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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Verhütete Verhüterli

    Verhütete Verhüterli

    Man kann ohne Umschweife verraten, wie die Geschichte in dem kleinen Ort Bogoljubowo ausgegangen ist: Die Bewohner haben einen Sieg errungen. Ein großer Investor, den sie vertrieben haben, wollte dort im Hinterland von Moskau eigentlich knapp 200 Arbeitsplätze schaffen. Als bekannt wurde, was produziert werden soll, rief das orthodoxe Gläubige auf den Plan. Zu pikant schien das für ein Dorf, dessen Kloster Pilger aus dem ganzen Land anzieht und mit der Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche ein weltbekanntes Gotteshaus vor seinen Toren hat.

    Für Kommersant-Dengi ist Alexej Bojarski nach Bogoljubowo gefahren, um den Tumult zu begleiten, den es darum gab – und der sogar in internationalen Medien Beachtung fand. Seiner Reportage stellte Bojarski voran: „Allerdings sind nicht so sehr die Proteste der Gläubigen interessant, sondern der Umstand an sich, dass der Unternehmer ebenso wie die lokale Politikerelite überhaupt in Dialog mit ihnen getreten sind.“

    Etwa 200 Kilometer östlich von Moskau, Oblast Wladimir, im Dorf Bogoljubowo. Laut Volkszählung von 2010 hat das Dorf rund 5000 Einwohner. Entlang der Lenin-Straße (wie es sich gehört, ist das die Hauptstraße) sind wohl sämtliche hiesige Sehenswürdigkeiten versammelt: das Bogoljubower Muttergottes-Geburtskloster und eine alte Ziegelfabrik; irgendwo dazwischen liegt das triste zweistöckige Gebäude der Dorfverwaltung. Ein einsamer Passant rutscht direkt vor meinen Augen aus und stürzt – wüst Mat fluchend – auf dem vereisten Gehweg hin. Kaum aufgestanden, blickt er zu den Kuppeln hoch und bekreuzigt sich.

    Es heißt, das berühmte Kloster sei ein Anziehungsort für Pilger aus dem ganzen Land. Heute sind die Pilger allerdings vor dem Verwaltungsgebäude zu beobachten. Der Presseandrang ist wie bei einer Demo der Opposition: Minivans landesweiter und regionaler TV-Sender, Kameramänner, Korrespondenten mit Diktiergeräten, dazu ein hiesiger Videoblogger mit professionell zusammengekniffenem Auge und Selfiestick. Zum Gebäude strömt höchst unterschiedliches Publikum: graubärtige Männer, alte Frauen mit Wolltüchern, Nonnen in schwarzen Kutten, Frauen unbestimmten Alters mit einem Gesichtsausdruck von Erleuchtung.

    Die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Neri in Bogoljubowo ist weltbekannt / Foto © Nickolas Titkov unter CC BY-SA 2.0
    Die Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche an der Neri in Bogoljubowo ist weltbekannt / Foto © Nickolas Titkov unter CC BY-SA 2.0

    „Treten Sie bitte durch, und Sie, Mütterchen, hier entlang, bitte.“ Eine Frau im Pullover, sie hat sich als Lokalabgeordnete Olessja Paschtschenko vorgestellt, lenkt den Menschenstrom, der in einen Sitzungssaal mit großem Tagungstisch drängt. „Meine Damen und Herren Journalisten, Bürger von Bogoljubowo, kommen Sie, kommen Sie!“

    Am Tisch nehmen Vertreter der lokalen Regierungsbehörde Platz: der Leiter der Dorfverwaltung, die stellvertretende Leiterin der Bezirksverwaltung, der Vorsitzende des kommunalen Abgeordnetenbeirats. Außerdem zwei Damen in Kleidern wie Anfang des vorigen Jahrhunderts: die eine, mit stilisiertem schwarzem Barrett und Bluse, erinnert an eine Lehrerin aus Filmen über die Revolution, die andere mit Hütchen und Tüllschleier an eine feine Großstadtdame aus der gleichen Epoche.

    Die Abgeordnete Olessja Paschtschenko führt einen jungen, erkahlenden Mann in gutem Anzug zum Platz des Vorsitzenden – es ist der Eigentümer des Unternehmens Bergus Pawel Spitschakow. Sitzen will der Geschäftsmann nicht und quetscht sich stattdessen zwischen die zwei Flaggen unter dem Doppeladler. Ein Lachen scheint er sich dabei nur schwer verkneifen zu können. Dorfbewohner und Presseleute verteilen sich vor dem Tisch. Eins zu eins wie bei einer Disziplinarverhandlung vor der Gewerkschaftsversammlung. Nur dass nicht Lenin milde von der Wand herabblickt, sondern Wladimir Putin aus den Tagen seiner ersten Amtszeit.

    „Die Einwohner des Dorfes Bogoljubowo werden gebeten darzulegen, worauf sich die negative Einstellung zu dem Unternehmen gründet“, beginnt die Dienstälteste zu sprechen, Tatjana Sribnaja, stellvertretende Leiterin der Bezirksverwaltung. „Das Unternehmen ist absolut harmlos und vom Gesundheitsministerium der Russischen Föderation genehmigt.“ Aus der Menge ertönt es laut: „Dann erzählen Sie mal, erzählen Sie den Leuten, was die an unserem heiligen Ort produzieren wollen!“

    Und was will man hier wohl produzieren? Worum wird hier trotz Genehmigung durch das Gesundheitsministerium so ein Bohei gemacht? Um irgendetwas Radioaktives? „Kinderwindeln und Heftpflaster“, setzt der nun ernstere Geschäftsmann zum Bericht an und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Ab 2018 ist außerdem die Produktion von Latexartikeln geplant, darunter Verhütungsmittel.“ „Lümmeltüten aus Bogoljubowo!“, johlt jemand hinter mir.

    Eine Milliarde Kondome für die Heimat

    Etwa 800 Meter vom Kloster entfernt steht eine alte Ziegelfabrik. Eine ehemalige, muss man mittlerweile sagen, denn vor ein paar Monaten haben die Eigentümer entschieden, das Unternehmen zu schließen und das Gelände samt Werkshallen zu verkaufen. 200 Menschen standen vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes – für eine Ortschaft mit nur 5000 Einwohnern eine ernste Sache. Aber wie sich bald herausstellte, will der neue Eigentümer nun etwa genauso viele Arbeitsplätze schaffen.

    Roman Komow, Assistent von Investor Pawel Spitschakow, führt die Journalisten durch die Werkshallen, wo gerade die ehemaligen Anlagen abgebaut werden. Es stellt sich heraus, dass der Bergus-Besitzer quasi von hier ist: Ihm gehört das Unternehmen KIT (Kompanija innowazionnych technologiGesellschaft für innovative Technologien) in Wladimir, das Kopfhauben, Mundschutz, Überziehschuhe und Präservative herstellt. Laut Komow ist KIT der Marktführer bei Einwegmundschutz, sein Marktanteil liege bei 40 Prozent der gesamtrussischen Produktion. Der neue Standort sei notwendig für die Expansion des Unternehmens: In Bogoljubowo werde man Windeln der Marke Lelja herstellen, eine breite Palette an Heftpflastern, und außerdem werde die Produktion der Präservative Torex und Gladiator hierhin verlegt.

    Ich für meinen Teil habe von einheimischen Kondomen lange nichts mehr gehört. In der Sowjetunion stellte man das „Gummi-Erzeugnis Nr. 2“ her (vor allem in der bekannten Fabrik in Bakowka), erst in den 1980er Jahren trat das Latex-Kondom an seine Stelle. Im Laufe der letzten 20 Jahre hat es mehrere Versuche gegeben, heimische Marken auf den Binnenmarkt zu bringen: Wanka-Wstanka [dt. etwa Stehaufmännchen], Gussarskije und so weiter. Hergestellt wurde die Ware allerdings in China und Thailand. Auf die Ladentische gelangten dann die Produkte der Serpuchower Fabrik Elastomer (Marke Reflex) und verschwanden auch wieder. Der einzig nennenswerte einheimische Hersteller ist heute das Gummiwerk in Armawir, das die Präservative der Marke Eros produziert.

    Nun soll Bogoljubowo zum Zentrum der heimischen Kondomindustrie werden. Roman Komow sagt, Torex und Gladiator seien in Wladimir bisher quasi nur als Testreihe hergestellt worden; für den neuen Standort schaffe man Maschinen mit einer Produktionskraft von über 120 Millionen Stück pro Jahr an.

    „Das genaue Volumen des Kondommarktes in Russland ist unbekannt, aber, nehmen wir einmal an, es sind etwa eine Milliarde Stück pro Jahr“, schätzt Komow. „So gut wie alles davon ist Importware aus Südostasien und Deutschland.“ Er sagt, Bergus könne, die Konkurrenz mal außen vor gelassen, leicht den kompletten Import auf dem russischen Markt ersetzen. Von hier aus, aus Bogoljubowo.

    Anfang November sickerten diese Pläne zu den hiesigen religiösen Aktivisten durch. Ein kollektives Protestschreiben ging an Präsident Putin und Patriarch Kirill. Die Gemeindeglieder der Klosterkirche empörten sich über den „extremen Zynismus, an einem heiligen Ort mit dem Namen Bogoljubowo eine Fabrik zur Herstellung von Artikeln zu bauen, die sich gegen die Geburt von Kindern richten“.

    Das Schreiben wurde in der Lokalpresse zitiert, Nachrichtenagenturen griffen es auf. Und nun also haben die regionalen Behörden zur Klärung der Situation ein Treffen der Einwohner mit dem Eigentümer des Unternehmens organisiert.


    Mit Bibel und Unterschriftenlisten

    „Sind Sie gläubig? Getauft? Können Sie uns Ihr Kreuz zeigen? Zu welcher Gemeinde gehören Sie?“, der Fragenhagel, der auf den Unternehmer Spitschakow niedergeht, erinnert an die Aufnahmeprozedur in die Reihen der KPdSU. Spitschakow antwortet, er sei tief gläubiger orthodoxer Christ. Aber nicht aktiv. „Empfangen Sie Abendmahl und Sakramente von unserer orthodoxen Kirche?“ Das Volk lässt nicht locker. Der Geschäftsmann gerät ins Stocken.

    „Er hat es doch erklärt, Freunde: Er ist passiver Orthodoxer!“, ruft hinter mir laut der Videoblogger. „Ich bin nicht passiv“, verteidigt sich der Unternehmer, „der Glaube lebt für mich im Herzen … “ Es nützt nichts, man gab Spitschakow gleich zu verstehen, dass ihn bereits die Herstellung von Kondomen an sich als Unorthodoxen charakterisiert.

    Erhitzte Gemüter beim Treffen mit dem Investor in Bogoljubowo / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant
    Erhitzte Gemüter beim Treffen mit dem Investor in Bogoljubowo / Foto © Kristina Kormilizyna/Kommersant

    Eine Frau mit einer Bibel in der Hand tritt vor. „Dieses Buch sagt uns ganz eindeutig, was das für eine Ware ist, die Sie da herstellen wollen …“, sie schlägt eine markierte Stelle auf, „Kapitel 38, 1. Buch Mose … ‚Aber da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein Eigen sein sollten, ließ er seinen Samen auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau, auf dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe. Dem Herrn missfiel aber, was er tat, und er ließ ihn auch sterben.‘“

    So zeigt die versammelte Menge, dass die gegen die Kondomfabrik Protestierenden tiefschürfende Gründe für die Ablehnung jeglicher Verhütungsmittel haben. Gleich hier, auf dem Tisch, wird dann auch eine Unterschriftenliste für ein Abtreibungsverbot ausgelegt.

    Man fragt sich: Wenn die Bürger sich dermaßen gekränkt fühlen, weil neben dem heiligen Ort eine Präservativ-Fabrik entstehen soll, warum dulden sie dann zum Beispiel die Apotheke gleich gegenüber vom Kloster, die diese frevelhaften fremdländischen Artikel in großer Auswahl anbietet?

    Die Position der Verhütungsgegner wird deutlich von der Dame im antiquierten Barrett vertreten: Tatjana Fadejewa, eine ehemalige Bauingenieurin, vierfache Großmutter und Inhaberin einer Boutique für handgefertigte Mode nach Schnittmustern aus dem 19. Jahrhundert. Weil Bogoljubowo ein Hort der Heiligkeit für Gläubige sei, dürfe man ihrer Meinung nach nicht zulassen, dass der Name auf Artikeln wie Klopapier oder Kondomen geführt werde – laut Gesetz muss „Dorf Bogoljubowo“ als Herstellungsort auf der Verpackung genannt werden. Soweit ich verstehe, ist Fadejewa die Initiatorin jenes Protestschreibens, mit dem alles begann.

    Wie viele Menschen haben diesen Brief nun unterzeichnet? Einmal heißt es, gerade mal fünf Leute, dann ist von zweihundert die Rede, einige andere sprechen gar von tausend. Die Abgeordnete Olessja Paschtschenko sagt, ein Teil der Unterschriften stamme von Leuten, die hier als Moskauer Datschniki bezeichnet werden – das sind religiöse Aktivisten, die sich ein Haus im Bogoljubower Umland gebaut haben. Die Dame mit dem Tüllschleierhütchen ist so eine, vor ein paar Jahren ist sie aus Moskau hergezogen.

    „Ich bin zu allen Wählern persönlich hingegangen“, berichtet Olessja Paschtschenko auf der Versammlung. „Die Menschen sind belogen worden, ihnen wurde gesagt, das Unternehmen wäre gefährlich. Andere hatten noch überhaupt nichts von der Fabrik gehört, und sagten, sie würden liebend gern dort arbeiten, als sie davon erfuhren. Auch ich wurde einmal mit diesen Unterschriftenlisten angesprochen: Eine war gegen die Fabrik und die andere für die Errichtung eines Stalin-Denkmals.“

    Irgendwann nimmt der Dialog zwischen Volk und Wirtschaft eine konstruktive Wendung: Man schlägt Pawel Spitschakow vor, er solle seine Kondom-Produktion an einen anderen Standort verlegen, außerhalb von Bogoljubowo, und die Gemeindeglieder erklären sich bereit, bei der Suche nach einem neuen Ort zu helfen. Aber da zeigt sich, dass es keinen Weg zurück gibt: In das Projekt sind bereits rund 300 Millionen Rubel [umgerechnet rund 4,7 Millionen Euro – dek.] geflossen – in den Erwerb des Geländes, die Instandsetzung und den Umbau der Räume, den Kauf der Anlagen.

    „Also“, sagt Tatjana Sribnaja und fasst vor der Versammlung zusammen: „Wir haben den Projektleiter angehört, wir haben ihre Gegenmeinung angehört. Und jetzt macht jeder mit seiner Arbeit weiter. Das Unternehmen auf dem Gebiet von Bogoljubowo wird realisiert.“

    Das Kloster – mächtiger Akteur im Hintergrund?

    Auf den ersten Blick ist diese ganze Geschichte um den Protest reine PR. Sogar Tatjana Fadejewas Boutique hat ihren Happen abbekommen. Und was die Firma Bergus angeht, war das eine gewaltige Werbeaktion für ihre Präservative – das ganze Land kennt sie nun. In Anbetracht dessen, dass Roman Komow früher Journalist war, bin ich mir fast sicher, dass wir es hier mit einer gut geplanten Operation zu tun haben. Aber als Pawel Spitschakow plötzlich aufhört zu lächeln, während er den gläubigen Aktivisten Rede und Antwort steht, wird mir klar, dass die Situation tatsächlich gar nicht so witzig ist. Zu wirr sind unsere Zeiten, um über die zu lachen, die sie noch wirrer machen.

    Das Gesetz ist auf der Seite des Unternehmers: Die Eröffnung eines ökologisch unbedenklichen Betriebs auf selbsterworbenem Industriegelände kann ihm niemand verbieten. Öffentliche Anhörungen zu solchen Fragen sind nicht einmal vorgesehen. Warum also haben die Behörden dieses Treffen mit den Verhütungsgegnern organisiert?

    Hinter den gläubigen Aktivisten steht schweigend das Kloster, das nicht so einfach gestrickt ist. Mein Eindruck ist, dass die lokalen Behörden sogar etwas Angst vor ihm haben. Wieso auch nicht, schließlich konzentriert sich hier besonders viel Macht und Geld. Das kommunale Budget hat nach Aussage von Beamten allerdings wenig davon, denn das Kloster führt keine Steuern ab, und die pilgernden Touristen geben alles auf dem Klostergelände aus, sogar ein Hotel gibt es dort.

    Im 19. Jahrhundert war in Bogoljubowo in einem der Klostergebäude ein Krankenhaus eröffnet worden, das unter der Sowjetherrschaft natürlich an den Staat überging. Das Kloster kämpfte viele Jahre lang um die Rückgabe des Objekts. Schließlich, im Jahr 2013, wurde das Krankenhaus geschlossen und das Gebäude dem Kloster zurückgegeben; dort befindet sich jetzt besagtes Hotel für die Pilger. Und die Dorfbewohner sind praktisch ohne medizinische Versorgung geblieben. „Vielleicht fiel das mit der Politik der Krankenhauskürzungen zusammen, aber Fragen zum Verhältnis von Staat und Kirche stehen weiter im Raum“, sagt mir einer der Einwohner von Bogoljubowo.           

    In historischen Dokumenten geistert die Information herum, die Ziegelfabrik habe einst auch einen gewissen Bezug zum Kloster gehabt. Die hier lebenden Menschen schließen nicht aus, dass das Kloster einen bequemen Zeitpunkt wittert, sich die Fabrik einzuverleiben.

    „Und wenn unsere Gouverneurin Orlowa Sie persönlich darum bitten würde, sich einen anderen Standort zu suchen?“, fragt der Videoblogger den Geschäftsmann bissig. Eine Antwort bekommt er nicht, aber eines wird deutlich: Diese Möglichkeit ist gar nicht so wahnwitzig, wenn man bedenkt, dass sich Unternehmer auf offizielle Wortgefechte mit Kondomgegnern einlassen.    

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  • Der Vater der Internet-Katzen

    Der Vater der Internet-Katzen

    Dicke breitmaulige Katzen, graubetuchte Großmütter oder grienende rosa Schweine nebst verdutzt blickenden Bären – was Wassja Loshkin zeichnet, ist meist das Gegenteil von süß. Wie Kritiker darüber denken, so sagt er, ist ihm herzlich egal, und es bringt ihm eine Menge Geld ein. Seine Bilder werden seit Jahren zigfach im russischsprachigen Internet geteilt, weiterverwendet oder animiert. Eines der ihm ebenfalls zugeschriebenen Motive (ausnahmsweise keine Katze oder anderes Getier, sondern eine Karte, auf der quer über das in Rot getünchte Land geschrieben steht: „Großes wunderschönes Russland“) ist gar mal auf der Liste extremistischer Materialien gelandet.

    Dabei scheint Loshkin alles andere als politisch zu sein, wie der Besuch des Kommersant-Dengi in seinem Atelier zeigt. Der Journalist, offenbar ein Fan, zeichnet das Porträt eines Mannes, der zumindest schwer zu greifen ist: ein äußerst ironischer Zeitgenosse, der sich selbst nicht allzu ernst nimmt und doch oft ernst genommen wird. Für seinen Geschmack vielleicht zu oft.

    „Ich kämpfe ständig gegen meinen Hochmut, damit ich von der Seite nicht wie ein Idiot aussehe.“ Foto: © Kristina Kormilizyna/Kommersant
    „Ich kämpfe ständig gegen meinen Hochmut, damit ich von der Seite nicht wie ein Idiot aussehe.“ Foto: © Kristina Kormilizyna/Kommersant

    Wenn man Wassja Loshkin anschaut, denkt man eher an einen coolen Hipster als an einen Künstler: sorgfältig getrimmter Bart, trendige Brille. Aber im Atelier ist alles wie es sich gehört – ein kreativer Saustall. Von den Wänden blicken einen finstre Kerle mit Axt in der Hand oder menschenähnliche Hasen und Bären an. Mitten im Raum steht eine riesige Statue aus Plastik: ein Fettwanst mit Flügelchen. Und unter dem Tisch schaut Putin von einem Portrait verurteilend hervor. Loshkin ist fleißig, bald hat er eine Ausstellung in der Neuen Tretjakow-Galerie. Etwa 70 Bilder sollen es sein, aber im Atelier sind nur noch ein paar – es wird ordentlich gekauft: „Ich versuche, ein Bild pro Tag zu malen.“

    Manchmal erwachsen die Ideen aus irgendwelchen Wortspielen: Einfach ein Wort ausgedacht, „Schworsche“, sich hingesetzt und ein schweineartigen Sportwagen gemalt. Manchmal ist es genau umgekehrt: Er zeichnet eine Komposition, malt sie aus und klatscht irgendein Wort drauf, fast wie früher die sowjetischen Plakatkünstler: „Arbeit“ – und fertig ist das Meisterwerk!

    Gleich an der Tür erfreue ich ihn mit einer Nachricht: „Ich kenne das Geheimnis Ihres Erfolgs!“ Vor drei- bis vierhundert Jahren gab es doch diese Lubok-Bilder, da malten Künstler etwa die Hexe Baba Jaga hoch zu Ross auf einem Krokodil oder Mäuse, die einen gefesselten Kater aufs Schafott schleppen. Die These, er habe die freigewordene Nische des Lubok besetzt, gefällt ihm: „Ja, stimmt, das waren witzige Bilder mit lustigen Sprüchen, die auf dem Markt verkauft wurden: Hatte der Bauer seine Produkte an den Mann gebracht, wurde für das Geld ein Bild erstanden und das Haus damit geschmückt.“

    Das Schlimmste für ihn: seine Bilder erklären zu müssen. Als er begann, in Galerien auszustellen, kam er plötzlich mit einer ganz neuen Kategorie von Fan in Kontakt: „Im Internet gibt’s keine Rentnerinnen, und hier kommen sie in Scharen, inspizieren, loben und dann martern sie einen mit Fragen: ‚Was wollen Sie damit ausdrücken? Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?‘ Keinen Schimmer, was weiß ich denn woher.“

    Als andere Kinder Kosmonaut werden wollten, träumte Wassja Loshkin davon, Schauspieler zu werden. Später in den 90ern, als die Klassenkameraden einen auf Gangster machten, spielte Wassja Punk-Rock: „In den Liedern ging es um Tod und Teufel – kein düsterer russischer Rock, sondern Klamauk mit leichtem Hang zum Wahnsinn. Und das ist irgendwann in Malerei übergegangen.“

    Er nahm mehrere Anläufe zum Malen. 1996 fand er auf der Müllhalde eine Rolle Zeichenpapier und machte sich daran, krankes Zeug zu malen – Folter, Mord, ausgeweidete Leichen. Seine Bekannten beeindruckte das nicht. Also machte er einen Abschluss in Jura, um dann keinen einzigen Tag als Jurist zu arbeiten. Er saß ohne Geld da. Anfang der 2000er Jahre versuchte er sich dann in sujethafter Ölmalerei. Und schließlich „verwirklichte er sich in Katzen“. Er hatte ein Bild auf LiveJournal hochgeladen und jemand kaufte es für 3000 Rubel [100 Euro – dek]. Von da an pinselte er Kater wie am Fließband.

    Der Preis hängt vom Schwierigkeitsgrad ab: Ein kleines Bild mit zwei Figuren kostet 40.000 Rubel [knapp 600 Euro – dek]; ist das Bild größer und sind mehr Figuren drauf, verdoppelt oder verdreifacht sich der Preis. Gekauft wird in ganz Russland: „Ins Ausland verkaufe ich nicht. Unsere ehemaligen Landsleute wollen zwar gern etwas kaufen, aber die haben da oft ziemlich wenig Geld. Außerdem muss man Bescheinigungen besorgen, dass es sich bei dem Bild nicht um ein Kulturgut handelt …“

    Das ist eine ernste Sache: Kunsthistorikerinnen fortgeschrittenen Alters versammeln sich, begutachten das Bild, wiegen den Kopf: wertvolles Kulturgut oder nicht? Meistens fällt das Ergebnis unerfreulich für den Künstler aus. Aber Wassja braucht die Wertschätzung der Kritiker nicht:

    „Von den Malern mag ich Schischkin. Wald, irgendwelche Flüsschen – einfach schön. Außerdem mag ich Sawrassow und Aiwasowski. Also alles, was in einer sowjetischen Kindheit in den Wohnungen hing. Meine Bilder sind genauso – in erster Linie was fürs Auge. Hier zum Beispiel: Bären telefonieren mit einem Clown, der oben auf einem Baum hockt. Die Bären lächeln, der Clown hat Angst. Natürlich hat das auch einen Sinn, aber darüber denke ich nicht nach. Mir ist wichtiger, das Auge zu erfreuen.“

    Ziel seiner Kunst, so der Maler, sei, dass einer das Bild sieht und „Woah!“ sagt. Dass ihm die Sicherungen durchbrennen und er vor Lachen weinen muss. Er sagt, der beste Ort für seine Bilder seien Büros, zu schade, dass nicht alle Unternehmen das so sähen.

    Alle seine Figuren haben denselben Prototyp – als Vorlage dient immer er selbst: „Wenn ich irgendeine Fratze malen muss, dann ziehe ich sie und male sie ab. Mittlerweile schaue ich nicht mehr in den Spiegel. Die sind doch alle gleich bei mir und wandern von einem Bild aufs nächste. Ich kann ja gar nicht malen.“ In Zeiten, wo sich jeder, der eine Vase zeichnen kann, Künstler nennt, besticht Wassja mit Bescheidenheit: Kann ich nicht, weiß ich nicht, darüber denke ich nicht nach. „Ich kämpfe ständig gegen meinen Hochmut, damit ich von der Seite nicht wie ein Idiot aussehe.“

    Mit seinem Leben ist er außergewöhnlich zufrieden, mit der Epoche eigentlich auch: „Ich habe noch nie so gut gelebt wie jetzt, auch finanziell gesehen.“ Nennt ihn jemand Kämpfer gegen das Regime, ist er sichtlich überrascht, macht aber keine Anstalten, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. „Kaum postest du etwas im Internet, geht’s auch schon los: Krim, Putin, Ukraine, Misulina – jeder schreibt, was ihn bewegt. Die Leute sind gerade verrückt nach Politik, das ist das Pop-Thema schlechthin. Wir können nicht über Neurochirurgie reden. Aber wie man Russland retten soll, das weiß jeder.“

    Dass jeder in seinen Bildern etwas Eigenes sieht, hat einen großen Vorteil: Jeder kann etwas mit ihnen anfangen. Aber es hat auch Nachteile: Ständig werden ihm fremde Ideen angedichtet, manchmal sogar fremde Bilder. Seine Bilder haben sich längst in ein „Do it yourself“-Bastelset verwandelt: Man macht in Photoshop Collagen aus ihnen und alle glauben, Wassja Loshkin hätte das gemalt. Auch beim Bild „Großes wunderschönes Russland“, das auf der Liste extremistischer Materialien gelandet ist, herrscht Unklarheit über den Urheber. Man findet im Internet verschiedene Versionen. Das lässt ihn ruhig schlafen.

    Auch ohne Politik findet er das Leben interessant genug. Er hat nicht einmal feste politische Überzeugungen: „Ästhetische habe ich: Ich bin orthodoxer Stalinist. Mir gefällt die Antithese ,Wir und die‘. Wir sind die Lichten, Guten, Wunderschönen, und die haben da Schwule, Lesben, Ausländer.”Bei dem Einwand, unter Stalin hätte er wohl kaum solche Bilder malen können, lacht er: „Ich hätte das gleiche gemalt! Ich bin doch Opportunist. Dann wären es eben Bourgeois, Faschisten und Kapitalisten mit solchen Gesichtern gewesen. Den Bourgeois male ich ja jetzt auch.“ Seine Bilder sind zeitlos, denn er malt nie zur Tagespolitik: „Merinow und andere Karikaturisten machen das, was hier und jetzt ist. Bei mir ist alles ewig. Mystik, ein Appell an den innersten Zustand der Seele. Hier zum Beispiel…“, Loshkin bleibt neben einem Bild stehen, es trägt die Aufschrift: Nur durch Glauben, Liebe, Arbeit und Medizin können wir die schlimme Krankheit Homosexualität besiegen. „Dieses Bild ist neulich bei Facebook aufgetaucht:

    Zwischen dem Künstler und seinen Fans klafft ein tiefer Graben des Missverstehens: „Meine Bilder sind in Wirklichkeit gar nicht böse. Und die stopfen sie auf Teufel komm raus mit Politik voll – malen die ukrainische oder die DNR-Fahne rein und geben diese tollen Meisterwerke der Kunst als meine Arbeit aus. Es gab mal diese Talkshow NTWschniki, die haben eine fürchterliche Collage aus meinen Bildern zusammengeschnippelt, um das Studio zu dekorieren. Darin haben sich dann zwei Gruppen – sogenannte Russophobe und Patrioten – versammelt und angefangen zu streiten. Plötzlich zeigt Anton Krassowski auf diesen Schund aus Äxten und schreit: ‚Sogar Wassja Loshkin hasst Russland!‘ Mir blieb fast die Luft weg, als ich das sah: Ey, du mieses Schwein! Oder dieser Trickfilm, der gerade im Netz kursiert. Der Macher ist auf meine Webseite gegangen, hat 400 Figuren ausgeschnitten, das Ganze animiert und einen 40-minütigen Trickfilm unter dem Motto ‚Das finstere Russland‘ daraus gemacht. Stellen Sie sich mal vor, was für eine Arbeit das gewesen sein muss. Der Typ hat sie doch nicht alle. Ich hab mal reingeschaut – du meine Güte! Und überall steht ‚Wassja Loshkin‘ drunter.“

    Der Künstler wird nicht müde zu betonen, dass sich seine Bilder an das Herz richten, nicht an den Verstand: „Die Bilder berühren eine Saite der Seele. Eine gute! Heutzutage sind die Menschen in Liberale und Patrioten gespalten. Sie hassen einander, und dann sehen sie mein Bild und allen gefällt es. Mag sein, dass sie durch mich keine Freunde werden, aber ich spinne einen dünnen Faden zwischen ihnen. Eine gottgefällige Tat.“

    Höhenflüge in Traum und Wirklichkeit

    Wassja Loshkin ist ein Pseudonym. Irgendwann hat sich Alexej Kudelin mal unter diesem Namen im Internetforum von Solnetschnogorsk registriert und ihn später zu LiveJournal mitgenommen. Mittlerweile hat er sich daran gewöhnt, dass man ihn damit anspricht: „Ein Kumpel von mir, der Petersburger Künstler Kopeikin nennt mich Wassja und ich ihn Kolja. Obwohl er eigentlich Oleg heißt und ich Alexej.“ Berühmt fühlt er sich seit etwa fünf Jahren: Sogar seine Mutter hat sich einen Facebook-Account zugelegt und liked die Kunst ihres Sohnes.

    Vor drei Jahren ist er mit seiner Familie nach Jaroslawl gezogen. Hier gefällt es ihm sehr: alte Häuschen, ruhige Uferstraßen, alles ist langsamer und sicherer als im Großraum Moskau. Wenn politisierte Fans ihm etwas von Emigration ins ferne Ausland erzählen wollen, wird er fuchsig: „Wohin soll ich bitteschön? Mir haben schon die 300 Kilometer nach Jaroslawl gereicht! Alle hatten versucht, mich davon abzuhalten: Bist du verrückt geworden? Da gibt’s Junkies und ‘ne Farbenfabrik. Und überhaupt: Ich bin Russe und muss hier leben. Auch wenn es pathetisch klingt.“ Russland liebt er, weil es groß und schön ist und Seele hat. Die Natur mag er – die Wälder, Flüsse und Felder. Würde er irgendwo unter Palmen leben, würde er sofort anfangen zu trinken.

    Zugegebenermaßen hat er auch hier mal gesoffen. Da gab es so eine Phase in seiner künstlerischen Laufbahn. „Ich hab gesoffen wie ein echter Alki, nicht wie so’n Amerikaner.“

    Aber es gibt Dinge, die um einiges interessanter sind als der Suff: Er träumt davon, ein Panorama im Stil der Schlacht von Borodino zu machen, nur mit mystischem Sujet, dass zum Beispiel Engel und Dämonen miteinander kämpfen. Die Leute sollen da reingehen und völlig durchdrehen. Außerdem spielt er in der Band Ebonitowy kolotun [dt. Ebonit-Schlotterei]. Zu den Konzerten kommen rund 50 Leute. Kann ja nicht jeder ein Rockstar sein. Dafür mag sein Kind die Musik vom Papa immer mehr, will ständig, dass er sie beim Autofahren anschaltet. Ist das etwa nix?

    Kurzum, nun lebt er das ruhige Leben eines rechtschaffenen Mannes und nicht einmal die Frage, was sein wird, falls seine Kater beginnen sollten, die Leute zu langweilen, kann ihn beunruhigen: „Ich denke mir ja selbst, dass die Kunden bald die Nase voll haben werden davon. Dann werde ich Schauspieler. Ich hatte letztens mein Debut im Gogol-Center in einem Stück mit dem Titel Achtung, F. Das sind mehrere Novellen über Frauen: Mutter und Tochter, Ehefrau und Geliebte, Arzt und Patientin, irgendwelche Leidensgeschichten. Und ich war die männliche Figur, die verbindet – Vater, Ehemann, Geliebter, und sogar ein Kater. Die Rolle war eher klein, aber ich hab gut gespielt und man wird mich wieder fragen. Ach, wär ich doch jünger, es ist ziemlich anstrengend, für die Proben zwischen Moskau und Jaroslawl zu pendeln.“

    Außerdem hat Wassja noch ein UFO gesehen – ein riesiges Dreieck aus Licht, das direkt über den Dächern schwebte und dann – zisch! – davongerauscht ist in den Himmel: „Der Kosmos ist ja riesig, der passt gar nicht in unseren Kopf. Da kann es alles geben. Aber noch interessanter ist der Gedanke, dass da gar keiner ist, in diesem wahnsinnig großen Kosmos; dass wir die Einzigen sind und der Kosmos selbst uns erschaffen hat, um rauszufinden: Was bin ich denn nun?“

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  • Die Anzapf-Könige

    Die Anzapf-Könige

    „Alle klauen“ war eine geflügelte Redewendung zu Sowjetzeiten. Was das illegale Anzapfen oder Verlegen von Strom-, Gas- und Wasserleitungen angeht, könnte dieser Spruch noch heute gelten. Aber ganz so streng sieht das eigentlich keiner, könnte man meinen, wenn man Maria Schers Artikel auf Kommersant-Dengi liest:

    Auf ihrer Recherche durch ganz Russland surft sie durch Ratgeber-Foren für Gasklau-Anfänger, staunt mit den Fachleuten über die technische Finesse der illegalen Leitungsinstallateure und Haushaltsgas-Tankstellen-Besitzer und ärgert sich mit den Versorgern am meisten über die, die ihren Anschluss legal gemeldet haben und mit den Rechnungen im Rückstand sind.

    Ein lehrreicher Text, kleine Bastelanleitung inklusive.

    Illustration - Julia Gukova
    Illustration – Julia Gukova

    Am Abend des 15. März versiegte in über 700 Häusern der Ortschaft Plechanowo in der Region Tula plötzlich das Gas. Die am folgenden Morgen angerückten Handwerker stellten fest, dass das an mehreren Dutzend Stellen angezapfte Gasleitungssystem zusammengebrochen war – durch eine Leitung war Wasser in das System gelangt.

    Die ortsansässigen Roma, von denen mehr als 3000 in der Ortschaft leben, sind die hauptsächlichen Urheber der illegalen Leitungen. Sie begannen daraufhin, die Gasarbeiter mit Steinen und Müll zu bewerfen, die Reparaturwerkzeuge zu zerstören und Reifen zu verbrennen. Frauen in farbigen Tüchern stürzten sich auf die angerückten Polizeibeamten, alte Roma-Frauen und Kinderhorden schlugen mit Brettern wütend auf die Spezialeinheiten ein und wollten diese daran hindern, die illegalen Leitungen zu entfernen.

    Um die Gasarbeiter zu schützen und den Roma-Aufstand niederzuschlagen, brauchte es mehr als 500 Polizeibeamte. Die Gasversorgung wurde wiederhergestellt, jedoch sind 290 Häuser nach wie vor unbeheizt, für ihre Bewohner wurden Notunterkünfte organisiert.

    Der halbe Ort dockt sich an illegale Leitungen an

    Über die Roma beschweren sich die Einheimischen schon lange: Sie würden nicht arbeiten, hätten in Plechanowo über die letzten 50 Jahre hinter einer hohen Mauer eine Enklave errichtet, aus der heraus mit Drogen gehandelt werde. Während der Klärung des Aufruhrs fand man bei den Roma über 150 illegal selbstgebaute Häuser, die per Gesetz gar nicht an das Versorgungssystem angeschlossen werden dürfen.

    Es hat allerdings den Anschein, dass in Plechanowo auch dem Nicht-Roma-Anteil der Bevölkerung die kostenlose Gasnutzung nicht fremd ist. „Die Roma klauen andauernd Gas, und dann dockt sich der halbe Ort an deren illegale Leitungen an. Als in einer Siedlung im Gebiet Uljanowsk die Roma ihr Lager aufgeschlagen und illegale Leitungen verlegt haben, hat die ganze Straße sie angezapft“, erzählt der Experte des Fonds für Sozialforschung Chamowniki Alexander Pawlow.

    In Plechanowo wurden die illegalen Leitungen im Endeffekt entfernt und Blindstopfen eingebaut. Sie werden aber nicht lange halten. Von der meuternden Menge wurden gerade mal vier Personen festgenommen und kamen mit einer Strafe von 500 Rubel [circa 6 Euro] davon.

    Der Fall der Plechanowo-Roma ist bloß ein Beispiel für den in Russland weitverbreiteten massiven Gasklau. Laut dem Pressedienst der Gazprom Meshregiongas wurden 2015 15.000 Fälle von Erdgasdiebstahl aufgedeckt. „97,4 Prozent der illegalen Gasanzapfungen fallen auf die Bevölkerung“, erklärt man dort. Laut Quellen von Kommersant-Dengi beträgt der Gesamtumfang der Verluste durch illegale Gasentnahmen 3,4 Milliarden Rubel [circa 44 Millionen Euro].
    Um das Ausmaß zu verdeutlichen: Der Jahresertrag aus dem Gasverkauf der Gazprom-Gruppe auf dem russischen Markt betrug im Jahr 2014 789 Milliarden Rubel [circa 10 Milliarden Euro]. Davon entfallen 23 Prozent auf die privaten Haushalte, das sind knapp über 183 Milliarden Rubel [circa 2,4 Milliarden Euro]. Fast 2 Prozent der Gaslieferungen an die privaten Haushalte werden geklaut.

    Viele Russen sind wahre Fachleute in der Kunst des Gasklaus

    66 Prozent der aufgedeckten Diebstahls-Fälle durch Privatpersonen geschahen im Nordkaukasus. Dort hat sich unterdessen sogar die europäische Mode verbreitet, Autos auf Methangas umzurüsten. Methangas-Tankstellen sind russlandweit kaum zu finden, im Kaukasus so gut wie gar nicht. Dort aber, berichtet Alexander Pawlow, spiele die Privat-Garage mit Druckminderer und Gewebeschlauch oft die Rolle einer Tankstelle. So gelangt das Gas aus der Hausleitung in die Autogasflasche.

    Das Verlegen illegaler Gasleitungen mit Schweißgerät und Bohrer, das Anzapfen von Hauptrohren und den Leitungen der Nachbarn – viele Russen sind wahre Fachleute in der Kunst des Gasklaus geworden. Und den Anfängern sind zahlreiche Foren und Ratschlagseiten im Internet stets zu Diensten: „Drehen Sie das Gas ab, indem Sie das Hauptventil schließen. Überprüfen Sie mit einem Streichholz, ob Gas ausströmt. Nachdem Sie die Verbindungsstelle geschweißt haben, tragen Sie eine dicke Schicht Bauschaum auf: Wenn Bläschen aufquellen und platzen, bedeutet das, dass Sie schlecht geschweißt haben. Drehen sie das Gas wieder ab und schweißen sie noch einmal.“

    „Nicht selten endet ein solches Unterfangen mit dem Tod oder Verletzungen der Hobby-Gasarbeiter“, berichtet die Gazprom Meshregiongas. „Menschen, die sich eigenmächtig an Gasversorgungsnetze anschließen, ignorieren jegliche Unfallschutzmaßnahmen, was oft zu Explosionen, Bränden und Kohlendioxidvergiftungen führt.“

    Demnach steigt jährlich die Zahl der Unfälle, die mit dem Verlegen illegaler Gasleitungen zusammenhängen. So ereigneten sich im vergangenen Jahr in den fünf nordkaukasischen Republiken (Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Nordossetien-Alanien, Karatschai-Tscherkessien und Dagestan) 70 Unfälle, 118 Menschen erlitten Verletzungen unterschiedlicher Schwergrade, 30 kamen ums Leben.

    Den Zechpreller zu finden ist nicht einmal Fachleuten möglich

    Oft bieten Gasarbeiter selber an, illegal Gasleitungen anzuzapfen. Dann einigen sich die Hausbesitzer mit ihnen auf eine bestimmte Summe, bezahlen brav weiter, um Fragen und Prüfungen zu vermeiden, und irgendwann dann wird der Zähler zurückgedreht, indem man ihn für eine gewisse Zeit ausbaut. So zeigt er im Endeffekt einen viel geringeren Verbrauch an.

    Auch beim Verlegen der Rohre wird versucht, die Kosten zu minimieren: Da tun sich fünf oder sechs Häuser zusammen, schließen sich aber nur über einen gemeinsamen Strang an und rechnen die Entfernung zum Anschlusspunkt klein. In den Unterlagen heißt es dann, es werden 20 Meter Rohr verlegt, faktisch sind es ein Kilometer oder sogar mehr.

    Den Zechpreller zu finden ist nach der Aufdeckung des Diebstahls nicht einmal den Fachleuten möglich, wie zum Beispiel im Wohngebiet Krasny Chimik in der Stadt Gus-Chrustalny. „Die Arbeit war so filigran ausgeführt, dass die Gasfacharbeiter erst beim dritten Versuch die Anschlussstelle für die illegalen Leitungen gefunden haben. Die Öffnung und die flexible Zuleitung, die in die Erde führte, waren sorgfältig in einem Stahlständer der Niederdruckgasleitung versteckt“, berichtet der Pressedienst von Gazprom Meshregiongas des Gebietes Wladimir.

    Stromklau funktioniert über Lampenfassungen im Hausflur

    Noch größere Ausmaße hat in Russland der Stromklau – das Anzapfen von Strom gelingt viel einfacher als das von Gas. Das kann über Verlängerungskabel geschehen, die an Lampenfassungen im Hausflur angeschlossen werden, oder über zwei einfache sechs Meter lange Stangen, die an elektrische Fernleitungen angelegt werden.

    Die einfachste Variante bestehe darin, berichtet ein erfahrener Elektriker anonym der Kommersant-Dengi, sich vom gemeinsamen Nullleiter abzukoppeln. Dafür braucht man nur die Leitungen, die vom Strommast ins Haus zum Zähler führen: Nullleiter und Phase. Den Nulleiter trennt man ab, erdet ihn neu und schließt die Verbraucher dann so an, dass der Stromkreis nicht über den Strommast, sondern über die eigene Erde geschlossen wird. So bekommt der Zähler nichts mit.

    Verbreitet sind auch Manipulationen am Zähler, bei denen zunächst die Plombe entfernt und dann in eine der Zuleitungen ein kleiner Magnetschalter gelötet wird. Dieser enthält Reed-Kontakte, dünne Metallplättchen, die sich bei Magnetisierung voneinander abstoßen, aber einen Kontakt herstellen, wenn kein Magnetfeld anliegt. Direkt neben dem Zähler wird dann ein Sicherungsautomat eingebaut. Wenn der eingeschaltet ist, erzeugt er ein Magnetfeld, nur dann läuft der Strom über den Zähler. Man schaltet einfach gelegentlich den Zähler an – für den Fall einer Kontrolle –, lässt ihn aber sonst aus, um seinen eigentlichen Verbrauch zu verbergen. Fachleute, die Zähler auf diese Art manipulieren, verdienen für so eine Installation 30.000 Rubel [circa 400 Euro] – und das in ländlichen Gebieten Mittelrussland.

    „Es werden auch Gesetzeslücken ausgenutzt, um den offiziell abgerechneten Stromverbrauch zu senken“, erzählt der Anwalt Alexej Gordejtschik, Geschäftsführer der Kanzlei Gordejtschik und Partner. „Dafür existieren sogar empirische Daten über die Anzahl an LED-Lampen, die am Stromkreis angeschlossen werden können, ohne dass ihr Verbrauch durch gesetzlich zugelassenen Zähler erfasst wird.“

    Die universelle und am weitesten verbreitete einigermaßen ehrliche Reduzierung des abzurechnenden Stromverbrauchs besteht für der Bevölkerung darin, komplett auf Zähler zu verzichten und nach einem Durchschnittswert abzurechnen.

    Ölpipelines sind Goldadern

    Eine echte Goldader für Fachleute illegaler Leitungen sind Ölpipelines, mittels derer sie nicht bloß sparen, sondern sich ein ziemlich sorgenfreies Leben finanzieren können. Von der Ölpipeline Drushba im mittleren Wolgagebiet führen einige Dutzend illegaler Leitungen weg. Das geklaute Öl wird dann in sogenannten Samowaren destilliert und in seine Fraktionen getrennt. Diesel und Benzin werden dann gleich an Tankstellen verkauft. An der Fernstraße M5 zwischen Kusnezk und Toljatti sind mehrere namenlose Tankstellen zu finden, die „selbstgebranntes“ Benzin verkaufen. In den Gebieten, durch die die Pipelines führen, ernähren sich ganze Dörfer, ja Bezirke, vom Öl.

    Illegale Leitungen verärgern auch die Wasserwerke, erzählt man uns im Pressedienst der Moskauer Wasserwerke: „Den größten Schaden erleiden wir durch den direkten Wasserklau. Zudem gehen die eigenmächtigen Anschlüsse an das zentrale Kaltwasser-System mit Verstößen gegen die Bauvorschriften einher, was große Wasserverluste nach sich zieht.“

    In Tomsk sind im November 2015 mehr als 40 Häuser wegen eine Havarie ohne Wasser geblieben, nachdem ein selbsternannter Wasserinstallateur am Werk war.  Beim Verlegen der Leitung hatte es gröbste Verstöße gegeben: der Wasserleitungsschacht fehlte und das Absperrventil war von schlechter Qualität.

    Obwohl Wasserleitungen seltener angezapft werden als andere – in Großstädten ist es technisch schwer –, geschieht das im privaten Sektor vorwiegend dort, wo die Versorgungsleitungen alt sind, aus den 1980er Jahren und der Zeit davor.

    Keine wirksamen Mechanismen im Kampf gegen Zechpreller und Anzapfer

    Während die Bastler aus dem Volk immer neue Arten erfinden, die Bezahlung zu umgehen, haben die kommunalen Versorgungsdienste darauf keine Antwort – es gibt in Russland einfach keine wirksamen Mechanismen im Kampf gegen Zechpreller und Anzapfer, und es ist schier unmöglich, die Urheber der meisten illegalen Leitungen aufzuspüren.

    Im Nordkaukasus sind die Bedingungen für den Gasklau wie von Gott geschaffen: Es gibt  eine große Anzahl illegaler Bauten, in vielen Dörfern gibt es schlicht keine Adressen, aber die Hauptsache ist die Nähe zur Ferngasleitung, über die der Gastransit nach Europa erfolgt.

    Noch viel komplizierter sei es, das illegale Anzapfen von Stromleitungen zu entdecken, und erst recht, den Schaden zu beziffern, unterstreicht Oleg Jakowitsch, Generaldirektor von Schtarkenergostroj.

    Erschwerend kommt hinzu, dass Verluste durch illegale Leitungen, verglichen mit dem allgemeinen Transitvolumen, unwesentlich sind: Für Öl und Gas schwanken die Verluste zum Beispiel zwischen vier und sechs Prozent. Wären sie höher, würden sie dennoch keine reale Bedrohung für die Gasfirmen darstellen, ist Alexander Pawlow überzeugt.

    „Die Gasvertriebsunternehmen bekommen das Gas nahezu kostenlos und erwirtschaften den Gewinn durch die Zahlungen der Bevölkerung. Sie sind nur an einem interessiert: das Gasverteilungsnetz auszudehnen, damit regionale und kommunale Haushalte für den Anschluss neuer Ortschaften zahlen.“

    Jenseits der Klauerei macht sowohl den Gas- als auch den Stromunternehmen ein ganz anders Problem zu schaffen: Die Abnehmer zahlen nicht für legal bezogene Ressourcen.

    So betrugen die Gesamtaußenstände für Wärmeenergie am 1. Februar 2016 201,4 Milliarden Rubel [circa 2,6 Milliarden Euro], berichtet die stellvertretende Direktorin der Abteilung für Außenbeziehungen und strategische Entwicklung des Verbandes der Energieerzeuger Natalja Chishnaja.

    Riesige Rückstände bei zahlenden Abnehmern

    Seit Jahresbeginn ist der Rückstand um 31,5 Milliarden [circa 410 Millionen Euro] gewachsen, der Schuldenabbau beträgt nur 2,9 Prozent, wobei ein Großteil der Schuldner juristische Personen, insbesondere Industrieunternehmen sind, die Geld für fast 20 Prozent der verbrauchten Wärme schulden. Laut Chishnaja, sieht es bei den Schulden für Strom nicht besser aus: Ende 2015 betrugen die Gesamtaußenstände auf dem Großhandelsmarkt 75 Milliarden Rubel  [circa 980 Millionen Euro] – unter Berücksichtigung der Schulden für Abtretungsrechte, was um 6 Milliarden Rubel  [circa 78 Millionen Euro] mehr ist, als im Vorjahr.

    „Auch wenn es paradox klingt, Verluste durch illegale Leitungen und Schuldenrückstände sind oft vorteilhaft für Ressourcenerzeuger“, urteilt der Experte Sergej Belolipezki. „Ressourcenerzeuger melden den zuständigen Ausschüssen Außenstände, plus Ausgaben und Kosten, die sie zu tragen haben, berichten, wie schlecht es ihnen geht, nur um die nächste Tariferhöhung durchzudrücken.“

    Die Sanktionen für Diebe sind unbedeutend, zumal es überhaupt selten soweit kommt. „Etwa 50 Prozent der Anzeigen werden gar nicht geprüft, in weniger als 1 Prozent der Fälle sind Strafverfahren eröffnet worden, meistens kommt es zu einem Ordnungswidrigkeitsverfahren, das mit einer Geldbuße endet. Dies führt keineswegs dazu, den illegalen Gasverbrauch zu mindern, denn für den Schuldigen lohnt es sich eher, die Geldbuße als das real verbrauchte Gas zu bezahlen“, berichtet der Pressedienst der Gazprom Meshregiongas.

    Die Unternehmensvertretung in Orenburg bestätigt folgende Statistik: Im Zeitraum von Januar bis September 2015 hat das Gasunternehmen insgesamt 134 Anzeigen bei der Polizei gegen illegale Leitungsverleger erstattet. 121 Personen sollten ordnungsrechtlich und nur 13 strafrechtlich belangt werden. Nur eine Person konnte unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden, und auch die kam mit einer Bewährungsstrafe von 10 Monaten davon.

    „Wir brauchen keinen weiteren Verwaltungs-Trichter, der alles verschlingt, sondern einen freien Markt“

    Im Strafgesetzbuch existiert gar kein Artikel über das Anzapfen von Leitungen, daher wird in allen Fällen, in denen ein großer Schaden entstanden ist, Artikel 158 (Diebstahl) angewendet. Ein entsprechender Artikel ist ebenfalls im Verwaltungsgesetzbuch zu finden, die Geldbuße beträgt 10.000 bis 15.000 Rubel [circa 130 bis circa 200 Euro], und das unter Berücksichtigung der Erhöhung seit diesem Jahr (früher betrug sie 3.000 bis 4.000 Rubel [circa 40 bis 50 Euro].

    „Angesichts dieser Probleme bestehen wir darauf, dass die Rechtschutzorgane verstärkt Rechtsverletzungen in der Gasversorgung aufdecken“, fordert man bei Gazprom Meshregiongas.

    „Wir brauchen keinen weiteren Verwaltungs- und Kommandotrichter, von dem wir immer weiter eingesogen werden, sondern einen freien Markt, einen selbstregulierenden Mechanismus mit Feedbackfunktion, damit es dem Erzeuger zu Ohren kommt, wenn der Verbraucher nicht mehr in der Lage ist zu zahlen und es zum Diebstahl kommt. Wir rollen immer weiter in Richtung Sozialismus, wo alles allen gehört und somit keinem“, findet Sergej Belolipezki.

    Solange es weder einen normalen Markt noch Kontrolle gibt, kann man alles Mögliche verschärfen und verbieten. In den sozialen Medien hat neulich eine Erklärung der russischen Behörde für Veterinärwesen und Pflanzenschutz Rosselchoznadzor für Begeisterung gesorgt: Das Sammeln von Trockenholz sowie durch Wind und Sturm abgefallene Äste werde als Diebstahl geahndet. Schon klar, es muss erst saftige Haftstrafen für das Einsammeln von Reisig setzen, bevor die Leute auf solche Verbote hören.

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  • Die Silikonfrau

    Die Silikonfrau
    Illustration - Julia Gukova
    Illustration – Julia Gukova

    Die Rolle der Frau in der russischen Gesellschaft ist paradox: Zum einen sind fast alle Frauen berufstätig, mit großer Selbstverständlichkeit auch in typischen Männerdomänen – ein Erbe nicht zuletzt auch der sozialistischen Vergangenheit. Auf der anderen Seite herrscht die Auffassung vor, Frauen haben vor allem eins zu sein: liebreizend, häuslich und auf charmante Weise schwach. Gerade am heutigen Weltfrauentag, der in Russland am Arbeitsplatz, mit Freunden und in den Familien ausgiebig gefeiert wird, ist das Klischee der „holden Dame“ immer wieder Leitmotiv.

    Irina Begimbetowa und Emma Tertschenko setzen sich damit auseinander, wieso sexistische Werbung und Marketingkampagnen in Russland ausgezeichnet funktionieren, weshalb Frauen weniger verdienen als Männer und doch soviel Geld dafür ausgeben, ihnen zu gefallen – und warum Feminismus in Russland heute selbst von Frauen immer noch als ein Schimpfwort verstanden wird.

    Die Schauspielerin Julija Topolnizkaja, die in dem Videoclip zu dem Leningrad-Song Exponat die Hauptrolle spielt, erzählte in Interviews, sie habe Angst gehabt, den Zuschauern könnte ihre Darstellung nicht gefallen. Wie sich herausstellte, war diese Sorge unbegründet. Dafür spricht erstens der Irrsinserfolg des Videoclips: mehr als 51 Millionen Views auf YouTube innerhalb von einem Monat.

     

    Zweitens die dort geposteten Kommentare. Die schauspielerische Leistung beschäftigt die Zuschauer offensichtlich weniger, etwa die Hälfte der Kommentare betrifft – vollkommen ernst gemeint! – die Frage, welche Chancen die junge Frau mit den Mega-High-Heels wohl habe, ihren heißbegehrten Sergej zu erobern. „Die ist doch potthässlich!“, jauchzt eine gewisse X. „… und ihr Arsch ist echt ein bisschen zu fett“, meint Y. schadenfroh, und Z. merkt mitleidig an: „Die roten Schuhsohlen hätte sie sich auch sparen können. Ein Mann guckt nicht auf die Schuhe, den interessiert zuerst die Figur und dann das Gesicht.“ Oder, es wird gleich abgebügelt: „Mädchen, die fluchen – das ist nicht schön.“

    Die Ironie des Clips geht an den Kommentatorinnen weitgehend vorbei, dafür kennen sie sich mit den elementaren Dingen aus: Sollen sich doch irgendwelche abgehobenen Damen um ihre Frauenbefreiung kümmern – sicherer und kuschliger lebt es sich nach den Regeln der gewohnten sexistischen Welt.

    Die Angstverkäufer

    Eine junge Frau mit entblößtem Oberkörper blickt lasziv von einem Plakat herunter, wobei sie ihre Brüste mit den Händen bedeckt. „Klein, aber mein!“, lautet der Text zu dem Bild. Es handelt sich um Werbung für Wohnungen in dem Neubaugebiet von Tscheboksary. Ihre Macher würden nicht nur in den USA, sondern vermutlich auch im traditionalistischen China zu einer saftigen Geldstrafe verurteilt werden. In Russland ist so etwas an der Tagesordnung.

     
    „Klein aber mein“ – Werbung für Wohnungen in einem Neubaugebiet in Tscheboksary

    Oder: Der Showman Dimitri Nagijew wechselt in einem Restaurant vielsagende Blicke mit einer Unbekannten. „Sie ist aus Petersburg, aber sie kann auch asiatisch. Und sie ist jederzeit und überall bereit, meinen Hunger zu stillen“, ertönt eine Stimme aus dem Off. Es ist natürlich nicht die junge Frau am Tisch, die den Hunger stillen soll – gemeint ist eine Kette von Asia-Restaurants in St. Petersburg namens Eurasia. Ein weiteres Beispiel ist die Werbung für ICQ-Internettelefonie, bei der Pawel Wolja die Qualität des Internetsignals mit der Größe der weiblichen Brust vergleicht: „Internet 2G ist wie 70A: immerhin was da, Gott sei Dank.“

    Geht es um Mayonnaise oder Pampers, dann blicken uns Hausfrauen vom Bildschirm entgegen, alles Übrige sollen Busen und Popos an den Mann bringen, und für die Frauen selbst gibt es Dutzende, ja Hunderte von Kursen zum Thema Wie werde ich unwiderstehlich.

    Sexismus wird verkauft und gekauft. „Wir beobachten die sozialen Netzwerke und die Internetforen genau, bevor wir eine Werbekampagne starten: In Russland sind es wenige Leute, denen die Rechte der Frauen wirklich wichtig sind. Eine feministisch ausgerichtete Kampagne wird hier leider immer nur für eine kleine Zielgruppe funktionieren“, erklärt Michail Perlowski, Kreativ-Direktor der Werbeagentur AnyBodyHome! Und fügt in bester Sexismustradition hinzu: „Unter den Produktmanagern, unseren Auftraggebern, sind viele alleinstehende Frauen mit Kindern. Die kleben an ihren Sesseln, sie müssen ihre Familie ernähren. Die denken sich nichts Neues aus, verwenden einfach die althergebrachten Stereotype, die das Massenpublikum garantiert ansprechen.“

    Das Erfolgsrezept sexistischer Vermarktung heißt: Verkaufe Angst. Die Angst, alt zu werden, hässlich zu werden und allein zu bleiben. Es gibt zu wenig Männer, nicht genug für alle, und wenn du nicht schön bist, heiratet dich keiner, und selbst wenn, lässt er sich wieder scheiden und keiner will dich mehr haben. Mit Angst kann man einer Frau alles aufschwatzen, um diesem elenden Schicksal zu entrinnen.

    Die russischen Frauen springen voll darauf an. Daten des Branchenverbands Cosmetics Europe zufolge betrug das Marktvolumen für Kosmetik in Russland im Jahr 2014 24,6 Milliarden Dollar. Heruntergerechnet bedeutet das, dass eine Russin im Jahr durchschnittlich 192 $ für Kosmetik ausgibt. Mehr als eine Französin (166 $), eine Deutsche (142 $) oder eine Engländerin (165 $).

    Wenn man diese Ausgaben dann noch ins Verhältnis zum Durchschnittslohn setzt, erscheint das schier unbegreiflich: Eine Russin gibt ca. 30 Prozent ihres Gehalts für Kosmetik aus, während es für eine Französin oder Italienerin rund 5 %, für eine Deutsche ca. 4 % sind. Ein Drittel ihres Einkommens also wendet eine Russin für ihre Schönheit auf, obwohl (oder gerade weil? – das bleibt ein Rätsel) der geschlechtsspezifische Gehaltsunterschied in Russland größer ist als in allen anderen Ländern Europas. Die durchschnittliche Russin verdient um 30 % weniger als ihr Mann, der Durchschnittsrusse; die Deutsche um 21,6 %, die Engländerin um 19,7 %, die Französin um 15,2 %.

    Nicht einmal die Wirtschaftskrise wirkt sich auf die Ausgaben der Russinnen für ihre Schönheit aus – sie sinken kaum einmal, steigen sogar eher. Bei der letzten Erhebung des Lewada-Zentrums wurde auf die Frage, wie oft man zur Kosmetikerin gehe, um 10 % seltener „nie“ geantwortet als beim Mal zuvor.

    Feminismus verkauft sich nicht

    Sexismus ist in Russland eine heiße Ware, doch ein Ausgleich aus der feministischen Produktpalette fehlt. Formal war Russland (genau genommen, sein Vorgänger die Sowjetunion) weltweit das erste Land, in dem der Feminismus gesiegt hat. Doch dieser Sieg betrifft nur politische Rechte und das Recht auf Arbeit.

    Im kulturellen Diskurs fehlt der Feminismus fast vollständig, so dass man sogar gebildeten Leuten die Bedeutung des Begriffs erklären muss. Im Grunde sind nur die radikalen Ausläufer des Feminismus bekannt, beziehungsweise der Feminismus wird überhaupt nur in karikierter Form wahrgenommen.

    „Eine Feministin ist ein Mensch, der in mehreren früheren Inkarnationen ein Mann war und dann plötzlich, völlig unerwartet, als Frau auf die Welt kommt“, so der Crashkurs auf einer Website. „Natürlich ist dieser Mensch schockiert. Er ist empört! Vielleicht war er im vorigen Leben Fallschirmjäger. Und auf einmal wird er wie eine Frau behandelt. Soll Kinder gebären, Essen kochen und statt Granaten feurige Blicke werfen. Nichts ist schlimmer für einen gestandenen Mann, als für eine Frau gehalten zu werden! Und wütend beginnt er, für seine Rechte zu kämpfen.“

    Die Koordinatorin des Projekts Geschlechterdemokratie der Heinrich-Böll-Stiftung, Irina Kosterina, ist mit Aufklärungsveranstaltungen in ganz Russland unterwegs und erzählt, sie werde oft gebeten, das Wort „Feminismus“ nicht zu benutzen. „Was den statistischen Durchschnittsrussen angeht, ist dieser Begriff zu bestimmten progressiven, fortschrittlichen, gebildeten Gruppen durchgedrungen und sie haben keine Angst mehr davor. Aber manche fürchten ihn immer noch“, sagt Kosterina.  

    Die Schriftstellerin und Business-Trainerin Irina Chakamada meint, es sei überhaupt nicht mehr sinnvoll, vom Feminismus zu sprechen, denn die aufgeklärte Menschheit lebe schon lange im Zeitalter des Postfeminismus. Feminismus sei die Zeit der Revolution, des Kampfes für die Rechte der Frauen gewesen, im Postfeminismus ruhe man sich auf den Lorbeeren dieser Siege aus. Die Postfeministinnen pflegen das Vermächtnis der Feministinnen, doch anstatt für die Selbstverwirklichung zu kämpfen, können sie sich auf ihre Umsetzung konzentrieren.

    Vielleicht stimmt das für die aufgeklärte Menschheit, doch Russland ist einer kulturellen feministischen Revolution noch nicht mal nahegekommen. Da es keine revolutionäre Bewegung gibt, wirken auch Versuche, sich an ihre Spitze zu stellen, ziemlich fragwürdig.

    Vor vielen Jahren war es Maria Arbatowa, die die Rolle der Fahnenträgerin des russischen Feminismus für sich beanspruchte. Diese Rolle spielte sie in ihrer in den 90ern beliebten Talkshow Ja sama (Ich mach das selbst). Eigentlich sagte Maria im Fernsehen nichts Radikales, sondern predigte einfache Wahrheiten im Sinne liberaler europäischer Werte. 1999 verließ Arbatowa die Talkshow. Ihr Image zu Geld zu machen, gelang ihr jedoch nicht.        

    Heute darf die 35-jährige Journalistin und Bloggerin Bella Rapoport den Titel der berühmtesten Feministin für sich in Anspruch nehmen. Ihre Karriere als Feministin begann in den sozialen Netzwerken, wo sie ihre Gedanken mit Freunden teilte und idealistisch der Meinung war, sie lebe nicht vergeblich, wenn wenigstens einer Frau auf dieser Welt die Augen geöffnet würden.

    Vor zwei Jahren schrieb Rapoport in Snob eine Kolumne mit dem Titel Das Recht auf Sex, in der sie sich Gedanken über die Tatsache machte, dass das Recht der Männer auf Sex im herrschenden Wertesystem stärker gewichtet wird als das der Frauen. Die Kolumne brachte Bella Popularität ein (bis heute über 135.000 Aufrufe), woraufhin auch andere Medien sie als Autorin einluden.

    Weiter punkten konnte sie im Meduza-Gate: Im März des vergangenen Jahres publizierte das Online-Magazin Meduza die Anleitung Wie es funktioniert, in Russland kein Sexist zu sein und warb dafür in den sozialen Netzwerken mit dem Satz „Männer, hier lernt ihr, Miezen1 nicht zu beleidigen“. Mehr als ein Artikel befasste sich mit dem Wort „Mieze“, die Bloggerszene lief Sturm, und Rapoports Kolumne zu dem Thema auf Colta.ru erreichte fast 268.000 Aufrufe.

    In den letzten Monaten hat Bella übrigens nichts mehr veröffentlicht, und künftig will sie viel weniger über Feminismus schreiben als bisher. Sie brennt nicht darauf, das Banner der wichtigsten Frauenrechtskämpferin Russlands zu tragen. Sie sei müde und enttäuscht, sagt sie – darüber, wie die Gesellschaft auf sie reagiere und wie man in Russland mit Frauen umgehe. In den sozialen Netzwerken und den Kommentaren zu ihren Kolumnen hatte man Bella Rapoport rasch klargemacht, was sie „in Wirklichkeit ist“: Eine hässliche Jüdin, die die russischen Frauen ins Verderben stürzen wolle, eine Lesbe und einfach eine dumme Nuss.

    Wölfe als Hüter der familiären Werte

    Auf der Agenda des westlichen Feminismus steht derzeit, den Weg freizumachen für Frauen im Beruf, die Gehälter anzugleichen, Plätze in Aufsichtsräten sicherzustellen. Das wirkt in Russland, wo die Grundrechte der Frauen grob missachtet werden, eher wie eine Karikatur. Jedes Jahr sterben mehrere Tausend Frauen an häuslicher Gewalt – 2013 waren es 9000. Der Statistik zufolge werden 40 Prozent der Gewaltdelikte innerhalb der Familie begangen.

    Dieses Problem lässt sich nicht ohne staatliches Eingreifen lösen, aber die Aktivistinnen haben Mühe, sich über all die Rhetorik der „spirituellen Klammern“ und der „Werte“ hinweg Gehör zu verschaffen. Eine kleine Anekdote: Im vergangenen Jahr war der Russische Frauenverband an der Vergabe der präsidialen Fördermittel für gemeinnützige Organisationen beteiligt. Er versagte einem Projekt die beantragten 4 Millionen Rubel für eine umfassende Informations- und Auskunftsplattform für weibliche Opfer häuslicher Gewalt. Dafür wurden 9 Millionen Rubel an den Biker-Club Nachtwölfe für die Organisation von Neujahrsfesten vergeben.

    Punktuell entstehen in Russland aber dennoch Projekte zum Schutz von Frauenrechten. Nachdem sie die Födermittel nicht erhalten hatten, realisierten die beiden Juristinnen Anna Riwina und Mari Dawtjan die Website in Eigenleistung, unterstützt von Freunden und Freiwilligen und in Zusammenarbeit mit einem Konsortium regierungsunabhängiger Frauenverbände.

    Es gibt auch ganz rührende Projekte im Geist der Suffragetten des frühen 20. Jahrhunderts, in St. Petersburg zum Beispiel die von den vier jungen Künstlerinnen Anna Tereschkina, Antonina Melnik, Maria Lukjanowa und Nadeshda Katastrofa gegründete Nähkooperative Schwemy. Die Kooperative funktioniert auf der Basis von Gleichberechtigung, sämtliche Entscheidungen werden im Konsens gefasst, und die Gründerinnen verstehen das Nähen als Prozess der Emanzipation: Sie steppen nicht einfach Nähte, sondern hören während der Arbeit Audiobooks, zum Beispiel von Marx.

    Ihren Prinzipien verleihen die jungen Frauen durch ihre genähten Werke Ausdruck. So nähten sie etwa die Kostüme für das Stück Vagina-Monologe – einem New Yorker Theatermanifest, das 1996 zum ersten Mal aufgeführt wurde, 2005 nach Russland gelangte und seither mehr oder weniger erfolgreich von Bühne zu Bühne zieht. Eine andere Spezialität des Ateliers sind die queer-feministischen Röcke – luftige Umhänge mit großen Taschen, die nach dem Willen der vier Näherinnen sowohl von Frauen als auch von Männern getragen werden sollen.

    Das mögen manche als lächerlich empfinden, aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, mit Spießbürgern in der Sprache der Röcke zu sprechen. Diese Sprache ist ihnen im Gegensatz zu den Wörtern „Misogynie“ und „Objektivierung“, mit denen zeitgenössische feministische Autorinnen um sich werfen, vielleicht verständlich.


    1.In einer früheren Version hatten wir für russisch „tjolotschka“ die (nicht ganz korrekte, aber wörtlichere) Übersetzung „Kälbchen“ verwendet – „Mieze“ ist näher am russischen Idiom.

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