ernannt. Und die Ratsmitglieder werden so gewählt, wie die Präsidenten – dort sitzen immer diejenigen, die dort sitzen sollen. Und zwar 20 Jahre lang dieselbe Person, dann wechselt eine Abgeordnete in die Kreisverwaltung und ihre Tochter übernimmt das Ratsmandat. Sie werden wirklich ausgewählt. Und es ist kein Geheimnis, dass es nach dem Prinzip geht, dass unter dir niemand klüger sein darf, als du selbst. Jeder etwas gescheitere Beamte ist eine Bedrohung für seinen Vorgesetzten. 

    Warum reden die Beamten immer noch mit dir?

    Das ist unterschiedlich. Manche Stellen erreicht man telefonisch überhaupt nicht – vielleicht haben sie eine Mitteilung aus dem Ministerium erhalten, die Gespräche mit uns zu unterbinden. In der Gebietsverwaltung von Gomel ist das zum Beispiel so. Andere erhalten scheinbar sogar Prämien, wenn es ihnen gelingt, uns schlagfertig zu antworten. Im Wirtschaftsministerium gibt es so eine, Tatjana Wiktorowna Branzewitsch, sie begrüßt mich wie eine alte Bekannte. Sie erzählt mir das Blaue vom Himmel, aber es klingt doch immer wie ein vorbereiteter Text. Sie redet wie ein Wasserfall, du kannst sie kaum unterbrechen, und dabei beantwortet sie immer die Fragen. 

    Weißt du, ich habe eigentlich keine hohe Meinung von deren geistigen Fähigkeiten. Es gibt so ein Sprichwort: „Dummheit versteckst du nicht – dafür reicht der Verstand nicht“. 2021 gab es eine interessante Situation, als wir im Verteidigungsministerium angerufen haben, damals habe ich begriffen, dass die größten Feiglinge in Belarus die Leute mit den Schulterklappen sind. Im Ministerium für Katastrophenschutz, im Innenministerium und im Verteidigungsministerium geht jetzt kaum noch jemand ran, doch gleich nach den Ereignissen von 2020 haben sie sich dort gegenseitig den Hörer aus der Hand gerissen, um uns irgendwas zu beweisen. Es war ihnen wichtig zu reden, sie glauben wirklich, im Recht zu sein. 

    Es gab auch Fälle, in denen die Beamten dachten, sie hätten schon aufgelegt, obwohl dem nicht so war. Dadurch haben wir zum ersten Mal gehört, dass es für sie eine große Ehre ist, wenn die Pauk angerufen hat. Nach ihm habe ich angerufen, in der Gebietsverwaltung von Mogiljow, und mich als gewöhnliche Bürgerin ausgegeben. Und als die Beamtin dachte, dass ich sie schon nicht mehr höre, sagte sie: „Wir melden sie dem KGB“, und nannte sogar den Namen eines KGB-Beamten. Dieser Anruf gab uns zu verstehen, wie das System heute arbeitet: Mich, Olga Pauk, wollten sie nicht an den KGB melden, dafür aber die gewöhnliche Belarussin, die über die Hotline eine Beamtin anruft. 

    Die Belarussen brauchen uns, weil uns allen nicht nur bei den Wahlen die Stimme geraubt wurde – den Belarussen wurde auch die physische Stimme genommen. Du kannst nicht den Mund aufmachen und eine Frage stellen, denn wenn du es wagst, melden sie dich dem KGB. Wir bekommen regelmäßig Feedback von den Menschen im Land, sie schreiben oft: „Gott sei Dank drückt ihr sie mit ihrer Schnauze in die Kacke – wir können es nicht, aber wir sehen, dass ihr es tut.“ 

    In deinen Videos sprichst du das „g“ frikativ als „ch“ und hast so eine Art Dienststellenakzent – wenn ich jetzt mit dir spreche, höre ich nichts davon. Sprichst du absichtlich so mit ihnen? Ist das hilfreich?

    Diese reibenden Frikative sind meine natürliche Aussprache. Ich bin im Dorf aufgewachsen und bin in eine belarussischsprachige Schule gegangen. Deshalb ist das „ch“ nicht verschwunden (lacht). Ich weiß noch, als ich in Mosyr studierte, wurde ich wegen meiner Aussprache immer gefragt: „Woher kommst du eigentlich?“

    Ich habe auch Hänseleien erlebt. Als ich klein war, bin ich zur Kinderkur gefahren, aber nicht mit der Klasse, sondern allein. Ich stand nicht auf der Liste der „Tschernobylkinder“, deshalb haben meine Eltern selbst für die Aufenthalte bezahlt. Ich kam also dorthin, und alles war auf Russisch – die Kinder und der Matheunterricht. Ich ging ja in eine belarussische Schule, deshalb war das für mich eine neue Welt. Die anderen Kinder lachten mich aus, und ich verstand nicht, warum – dann stellte sich heraus, dass es an meiner Sprache lag. Die belarussische Sprache ist auch eine Charakterprobe.

    Mit dir spreche ich Russisch – „rasgowariwaju“, aber wenn ich mit meinen Verwandten oder alten Freunden rede, dann auf Belarussisch – „chawaru“. Das ist okay für mich. 

    Und wenn du auch mit mir Trassjanka sprechen würdest – wäre das dann ein Gefühl, wie als Kind im Sanatorium?

    Wenn du willst, dann kann ich das! (Sie spricht die Buchstaben frikativ und die Vokale hart und lacht) Wahrscheinlich geht es mir darum, dass die Leute sich wohlfühlen. Ich will, dass sie den Inhalt hören, und nicht darauf achten, wie ich ihn formuliere. Wenn ich in irgendeinem weit entfernten belarussischen Rajon anrufe, dann weiß ich, dass diese Sprache dort einfach besser passt, weil sie die Leute nicht aus ihrer gewohnten Bahn wirft. Es gab Fälle, da habe ich in irgendeinem Dorf angerufen und „normal“ gesprochen und wurde sofort gefragt: „Als was arbeiten Sie? Das ist etwas verdächtig, solche Leute rufen uns normalerweise nicht an“. Deshalb passe ich mich an die Umgebung an.

    Vielleicht liege ich falsch, aber du wirst seltener abgewimmelt als Andrej – woran liegt das? Ich habe wieder eine Gender-Theorie, dass ein Beamter es sich nicht erlauben kann, eine Frau und Mutter zu beschimpfen. 

    Ich denke, ich bin listiger. Andrej ist eher direkt, außerdem ist er von Anfang an gehässig und sarkastisch. Ich will sie ja aber an die Angel kriegen – fies werden kann ich dann später. Bezüglich der Frauen stimme ich dir zu – in Gesprächen mit Beamten hört man häufig diesen überheblichen, süffisanten Ton. Sie halten sich ja a priori für klüger, und das kommt mir nur gelegen. Da sitzt er in seinem Büro, den Schlips über dem Bauch, und hält sich für einen erfolgreichen, tollen Typen: „Oh, da ruft ein Weib an, da halt ich mal ein kleines Schwätzchen.“

    Ich glaube, dank diesem Prinzip hat es Tichanowskaja auch auf die Wahlzettel geschafft (lacht). Mit wem sind die Gespräche am konfliktreichsten – mit den Silowiki? 

    Psychophysiologen geben die Antwort vor, das Niveau der allgemeinen Entwicklung eines Menschen hat starken Einfluss auf das Aggressionsniveau. Und wen nimmt das Innenministerium? Tendenziell Jungs aus der Provinz, die entweder zur Berufsausbildung an ein Polytechnikum gehen oder nach der Armee ein halbes Jahr zum Innenministerium. Natürlich wählen viele die zweite Option, wo es eine Wohnung und andere Boni gibt. Irgendwo habe ich mal gelesen, und das hat mir sehr zu schaffen gemacht, dass die Silowiki von heute Dorfjungs sind, die die Stadtjungs fertigmachen können und dabei aufrichtige Genugtuung empfinden. Ich dachte immer, wenn man etwas mehr lernen kann, als einen Stock zu schwingen, dann wird man das wahrscheinlich tun. 

    Es ist ungerecht, dass für einen Teil der Gesellschaft Diktatur herrscht und für den anderen Teil scheinbar nichts passiert ist

    Aber ich kann nicht sagen, ob die Silowiki oder jemand anders am konfliktträchtigsten sind. Vieles hängt von der Persönlichkeit ab. Man kann das nicht konkreten Bereichen zuordnen. Aus meiner Sicht unterscheidet sich das Maß an Menschlichkeit eher geografisch. Die schlimmsten Gebiete sind Gomel, Mogiljow und Witebsk, die immer unter russischem Einfluss standen. Das furchtbarste Gespräch meines Lebens war mit der Amtsvorsteherin der Gomeler Gebietsverwaltung. Damals hatte gerade der Krieg begonnen, und ich dachte: „Oje, was werden sie mir jetzt sagen, wo doch ihr zentrales ideologisches Narrativ in die Binsen gegangen ist.“ Also fragte ich sie, was sie empfinden, und dachte, dass ich damit wenigstens etwas Menschliches in ihnen finden kann – doch ich fand es nicht. Danach rief ich in Bobrujsk an, die Leute schrieben mir damals die ganze Nacht lang, dass sie nicht verstehen, was vor sich geht, jemand hatte schon 54 russische Militärflugzeuge gezählt, die gelandet waren. „Sie, als lokale Regierung, welche Position haben Sie dazu? Was soll die lokale Bevölkerung in dieser Situation tun?“ – „Welche Flugzeuge? Wir haben nichts gesehen! Nennen Sie mir den Namen des Piloten.“ Die Antworten wurden immer absurder.

    Im Westteil von Belarus waren die Menschen schon immer offener. In den Gebieten Brest und Grodno haben alle eine Karta Polaka oder sind mit Litauern verbandelt, sie reisen öfter. Auch die Beamten sind dort freundlicher und bescheidener. Sie lassen sich praktisch nie zu Rüpeleien hinreißen, genau wie im wohlerzogensten der Ministerien, dem für Auswärtiges. Dort hat scheinbar sogar die Reinigungskraft Fremdsprachenkenntnisse (lacht). Wer immer auch den Hörer abnimmt, du wirst auf höchstem Niveau bedient. Sie legen auch niemals einfach den Hörer auf, weil sie immerhin gut erzogen sind. 

    Gibt es Videos, die du nicht veröffentlicht hast, weil du dachtest, dass der befragte Beamte aufgrund des Gesprächs Repressalien ausgesetzt werden könnte?

    Das kümmert mich nicht. Es gab einen Fall, da habe ich eine Beamtin angerufen, aus Chojniki oder Narowlja. Andrej sagte danach: „Sie war doch nett, und du stellst ihr solche Fragen. Vielleicht kriegt sie eins auf den Deckel“ – „Okay.“ Sie ist eine Beamtin, und dass sie dafür auf den Deckel kriegen könnte, macht mir nicht viel aus, weil ich nicht denke, dass man jemanden von ihnen in Schutz nehmen muss. Ich bin sehr wütend auf die Menschen, die es sich aktuell leisten können, ein gewöhnliches Leben in Belarus zu führen. Es ist ungerecht, dass für einen Teil der Gesellschaft Diktatur herrscht (inklusive Tod und jahrelangen Haftstrafen) und für den anderen Teil scheinbar nichts passiert ist. Beamter zu sein oder nicht – diese Wahl treffen sie jeden Tag. Und sie tragen die Verantwortung für ihre Entscheidung. 

    Wie viele dieser Verwaltungsbeamten gibt es eigentlich in Belarus? Ich mag vermutlich einfach nicht glauben, dass es in dieser riesigen Menge keine passablen Menschen gibt. 

    Es gibt insgesamt 118 Rajons, jeder hat sein Verwaltungsamt, und das ist ein ganzes Gebäude voller Beamter (2020 wurden in Belarus 37.000 Staatsbedienstete gezählt, Anm. KYKY). Ein Beispiel: Ich weiß genau, dass 2021 alle aus den Schulen und Universitäten entlassen wurden, die Anzeichen kritischen Denkens gezeigt haben, und ich erinnere mich an keinerlei Mitgefühl für diese Menschen seitens der Beamten. Wenn ein Leser oder eine Leserin dieses Textes andere Beispiele kennt, schreibt sie mir bitte. Ich habe keine andere Perspektive kennengelernt, und da spreche ich nicht nur über die Anrufe, ich hatte seit 2015 sehr viel mit Verwaltungsmitarbeitern zu tun. Ich war in ihren Amtszimmern, auch in Ministerien. 

    Jeder Mensch, der heute in einem Amtssessel sitzt, gestaltet unsere Wirklichkeit 

    Vielleicht gab es früher auch Gute unter ihnen. Unser Baranowski (der ehemalige Vorsitzende der Kreisverwaltung Oktjabrski) zeigte am Anfang auch Anzeichen von angemessenem Verhalten. Einmal bot er mir sogar einen Job im sozialen Bereich an. Aber dann beendete ich eine Ausbildung und fand heraus, wie man auf regionaler Ebene mit Europa zusammenarbeiten kann, und begann, mit Präsentationen zur Kreisverwaltung zu gehen: „Ich kann Sie unterstützen, wir führen Solaranlagen ein und sanieren die Kinderstation des Krankenhauses“, woraufhin sie mir mit großen Augen antworteten: „Wir haben alles, wir brauchen nichts“.

    Ich habe irgendwie den Eindruck, dass du Mitleid mit ihnen hast.

    Manchmal höre ich von Belarussen den Satz: „Das sind doch auch Menschen!“ Und jedes Mal steigt in mir eine Welle der Entrüstung auf. Was seht ihr da in ihnen? Ja, biologisch sind sie Menschen wie wir, aber moralisch? Man kann das auf einer Metaebene diskutieren, im Kontext der Demokratie – aber ich denke konkret an meine eigenen Kinder, die ihre Freunde und ihr gewohntes Umfeld verloren haben. Mein ältester Sohn hat bis heute psychische Probleme durch den Umzug. Ich selbst habe meine Mutter verloren, sie kann uns nicht besuchen kommen und ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal sehen werde. Ich habe Freunde verloren, einige wurden inhaftiert, weil sie mit mir zu tun hatten. Über was für Menschen reden wir hier also, und warum sollten sie mir leidtun? Selbst diese Schlapakowa (Vorsteherin in der Kreisverwaltung Oktjabrski) würde mich als Erste an der Birke aufhängen. 

    Ich glaube, dass sie keine Angst haben. Sie denken, da kommen diese Liberalen, die können uns nichts tun, sie werden uns vergeben, denn sie sind ja nicht blutrünstig. Solche Ansichten habe ich von Beamten gehört. Ich denke, dass jeder von ihnen vor Gericht kommen sollte, auch wenn das teuer, langwierig und schmerzhaft ist. 

    Ich mag ehrlich gesagt den Gedanken, dass wir nicht solche Menschenfresser sein werden, wie die Leute, die jetzt an der Macht sind. 

    Mir gefällt dieser Gedanke auch (lächelt). Wenn ich einmal sehr, sehr alt bin, kann ich darüber vielleicht ein Buch schreiben, in dem ich Verständnis und Vergebung für alle aufbringe, aber nicht heute. In diesem Moment kann ich die Situation nicht aus philosophischer Sicht betrachten. Ein faires Verfahren ist sicher nicht das, was wir heute von den Lukaschisten bekommen. Wir werden sicher nie so werden wie sie. 
    Meine Erfahrungen sind auch deshalb traumatisch, weil ich nicht in Minsk oder Retschiza oder irgendeiner anderen Stadt mit einem Minimum an Infrastruktur aufgewachsen bin. Bei uns in Oktjabrski gab es nicht einmal Rettungswagen. Ich weiß noch, wie eines Tages ein paar Onkel aus dem Ministerium in unseren Rajon kamen, und die Leute zusammengerufen wurden, um sie zu treffen. Da fragte eine Frau in entschuldigendem Tonfall: „Meine Tochter hat Asthma, wir müssen zwei Mal im Jahr nach Gomel zur Untersuchung fahren, aber wir schaffen es nur ein Mal – das Geld reicht nicht.“ Wenn ich also unglückliche Kinder sehe, deren Eltern trinken, weil es außer im Kolchos keine Arbeit gibt, oder abscheuliche Lehrer, die Kinder mit dem Kopf auf die Schulbank schlagen, weil es nicht mal einen Hauch von Bildung gibt … Man kann auf Menschen schimpfen, aber ich bestehe darauf, dass alles in der Politik begründet liegt. Ob du über Asphalt läufst oder in weißen Strumpfhosen durch Kuhfladen zur Schule gehst, weil es im Agrostädtchen keine Fußwege gibt, ob du 20 Minuten in einem richtigen Rettungswagen zur Geburtsklinik fährst oder zwei Stunden in einem alten sowjetischen Transporter, unter welchen Bedingungen deine Oma an Krebs stirbt – all das ist Politik. Jeder Mensch, der heute in einem Amtssessel sitzt, gestaltet unsere Wirklichkeit. Egal, ob er dumm ist, unselbständig oder unfähig, Gut und Böse zu unterscheiden. Jeder.

    Früher hast du gesagt, dass du „die Evolution des Beamten in einer konkreten Stadt“ beobachtet hast. Wie sah das damals aus, und wie ist es heute?

    Bis 2020 haben sich in unserem Rajon einige Beamte verändert, wenigstens in der Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit – und das war nur der Verdienst der Menschen selbst. Unser Baranowski war der einzige im Land, der die tatsächlichen Covid-Zahlen herausgab – weil ich eine Chatgruppe auf Viber erstellt hatte, die innerhalb eines Tages 4500 Menschen abonnierten. Ich bekam Informationen aus dem Gesundheitsdienst und von den Rettungsstellen, und er musste die Wahrheit sagen, weil die Wahrheit einfach schon in meinem Chat stand. 

    Ich habe Albträume von Belarus

    Im Rajon Oktjabrski hat es 2017–2018 zwei erfolgreiche Revolutionen gegeben. Im ersten Fall waren Funktionäre in den einzigen erfolgreichen Kolchos des Rajons gekommen und hatten verkündet: „Wir schicken euren Direktor in Pension, ihr bekommt einen neuen.“ Die Leute waren verärgert, denn sie sahen, wie es in den anderen Kolchosen lief, und wollten das nicht. Also riefen sie uns an: „Kommen Sie her, morgen früh werden wir unseren Wassiljewitsch verteidigen.“ Sie traten in einen Streik, hörten auf, die Tiere zu füttern, die Traktoristen kehrten von den Feldern zurück: „Wir werden erst wieder arbeiten, wenn ihr uns unseren Direktor zurückgebt.“ Die Führungsriege aus dem Rajon und aus dem Gebiet wurde ins Dorf geschickt, doch die Leute hielten stand. Wir informierten die Medien, und eine Funktionärin – sie war in einem weißen Mantel angereist – schrie ins Belsat-Mikrofon: „Filmt mich nicht! Ich bin in Rente!“ Und unsere Frauen antworteten ihr: „Du bist in Rente und arbeitest, aber unseren Chef willst du wegschicken?“ Die Leute streikten 16 Stunden lang, dann bekamen sie den Direktor zurück. Das war eine richtige Bauernrevolution. Später passierte dasselbe auch in einem anderen Dorf, aber dort waren keine 16 Stunden Streik nötig, die Arbeiter sagten einfach: „Ihr könnt uns gar nichts“, – und sie konnten ihnen nichts. 

    Die Verwaltungsbeamten entwickelten sich weiter, weil sich die Gesellschaft in unserem Rajon veränderte, sie erlaubte ihnen nicht mehr, sie so zu behandeln, wie bisher. Soweit ich weiß, wurde es zeitweise als Bestrafung betrachtet, in unserer Kreisverwaltung zu arbeiten: ließ sich ein Beamter etwas zuschulden kommen, dann musste er nach Oktjabrski, wo man ihm zeigte, wie der Hase läuft (lacht). 

    Bis 2020 hatte Reputation in Belarus noch eine gewisse Bedeutung, zwar recht schwach, aber doch funktional – die Beamten mussten ihr Gesicht wahren. Jetzt sind alle Fesseln gefallen, sie machen, was sie wollen. Aber wir wollen nicht, dass sie uns vergessen, dass sie denken, „die haben das Land verlassen, weiter geht’s“ – nein, so geht es nicht. Ich habe Albträume von Belarus, und wenn ich ehrlich bin, dann bin ich nervös, wenn ich dort anrufe. Am Samstagmorgen wache ich vor Sendungsbeginn mit dem Gedanken auf „Mist, es geht wieder los“, und ich muss mich fast übergeben. Aber die Beamten fühlen dasselbe, da bin ich sicher. Vielleicht komme ich ja auch in deren Albträumen vor (lacht). Und das hat nichts Edelmütiges: Wenn ich schon nichts gegen ihre Macht tun kann, ihnen aber zumindest die Stimmung versauen kann – dann tue ich das. Es ist eine Möglichkeit, an ihr Gewissen zu appellieren, auch wenn ich ein solches bislang noch nicht bei ihnen entdeckt habe. 

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    „Wer traurig ist, gehört zu mir“

    Zehntausende Belarussen hat Alexander Lukaschenko seit den Protesten 2020 mit brutalen Repressionen außer Landes getrieben. Viele gingen zunächst auch in die Ukraine, von wo sie vor dem russischen Angriffskrieg ein zweites Mal fliehen mussten. Die Eltern oder die Großeltern blieben zurück in der Heimat, Familien wurden entzweit, ohne Hoffnung, sich in naher Zukunft wiedersehen zu können. In der Fremde warten neue Herausforderungen: eine Arbeit finden, eine Wohnung, Plätze in Schulen für die Kinder, durchkommen, kämpfen. Und doch bleiben die Sorgen um die Zurückgebliebenen, um die Heimat. 

    Für die Rubrik Schmerz des belarussischen Online-Mediums KYKY hat die belarussische Autorin und Redakteurin der Plattform OstWestMonitoring Sabina Brilo aufgeschrieben, was viele Belarussen im erzwungenen Exil umtreibt. Auch sie musste Belarus verlassen und ist „seit fast zwei Jahren im Nirgendwo“, wie sie schreibt.

    Menschliche Anpassungsfähigkeit ist etwas, was mich verblüfft und bei mir fast schon so etwas wie Neid hervorruft. Sich einleben, heimisch werden, gedeihen … Ich kann das nicht.

    Fast zwei Jahre schon bin ich nicht zu Hause, und die ganze Zeit nirgendwo. Ich bin in Not, in riesiger menschlicher Not.

    Was meine ich mit der Unmöglichkeit, mich an ein Leben jenseits meines Zuhauses anzupassen? Für mich geht es weniger um Fragen der persönlichen, physischen Existenz (Wohnort, Essen, Gesundheit, Arbeit und Erholung), sondern vielmehr um eine emotionale Unstimmigkeit und mentale Dissonanzen. Die gehen einher mit einem Gefühl der Absurdität darüber, was mit uns (unseren Familien, den Völkern, der Menschheit) geschieht und sogar von uns zur Norm gemacht wird. Die vielen trostbringenden Aktionen, die Hilfe durch wohlhabende Menschen, die Industrie psychologischer Teilhabe, die Förderprogramme und Solidaritätsaktionen ermöglichen – das alles ist eher die Bestätigung eines abnormen Zustands, der jetzt die Norm ist, als dass es helfen würde, diesen Zustand zu begreifen und nach Wegen zu suchen, ihn tatsächlich und nicht nur imaginär zu überwinden.

    „Beschreibe, entwirf deine persönlichen Grenzen und gestalte deinen Raum“, sagen diplomierte Fachleute. Dieser Rat klingt (methodo)logisch, und er wird gern eingesetzt, um das Leben zu erleichtern. Ich selbst stelle mir diese Grenzen wie ein Schneckenhaus vor: Innen drin ist es wie zu Hause, draußen aber kannst du jederzeit unter einen groben Stiefel geraten.

    Der Staat, in dem ich lebte und der mich eigentlich schützen sollte, drohte mir mit einer echten Hölle

    Die Welt ist heute voller grober Stiefel, die vollkommen ungestraft (und das sogar gegen Geld!) Blumen, Sträucher und Schnecken zertrampeln, darunter solche, die wie ich ohne Haus sind. 

    Dabei hatte es ja ein Haus gegeben, aber das hat nicht geholfen. Seit über anderthalb Jahren schlafe ich in einem fremden Bett. Und zwar nicht, weil ich mein Land verlassen habe, um ein besseres Leben, ein leckeres Stück Kuchen oder einen Platz an der Sonne zu haben … Nein, ich bin ausgereist und habe alles zurückgelassen, was mir lieb und teuer war, um mich vor dem nahezu Schrecklichsten zu bewahren, was einem Menschen durch Seinesgleichen geschehen kann: einer ungerechten Gefängnishaft. 

    Der Staat, in dem ich lebte und der mich eigentlich schützen sollte, drohte mir mit einer echten Hölle, obwohl ich mir nichts hatte zu Schulden kommen lassen. Dieser Gedanke an ein Loch im Rechtssystem, ein Vakuum, das systematisch menschliche Leben aufsaugt, lässt mir auch im fremden Bett keine Ruhe. In einer Welt, in der ein gesetzestreuer Mensch nicht vor der Willkür der Machthabenden geschützt ist (sie können dich ins Gefängnis werfen, in den Krieg schicken, deine Menschenwürde im Fernsehen mit Füßen treten), kann ich nicht ruhig schlafen und nachdenken, wie ich damit umgehen soll.

    Schon lustig: Eine Schnecke ohne Haus überlegt, wie sie die Welt retten kann.

    Ich habe kaum gemerkt, wie schnell fern der Heimat anderthalb Jahre verflogen sind. Ich erinnere mich, wie ich kurz nach der Ankunft eine Bekannte aus Minsk traf. „Bist du schon lange hier?“, fragte ich. „Ja, schon ein Jahr.“ Damals kam mir das wie eine Ewigkeit vor. Innerhalb eines Jahres kann man sich einrichten, sich einleben, dachte ich damals. Und ich dachte auch, dass uns beide ein ganzes Jahr eines unterschiedlichen Lebens und vollkommen unterschiedlicher Erfahrungen trennt.

    Jetzt weiß ich, dass man auch über mich so denkt: „Du bist jetzt in Sicherheit, dich treiben jetzt ganz andere Probleme um.“ Aber nein. Meine Gedanken, meine Liebsten, meine Sorgen, all das ist immer noch mit dem verbunden, was zu Hause geblieben ist.

    Mein Gott! Der Täter verlangt vom Opfer, dass es um Entschuldigung bittet!

    Ich weiß sehr wohl, was hilft und was eine Vertriebene daran hindert, sich einzuleben. Welche Praktiken vonnöten sind und was man lieber unterlassen sollte, wenn man versucht, sein Leben zu einem vollwertigen zu machen.

    Zum Beispiel sollte man sich nicht jeden Abend, beim Versuch einzuschlafen sein Zuhause vorstellen. Wie man in die Küche geht, Geschirr spült, Staub vom Küchenschrank wischt. Und auch nicht an die alte Katze denken, die man bei Verwandten gelassen hat (meine Finger erinnern sich an jeden ihrer Knochen, an jeden Ballen ihrer Pfote).

    Stell dir lieber nicht vor, dass du jetzt die Augen öffnest und dann vor dir das Nachttischchen steht, mit den Büchern darauf und den Notizblöcken in der Schublade. Hüte dich, dir vorzustellen, wie du deine Verwandten umarmst. Und denke nicht an Großmutters Grab, wenn du Frühlingsblumen siehst.

    Aber was soll man dann tun? Viel in der Stadt herumlaufen, in der du gerade lebst, um all ihre Ecken zu entdecken. Sich leckeres Essen holen. Die Sprache lernen, Sport treiben. Sich mit Freunden treffen, Leute kennenlernen. Ins Theater oder ins Kino gehen. An die Zukunft denken … 

    Die Psychologen raten einem, das alles im Rahmen der persönlichen Grenzen zu tun. Doch an meinen Grenzen stehen irgendwelche Amateur-Grenzschützer. Mich will ein gewisser Kummer nicht verlassen, ein eigener und allgemeiner, ein anhaltender und zunehmender, weil eine Katastrophe droht.

    Mich wundert schon gar nichts mehr, aber wenn in Belarus ein Erlass ergeht, dass Geflüchtete zurückkehren können, wenn sie sich gegenüber dem Regime entschuldigen, dann stockt mir der Atem: Mein Gott! Der Täter verlangt vom Opfer, dass es um Entschuldigung bittet!

    Da gibt es folgende Geschichte: Ein Mann isst vor den Augen eines anderen ein Stück Kuchen auf und fragt ihn: „Warum hast du das Stück Kuchen aufgegessen?“ Der antwortet verwundert: „Ich war das doch gar nicht, du warst es. Du hast doch noch die Krümel auf den Lippen!“ Und der Kuchenesser wischt sich die Lippen ab, schaut seinen Kumpel in die Augen und sagt: „Was bist du nur für ein Halunke! Du hast Krümel auf den Lippen!!!“ Und da ist sie, die Linie, hinter der der gesunde Menschenverstand endet. Und was beginnt dort? Was entwickelt sich dort, wo es kein Instrument gibt, um sich zu wehren? Wo es kein Gesetz gibt? Wo es nicht einmal eine Sprache gibt, um Argumente zu formulieren, weil es niemanden gibt, für den man sie formulieren könnte – der Kuchenesser hat ja keine Ohren, um dich zu hören. Wir können das Absurde feststellen, aber nichts unternehmen. Sollen wir uns irgendwie einrichten, uns einleben?

    Hier wäre wohl am ehesten ratsam eine Strategie, mit der man „die persönlichen Grenzen ziehen“ kann. Sich dem Buddhismus zuwenden. Hygge praktizieren. Sich sagen, dass man in Sicherheit ist und dass mit der Zeit alles in Ordnung kommt.

    Ich bin aber nicht fähig zu einem solchen Selbstbetrug. Um bei Verstand zu bleiben, muss ich das, was mich umgibt, in all seinem Schrecken erfassen und in dieser Hölle einen kühlen Kopf bewahren. Mein Trauern ist ein Prozess, eine Anstrengung, eine Energieverschwendung. 

    Oh je, ich habe wohl keinerlei Instrumente, um die Situation anzufechten, in der sich Zehntausende (oder gar Hunderttausende?) meiner verurteilten, beraubten, erniedrigten und vertriebenen Landsleute befinden. Meine Empörung kann sich nirgendwo hin Luft machen, ich kann meine Wut nicht in Taten umsetzen. Es ist niemand da, bei dem ich mich beschweren könnte. Vielleicht ist das auch gut so. Ich habe nur mein Trauern, meinen persönlichen, ethischen Indikator. Solange er leuchtet, ist mit klar, dass die Welt verrückt ist, und ich noch nicht. 

    Zu Beginn von Putins Krieg in der Ukraine sagte mir eine Freundin, eine Regisseurin aus Moskau, unter Tränen am Telefon: „Ich gehe durch die Straßen und schaue mir die Leute an. Wer traurig ist, gehört zu mir.“ Auch ich erkenne meine Leute an diesem Merkmal.

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  • „Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben?“

    „Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben?“

    Auch bei den historischen Protesten im Jahr 2020 in Belarus waren immer wieder Regenbogenfahnen zu sehen. Den politischen Selbstermächtigungsprozess unterstützten Menschen unterschiedlichen Alters, aus den verschiedensten Berufen und den unterschiedlichsten sozialen Gruppen. So war auch die durchaus aktive LGBT-Szene des Landes dabei, die in den vergangenen 15 Jahren sich und ihren Anliegen als Teil der Zivilgesellschaft immer mehr Gehör verschafft hat. 

    Homosexualität wird in Belarus seit 1994 nicht mehr per Gesetz verfolgt und geahndet, stößt in weiten Teilen der konservativen Gesellschaft aber immer noch vielerorts auf Ablehnung. So kommt es nicht nur durch die Vertreter des Systems Alexander Lukaschenko immer wieder zu öffentlichen Beleidigungen, sondern auch zu Anfeindungen durch Aktivisten konservativer oppositioneller Gruppen. Der LGBT-Aktivist Andrej Sawalei nimmt dies zum Anlass, sich in einer Kolumne für das Online-Medium KYKY ordentlich Luft zu machen. Dabei fordert er, dass auch die neue demokratische Bewegung echte Toleranz gegenüber der LGBT-Community noch lernen müsse. 

    Vor langer Zeit, 2017, war ich mit meiner Freund:in Gleb Kowalskaja mal auf der Suche nach unwiderlegbaren Belegen, dass es in Belarus Homophobie gibt. Das war eine ganz schön mühselige Angelegenheit.

    Damals konnten sich nur wenige anständige öffentliche Figuren eine homophobe Rhetorik erlauben, etwa Pawel Sewerinez und Eduard Paltschys (sie sind heute politische Gefangene). Und auch unter den Vertreter:innen des Regimeapparats waren nicht allzu häufig Adepten einer offenen Homophobie anzutreffen: Beiden Seiten erschien es vor fünf Jahren nicht comme il faut. Für die groben Ausfälle von Schunewitsch im Stile eines homophoben Gandalf musste sich [der damalige Außenminister] Makei sogar entschuldigen. Von ihm stammt auch das meiner Meinung nach LGBT-freundlichste Zitat aller Politiker in der gesamten Geschichte des unabhängigen Belarus: „Das Thema der traditionellen Familie und der Minderheitenrechte ist sehr wichtig und nicht alles ist da eindeutig.“

    Aber wie heißt es so schön: Ich bin nicht homophob, aber …

    Damals kamen Gleb und ich bei einer Literpulle Tschernihiwske zu dem Schluss, dass der deutlichste Beleg für ein homophobes Belarus in einem Doppelmord auf der Grundlage von Hass bestehen würde, den wir begehen, indem wir uns gegenseitig Messer ins Herz stießen. Am helllichten Tag, auf dem Höhepunkt der Herbst-Verkaufsmesse für Kartoffeln und rote Beete in der Traktorenfabrik.

    Es schien, als wäre es nur so möglich, die wirkliche Dimension des Problems in unserem Land offenzulegen, wo die Existenz von Homophobie nicht nur von sowjetoiden Bürokratenärschen und regimetreuen Richter:innen geleugnet wird: Die weigern sich, das Motiv Homophobie bei offensichtlich durch Hass begründete Verbrechen zu erkennen. Das geschieht aber auch bei demokratisch gesinnten Personen des öffentlichen Lebens.

    Bemerkenswert ist, dass damals auch die Bitte laut wurde, den Begriff „homophob“ nicht auf sie anzuwenden – als sei das etwas Beleidigendes, oder etwas, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hätte. Dass das „Brandmal homophob“ unerwünscht war, spiegelte in gewissem Maße das Bedürfnis wider, das Einzigartige an der eigenen Position zu unterstreichen, die keineswegs zu Gewalt aufrufe und nicht konservativ oder veraltet sei. Die sogar im Gegenteil sehr fortschrittlich und weitsichtig sei. Man akzeptiere einfach nicht die „Propaganda“, dass „uns fremde Werte“ aufgenötigt werden oder überhaupt unsere Seelen vor der Sünde „bewahrt“ würden. Diesen ganzen Schwachsinn. Aber wie heißt es so schön: Ich bin nicht homophob, aber …

    Unterdessen aber scheinen Vertreter des Regimes wie auch Verfechter demokratischer Vorstellungen mitunter zu denken, dass sie durch homophobe Ausfälle aller Art nichts zu verlieren haben. Sei es die Erniedrigung von Schwulen, mit dem der Protest im Telegram-Kanal des kriminalitäts- und korruptionsbekämpfenden GUBOPIK diskreditiert wurde, oder aber die zauberhafte Werbesprache von Stepan Putilo („schwule Looser“), der damit gewissermaßen andeutete, dass es etwas angenehmer sei, schwule Angehörige der OMON zu hassen, als OMON-Mitglieder „normaler Orientierung“. Oder andere homophobe „Scherze“ von durchaus anständigen Leuten, die uns – statt uns LGBT-Menschen als gleich anzuerkennen – instrumentalisieren und dämonisieren, indem wir zu Feinden, widerlichen Monstern oder Sündenböcken gemacht werden.

    Solche homophoben Ausfälle mögen zwar sehr bequem sein, doch bringen sie der hellen Seite der Macht, den Jedis, nicht die erwartete Dividende, und können dies per definitionem auch nicht: Diese schmutzigen Tricks nützen schließlich allein den dunklen Siths und können den Jedi ihr Karma nur verderben.

    Das Bestreben, Schwule zu erniedrigen, kann die Lage regimetreuer Gestalten schon nicht mehr verschlechtern (die haben eh nichts zu verlieren). Die progressive prodemokratische Bewegung aber hat jedes Plus für ihr Karma bitter nötig. Und wenn man es dort unterlässt, öffentlich die Ehre und Würde von LGBT-Menschen als unverrückbare Größe anzuerkennen, wird man keine Punkte sammeln. Im Gegenteil: Sie werden von uns keine große Unterstützung bekommen. Und wenn man denn der Propaganda glaubt, dann könnte die widerliche Schwulenlobby in der Tat ganz humorlos den teuflischen Plänen der Fünften Kolonne Vorschub leisten.

    Echte Toleranz muss sich in der Praxis erweisen

    Wenn meine Freunde aus der Ukraine auf Insta Stories schreiben: „Ihr Schwuchteln, was macht ihr da!“, wobei sie sich an die russischen Besatzer wenden, die ihre Städte vernichten und unschuldige Menschen umbringen, muss ich mich sehr zurückhalten. Denn das folgt dem Motto: „jetzt ist nicht die Zeit dafür“, „erst besiegen wir den Feind, dann kümmern wir uns um die Homophobie“, „verwässere nicht die Agenda“ … Und das ist ein Fehler. Den gleichen Fehler habe ich 2020 gemacht, als ich meine LGBT-Agenda hintenanstellte, um unsere „gemeinsame belarussische“ Agenda nicht aufzuweichen (, ach die arme).

    Doch wenn unsere gemeinsame Agenda derart wackelig ist, dass sie durch ein Foto von einer Demonstration in Minsk verwässert wird, auf dem sich junge Frauen unter einer weiß-rot-weißen Flagge vor belarussischen Soldaten im Hintergrund küssen, dann stimmt vielleicht irgendwas mit dieser Agenda nicht?

    Putin schickt seine Truppen ins Nachbarland und verkündet von der Tribüne herab, dass sie angeblich die traditionellen Traditionen und hochwertvollsten Werte vor eben diesen Schwuchteln schützten, die gemeinerweise wollen, dass es ein Elternteil eins gibt und ein Elternteil zwei gibt. 

    Es kommt zu einer fundamentalen Auswechselung der Begriffe und dadurch zur Manipulation. Und dieses Durcheinander muss entwirrt werden, man muss klarmachen, wer „diese Schwuchteln“ sind. Wo ist der Unterschied zwischen dem Ruf „Für euch, ihr Schwuchteln!“ bei Bachmut, wenn eine Rakete auf die Besatzer abgeschossen wird, die gekommen sind, dein Haus zu zerstören, und dem Ruf „Da kommen die Schwuchteln“, bevor man einem Unbekannten, der am Sonntagmorgen aus einem Schwulenclub in Minsk kommt, ins Gesicht schlägt, und dem abfälligen „Arschficker kommen hier nicht rein“ aus dem Mund von Schunewitsch?

    Ihr werdet überrascht sein: Es gibt da offen gestanden keine Grenze! In jeder dieser Situationen werden LGBT-Menschen dämonisiert oder als etwas Negatives oder Widerliches markiert. In jeder dieser Situationen wird Gewalt legitimiert, weil es angeblich einen Grund gibt, sich „zu schützen“. Dabei muss man verstehen, dass „Schwuchteln“ vollkommen abstrakte, stereotype Gestalten sein können. Oder es sind einfach von Propaganda-Idioten erfundene Horrorgeschichten. Die Opfer dieser von Homophobie genährten Gewalt hingegen sind ganz real. Man hat uns weismachen wollen, dass ein Überfall auf Belarus vorbereitet wurde und „sie“ gezwungen waren, einen Präventivschlag zu führen. Genau so hat der Mörder von Michail Pischtschewski vor Gericht erklärt, dass er eine Bedrohung wahrgenommen habe und gezwungen gewesen sei, sich zu verteidigen. Dabei holte er weit zu einem „Präventivschlag“ gegen einen Kiefer aus, der dazu führte, dass Mischa 20 Prozent seines Gehirns entfernt werden mussten, dass er 16 Monate im Koma lag und dass er schließlich starb.

    Solange wir uns nicht bewusst machen, dass Homophobie tatsächlich das Böse, Krieg und Zerstörung in sich trägt, solange wir Versuche weißwaschen, die eigenen Werte mit Hass gegen Mitmenschen zu „verteidigen“, wird unsere Agenda marode und leicht zu verwässern sein.

    Uns wurde von der Kindheit an gesagt, die Belaruss:innen seien sehr tolerant. Aber seien wir ehrlich: Es ist sehr leicht, abstrakt „andere“ Menschen zu respektieren, ohne tatsächlich mit ihnen in Berührung zu kommen – wenn diese „anderen“ im öffentlichen Raum praktisch nicht vorhanden sind. Öffentlich erkennbare LGBT-Menschen lassen sich landesweit an einer Hand abzählen, und selbst in Minsk begegnet man nur selten Menschen mit einer anderen Hautfarbe als der weißen …

    Echte Toleranz, nämlich die Respekt vor unseren Unterschieden, muss sich in der Praxis erweisen, wenn einem im Freundeskreis nämlich nicht die Ohren dröhnen von Scherzen mit Anflügen von Antisemitismus, Islamophobie, Frauenhass oder Homophobie. Wenn Schwarze auf der Straße nicht von Passant:innen angegafft werden. Es bedeutet nicht, dass man plötzlich alle „anderen“ dieser Welt mögen muss. Man kann die Würde eines Menschen selbst dann respektieren, wenn man diese oder jene Werte anderer nicht teilt oder sie gar letztendlich nicht versteht. Man muss nur einem Menschen schlicht das Recht zubilligen, er oder sie selbst zu sein, auch wenn jemand einem vielleicht nicht gefällt. Und die Antwort auf die Frage, warum einem dieser konkrete Mensch nicht gefällt, wird einem sehr viel Interessantes offenbaren, nämlich über sich selbst.

    Wenn ich vor 2020 in den sozialen Netzwerken in den eher seltenen Beiträgen über LGBT homophobe Kommentare las, dachte ich für mich: „Nun, das sind wohl im Grunde Lukaschisten. Es kann ja nicht sein, dass Leute nach Demokratie streben und dann sowas schreiben.“ Nach 2020 wurden solche LGBT-Beiträge noch seltener, doch die Zahl der homophob Kommentierenden blieb gleich, und viele von ihnen schmücken sich mit dem Pahonja und mit weiß-rot-weiß.

    Und ich frage mich: Hat es in Belarus wirklich einen Wertewandel gegeben? Werden in einem neuen Belarus wirklich neue Institutionen ein neues Niveau an Respekt für die Bürger:innen des Landes zeigen? Oder gibt es bei der Rhetorik von „manchmal geht es nicht um Gesetze“ [Zitat von Lukaschenko gegenüber Strafverfolgern im Kontext der Proteste von 2020 – dek] und „zuerst Demokratie, dann alles andere“ doch einen gemeinsamen Nenner, nämlich den fehlenden Respekt für die Rechte von LGBT-Menschen?

    Der Diktator kann auf seine Bürger:innen pfeifen und sie zutiefst erniedrigen, weil seine Macht auf Angst und Terror beruht, und weil die Menschen nichts als Figuren auf einem Schachbrett sind. Innerhalb der Bewegung für ein freies Belarus aber muss jede und jeder respektiert werden, und zwar nicht irgendwann nach dem Sieg einer Revolution, sondern konkret, hier und jetzt.

    Wenn man sich unsere Unterstützung sichert, könnte ein Schritt hin zu einer solchen Solidarität getan werden, einer Solidarität, für die bei unseren Demonstrationen Flaggen sämtlicher Coleur von Bedeutung sind. Weil hinter jeder dieser Flaggen Menschen stehen, und weil die Flagge für uns konkret einen riesigen Wert darstellt. Und in unseren Reihen werden die Werte gegenseitig respektiert, oder?

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  • Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

    Die Angst vor dem Klopfen an der Tür

    Auch zwei Jahre nach Beginn der historischen Proteste in Belarus gehen die Machthaber um Alexander Lukaschenko nach wie vor mit Repressionen gegen die eigene Bevölkerung, gegen Aktivisten, Journalisten oder Organisationen vor. Kürzlich wurde die Journalistin Katerina Bachwalowa (Pseudonym: Andrejewa) zu acht Jahren Haft verurteilt. Sie hatte am 15. November 2020 die Demonstration am Platz des Wandels in Minsk für den TV-Sender Belsat live gestreamt. Außerdem wurden auch die fünf letzten verbliebenen unabhängigen Gewerkschaften per Gerichtsbeschluss verboten. Aktuell führt die Menschenrechtsorganisation Wjasna offiziell fast 1300 politische Gefangene auf ihren Listen.

    „Die Belarussen leben in einer Atmosphäre der Angst und Willkür“, sagt Anaïs Marin, UN-Sonderberichterstatterin zur Lage der Menschenrechte in Belarus. Über diese alltägliche Angst schreibt der Traurige Kolenka (russ. Grustny Kolenka). Dabei handelt es sich um eine Kunstfigur, die sich auf Twitter seit vielen Jahren zu belarussischen Belangen und Themen äußert, mittlerweile mehr als 350.000 Follower hat und seit kurzem eine regelmäßige Kolumne für das belarussische Online-Medium KYKY schreibt. Der Name Kolenka bezieht sich auf Kolja (Nikolaj) Lukaschenko, jüngster Sohn des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko. Seit seiner Kindheit begleitet der 2004 geborene Kolja seinen Vater bei Dienstreisen und zu Treffen mit anderen Staatsvertretern.

    Wir bringen die jüngste Ausgabe in deutscher Übersetzung. Darin träumt sich Kolenka unter anderem in den Palast der Unabhängigkeit, wo er auf seinen Vater trifft, batka, den Landesvater der Belarussen, wie sich Alexander Lukaschenko gerne auf volkstümliche Art und Weise bezeichnet.

    Ein Reigentanz, Socken, der Karton eines Fernsehapparats, eine Kanada-Flagge, ein Kack-Emoji — diese Liste ließe sich leider fast endlos fortsetzen, und nur ein Belarusse wird sagen können, was all diese Dinge gemeinsam haben. Für den Fall, dass Sie kein Belarusse sind oder ein sehr dummer, sage ich es Ihnen: Das sind lauter Dinge, für die ganz reale Haftstrafen verhängt wurden.
    In Belarus kann man für alles Mögliche ins Gefängnis kommen, für jede erdenkliche Handlung. Auch wenn man rein gar nichts gemacht hat, kommt so ein Kai aus der Kiste, der alles für einen erledigt: die „richtigen“ Telegram-Kanäle werden abonniert und eine Fahne hinausgehängt. Egal ob man Arzt ist oder Student, Professor, Sportler, Musiker, Blogger oder mehrfache Mutter. Niemand ist in Belarus derzeit vor Repressionen geschützt (nur schnauzbärtige Ex-Präsidenten sperren sie leider nicht ein … noch nicht). 
    In meiner letzten Kolumne habe ich geschrieben, dass es die größte Angst des Belarussen sei, ein Russe zu werden. Aber, wie ein Typ mit Bart [in Reaktion darauf auf Twitter dek] ganz richtig angemerkt hat: „Es gibt auch noch die Angst davor, durch ein penetrantes Klopfen an der Tür aufzuwachen.“

    Wisst ihr, ich gebe ihm absolut recht. Dieses Klopfen fürchten alle: die, die gegen meinen Papa sind, und die, die „dafür“ sind. Und vor allem die, die irgendwann mal dagegen waren, aber jetzt so tun, als wären sie „dafür“. Stellt euch vor, sogar ich habe Angst vor diesem Klopfen. Ich habe sogar immer wieder denselben Traum. 

    Ich träume, dass Papa mein Twitter liest und dann zu mir ins Zimmer kommt und sagt: „SO, KOLJA, GENUG GESCHWÄTZT.“ Sofort stürmt die GUBOPiK herein und haut mich mit einem Kinnhaken um – hasserfüllt, aber gezielt, sogar die mit ihren mickrigen Hirnen haben kapiert, wer ich bin. Sie reißen schlechte Witze und fluchen viel. Ihre reine Anwesenheit ist mir zuwider. Ehrlich gesagt, bin ich mir gar nicht sicher, ob das Menschen sind – oder doch Orks aus Herr der Ringe. Vielleicht waren sie mal Menschen, aber die Finsternis und der Kontakt zu Balaba hat sie zu Monstern gemacht. Dann fangen sie an, mein Zimmer zu zertrümmern … Und dann ist alles nur mehr Nebel … 
    Der Nebel lichtet sich, und ich sitze in einem Kabinett, hinter mir grüner Stoff. Wie sie wohl den Szenenhintergrund für mich gestalten? Eine Tür, so wie immer, oder reicht die Fantasie für etwas Kreativeres – Mordor oder Zion? Oder lassen sie die Sau raus und stellen Smeschariki an? 

    Wieder Nebel.
    Ich bin schon vor Gericht. Vor dem belarussischen Gericht — dem nach Meinung von niemandem gerechtesten der Welt. Zeuge Iwanow Iwan Iwanowitsch, in Sturmhaube, sagt mit verfremdeter Stimme per Skype, er habe selbst gesehen, wie ich die öffentliche Ordnung gestört, geflucht und gefuchtelt habe (also, alles, was auch Papa tut, wenn er von einem neuerlichen Sanktionspaket erfährt). Zum Beweis seiner Worte sagt er: „Darauf geb ich einen Zahn.“ Die Richterin mit meterdickem Filz [gemeint ist wohl eine Turmfrisur auf dem Kopf – dek] verhängt ein maximal gerechtes Urteil: lebenslängliche Haft, und fügt noch hinzu: „Sag danke, dass es nicht Erschießung ist.“ Ich sage „danke“, und wieder Nebel. 
    Ich bin in einem ein Mal ein Meter großen Glas. Werde irgendwo hingebracht. Wohin, weiß ich nicht, aber sicher nicht ins Dreamland. Vielleicht Schodino oder Baranowitschi, vielleicht auch Orscha … Wenn es in Belarus etwas zur Genüge gibt, dann Strafkolonien. Im Glas ist es eng und stickig. 

    Gut, dass ich keine Platzangst habe … Oder doch … Nebel.

    Der Nebel lichtet sich, ich werde in eine Zelle geführt. In einer Zelle für zwei sitzen siebzehn Personen. Es riecht nach Chlor und nach Ungerechtigkeit. Keine Matratzen, kein Warmwasser, dafür siebzehn unschuldige Menschen in einer Zweierzelle. Nur sind die Menschen in dieser Zelle interessanter und klüger als alle, die ich je im Palast getroffen habe. Hier sind Programmierer, Universitätsdozenten, Blogger, Unternehmer, Studenten und wieder IT-Fachleute. In dieser Zelle kriegt man allein durch die Gespräche mit diesen Leuten eine Hochschulbildung. Wir reden viel, lernen Englisch, erzählen einander von Filmen, spielen „Krokodil“ und freuen uns sehr, wenn jemand einen Brief bekommt. 
    Die Mithäftlinge haben Humor, wir lachen viel. Das macht die Orks jenseits des Gitters rasend. Sie wollen nicht, dass wir lachen. Sie wollen, dass wir leiden. Sie drehen ständig scheußliche Propagandalieder auf und lassen nachts das Licht brennen. Wenn es ihr Ziel ist, dass wir dieses Regime noch mehr hassen, dann sind sie auf dem besten Weg. Wieder Nebel. 
    Ich wache auf. Im Palast. Es war nur ein Traum. Nur, für zigtausende Belarussen war das alles andere als ein Traum. Und es ist auch die Realität, die Tausende Belarussen gerade jetzt erleben müssen. (Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes gibt es im Land über 1500 offiziell anerkannte politische Gefangene – Anm. KYKY)

    Jetzt haben es alle schwer – die, die in Belarus geblieben sind, genauso wie die, die ins Ausland gegangen sind, aber das ist kein Vergleich damit, wie schwer es ist, in diesem Regime ein Gefangener zu sein. Wenn ich nur wüsste, wie ich ihnen helfen, wie ich sie retten kann (Vatermord lässt sich nicht anbieten) … Das Einzige, was mir einfällt – ihre Familien unterstützen und Briefe schreiben. Wenigstens ein paar Zeilen, wenigstens eine Postkarte. Wir müssen alles tun, um sie spüren zu lassen, dass wir an sie denken.
    Jedes Mal, wenn ich nachts aus diesem Alptraum erwache, nehme ich ganz ruhig meinen Laptop, schalte VPN ein, gehe auf politzek.me oder pismo.bel oder vkletochku.org und schreibe einen Brief. Ich schreibe alles, was mir einfällt: über das Wetter, darüber, dass die belarussischen Fußballer überall verloren haben, dass die neue Staffel von The Boys genauso geil ist wie die vorige, dass wir nichts vergessen haben. Ich klicke auf Senden. Und schlafe wieder ein.

    Angst haben ist normal. Vor einem morgendlichen Klopfen an der Tür, vor dem blauen Bus oder davor, dass Papa endgültig überschnappt und dich in den Krieg schickt. Aber alle diese Ängste muss man durch Kommunikation und Solidarität überwinden. Ich glaube, das Wichtigste ist jetzt, nicht über Kleinigkeiten zu streiten: wer welche Sprache spricht, wer weg und wer geblieben ist. Es ist höchste Zeit, sich an 2020 zu erinnern. Und daran zu denken: Belarus ist dem Belarussen Belarus.

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  • „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    „Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen“

    „Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet.“ Das sagt der belarussische Rockmusiker Lavon Volski im ersten Teil des Gesprächs mit dem Online-Medium Kyky. In diesem spricht er über den langjährigen kreativen Widerstand, den er und andere Musiker und Bands gegen Machthaber Alexander Lukaschenko leisteten, über Auftrittsverbote und über die Wandlungen in der Politik der Machthaber gegenüber Kultur und Musik. 

    Im zweiten Teil des Interviews lässt Volski die 2000er Jahre Revue passieren, dann geht es hinein in die Gegenwart und in die Zeit der Ereignisse nach dem 9. August 2020, die das ganze Land,  und so auch die Kulturszene, in eine tiefe Krise gestürzt haben. 

    Marija Meljochina: Welches Fazit ziehen Sie aus den 2000er Jahren?

    Lavon Volski: Für mich war es eine sehr erfüllte Zeit. Einerseits gab es von 2004 bis 2008 durchgehend Verbote, vorher konnten wir aber noch Krambambula gründen und damit das Territorium der ironischen Popmusik entern. Das brachte uns noch größere Bekanntheit und erweiterte unser Publikum. Der Song Hoszi gefiel völlig unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, auch Funktionären. Außerdem begann in den 2000er Jahren die Zeit der Konzerte für Firmen, die es vorher bei uns nicht gegeben hatte. Danach, den Verboten sei Dank, reisten wir ins Ausland. Wir tourten durch ganz Polen, waren in Deutschland und Schweden, ich war einige Male zu Auftritten in den USA. Verbote erhöhen das Interesse.

    2010 kam es dann zu den Demonstrationen nach der Präsidentschaftswahl (ploschtscha) und deren Niederschlagung – danach versank das Land für zehn Jahre förmlich in einer Unzeit. Erzählen Sie uns von dieser Phase.

    Damals war klar, dass das Tauwetter vorbei war. Die dunklen Zeiten begannen wieder. Ich habe N.R.M. damals nicht verlassen, es war ein bisschen anders. Wir hatten einfach eine Pause, es gab keine Konzerte. Die Band traf sich zum Proben ohne mich und ohne mir Bescheid zu geben. Ich erfuhr erst aus der Presse, dass N.R.M. beim Rok-karanazyja-Festival ohne mich auftreten würden. Das war ein ziemlicher Schock, vor allem vor dem Hintergrund der Situation im Land. Ich sagte den Auftritt online ab, aber das hielt die Band nicht davon ab. Kurz; es war, wie es war. Für mich war das alles unerwartet und stressig, es hat noch lange gedauert, das zu verarbeiten. 

    Es gab die Information, dass die Band nach dem Treffen mit Praljaskouski Angebote bekam, bei staatlichen Festivals zu spielen, Sie das aber ablehnten. Das war die Ursache für den Konflikt, und N.R.M. entschied, ohne Sie zu spielen.

    Das ist eine verkehrte Darstellung – es gab keinen Konflikt in dieser Hinsicht. Nach dem Treffen in der Präsidialadministration wurde fast direkt im Anschluss ein staatliches Festival mit dem idiotischen Titel Bela Music initiiert. Dort sollten alle bekannten Rockmusiker auftreten. Und als ich die Anfrage erhielt, lehnte ich ab. Nicht genug, dass wir zu diesem Treffen gegangen waren, jetzt wollten sie uns auch noch dieses staatliche Festival anheften, um zu zeigen, dass in Belarus mit der Rockmusik jetzt alles super läuft. Ich habe die Teilnahme am Festival aus ideologischen Gründen abgesagt, aber niemand verstand das, ehrlich gesagt. Nach dieser Praljaskouski-Sache hatte ich eine so harte Zeit, dass ich 2009 bei N.R.M. eine Pause einlegte. Ich bat alle darum, für eine gewisse Zeit nicht aufzutreten, weil ich das Gefühl hatte, dass wir etwas verraten hatten. Den Musikern gefiel diese Pause natürlich nicht.

    Sie sagten, 2017 gab es eine Entspannung, als die Schwarzen Listen abgeschafft wurden.

    Ja, 2017 begann sich die Situation langsam wieder in Richtung eines leichten Tauwetters zu entwickeln, aber es erreichte nicht das Freiheitsniveau wie in den Jahren 2008/2009. Man konnte in der Prime Hall spielen, aber nicht im Stadtzentrum von Minsk, beim Schwedischen Tag zum Beispiel. 2018 wandte sich die schwedische Botschaft sogar an die Stadtverwaltung mit der Bitte, dass Krambambula auftreten dürfe, erhielt aber eine Absage.

    Wie kam es zu diesem Tauwetter? Was war 2017 passiert?

    Ich denke, da wurden wieder irgendwelche demokratischen Kräfte aktiviert. Einige Leute glaubten, dass es möglich sei, in den Machtstrukturen jemanden zu überzeugen. Damals entstand auch der Minsker Technologiepark und Ähnliches …

    „We are not afraid to dance“: Promotion-Video der Band Krambambula aus dem Jahr 2011

    War dieses Jahrzehnt – 2010  bis 2019 – in Ihren Augen eine Zeit des Stillstands, eine Unzeit für das Land, die Kultur und die Musik?

    Das würde ich nicht sagen. Es passierte immer was, nur wussten nicht viele davon, weil es sich parallel zur Machtstruktur abspielte. Es erschienen neue Alben, neue Musikpreise, es gab die Portale Tuzin Hitou und Experty.by. Zudem gab es auch noch die Musikkritik, zwar sehr begrenzt, aber es gab sie. Das war ziemlich spannend – du hast ein Album rausgebracht, zum Beispiel Drabadzi-drabada, und konntest eine Rezensionen dazu lesen, wenn du Lust hattest. Aber mit dem Album in deinem Land aufzutreten war in diesen Jahren schon nicht mehr möglich. Wir haben alle Alben in Vilnius präsentiert.

    Danach, 2017, kam das Tauwetter, man konnte auftreten, sogar bei großen Konzerten, aber es blieb der Eindruck, dass das nur temporär ist. Und so war es. Die Erfahrung zeigt, dass jedes neue Verbot strikter daherkommt als das vorangegangene. Daher werden die aktuellen Verbote meiner Ansicht nach erst dann verschwinden, wenn dieses Regime weg ist.

    Wie wurde 2020 möglich?

    Indem die Pandemie kam und die Machthaber zeigten, wie weit sie vom Volk entfernt sind. Früher wurde immer gepredigt, dass der einfache Mensch der wichtigste Wert sei. Doch hier zeigte sich nun, dass die Machthaber sich wie Aristokraten gerierten, wie ein Adel neuer Art mit Krönchen. Was, eine Pandemie? Nehmt den Traktor und Schnaps, ha-ha, wie lustig. Aber in den Familien spielten sich Tragödien ab: Hier erkrankte ein Bekannter, dort ein Verwandter. Da begann im ganzen Land die Selbstorganisation, die Freiwilligenbewegung – die totale Mobilisierung der Bevölkerung zum Kampf gegen die Pandemie, die die Regierung nicht ernst nahm. Deshalb ging das Volk  schon selbstorganisiert in diese Wahlen. 

    Nach den Wahlen kam dann ein völlig unerwartetes Ausmaß der Gewalt. Das Volk hatte in den letzten 15 Jahren gelernt, parallel zur Regierung zu existieren, ohne jegliche Berührungspunkte. Man meinte, dass sie uns nicht anrühren, und wir sie nicht anrühren – und gut. Alle bauen sich Wohnungen, Häuser am Stadtrand, erhöhen ihren Wohlstand. Wenn ein Bekannter ohne Grund in einer ominösen Angelegenheit verhaftet wurde, war das blöd, aber was soll’s. Dann wurde noch jemand verhaftet, aber der hatte sich dann womöglich in die Politik eingemischt, was wir natürlich nicht machen, also alles gut. 

    Ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen

    Das Jahr 2020 öffnete vielen die Augen. Viele verstanden, wie es wirklich stand. Einerseits bin ich froh, dass es so gekommen ist, andererseits ist es sehr schade für diese Leute, weil sie jahrzehntelang gelebt haben, ohne zu sehen, was um sie herum geschieht.

    Sie wollten nicht sehen und nicht hören und sagten nur: „Ach hör doch auf damit.“ Aber nun kamen sie praktisch in jedes Haus.

    Das Einzige, was ich absolut nicht erwartet hätte, ist diese Menge an weiß-rot-weißen Fahnen und „Lang lebe Belarus!“. Ich dachte, das sei für immer eine Sache von ein paar Tausend Leuten, die immer die Flagge, das Wappen und das Motto verwenden. Aber plötzlich zeigten hunderttausende Belarussen die Flagge und damit auch, was Sache ist.

    Haben Sie damals im August an den Erfolg der Revolution geglaubt? Oder hatten Sie eine Ahnung, wie alles enden wird?

    Euphorie gab es zweifellos – ich habe noch nie solche Massenveranstaltungen gesehen. Danach waren Pascha Arakeljan und ich mit einer Initiative unterwegs, um die Leute in den Menschenketten zu unterstützen. Wir kamen mit Gitarre und Saxophon, spielten kurze Konzerte, aber es war klar, dass man nur mit Konzerten nicht siegen kann. Man sagt ja nicht einfach „Hau ab“ – und dann packen die ein und hauen ab …

    Ist die Revolution verloren?

    Was soll ich sagen, das ist eine recht komplexe Frage, aber ich würde das nicht so formulieren. Erstens war es kein Spiel, bei dem es ums Gewinnen und Verlieren geht. Es gibt eine Volksmasse, die mit dem gegenwärtigen System unzufrieden ist und eine Minderheit, die alles beim Alten belassen möchte – was aber nicht möglich ist.

    Das war ein Aufbegehren des Volkes 

    Sehen Sie sich als Sänger der Revolution?

    Ich betrachte mein Schaffen in einem weiteren Sinn, aber alle Musiker, die zu dieser Zeit in den Höfen gespielt haben, waren Sänger der Revolution. Aber gibt es Revolutionen ohne Waffen? Das war einfach ein Aufbegehren des Volkes. 

    Sind Sie für radikalere Handlungen?

    Nein, ich bin für friedlichen Protest – das Volk war in keiner Weise für den bewaffneten Widerstand vorbereitet. Das ist eine sehr ernste Sache, ich wünsche mir kein solches Szenario, es wäre sehr tragisch. So etwas muss auch reifen, die Bolschewiki haben sich jahrelang vorbereitet, einige Untergrundnetzwerke aufgebaut und so weiter. Es ist eine Sache von Jahrzehnten, eine wirkliche Revolution vorzubereiten, mit Anwendung von … Das ist nicht unsere Variante, scheint mir. 

    Haben Sie Belarus für immer oder nur temporär verlassen?

    Temporär. Ich bin im Sommer 2021 ausgereist und habe nichts mitgenommen. Nach den Konzerten in Polen kehre ich wahrscheinlich zurück. Aber unter dieser Regierung wird es keine normalen Auftritte in Belarus mehr geben.

    Wie wird sich die Situation in Belarus entwickeln? Müssen wir auf die Generation der Davongekommenen warten, damit sich etwas ändert, oder tritt der Wandel schon früher ein?

    Meine Intuition hat mir immer gesagt – nach den Wahlen 2001, 2006 und 2010 – dass es nicht mehr lange so weitergehen wird. Aber es ist noch über zehn Jahre weitergegangen. Deshalb würde ich meiner Intuition nicht sonderlich trauen. Im Moment denke ich, dass man ein Land nicht über viele Jahre in einem solchen Spannungszustand halten kann. Zum einen, weil es sehr teuer ist. Zum anderen, weil die Menschen den psychologischen Druck nicht aushalten – auch die, die diesen Druck ausüben.

    Lassen Sie uns fantasieren – wann kommt das neue Belarus? Wie stellen Sie sich dieses Land vor?

    Das kann tatsächlich jederzeit passieren – schon morgen. Zuerst einmal müssen in diesem Land absolut alle Grobiane aus allen Machtebenen entfernt werden, die ganze Regelreiterei in allen Bereichen, begonnen mit der Schule. Damit es nicht nur darum geht, einfach ein Häkchen zu setzen, wie man sagt, wenn überall bloß Formulare ausgefüllt werden. Ob das ein Arzt, ein Lehrer, ein Polizist oder ein Ermittlungsbeamter ist – du musst eine ungeheure Menge an Zetteln ausfüllen, aber das Eigentliche wird nicht gemacht, es geht nur um Papierkram. Das muss geändert werden. Alle Behörden müssen durchleuchtet werden, alle Mitarbeiter müssen überprüft werden. All diese Fälschungen, Manipulationen der Statistik, dieser totale Unfug, die übergebührliche Brutalität und Gewalt bei den Festnahmen – das gab es in der gesamten Zeit dieser Regierung. Doch erst jetzt haben die Menschen es gesehen, hat die große Masse es gesehen. Deshalb muss alles grundlegend reformiert werden.

    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat
    Telegram-Konzertankündigung zu einem Auftritt von Lavon Volski bei einem der „Hinterhofkonzerte” im November 2020 am Platz der Sieger in Minsk. Nach den Konzerten gab es häufig Torten und andere Süßigkeiten für die Musiker / Foto © privat

    Und zum Schluss: Was möchten Sie den Belarussen noch sagen oder wünschen?

    Zunächst einmal bin ich den Belarussen und meiner Stadt sehr dankbar für das, was ich 2020 erleben durfte – ich hätte nicht geglaubt, das noch einmal sehen zu dürfen. Mein Verhältnis zu Minsk war sehr abgekühlt. Mir schien, die Menschen sitzen nur und schauen zu, wie die Regierung das aufbaut, was einfach nur furchtbar mit anzusehen war. Aber als die Stadt erwachte, fand ich meine Liebe zu Minsk wieder. Ich fand den Glauben an das Volk wieder. Und ich bin sicher, dass man dieses Blatt nicht mehr wird wenden können. Man muss nur ein bisschen warten, wollte ich immer sagen – aber man muss nicht warten, jeder muss einfach das tun, was von ihm abhängt.

    „Warte nicht, es gibt keine Überraschungen“

    Tatsächlich eine widersprüchliche Aussage – für mich war 2020 die Zeit der großen Überraschungen. Ein Musikreporter schrieb mir damals: Wir würden gern euer Konzert aufzeichnen, lasst uns noch die Wahlen abwarten, danach werden die Leute wie immer ein paar Tage in Depressionen sinken, und dann machen wir den Termin. Ich antwortete: „Okay, dann machen wir es wie immer.“ Aber dann kam alles ganz anders: Eine Überraschung folgte der anderen.

    Ich hoffe, uns erwartet in naher Zukunft eine große Überraschung. 

    Höchste Zeit! So viele Menschen denken dasselbe! Vielleicht erfüllt ja der Weihnachtsmann unseren größten Wunsch? In den letzten 27 Jahren hatten die Überraschungen ja immer eher negativen Charakter.

    [Das Interview wurde im November 2021 geführt – dek]

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  • „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    „Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn!“

    Lavon Volski gehört zu den bekanntesten und wandlungsfähigsten Rockmusikern in Belarus. Viele seiner Lieder sind zu unterschiedlichen Zeiten zu Hymnen einer Protestkultur geworden, die sich den Machthabern um Alexander Lukaschenko widersetzt. Wie viele andere hat auch er sein Land im vergangenen Jahr wegen der massiven Repressionen nach den Protesten infolge des 9. August 2020 verlassen; aktuell wohnt er in Polen.
    Das belarussische Online-Medium KYKY hat mit Volski ein langes Gespräch geführt, in dem er die Rolle der Rockmusik im unabhängigen Belarus reflektiert, die Auftrittsverbote in den vergangenen 20 Jahren, Lukaschenkos Ideologie und eigene Fehltritte. dekoder veröffentlicht das Interview in zwei Teilen.

    Teil 1

    Marija Meljochina: Lukaschenka ist seit 27 Jahren an der Macht, und Sie haben seinen Werdegang miterlebt. Ich würde gerne gemeinsam mit Ihnen den Weg von der relativen Freiheit der 1990er hin zur heutigen Militärdiktatur beleuchten. Beginnen wir 1994, als Belarus seine Staatlichkeit etablierte. Gab es damals Freiheit?

    Lavon Volski: Zu Beginn der 1990er Jahre entstand Freiheit gerade erst, Rockmusik war nicht mehr verboten, alles war erlaubt. Diese Politik währte von 1991 bis 1994, die Zeit der sogenannten Beinahe-Demokratie. Nach Lukaschenkas Machtantritt behielten die Bürokraten die Entscheidungsmuster vom Ende der 1980er Jahre noch eine Weile bei: Musik durfte nicht verboten werden, denn sie war „Arbeit mit der Jugend“: Besser, sie flippen mal bei einem Konzert aus, als dass sie Klebstoff schnüffeln. Aber einige Lokalzaren und -chefs, zum Beispiel im Exekutivkomitee von Mahiljou, führten doch Verbote ein, das war aber eher eine Ausnahme von der Regel. Sicher gab es auch mal Stunk, wenn jemandem etwas gar nicht gefiel. Aber es hatte nicht das Ausmaß, das dann in den 2000er Jahren begann. 

    In einem Interview sagten Sie, dass in den 1980ern niemand an die sowjetische Ideologie geglaubt hat. Letztlich hat sich Lukaschenka aber genau diese Ideologie zu eigen gemacht, und die Menschen glaubten ihm. Wie ist dieses Paradox zu erklären?

    Er hat anfangs mit dem Nostalgiefaktor gespielt. Das war ein sehr riskanter Schachzug, aber er war erfolgreich. Zu Beginn bewies er als Politiker durchaus Talent. Es war natürlich absolut unmöglich, in einem einzelnen Mitgliedstaat die Sowjetunion zu bewahren. Der Großteil der Bevölkerung wollte aber meiner Ansicht nach auf keinen Fall wieder neue Führer vom Typ Kebitsch, die ununterbrochen stehlen. Als die Stimmen also zwischen diesen beiden Kandidaten verteilt wurden, bekam Lukaschenka die Mehrheit, weil die Menschen nach dem Prinzip entschieden: „Ganz egal, Hauptsache nicht das, was vorher war.“ 

    Lukaschenka setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes

    Ich würde auch nicht sagen, dass seine Ideologie sowjetisch war. Seine Rhetorik war, was man „für das einfache Volk“ nennt: „Esst euer Stück Wurst, trinkt eure 150 Gramm Schnaps, geht wählen und stimmt für mich.“ Das war nicht „Sawok“, sondern vielmehr ein Spiel mit einfachen Gefühlen. Die Sowjetideologie war anders: Alle sind Brüder und Schwestern, alle verdienen gleich. Natürlich wurde das nur postuliert und fand in der Realität nicht statt. Lukaschenka dagegen postulierte: Ihr werdet viel verdienen, ihr werdet eine Wohnung haben, ein Auto, eine Datscha – er setzte auf die Vermehrung des Wohlstandes. Darüber sprach man zu Sowjetzeiten üblicherweise nicht, das war schlechter Ton.

    Lukaschenkas Versprechen „500 für alle“ stammt also schon aus dieser Zeit?

    (lacht) Es gab dieses Versprechen, das Beste aus der Sowjetzeit zurückzubringen. Aber ich denke, dass die Menschen eher an regulären Renten und hohen Einkommen interessiert waren, an einem Anstieg des Lebensniveaus. Sie wollten diese Banditen und kriminellen Businesstypen überall loswerden. Deshalb gefiel ihnen, dass da einer kam und „Ordnung schafft“, einer, der alle das Fürchten lehrt.  

    Was ist Ihnen aus den ersten Amtsjahren Lukaschenkas in Bezug auf den Kulturbereich in Erinnerung?

    Für mich, und auch für viele andere Künstler, war das eine Katastrophe. Es war sofort klar, was für ein Mensch er ist. Und wie das bei uns so läuft, wurden sein Geschmack und seine Ansichten sofort auf das gesamte Land projiziert. Das war eine riesige Tragödie für die Kultur, aber alle hofften, dass es nicht lange dauern würde.

    Wurden die Schrauben sofort angezogen?

    Nein, es gab alles: verschiedenste Künstlervereinigungen, ausländische Galerien, Ausstellungen und Buchläden. Aktuelle Kunst. Es gab Theatervereine, viele ausländische Gäste, auch selbst konnte man zu Festivals ins Ausland fahren. Wen gab es damals? Krama, Ulis, Novae Neba, Mroja, Mjaszowy Tschas aus Nawapolazk. Es gab auch Bands aus Mahiljou und Hrodna, zum Beispiel Deviation oder Kaljan, aus denen später irgendwelche modernen Anarchopunkfolk-Formationen hervorgingen. Informelle Literaturvereinigungen entstanden, gaben Bücher heraus. Es gab alles, ohne Verbote.

    „Radio Svaboda“: der legendäre Song der Band Ulis aus dem Jahr 1990, der den belarussischsprachigen Dienst von Radio Liberty besingt.

    In der Bilanz, wie würden Sie Ihre 1990er Jahre kurz zusammenfassen?

    Da muss man trennen: Bis 1994 und nach 1994 – das waren schon zwei völlig verschiedene Zeiten mit komplett unterschiedlichen Werten. Bevor die Epoche des Autoritarismus und der Diktatur begann, gab es in den ersten drei Jahren seit 1991 meiner Ansicht nach eine nicht vollständig ausgeprägte Demokratie. In dieser Zeit arbeitete ich beim Jugendradiosender 101,2, wo auch viele Parteikader unterwegs waren. Sie waren empört über das, was wir machten. Sie hätten alles gern halbwegs neutral gehabt, aber wir sprachen schwierige Themen an, und dann auch noch in der „orthodoxen“ belarussischen Sprache, der Taraschkewiza. Deshalb wurde unser Chef oft irgendwohin einbestellt, und man schrieb uns Briefe, dass der Sender geschlossen werden müsse.

    In den 1990ern saßen auf den Schlüsselpositionen absolute Sowjetmenschen: einheitsgraue Jacketts, „was auch passiert“, „Hauptsache der Plan wird erfüllt“. Damals dachte man, dass sie langsam verschwinden würden. Aber es kam anders. Anrüchige und geistlose Menschen mit nicht mal sowjetischen, sondern stalinschen Ansichten krochen auf die zentralen Positionen.

    1994 begann dann eine neue Zeit, in der zum Beispiel plötzlich seltsame Staatsleute im alten Büro des Schriftstellerverbandes in der Frunse Straße 5 auftauchten, um mitzuteilen, dass sich dieses Gebäude im Besitz der Präsidialverwaltung befindet und man also entweder Miete zahlen oder „den Ort räumen“ müsse. Auch die zu Beginn der 1990er Jahre entstandenen privatwirtschaftlichen Strukturen wurden verfolgt – wer sich nicht schnell neu aufstellte, machte sich zum Feind.

    Das war eine sehr aufwühlende Zeit unter dem Vorzeichen der Katastrophe. Andererseits hat für mich wahrscheinlich gerade um 1994 eine sehr produktive künstlerische Reaktion auf all diese Ereignisse eingesetzt – ich schrieb viele wehmütige Songs, lyrische und Prosatexte. Bis dahin hatte ich – wie in einer verkehrten Welt – irgendwie stillgestanden.

    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.
    N.R.M.: Lavon Volski, Juras Ljaukou, Aleh Dsemidowitsch, Pit Paulau / Foto © N.R.M.

    Kommen wir nun zur Epoche der 2000er Jahre, in denen Sie schon im ganzen Land Berühmtheit erlangen und Ihr Album Try tscharapachi (dt. Drei Schildkröten) erscheint.

    Die Epoche der Nullerjahre war vollkommen anders. Seit etwa 1995 oder 1996 waren wir in einer kleinen Minsker Szene bekannt. Ab und zu fuhren wir auch nach Hrodna oder Wizebsk – dort lief es in einem kleinen Kreis auch gut. Als Anfang der 2000er das Album Try tscharapachi erschien, wurden wir sehr bekannt. Das Album war in einem professionellen Studio aufgenommen worden und nicht mehr in der Garage. Darüber hinaus wurde es landesweit vermarktet – in jedem Kiosk konnte man eine Kassette oder CD von N.R.M. kaufen. Die vorangegangenen Alben waren nur im Minsker Laden Kowtschog in der Philharmonie verkauft worden. Wir gingen dann auch zum ersten Mal auf Tour. Deshalb änderte sich in den 2000er Jahren die Situation komplett.

    Die alten Fans haben uns nicht verziehen, dass wir nun für die Massen spielten. Sie schrieben uns im Internet, dass wir früher echten Rock gespielt hätten und jetzt verpoppt seien. Kurz gesagt, es war eine hektische Zeit: ständig Auftritte, Videodrehs, Interviews – ich musste mich förmlich zerteilen.

    Ab wann wuchs der Druck auf die Andersdenkenden? Können Sie sich an den Moment erinnern, als plötzlich Konzerte abgesagt wurden?

    Die ersten Anzeichen gab es schon 1995 – gemeinsam mit anderen Rockbands waren wir zum Festival für geistliche Musik Mahutny Bosha nach Mahiljou eingeladen. Der Vorsitzende des städtischen Exekutivkomitees, Sumarau, war gegen unseren Auftritt. Wir standen praktisch schon auf der Bühne, als er auf den Platz rannte und mitteilte, alles sei abgesagt.

    Ein Songschreiber darf sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden

    Das zweite Mal war im Sommer 2004 nach dem Auftritt einer Reihe von Bands im Hundepark am Bangalore-Platz. Das Konzert war dem zehnjährigen Jubiläum des Regimes gewidmet. Wir spielten alle – und danach ging es los, wohl auf Weisung von ganz oben, es tauchten die Schwarzen Listen auf und eine ganze Reihe von Bands wurde verboten. Damit war mit einem Mal alles vorbei: keine Interviews mehr in staatlichen Medien – in all diesen Teenie-Magazinen und Talkshows. Es blieben nur die unabhängigen Massenmedien, von denen es zu diesem Zeitpunkt noch viele gab. Später kam es dann vor, dass in Maladetschna 200 Leute aus dem Zug stiegen und direkt zum lokalen Klub liefen, wo N.R.M. einen Underground-Gig spielten.

    Hatten Sie Angst, dass Sie für solche Konzerte ins Gefängnis kommen, dass man Sie abholen kommt?

    Eine gewisse Angst hat mich ohne Zweifel von Beginn an begleitet. Es war klar, dass wir Widerstand betreiben – im kreativen Sinn. Wir gingen auch zu Kundgebungen, aber das war ja kein bewaffneter Kampf. Ich habe auf alles reagiert, weil ich glaube, dass ein Songschreiber sich nicht abwenden und gesellschaftliche und politische Themen meiden darf. Um für ein Underground-Konzert in den Knast zu kommen, war der Grad der Absurdität damals noch nicht hoch genug. 

    Obwohl ihr auf der Schwarzen Liste standet, habt ihr euch 2007 mit dem stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung getroffen. Warum?  Zu welchen Erkenntnissen seid ihr nach diesem Treffen gelangt?

    Das war ein total blöder Schritt – das Treffen hätte gut ohne mich stattfinden können. Ich ging nur hin, um einen Blick auf diesen „Hort des Bösen“ zu werfen. Tatsächlich hätten sie mich nicht eingeladen, wenn ihrerseits nicht irgendeine Notwendigkeit bestanden hätte. Damals gab es Prozesse in Richtung einer leichten Demokratisierung, um das Verhältnis zum Westen zu verbessern. Deshalb begannen sie mit dem Einfachsten: die verbotene Musik zurückzuholen.

    Damals kam ein findiger Mitarbeiter auf mich zu, den ich schon mehrfach getroffen hatte. Er arbeitete beim Staatsfernsehen, ein ganz normaler junger Typ. Er rief an und fragte: „Wie würden Sie reagieren, wenn die Verwaltung Ihnen ein Treffen anbietet?“ Ich antwortete, ich sei nicht sicher, aber vielleicht würde ich hingehen. Heute weiß ich, dass ich nicht hätte gehen dürfen. Sie versprachen uns, dass es keine schwarzen Listen mehr geben würde, weil das unzivilisiert sei. Falls wir mit Verboten konfrontiert würden, könnten wir in der Verwaltung anrufen und sie würden das klären.

    Das war 2007, im Jahr 2009 wurde dann Pawel Latuschka Kulturminister. Er setzte sich aktiv gegen die schwarzen Listen ein. Aber wenn ich es recht verstehe, sind die Listen nie verschwunden? Oder gab es doch ein Tauwetter?

    2009, als Latuschka Minister war, gab es diese Listen nicht. Im Prinzip gab es sie aber immer, die Programmdirektoren der staatlichen Radio- und Fernsehsender hatten sie einfach auswendig gelernt. Damit hatten sie richtig gelegen, denn 2010 tauchte die Liste wieder auf, zudem um das Fünffache länger. Ab diesem Moment konnte man nicht einmal mehr Underground-Konzerte geben. Es wurde Druck auf die Leitung und die Besitzer der Einrichtungen ausgeübt, die Konzerte erlaubt hatten. Sie wurden angerufen, erpresst, bedroht, mit Hygienekontrollen überzogen und mit üblen Strafzahlungen belegt. Diese Maßnahmen gab es bis 2017.

    Wenn Lukaschenka Sie heute zu einem persönlichen Treffen einladen würde, würden Sie hingehen?

    Natürlich nicht – man muss sich mit keinem von denen treffen, nie. Wozu auch? Ich habe den Fehler einmal gemacht. Wie ein Kind bin ich in die Präsidialverwaltung gegangen, um etwas Interessantes zu erleben. Aber sie brauchten mich nur, um ein Häkchen zu setzen, um dem Westen zu zeigen, dass alles gut wird.

    Die Fortsetzung des Interviews veröffentlicht dekoder am 11. Januar 2022.

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    „Die zwei slawischen Autokratien leugnen den Lauf der Zeit“

    Seit 2016 lädt die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu einem Diskussionsklub ein – um die dringendsten gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu diskutieren. Beim zweiten Klub-Treffen des Jahres Anfang Juni 2021 ging es um das Buch Das Licht, das erlosch des bulgarischen politischen Analysten Iwan Krastew. Neben Krastew und Alexijewitsch nahm die russische Politologin Ekaterina Schulmann an der Diskussion teil, die der belarussische Analyst Artyom Shraibman moderierte. 
    Mit seinem Co-Autor Stephen Holmes vertritt Krastew in Das Licht, das erlosch einmal mehr die These eines „Nachahmungsimperativs“ des Westens nach dem Kalten Krieg. Damals hätte in Mittel- und Osteuropa ein Zeitalter der Imitation begonnen, doch auch unter dem Eindruck der Bevormundung seien Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit immer größer geworden. Schließlich habe der Westen knapp 30 Jahre nach Ende des Kalten Kriegs seine Glaubwürdigkeit und Strahlkraft verloren. 

    Krastews Buch wurde in Westeuropa kontrovers diskutiert. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann etwa kritisiert unter anderem, dass Krastew mit „dem Westen“ einen Kampfbegriff und eine normative Bezugsgröße aus Zeiten des Kalten Krieges bemühe, die es so heute gar nicht mehr gebe. Auch unterscheide Krastew zu wenig zwischen liberaler Demokratie und neoliberaler Wirtschaftsordnung. 

    Vor dem Hintergrund zunehmender Gewalt und Repression in beiden Gesellschaften, sowie angespannter politischer Beziehungen mit Westeuropa fragt der Klub: Wo stehen Russland und Belarus knapp 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion? Und wie sieht ihre gesellschaftliche und politische Zukunft aus? Das belarussische Magazin Kyky hat Teile der Diskussion transkribiert – in denen vor allem die Politologin Ekaterina Schulmann den Thesen Krastews teilweise energisch widerspricht.

    Swetlana Alexijewitsch: Die Zeit hat alle unsere Illusionen und Erwartungen auf den Kopf gestellt, unsere ganze emotionale Trägheit. Vor allem in Belarus sind wir gezwungen, nach Solshenizyns Büchern zu leben. Weder meine noch eure Generation – niemand hat damit gerechnet. Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind. Es gibt viele drängende Fragen, aber ich glaube, noch viel wichtiger ist es zu verstehen, warum wir da gelandet sind, wo wir heute sind. Warum all unsere Illusionen, die wir hatten, als wir uns an die Perestroika machten – warum nichts davon eingetroffen ist, sich nichts bewahrheitet hat.


    Wenn wir an unseren Enthusiasmus der 1990er Jahre denken, hätten wir nie gedacht, dass wir dort hinkommen, wo wir heute sind

    Als ich Das Licht, das erlosch von Iwan Krastew und Stephen Holmes gesehen habe, war ich schwer beeindruckt. Wir sollten aufhören, Angst zu haben, mal vor der Vergangenheit, mal vor der Zukunft, mal vor der Gegenwart. Wir leben in ständiger Angst. Versuchen wir doch einmal, unserer neuen Realität ins Gesicht zu schauen.

    Artyom Shraibman: Nachahmung ist ein Prozess, der viele Länder der Welt erfasst hat, aber vermutlich nicht alle. Es ist wichtig zu verstehen, warum er ausgerechnet unsere Länder erfasste und was das Ende dieser Epoche für uns bedeutet. 

    Iwan Krastew: Anfang der 1990er Jahre war klar, dass die Welt das westliche Lebensmodell imitieren würde, weil es zwei globale Ideologien gab, die den Kalten Krieg begründeten. Eine davon hat den Krieg nicht nur verloren, sie hat auch aufgehört, sich selbst zu glauben.

    [Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis] Fukuyama sprach von dem Ende der Geschichte, heute lachen alle über diese Idee. Aber Anfang der 1990er Jahre war Demokratie ein Synonym für die Modernisierung der Gesellschaft. Alle dachten, dass sie dieses Modell imitieren werden. Wir wollten leben wie im Westen: Die Ungarn wollten das, die Bulgaren, die Polen. 

    Aber wenn man jemanden imitiert, gibt man zu, dass er besser ist als man selbst. Das wirft eine zweite Frage auf: Was passiert mit der eigenen Identität? Und es gibt noch einen dritten Punkt: Man imitiert nicht Christus, sondern eine andere Gesellschaft, die sich ständig verändert. Daher kommen die starken antiliberalen Stimmungen, die man in Teilen der ungarischen und auch der polnischen Gesellschaft beobachten kann: Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat. Schließlich erschien den Polen die westliche Gesellschaft Ende der 1980er als durchaus konservativ, alle gingen in die Kirche. Und sehen Sie sich an, wie sich diese Gesellschaft innerhalb von 30 Jahren verändert hat.

    Man wollte etwas anderes als das, was man imitiert hat

    Es gab in der Tat eine Zeit, in der selbst autoritäre Regime die Menschen davon überzeugen wollten, dass sie demokratisch legitimiert sind, dass sie wie die westlichen Demokratien sein wollen, es aber nicht gelingt. Doch diese Zeiten sind seit vier, fünf Jahren vorbei. Jetzt sehen wir in Russland und Belarus eine andere Rhetorik: Wir wollen nicht so sein wie ihr, im Gegenteil, und wir werden nie so sein wie ihr.

    Ekaterina Schulmann: Einen Teil dessen, was Iwan anspricht, bezeichnet man als Problem oder, wenn man so will, als Tragödie der aufholenden Entwicklung. Länder, die das Gefühl haben, rückständig zu sein, versuchen den Weg zum Fortschritt durch Nachahmung abzukürzen. Doch bevor wir konstatieren, dass die Länder der Zweiten Welt aufgehört haben, die Länder der Ersten Welt zu imitieren, sollten wir uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt.
    Niemand will etwas grundsätzlich anderes (das gilt auch für China und den postsowjetischen Raum), alle wollen iPhones, Supermärkte und Cafés, niemand will in Askese leben. Außerdem reagieren die Menschen sehr empfindlich auf Einschränkungen, die ihr Privatleben betreffen. Sie sind bereit, politische Freiheiten zu opfern – zum einen, weil sie nicht wirklich verstehen, was das ist, zum anderen, weil sie diese Freiheiten nie wirklich gehabt haben. Sie haben den unmittelbaren Zusammenhang zwischen politischer Freiheit und Lebensstandard noch nicht erkannt. Aber die Konsumfreiheit wollen ausnahmslos alle. Insofern wird die Nachahmung nicht aufhören, solange sich Wunsch und Wirklichkeit gleichen.

    Wir sollten uns daran erinnern, dass das westliche Lebensmodell universelle Anziehungskraft besitzt

    Es hat sich kein Alternativangebot, kein neuer Zivilisationstypus herausgebildet. Wie Iwan schon sagte, gab es zwei globale Ideologien, von denen die eine gestorben ist und die zweite gesiegt hat, das ist nach wie vor wahr. Aber es gibt auch eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem gewollten Lebensstil und dem politischen Überbau. Genau darin liegt die Gefahr oder die Attraktivität des chinesischen Beispiels. China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen und Riesenstädte errichten, ohne die Risiken, die die Demokratie in sich birgt. Das ist ein neues autoritäres Angebot, das nicht ideologisch ist. Es macht keinen Versuch, das Märchen von Orthodoxie, Selbstherrschaft, Volkstümlichkeit nachzuerzählen; Versuche dem Wahlvolk zu gefallen – das ist keine Ideologie. Auf dem Markt der Ideen hat der Westen insofern immer noch das absolute Monopol.

    China scheint der ganzen Welt sagen zu wollen: Man kann auch ohne den politischen Überbau des Westens Dutzende Millionen von Menschen aus der Armut führen

    Als der Sprecher der russischen Staatsduma vor einiger Zeit sagte, Russland sei die letzte Insel der Demokratie und der Freiheit, konnte man schwer nachvollziehen, was in diesem Moment in seinem komplexen Hirn vor sich ging. Klar ist jedoch, dass Demokratie und Freiheit als etwas Gutes wahrgenommen werden. Nur dass diese Dinge im Westen faul geworden und verdorben sind, wohingegen es sie bei uns nun einfach gibt. 

    In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst, das die wahre Freiheit gegen Toleranz eingetauscht habe. Nach dem Motto: Ihr beschwert euch über die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor? Ihr habt ja keine Ahnung von der grausamen Hetze gegen Menschen und der Selbstzensur, die in den sozialen Netzwerken im Westen florieren.

    In Russland spricht man oft davon, dass wir mehr Europa sein werden als Europa selbst

    Das Buch, mit dem wir das Gespräch begonnen haben, wurde vom russischsprachigen Publikum nicht ohne Schadenfreude aufgenommen: Die im Westen haben ihre historische Niederlage eingestanden! Aber Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen? Sollen die das neue historische Angebot sein?

    Niederlage im Vergleich zu wem? Zu diesen ewig imitierenden Autokratien, die zu 80 Prozent aus Propaganda und 20 Prozent aus Gewalt bestehen?

    Sie können ja nicht einmal formulieren, wer sie selbst sind. Heute sind sie eine souveräne Demokratie, morgen verteidigen sie sich gegen geheimnisvolle Feinde und machen sich nicht einmal mehr die Mühe zu erklären, was sie überhaupt zu verteidigen versuchen. Das einzige erklärte Ziel ist es, den Tag irgendwie durchzustehen und die Nacht zu überleben. Die Macht geben wir nicht ab, weil es ohne uns nur noch schlimmer wird – das ist das Einzige, was sie ideologisch anzubieten haben.

    Artyom Shraibman: Betreten wir wirklich eine neue Ära? Und ist sie überhaupt neu, haben wir nicht im 20. Jahrhundert und noch früher ähnliche Umbrüche, eine ähnliche Abkehr von Formen eines nationalen Selbstverständnis gesehen?

    Ekaterina Schulmann: 30 Jahre postsowjetischer Transit gehen zu Ende. Während dieser Zeit haben sich im postsowjetischen Raum drei politische Ordnungen herausgebildet: primitive mittelasiatische Despotien (Usbekistan u. a.); schwache Demokratien mit einem instabilen Staatsapparat, einem nicht erreichten Gewaltmonopol und einer ziemlich starken Rolle von Zivilgesellschaft, aber auch oligarchischen Gruppen (Ukraine, Kirgistan, Republik Moldau, Georgien, Armenien); und der dritte Typus – personalisierte Autokratien, die zwar Wahlen durchführen, aber durch die Wahlen keinen Wechsel riskieren wollen; die die Vorteile des Konkurrenzkapitalismus für sich nutzen, aber gleichzeitig eine extrem hohe Staatspräsenz in der Wirtschaft erschaffen (Russland, Belarus, Kasachstan). Das sind unsere drei Karten: eine Drei, eine Sieben, ein Ass. Oder, wenn Sie so wollen, die drei Wege, die die postsowjetische Entwicklung einschlagen konnte.

    Jetzt können wir beobachten, wie unterschiedlich die Autokratien in die für sie kritische Übergangsperiode eintreten. Bisher scheint Kasachstan von den dreien am besten abzuschneiden – sein politisches System hat den Mut gefunden, einzugestehen, dass ein Übergang notwendig ist und stattfinden wird.

    Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest, den sie Stabilität und Souveränität nennen, und laufen jetzt doppelt so schnell, um auf der Stelle zu bleiben.

    Denn es hat sich herausgestellt, dass man den Status quo nicht aufrechterhalten kann, ohne eine unglaubliche Menge an Ressourcen reinzustecken. Ich glaube nicht, dass dieses Stadium – der Versuch, die Notwendigkeit eines Übergangs zu leugnen – die Endstation ist.

    Die zwei slawischen Autokratien haben sich entschieden, den Lauf der Zeit zu leugnen, sie krallen sich am Status quo fest

    Das russische Modell, das vielfältiger und flexibler als das belarussische ist, ist noch dabei, diese komplexe Gleichung für sich zu lösen: Was müssen wir ändern, damit alles gleich bleibt? Das politische System in Belarus verhält sich dabei sekundär und komplementär zum russischen. Wenn bzw. falls sich das russische Modell transformiert, wird das belarussische folgen.
    Die Todesstarre, der Krampf, der unsere beiden Systeme befallen und zahlreiche Prozesse auf Zwangspause gestellt hat, verdient Beobachtung, aber keine Verabsolutierung. Man sollte es nicht als finale Etappe einer dreißigjährigen Entwicklung sehen, als Ende der Geschichte. Lassen Sie uns nicht Fukuyama spielen.

    Artyom Shraibman: Wenn Belarus, Kasachstan und Russland denselben institutionellen Weg gehen, den die Länder Zentral- und Osteuropas gegangen sind, wird sich nicht irgendwann herausstellen, dass es eine Sackgasse ist? Was sollen die jungen, noch ungewissen Regime nach Lukaschenko, Putin und Nasarbajew aufbauen, wenn selbst ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in den jungen Demokratien Osteuropas von der Imitation enttäuscht ist?

    Ekaterina Schulmann: Wie sollen wir uns modernisieren, wenn der Westen nicht mehr das Vorbild ist? Wissen Sie, einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran. Das heutige Belarus und sogar Russland sind dem Westen viel ähnlicher als der Sowjetunion. Unsere Autokratien haben sich den Vorbildern angenähert, die sie sich vorgestellt hatten. Wir haben uns den Kapitalismus angeschafft, Wahlen, sogar ein bisschen freie Presse, breite Uferpromenaden und Elektroroller, aber in die Erste Welt dürfen wir immer noch nicht.

    Der Sowjetmensch hat sich den legendären Westen als Schlaraffenland vorgestellt. Aber als das westliche Leben immer vertrauter wurde, entdeckte man darin immer mehr Flecken und Risse. Zumal man über den kollektiven Westen heutzutage nur nachsinnen darf, wenn man Nikolai Platonowitsch Patruschew ist.

    Einer der Faktoren für die Erosion des Ideals ist die Annäherung daran

    Was können wir über den nächsten Entwicklungssprung der postsowjetischen Autokratien sagen? Sie werden offenkundig urbanisierte Staaten mit einer gebildeten Bevölkerung bleiben und sich weiter in diese Richtung entwickeln; sie sind nicht so sehr Industriemächte als vielmehr Länder, in denen der Dienstleistungssektor eine immer größere Rolle spielt. Das ist nicht unbedingt der geeignetste Nährboden für eine primitive Diktatur. 

    Obwohl die neuen Möglichkeiten, jede einzelne Geldtransaktion, jede Bewegung nachzuverfolgen, einschließlich der Bewegung von Informationseinheiten, neue Möglichkeiten für Planung und Umverteilung bieten. Der Staat gibt seinen Bürgern Geld, unterstützt die Wirtschaft, und will im Gegenzug dafür deine Daten – wissen, was du schreibst, sagst, wo du dein Geld aufbewahrst, wohin du geschaut hast – und im nächsten Schritt auch deine Loyalität.

    Was die nächste Zukunft bringt

    Artyom Shraibman: Ekaterina, Sie haben das, was in Belarus und in Russland passiert, als „Krampf“ bezeichnet. Worin wird das münden? Der eine wie der andere Leader scheint sich ganz wohl zu fühlen, sie haben keine Angst, den Einsatz zu erhöhen, den Griff noch fester zuzudrücken. Wo ist die Wand, gegen die dieser Krampf prallt?

    Ekaterina Schulmann: Dass der Druck erhöht wird, ist kein Anzeichen für die Abwesenheit von Angst. Jemand, der sich nicht bedroht fühlt, führt keine Eskalation herbei. Ich will nicht darüber urteilen, wer sich wohl fühlt und wer nicht. Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet.
    Ich habe die Situation nicht als Krampf bezeichnet, weil ich sie für ein kurzfristiges Phänomen halte. Ineffektive politische Modelle können sehr langlebig sein.

    Bedenken wir einfach, dass die ganze Arbeit dieser politischen Systeme darin besteht, einen Eindruck zu erwecken, und zwar zum großen Teil einen falschen. Dafür werden gigantische Ressourcen aufgewendet

    Was ist diese Wand, diese Schwelle, hinter der sich etwas qualitativ transformiert? Die Wahlen 2024 sind der nächste Punkt. Wenn die Beliebtheit des amtierenden russischen Präsidenten nach 2021 weiter sinkt, könnte er auf den Gedanken kommen: Sollte ich es nicht lieber machen wie Jelzin? Sollte ich nicht meinen Nachfolger mit den Überresten meiner eigenen Popularität ausstatten und ihm das Verlangen nach Erneuerung, das in der Gesellschaft so groß ist, als Geschenk hinterlassen?
    Jelzin war extrem unpopulär, und sein Nachfolger wurde quasi über Nacht ein gefragter Mann. Warum? Weil die Menschen einen neuen Leader wollten, aber keine Revolution. Ein Nachfolger muss gleichzeitig Erbe und Antagonist sein. Ich denke, je näher 2024 rückt, desto mehr könnte diese politische Parallele eine Rolle spielen.

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  • „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    „Viele der Mütter und Kinder sehen sich nie wieder”

    63 Frauen-Haftanstalten gibt es in Russland. In nur 13 davon sind Schwangere untergebracht und Mütter, die in Haft ein Kind zur Welt gebracht haben. 637 Kinder zwischen null und drei Jahren wachsen derzeit innerhalb der sogenannten „Zone“ auf, in der Regel getrennt von ihren Müttern.

    Auch Maria Noel brachte ihr drittes Kind während der Haft zur Welt. Die Journalistin und Aktivistin lebt heute in Frankreich und setzt sich mit ihrer Initiative Tjuremnyje Deti (dt. Gefängniskinder) ein für die Kinder und vor allem für deren Mütter. Im Interview mit dem Online-Journal KYKY erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen als Schwangere und Mutter in Haft.

    Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin Victoria Ivleva zeigt dekoder außerdem Bilder aus einer Foto-Serie, die in den Jahren 1990 bis 2013 in zwei unterschiedlichen Kolonien entstanden ist:

    Im Jahr 1990 porträtierte Ivleva in der Kolonie in Tscheljabinsk den Alltag der Frauen, die in Haft schwanger waren und ein Kind zur Welt brachten. Knapp 20 Jahre später kam sie dorthin zurück und setzte die Serie fort, fotografierte auch in einer weiteren Kolonie in Nishni Tagil. An den Haftbedingungen für Mütter und Kinder hatte sich in der Zwischenzeit kaum etwas geändert: Sie sind getrennt voneinander untergebracht, die Mütter sehen ihre Kinder meist nur ein bis zwei Stunden pro Tag.

    KYKY: Sie waren schwanger, als Sie in Untersuchungshaft kamen. Im wievielten Monat waren Sie?

    Maria Noel: Im fünften. Wadik ist mein drittes Kind, und es war fast ein Wunder, dass ich nochmal schwanger geworden bin. Ein paar Jahre zuvor hatte ich einen schweren Schlaganfall, und solche Schwangerschaften wie meine verlangen große Vorsicht. Natürlich war das der Gefängnisleitung und den Ärzten bewusst. Weder mein Tod noch der Tod meines Kindes wäre ihnen recht gewesen. Sie reichten Anträge bei Gericht ein, wollten mir helfen. Im Grunde genommen haben sie freilich nur versucht, sich selbst unnötige Schwierigkeiten vom Hals zu halten …

    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)
    Frauen in Uniformen © Victoria Ivleva (1990)

    Das Erste, was mich in meinem neuen Leben erwartete, waren Schikanen durch das Wachpersonal. Nein, keine physischen – emotionale. Ich hörte unzählige Variationen zum Thema „Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen“, „Dir war doch klar, was du da tust“, „Mutti“ und so weiter. Der Bauch war schon gut zu sehen, und allein die Tatsache, dass ich schwanger war, sorgte ständig für Gespött. So war es nicht nur bei mir, das ist allgemein üblich – „ein bisschen piesacken“. Alle Formen von Erniedrigung wurden da ausprobiert.

    Zum ersten Mal habe ich erlebt, dass man Frauen derart behandelt, Frauen im Allgemeinen und Schwangere im Besonderen. Das war ein Schock, ich habe die ganze Zeit geheult, aber die Wachleute haben sich über mich kaputtgelacht.

    Kaputtgelacht?

    Ja, das klingt jetzt vielleicht komisch, aber sie [die Verwaltung der Besserungseinrichtungen und Mitarbeiter des russischen Strafvollzugssystems FSIN – KYKY] haben Kinder eigentlich ganz gern. Ein bisschen von wegen „Ich bin ja selber Oma und bin besser klargekommen“. Und sie behandeln die Insassinnen wie missratene Frauen, wie verwahrloste Kinder.

    Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Mit der Erklärung, man müsse sie vor ihren ‚nichtsnutzigen Müttern‘ beschützen

    Erwartet eine Frau während ihrer Haft ein Kind, findet man für diese Schwangerschaft schnell Erklärungen: potentielle Vorteile, Dummheit, alles Mögliche, nur nicht, dass sie dieses Kind vielleicht liebt und sich darauf freut. Niemand wird sich mit dir freuen, niemand wird mit dir mitfühlen. Alles, was du jetzt noch hast, ist: dich selbst und das Kind, und die Menschen, die draußen auf dich warten. Das Einzige, was man tun kann und auch tun sollte, ist die Spielregeln zu verstehen. Und die gibt es. 2011 haben wir eine Art Handbuch zum Thema Schwangerschaft in Untersuchungshaft zusammengestellt – zur Lektüre empfohlen, wie man so schön sagt.

    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)
    „Ich hörte unzählige Variationen zum Thema ‚Das hättest du dir vor deiner Straftat überlegen sollen‘“ © Victoria Ivleva (2012)

    Diese schiefe Einstellung der Frau gegenüber hängt mit einer verkrusteten Sichtweise zusammen – einer sowjetischen. Schon seit über 60 Jahren werden Kinder in Strafvollzuganstalten von ihren Müttern getrennt untergebracht. Sie werden isoliert, mit der Erklärung, das sei „notwendig“, um sie vor ihren „nichtsnutzigen Müttern“ zu beschützen.

    Wir haben eine lange Geschichte, die in die Zeiten des Gulag zurückreicht. Obwohl sich heute in den Lagern vieles zum Guten ändert und man im Großen und Ganzen nicht sagen kann, dass die Frauen gänzlich wie Vieh gehalten werden, lebt das System nichtsdestotrotz auf einer unbewussten Ebene nach den Traditionen des Gulag. Wir haben eine enorme „Entmenschlichung“ erlebt, das geht nicht spurlos vorüber.

    Manchmal werden die Frauen mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt

    Haben Sie im Gefängniskrankenhaus entbunden?

    Ich nicht, nein. Ich hatte einen Kaiserschnitt und bin von einem der besten Ärzte von Ufa operiert worden. Ich habe da gemischte Gefühle. Nach der Entbindung waren 24 Stunden am Tag drei Wachleute bei uns im Zimmer … Nach einer Weile nimmst du diese Menschen nicht mehr als Fremde wahr. Sie sind weder Verwandte noch Freunde, aber du kennst sie, gewöhnst dich an sie …

    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)
    „Nach der Entbindung sind 24 Stunden am Tag Wachleute im Zimmer … Sie sind keine Fremden und keine Freunde“ © Victoria Ivleva (1990)

    Allerdings ist meine Geschichte weder die Regel noch eine Ausnahme. Wenn es nicht genug Wachpersonal für die Begleitung gibt, werden die Frauen manchmal mit Handschellen an den Gebärtisch gefesselt. Es kommt vor, dass man am ersten Tag nach der Entbindung überstellt wird, und das Kind – als freier Mensch – bleibt entweder so lange im Krankenhaus wie nötig, falls eine Untersuchung ansteht, oder es wird, was öfter geschieht, zusammen mit der Mutter in die Haftanstalt gebracht.

    Der Faden zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet

    Der Faden, die Bindung zerreißt ganz still und leise. Nach und nach wird das Kind der Mutter entfremdet. Eine Frau, die im Gefängnis entbunden hat, muss ständig ihr Recht behaupten, Mutter zu sein. Nach deiner Verurteilung (oder sogar schon früher, sobald gegen dich ermittelt wird) hört du genauso still und leise auf, ein Teil der „großen Welt“ zu sein und fängst an, nach den Regeln und Gesetzen der „kleinen Stadt“ zu leben, in der alles von der Verwaltung abhängt, und nichts von dir.

    Wie ist die übliche Vorgehensweise nach einer Entbindung?

    Kind und Mutter kommen dorthin zurück, von wo sie in die Geburtsklinik gegangen sind. Zusammen oder getrennt. Wenn der Mutter eine Überstellung per Eisenbahn bevorsteht, dann wird sie zusammen mit ihrem Säugling in einem der berüchtigten stolypinschen Waggons abtransportiert. Nach Ankunft in der Kolonie kommt das Kind ins Säuglingsheim, das sich auf dem Koloniegelände befindet (in Chabarowsk liegt es außerhalb des Geländes). Die Mutter hat das Recht, das Kind in den arbeitsfreien Zeiten zu sehen. Sie selbst unterliegt denselben Bedingungen wie die anderen Insassinnen auch.

    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)
    Schlittenfahren mit der „Gefängnisoma“ © Victoria Ivleva (2012)

    Das Kind bleibt in der Kolonie, bis es drei Jahre alt ist. Wenn die Mutter dann noch ein weiteres Jahr oder weniger absitzen muss, kann der Aufenthalt des Kindes auf bis zu vier Jahre verlängert werden. Wenn die Mutter noch eine längere Haftstrafe vor sich hat und keine Verwandten, die das Kind aufnehmen könnten, kommt das Kind in ein Kinderheim.

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder. Einige holen ihre Kinder später aus den Kinderheimen, aber der Prozentsatz ist gering. Nur sehr wenige verlassen die Kolonie gemeinsam mit ihren Müttern und kehren nie wieder dorthin zurück.

    Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die ‚da drin‘ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen

    Wie viele Stunden am Tag darf die Mutter mit ihrem Kind verbringen?

    Laut Gesetz: während der arbeitsfreien Zeit. Und wenn die Mama nicht arbeitet? Bei uns hat die ganze Einheit eine Zeitlang nicht gearbeitet, und es gab nichts zu tun außer „Sticken“ oder dem nie endenden „Putzen des Geländes“, aber trotzdem – morgens zwei Stunden und abends zwei Stunden. Dabei sind die Kinder doch so klein. Zwischen null und drei Jahren – das Alter, in dem die Mutter fast rund um die Uhr gebraucht wird.

    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    Besuchszeit – zwei Stunden morgens … © Victoria Ivleva (1990)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)
    … zwei Stunden abends © Victoria Ivleva (2012)

    Hier entsteht folgendes Problem: Bei einer Frau, die zum ersten Mal entbindet, kann es unter Stress vorkommen, dass die Mutterliebe nicht automatisch anspringt. Liebe ist ja auch eine Art Prozess. Ich kann nicht behaupten, dass die Frauen, die „da drin“ sind, völlig normale Mütter sind. Nein, sie benötigen tatsächlich Hilfe von außen.

    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)
    Liebe ist ein Prozess © Victoria Ivleva (1990)

    Ich höre oft, sogar von Menschenrechtlern, Beschreibungen wie „Frau mit schwierigem Schicksal“ oder „die wird sowieso einsitzen“ – wie sarkastisch. Ja, das sind Frauen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Und was nun? Soll man sie aufs offene Feld führen und mit dem Flammenwerfer abfackeln?

    Nicht jede Gefangene, die ein Kind hat, begreift sich als Mutter. Aber es ist falsch mit Gewohnheiten zu argumentieren, wie dem Rauchen, zum Beispiel: „Was ist denn das für eine Mutter, die raucht doch!“ Das ist schlichtweg Blödsinn. In der Zone rauchen alle, oder so gut wie alle, denn Zigaretten sind nicht bloß eine Gewohnheit, sondern auch eine Art zu kommunizieren und eine „Universal-Währung“. Darüber braucht man nicht zu sprechen. Worüber man sprechen müsste, ist Barmherzigkeit. Aber diesem Wort begegnet man leider immer seltener.

     

    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)
    Viele dieser Mütter und Kinder sehen sich nie wieder; einige holen ihre Kinder später aus den Heimen, aber der Prozentsatz ist gering. © Victoria Ivleva (2013)

    Kann eine Mutter denn zum Beispiel dort, wo sich ihr Kind befindet, als Kinderfrau arbeiten?

    Theoretisch ja. Ich habe anfangs als Kinderfrau gearbeitet, dann fing ich an, Musikunterricht zu geben. Praktisch das gesamte Personal, das mit den Kindern arbeitet, besteht aus Menschen „von draußen“. Die Kinderfrauen werden unter den Insassinnen ausgewählt. In der Regel nach dem Prinzip der „Konfliktfreiheit“ mit der Verwaltung, und überhaupt nicht danach, ob jemand ein Kind hat oder nicht.

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun

    Ist das ein Privileg?

    Man hat gute Bedingungen, auch wenn man im Gegensatz zur Arbeit in der Produktion kein Geld verdient. Die Arbeit der Kinderfrauen in der „Mutti“-Einheit wird als Gemeinschaftsdienst angesehen und nicht entlohnt. Dafür konnte man dort essen, wenn Lebensmittel übrigblieben, obwohl das, wenn es jemand mitbekommt, bestraft wird. Die Kinder bekommen viel besseres Essen als die Gefangenen. In meiner ganzen Zeit dort gab es nur ein paar Mal Engpässe in der Verpflegung der Kinder, dann hatten die Kinder ein paar Tage lang Graupen und Suppe mit Dosenfleisch, bis das Essen im Lager ankam.

    Viele unterstellen den Frauen, die sich für die Arbeit mit Kindern melden, sie hätten es auf die guten Bedingungen abgesehen. Es gibt dort eine Dusche. Die ist eklig und grauenvoll, ja, aber immerhin mit warmem Wasser. Du kannst zweimal am Tag heiß duschen. Vergleichen Sie das mal mit einmal die Woche „Banja“. Aber auch hier, die Bedingungen unterscheiden sich je nach Kolonie.

    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)
    Spaziergang © Victoria Ivleva (1990)

    Eine Mutter im Strafvollzug kann nicht besonders viel Einfluss nehmen auf Dinge, die das Kind betreffen, und trotzdem sollte sie das unbedingt tun. Dabei ist es wichtig, sich um ein gepflegtes Äußeres zu bemühen und sich angemessen zu verhalten.

    Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum ‚böswilligen Verstoß‘. Ich hatte 14 oder 15 davon

    Wie reagiert die Verwaltung auf Frauen, die versuchen, für die Rechte ihrer eigenen Kinder zu kämpfen?

    Ich persönlich war in einer seltsamen Situation: Ich stand völlig unter Schock, war aber alles andere als „stumm“. Wenn mir etwas nicht gefiel, dann habe ich das gesagt. Naja, und wenn eine stillende Mutter in den Hungerstreik tritt, ist das echter Quatsch. Sobald du anfängst, für die Rechte deines Kindes zu kämpfen, erklärt man das sofort zum „böswilligen Verstoß“. Ich hatte 14 oder 15 davon.

    Heute von diesen Verstößen zu erzählen, ist ziemlich komisch, besonders wenn man bedenkt, dass ich auf Bewährung vorzeitig entlassen wurde. Verstehen Sie, was ich meine? Verstöße und Belohnungen, ja alles liegt einzig in der Hand der Verwaltung.

    Der erste Leiter der medizinischen Abteilung (später wurde das leitende Personal ausgewechselt), der in unserer Kolonie dafür verantwortlich war, wie die Kinder untergebracht sind und was sie essen, war schon ziemlich alt. Er trank, und eigentlich war ihm alles schnurzpiepegal.

    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)
    Viele holen ihre Kinder nicht zu sich, weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind © Victoria Ivleva (2013)

    Was ist Ihrer Meinung nach das größte Problem, mit dem die Frauen nach ihrer Freilassung konfrontiert sind?

    Die Wiedereingliederung. Die Frauen kommen raus – und haben keine Ahnung, wie sie in dieser Welt leben sollen, wo sie hin sollen. Viele vergessen während der Haft – tut mir leid, wenn ich das so sage –, wie man Essen macht. Viele holen ihre Kinder genau aus diesem Grund nicht zu sich: Weil sie von ihrer Unselbständigkeit fest überzeugt sind, weil sie denken, dass sie für ihre Kinder nicht sorgen könnten. Und für die Gesellschaft sind sie keine Menschen mehr. Nein, nicht Menschen zweiter Klasse, sondern schlicht keine Menschen. Ins Lager schicken sie dich ja, um, metaphorisch gesprochen, deine Persönlichkeit „auszulöschen“. Wenn man schon über Humanismus sprechen will, dann muss man darüber schreiben, sprechen und es zeigen.

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld

    Nach Natalja Kadyrowas Dokumentarfilm Die Anatomie der Liebe [der Film porträtiert Mütter und ihre Kinder im Strafvollzug – dek] und ihrem Projekt Gefängniskinder – denken Sie, der Stein ist ins Rollen gekommen?

     

    Wir haben es geschafft, die Sichtweise der russischen Strafvollzugbehörde auf die gemeinsame Unterbringung von Müttern und Kindern herumzureißen. Es ist klar, dass das alles nicht sehr schnell passiert, aber es passiert etwas.

    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)
    Helden im eigenen Reich © Victoria Ivleva (1990)

    Natalja Kadyrowa und ich haben uns erst kennengelernt, als der Film herauskam. Ich war mit meinem Projekt beschäftigt, und Natascha drehte zu diesem Zeitpunkt schon ihre Dokumentation. Ich war erst skeptisch, dachte: Naja, noch so ein Film. Aber es kam anders. Der Film ist wichtig, programmatisch, wie man sagt. Nach seinem Erscheinen fingen die Leute an, uns zu schreiben, uns anzurufen. Ein Jahr später wurde der Film im Ersten Kanal gezeigt. Nicht zur Primetime, sondern nachts, ja, aber immerhin.

    Wie alt ist ihr Sohn jetzt?

    Wadik ist elf. Wir führen heute ein Leben, das sehr anders ist als das Leben damals. Und doch … Die Seele ist nach der Zone ein verbranntes Feld. Vor allem die weibliche. Jede Frau hat andere Schwierigkeiten: Die eine findet keinen Partner im Leben, die Nähe zu einem Mann rückt in den Hintergrund. Eine andere wird erneut straffällig, einfach weil sie wieder im „Milieu“ landet oder keinen Platz für sich findet außerhalb der Zone.

    Unser System des Strafvollzugs gehört in eine andere Epoche, es ist ein Leben, das von der großen Welt losgelöst ist. Viele kehren dorthin zurück. Sie kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen.

    Viele kommen raus und wissen einfach nicht, was sie mit dem Leben draußen anfangen sollen

    Gibt es im heutigen Russland jemanden, der sich ernsthaft für die Hilfe ehemaliger weiblicher Häftlinge einsetzt?

    Es gibt die Bewegung Rus sidjaschtschaja [Einsitzende Rus, gegründet von Olga Romanowa]. Der Fonds kümmert sich unter anderem um Hilfe für Frauen nach ihrer Entlassung. Es ist wichtig zu verstehen, dass sie genau solche Menschen sind wie alle anderen: Sie müssen essen, sich die Zähne putzen, Zugang zu medizinischer Versorgung haben … Doch die Gesellschaft reagiert ganz simpel: „Selbst schuld.“ Das war’s, Punkt.

    Ich bin zutiefst überzeugt, dass eine Frau, wenn man sie aus dem einen Boden in einen anderen verpflanzt, fähig ist, Wurzeln zu schlagen: Haus, Kinder – alles ist möglich. Ich kenne solche Beispiele. Die Haltung: „Du bist selber schuld, also sieh zu, wie du es hinkriegst“ – die ist wirklich asozial.

    Frauen unter sich © Victoria Ivleva (2013)
    Frauen unter sich © Victoria Ivleva (2013)

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