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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Der Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert“

    „Der Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert“

    Mitte Dezember hatte Russland in einem Schreiben unter anderem ein Ende der Ausdehnung der NATO gefordert und auch einen Truppenabzug aus Ländern, die bis 1997 nicht Teil des Bündnisses waren. Ende vergangener Woche kamen die schriftlichen Antworten und fielen aus wie erwartet: Weder die NATO noch die USA können Russland die gewünschten Sicherheitsgarantien geben. 

    Unterdessen verlieh Putin im Telefonat mit dem französischen Präsidenten Macron den russischen Forderungen nochmal Nachdruck. Beide Länder erklärten sich zudem bereit, die Minsk II-Gespräche im Normandie-Format fortzusetzen. Der russische Außenminister Lawrow forderte ähnliche Garantien auch von der OSZE. Angesichts der hohen Konzentration russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine, auch in Belarus und auf der Halbinsel Krim, die Russland 2014 angliederte, stockten einzelne NATO-Mitgliedsländer ihre Truppen in Osteuropa auf, auch US-Präsident Biden kündigte an, das US-Militärkontingent aufzustocken.

    Gleichzeitig warnte der ukrainische Präsident Selensky vor Panikmache und betonte, dass die Kriegsgefahr nicht größer sei als zuvor. Auch Nikolaj Patruschew, Chef des russischen Sicherheitsrats, sagte der Agentur Interfax zufolge: „Wir wollen keinen Krieg, wir brauchen ihn überhaupt nicht.“

    Und nun? Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Center, sieht im Interview mit Kommersant – das er noch vor den Antworten der USA und der NATO gab – zwei mögliche Szenarien: ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt.

    Für Dimitri Trenin gibt es zwei mögliche Szenarien – ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt / Foto © Gleb Schtschelkunow/Kommersant
    Für Dimitri Trenin gibt es zwei mögliche Szenarien – ein eher rationales und eines, das auf Eskalation setzt / Foto © Gleb Schtschelkunow/Kommersant

    Jelena Tschernenko: Stehen wir kurz vor einem bewaffneten Konflikt?

    Dimitri Trenin: Wenn wir von einer kurzfristigen Perspektive sprechen, vom nächsten Monat, dann glaube ich nicht. Was die langfristige Perspektive angeht, hätte ich Fragen an beide Seiten.

    Die Frage an an den Westen wäre: Wird die Führung in Kiew, – seien es einzelne Abteilungen oder auch Akteure, die außerhalb ihrer Kontrolle stehen und mit Schattenfiguren zusammenarbeiten –, eine Provokation starten, um Russland in einen Krieg hineinzuziehen? Die Antwort auf diese Frage ist eher nein. Ein solches Szenario würde den Verantwortlichen in Kiew nicht sonderlich nützen. Denn eine solche Provokation kann nur mit einer Niederlage der ukrainischen Streitkräfte enden. 

    Alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht

    Das Ausmaß der Niederlage könnte für die Ukraine unterschiedlich stark ausfallen. Aber egal, wie hoch der Preis dieses Sieges für Russland wäre, er könnte den kolossalen Schlag nicht wettmachen, den eine Niederlage der Ukraine der Reputation der Biden-Regierung versetzen würde – vor allem innerhalb der USA. Nach Afghanistan zum zweiten Mal einen prominenten regionalen Verbündeten zu verlieren, wäre für sie gerade innenpolitisch äußerst gefährlich. Hinzu kommt der ganze NATO-Kontext und das amerikanische Renommee in der Welt. Denn auch Länder wie China oder der Iran verfolgen die Situation ganz genau.

    Mit anderen Worten, Sie halten das georgische Szenario für unwahrscheinlich?

    Ja, ich habe den Eindruck, dass die Amerikaner genügend Kontrolle über die ukrainische Regierung und die dortigen Akteure haben.

    Und welche Frage haben Sie an Russland?

    Ich glaube, alles wird davon abhängen, wie der Oberbefehlshaber – der Präsident der Russischen Föderation – das einschätzt, was da vor unseren Augen geschieht. Und hier gibt es in der Tat viele Fragen, denn wir können nicht wissen, was genau Wladimir Putin sich dabei denkt. Welchen Plan verfolgt er? Was ist seine Strategie? Welche Optionen sieht er? Das lässt sich von außen sehr schwer beurteilen.

    Wie könnte sich die Lage entwickeln?

    Die erste Option wäre wohl recht logisch: Man erklärt, dass wir nie wirklich mit alldem (der Nicht-Erweiterung der NATO und so weiter – Anm. Kommersant) gerechnet haben – wir sind ja nicht blöd, wir verstehen das völlig, aber wir mussten endlich aus der Sackgasse heraus, diesen ganzen westlichen politisch-diplomatischen und militärischen Klüngel aufmischen, vor allem in Washington, und wollten den Ernst unserer Absichten demonstrieren – und haben ja auch etwas erreicht. Erstens haben sie unsere Vorschläge nicht grundweg zurückgewiesen, sondern darauf reagiert, sie haben sich sogar bereit erklärt, unsere Vorschläge schriftlich zu beantworten, und das bedeutet de facto, dass sie unsere Sorgen und Forderungen ernst nehmen.

    Zweitens haben sie eingewilligt, über für uns wichtige Themen zu sprechen, die sie früher ignoriert haben. Zum Beispiel soll es Verhandlungen über ein Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen geben. Früher wollten sie überhaupt nichts davon wissen, jetzt wollen sie von sich aus darüber verhandeln. Außerdem sind sie jetzt bereit, über eine Einschränkung von Manövern in der Nähe unseres Staatsgebiets zu sprechen, all diese Marine- und Luftwaffenübungen, einschließlich der Simulation von Atomraketenstarts. Wir haben ihnen früher mehrfach gegenseitige Zurückhaltung auf diesem Gebiet angeboten, aber erst jetzt hören sie uns zu. Auch auf andere russische Initiativen gibt es eine Reaktion.

    Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen

    Die russischen Forderungen wurden so entschieden vorgebracht, um die westlichen Mächte, allen voran die USA, zu Sicherheitsgarantien zu bewegen, die für uns akzeptabel sind.

    Es war für uns nicht nur wichtig, die Situation an unseren westlichen Grenzen zu entspannen, sondern auch, den Westen dazu zu bringen, endlich mit uns über Fragen der europäischen Sicherheit zu sprechen.

    Das ist bereits durch die Tatsache geschehen, dass ein Dialog in Gang gekommen ist. Der Westen ist zum ersten Mal seit den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung bereit, mit Russland über die Sicherheit in Europa zu sprechen. Zwischen 1999 und 2021 hing diese Sicherheit vom Good oder Bad Will der USA ab, mit der NATO als ihrem Hauptinstrument. Jetzt verhandeln die USA und die NATO die europäische Sicherheit – genau wie in Zeiten von Jalta und Helsinki – mit Russland, und dadurch steht diese Sicherheit jetzt auf zwei Pfeilern statt auf einem.

    Kann man davon ausgehen, dass der Westen und vor allem die USA in diesem Szenario dazu bereit wären, erheblichen Druck auf die Ukraine auszuüben, damit sie das Minsker Abkommen erfüllt?

    Das hoffe ich sehr, aber davon ausgehen würde ich nicht. Die Vereinbarungen von Minsk sind ein diplomatischer Sieg für Russland, der auf dem militärischen Sieg aufbaut, den die Rebellen und die sie unterstützenden Kräfte über die ukrainische Armee im Februar 2015 errungen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob die USA verstehen, dass der Schlüssel, die Situation um die Ukraine zu entspannen, in der Erfüllung des Minsker Abkommens liegt, aber genau so ist es.

    Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben

    Im Prinzip lassen sich die Vereinbarungen noch umsetzen. Man könnte den Donbass immer noch unter den darin formulierten Bedingungen in die Ukraine reintegrieren, wonach die Rechte der Bewohner dieser Regionen gewährleistet und die territoriale Unversehrtheit der Ukraine in durch Russland anerkannten Grenzen bewahrt würden. Aber bisher sehe ich keine Bereitschaft Washingtons, Kiew dazu zu bringen, das Minsker Abkommen zu erfüllen.

    Der schwelende Konflikt im Donbass ist der beste formale Vorwand, um weiter Druck auf Moskau auszuüben. In den letzten Jahren zielt die Politik in Washington darauf ab, den Druck auf Russland zu erhöhen – und die Ukraine ist nur einer ihrer Hebel. Wenn ich die Strategie des Westens richtig verstehe, dann wird dieser Druck seinen Höhepunkt erreichen, wenn in Russland der Prozess des Machttransfers beginnt. In einer Konfrontation mit China brauchen die Amerikaner ein gefügigeres Russland. Aber das ist ein lang- und kein kurzfristiges Ziel.

    Okay, das ist die erste Variante – kräftig aufmischen und nehmen, was man kriegt.

    Ja, hier kann man sich in Erinnerung rufen, dass Politik die Kunst des Möglichen ist, und noch viele andere Argumente vorbringen, die für diese Variante sprechen.

    Die zweite Variante bedeutet, dass tatsächlich alles sehr ernst ist und wir uns bereits an einem Punkt befinden, an dem eine neue russische Politik die alte allmählich verdrängt. In meinem Buch New Balance of Power habe ich geschrieben, dass die russische Außenpolitik – sowohl unter Jelzin als auch unter Putin, einschließlich der Medwedew-Periode – auf den Schultern der Politik Gorbatschows steht. Es geht auf die eine oder andere Weise um eine Fortsetzung der Integration in die westliche Welt, um das Finden eines eigenen Platzes darin, um die Suche nach einem Gleichgewicht der Interessen in den Beziehungen zu den USA und anderen Ländern des Westens, wobei der Fokus auf der Zusammenarbeit liegt.

    Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches Projekt zu verwirklichen?

    Aber was, wenn dieser Kurs jetzt radikal revidiert wird? Und das betrifft nicht nur die Außenpolitik, sondern die Richtung, in die Russland sich insgesamt bewegt. Was, wenn wir die Periode hinter uns lassen, in der das wichtigste Ziel die Integration in eine geeinte Welt war, wenn auch zu eigenen Bedingungen? Was, wenn der Bruch mit dem Westen Wirklichkeit wird, von dem Präsident Putin gesprochen hat, als er auf die Aussicht amerikanischer „Sanktionen aus der Hölle“ reagierte? Was, wenn Russland am Ende dazu übergeht, ein vollkommen anderes außen- und innenpolitisches (auch wirtschaftliches, gesellschaftliches und ideologisches) Projekt zu verwirklichen?

    Vielleicht ist man bereits dabei, ein gesondertes „russisches Projekt“ aufzubauen, das nicht mehr darauf abzielt, sich in eine Welt einzuordnen, in der der Westen wenn nicht die dominierende, so doch immer noch die führende Rolle spielt?

    Im Fall eines Bruchs mit dem Westen könnte Russland in weitaus engere Beziehungen mit bedeutenden nichteuropäischen Ländern treten, Bündnisse eingehen mit Ländern wie China, aber auch mit dem Iran und den Kontrahenten der USA in der westlichen Hemisphäre – Venezuela, Kuba und Nicaragua. In diesem Fall könnte Moskau anfangen, das zu tun, was man ihm im Westen gerne vorwirft.

    Sie sprechen von der Errichtung von Einflusszonen?

    Davon, und von dem Recht auf Gewaltanwendung, um unliebsame Regime zu beseitigen. Die USA haben zum Beispiel im Irak einen Diktator gestürzt. Sie haben dort zwar keine Massenvernichtungswaffen gefunden, aber im Großen und Ganzen ist man im Westen der Meinung, dass sie trotzdem etwas Gutes getan haben, weil der Diktator weg ist.

    Und jetzt stelle ich fest, dass die russischen Diplomaten, allen voran der Außenminister, immer öfter den Begriff „Regime“ verwenden, wenn sie von der ukrainischen Regierung sprechen. Ein Regime ist etwas Unrechtmäßiges. Wenigstens aus moralisch-ethischer Sicht. Und wenn die Regierung illegitim ist, warum dann nicht den gesunden Kräften helfen, sie zu stürzen?

    Russland könnte Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen

    Ich habe das Gefühl, dass Russland nach einem neuen Ankerpunkt für den postsowjetischen Raum sucht. Hier sind verschiedene Varianten denkbar, zum Beispiel, ein erweiterter Begriff des Unionsstaates durch den Einschluss neuer Gebiete. Nehmen wir an, die russische Regierung kommt zu dem Schluss, dass das Minsker Abkommen nicht realisiert werden kann, dann könnten sie die selbsternannten Republiken Donezk und Luhansk anerkennen und sie als einen oder zwei Staaten in den Unionsstaat von Russland und Belarus aufnehmen. Hypothetisch gesehen könnten sie auch Abchasien und Südossetien dieser Union anschließen.

    Das bezieht sich auf den Fall, dass Russland mit dem, was ihm nicht gefällt, bricht und nach dem Prinzip zu handeln beginnt: „Wenn es nicht im Guten geht, dann eben mit Gewalt.“ Die USA werden da nicht viel ausrichten können, in einen direkten Konflikt mit Russland werden sie nicht treten.

    Sie haben zwei sehr unterschiedliche Szenarien beschrieben. Wenn man eine Analogie zum Schach zieht, ist die erste Variante ein raffiniertes Spiel mit im Voraus durchdachten Zügen und einkalkulierten Risiken. Während bei der zweiten Variante einer der Spieler das Brett mitsamt den Figuren einfach vom Tisch schleudert.

    Ganz genau.

    Aber welches Szenario wird nun umgesetzt? 

    Das weiß ich nicht. Diese Frage kann in unserem Land nur einer beantworten. 
    Aber beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden. Im ersten Fall geht es um einen Verlust der Reputation – sowohl auf internationaler Ebene als auch innerhalb des Landes. Nimmt Russland von seinen Forderungen Abstand, die es als „absoluten Imperativ“ formuliert hat, dann kann man ihm vorwerfen, geblufft zu haben. Großmächte bluffen nicht. Wenn Russland blufft, verliert es an Status in der Welt. Aber selbst wenn ein Teil der Bevölkerung das negativ aufnimmt, ist das nicht besonders schlimm. Innerhalb des Landes ist die Staatsmacht stark genug. Es wäre eher Russlands internationaler Ruf, der darunter leiden würde, man würde es in Zukunft weniger ernst nehmen. Aber überleben kann man das. 

    Beide Szenarien haben ihren Preis und sind mit bekannten Risiken verbunden

    Das zweite Szenario, das auf militärische Stärke setzt, bringt einen schwerwiegenden Bruch der Beziehungen mit sich, auch innerhalb des Landes. Es wischt die Hoffnungen eines kleinen, aber einflussreichen Teils der russischen Elite vom Tisch, der immer noch darauf wartet, dass sich das Verhältnis zum Westen endlich normalisiert. In seiner radikalen Version – wie es einige westliche Analysezentren beschreiben – würde dieses Szenario auch für breitere Bevölkerungsschichten Russlands zu einer Belastungsprobe werden. Die Rede ist vom Szenario einer „Besetzung der Ukraine“. 

    Sie meinen, wenn es nicht bei der Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk bleibt?

    Ja, wenn die russische Regierung zu dem Schluss kommt, dass die einzige Garantie dafür, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt und auf ihrem Territorium keine US-Raketen stationiert werden, in der unmittelbaren Kontrolle der Ukraine durch Russland besteht oder in der Installierung einer moskautreuen Regierung in Kiew. So oder so würde dieses Szenario ganz anders aussehen als die Krim, wo kein einziger Schuss fiel und niemand verletzt wurde. 

    Halten Sie dieses Szenario für auch nur irgendwie wahrscheinlich? 

    Eher nicht. Es brächte enorm viele negative Folgen mit sich, beträchtliche menschliche und finanzielle Verluste.

    Also ist es das Worst-Case-Szenario?

    Das kommt darauf an. Für die einen wäre es gut, für die anderen schlecht. Meiner Ansicht nach birgt es ein kolossales Risiko für Russland selbst. 

    Ihrem Buch nach zu schließen sehen Sie in der NATO-Osterweiterung keine so große Bedrohung für Russland. Verstehe ich Sie richtig?

    Für die militärische Balance und das „Gleichgewicht des Schreckens“ ist eine Ausweitung der NATO unter anderem auf die Ukraine keine Bedrohung. Wenn die USA ihre Raketen bei Charkow stationieren, verschaffen sie sich keinen signifikanten militärisch-strategischen Vorteil gegenüber der Russischen Föderation. 

    Aber was ist mit der verkürzten Flugzeit, mit den berühmten „fünf bis sieben Minuten bis Moskau“?

    Das widerspricht sich nicht. Denn was würde in dieser Situation passieren? Russland würde auf seinen U-Booten Hyperschallraketen stationieren, Zirkon zum Beispiel, und damit die US-Küste entlangfahren, womit es sich dieselbe Flugzeit bis zu den wichtigsten amerikanischen Zielen sichern würde. Das Gleichgewicht des Schreckens bliebe erhalten, nur eben auf höherem, gefährlicherem Niveau.

    Ich halte eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung

    Auch eine US-Einheit in Polen oder ein NATO-Bataillon im Baltikum können Russlands Sicherheit nicht ernsthaft bedrohen. Das Einzige, was Russland Probleme bereiten könnte, sind amerikanische Raketen-Abwehrsysteme in Rumänien und Polen. Alles andere ist nicht wirklich bedrohlich.  
    Insofern halte ich eine NATO-Erweiterung, was die militärische Sicherheit angeht, tatsächlich nicht für eine so ernste Bedrohung.  

    Aber es gibt noch einen anderen Aspekt: Ein Land, das NATO-Mitglied wird, durchläuft eine tiefgreifende Umprogrammierung, die alle Bereiche des Lebens betrifft. Es passiert eine politische und ideologische Transformation. Solange die Ukraine nicht in der NATO ist, besteht immer noch die Möglichkeit, dass das Land als Ganzes oder teilweise beschließt, dass Dinge wie Slawentum, Russki Mir und so weiter doch wichtig sind, und die Beziehungen zu Russland können sich normalisieren, eine Annäherung ist möglich. Zumindest aus Moskaus Sicht bleibt diese Möglichkeit bestehen.  
    Aber wenn das Land der NATO beitritt, dann ist der Zug abgefahren. In diesem Sinn existiert also sehr wohl eine Bedrohung, bloß ist es keine militärische, sondern eine geopolitische und geokulturelle. 

    Übrigens haben der Oberbefehlshaber und die militärisch-politische Führung unseres Landes, wenn man den offiziellen Mitteilungen glauben will, hierzu ganz andere Vorstellungen, die unbedingt zu berücksichtigen sind. 

    Russland hat dem Westen im Fall einer Absage an seine Forderungen mit einer „militärischen Reaktion“ gedroht. Was kann, abgesehen von dem, was Sie schon erwähnt haben, damit gemeint sein? 

    Wenn das Prozedere der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sich so entwickelt wie in Abchasien, dann könnten dort russische Truppen stationiert werden, Militärstützpunkte. Aber ich glaube, der Großteil der kriegstechnischen Reaktion wird in der Stationierung von Waffensystemen an Orten bestehen, wo bisher keine sind.

    Zum Beispiel? 

    Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass Russland, wenn es in militärischer Hinsicht in Europa unzufrieden wäre, zusätzliche Iskander-Raketen in Kaliningrad positionieren könnte. Die Oblast Kaliningrad galt als Aufmarschgebiet an vorderster Front, von dem aus Russland jedem Widersacher drohen könnte. Doch Kaliningrad ist physisch getrennt vom restlichen russischen Territorium, dort etwas hinzuliefern und die Verbindung aufrechtzuerhalten ist besonders in Zeiten einer Feindschaft mit dem Westen ziemlich schwierig. Es geht, aber es ist nicht einfach.

    Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China

    Viel einfacher ist es, etwas im freundlich gesinnten Belarus zu stationieren, auf dem Territorium eines Bündnispartners, wo es bisher keine russischen Stützpunkte und Raketen gibt, schon gar keine Atomraketen. Noch dazu, wo der belarussische Präsident …  

    … das von sich aus anbietet?

    Ja, er hat ein feines politisches Gespür und ist bereit, der Russischen Föderation zu einem unausgesprochenen, aber erahnbaren Preis diese Möglichkeit zu bieten. Das ist eine Option.  

    Es gibt aber auch globale Szenarien – zum Beispiel eine engere Zusammenarbeit mit China, eine Koordination zwischen Moskau und Peking im militärischen Bereich, eine aktivere militärtechnische Kooperation zwischen beiden Ländern. Möglich ist im Hinblick auf militärische Fragen auch eine Annäherung an den Iran. Anlässlich der Krise rund um die Ukraine hat der russische Präsident auch mit den Staatsoberhäuptern Venezuelas und Kubas telefoniert. 

    Das heißt, Russland könnte den USA in einem potenziellen Konflikt mit China in die Quere kommen.  

    Ja, natürlich, auch das ist denkbar. Im Grunde wäre das die normale Vorgehensweise. Länder, die sich feindlich gegenüberstehen, so wie aktuell Russland und die USA, setzen sich gegenseitig unter Druck. So ist es nun mal. Nicht mit Überzeugung oder Argumenten, sondern mit Gewalt, wenn auch nicht unbedingt mit militärischer. Die Amerikaner haben, abgesehen von ihrem militärischen Potenzial, große finanz-ökonomische Macht und setzen diesen Hebel immer stärker gegen Russland ein. Russland hingegen ist vor allem in geopolitischer, energetischer, militärischer und kriegstechnischer Hinsicht stark. 

    Es gibt Mutmaßungen, Russland könnte Raketen in Venezuela und auf Kuba stationieren. 

    Wenn Moskau anfängt, die USA von Lateinamerika aus zu bedrängen, dann reagieren die USA in Europa, wo es eine ganze Reihe Länder gibt, die einer Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen auf ihren Gebieten bereitwillig zustimmen würden. Was würde das Russland bringen?

    Was ist passiert, dass Sie und ich plötzlich über solche aufwühlenden Szenarien sprechen? Was ist denn plötzlich los mit der Welt?

    Die Welt bewegt sich auf hochgefährlichen Wegen, aber wohin? Das kann ich nicht sagen. Die Geschichte zeigt uns sehr deutlich: Nach einem schweren Kampf – egal ob nach einem „heißen“ oder einem „kalten“ Krieg – bleibt eine Verliererseite zurück, die in ihrem Stolz verletzt ist und ihre Souveränität nicht aufgeben will. 

    Ich glaube dieser Moment ist gekommen, in dem die Verliererseite des Kalten Krieges Respekt fordert

    Wenn diese Verliererseite nicht zu Bedingungen, die auch sie zufriedenstellen, in ein neues Sicherheitssystem eingebunden wird, dann erstarkt sie in 20 bis 30 Jahren wieder und fordert Respekt für ihre nationalen Interessen ein.    

    Und dieser Moment ist jetzt gekommen?

    Ja, ich glaube, der ist gekommen. 30 Jahre hat es gebraucht. Die Sieger des Kalten Krieges dachten erst, Russland habe seine frühere Bedeutsamkeit eingebüßt, und verloren ihr Interesse. Niemand wollte sich so recht mit der schwierigen Aufgabe seiner Integration in die westliche Welt befassen. 
    Zudem wäre für eine solche Integration die Zustimmung der westlichen Länder, vor allem der USA, zu einer maßgeblichen Beschränkung ihres eigenen Einflusses notwendig gewesen, dazu, Russland ein entscheidendes Stimmrecht zu gewähren. Die USA waren dazu nicht bereit. Sie teilen ihre Vormachtstellung und ihr entscheidendes Stimmrecht nicht einmal mit ihren nächsten Verbündeten. Das letzte Wort muss immer Washington haben.
    Zu den vom Westen vorgeschlagenen Bedingungen einer ungleichen Partnerschaft wollte Russland selbst nicht in die transatlantische Zone integriert werden. Was damals aber sowieso niemanden störte – die russische Wirtschaft war schwach, die demografische Entwicklung rückläufig, das politische System instabil, und man hielt noch ein paar mehr Zusammenbrüche für möglich. Daher musste man da auch …    

    … keine großen Umstände machen?

    Genau. Die Haltung gegenüber Russland hat sich nach der Krim und vor allem seit Beginn des Syrien-Einsatzes verändert. Sie erinnern sich, davor hatte US-Präsident Barack Obama Russland als „Regionalmacht“ bezeichnet. Aber dann haben alle gesehen, dass Russland sich nicht nur als Subjekt in internationalen Beziehungen erholt hat, sondern auch weit jenseits der eigenen Staatsgrenzen handeln kann.   

    Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu

    Doch sofort liefen die Handlungen Moskaus den Interessen des Westens zuwider, Russland wurde als Gegner wahrgenommen, den man bestrafen und mit Druck, vor allem mit Sanktionen, auf seinen Platz verweisen müsse. Entgegenkommen oder Zugeständnisse an Russland wurden als Besänftigung eines Aggressors gedeutet. Der Westen, der seine eigene Schwäche spürte, war insgesamt viel weniger bereit, Kompromisse zu schließen und sich mit anderen, sagen wir, konkurrierenden oder sogar feindlichen Regimen an einen Tisch zu setzen und auf Augenhöhe zu verhandeln. Seit dem Zerfall der Sowjetunion verhandelt der Westen mit niemandem mehr auf Augenhöhe – nicht einmal mit China. 

    Man kann den Westen auch verstehen, er macht eine ziemlich schwierige Entwicklungsphase durch, und es geht ja tatsächlich um den Niedergang der westlichen Dominanz und langfristig seiner Führungsrolle in der Welt. Das ist für den Westen schwer. Ich glaube, wir steuern auf eine schwere Krise in den Beziehungen zu. Eine gewisse Klarheit kann wahrscheinlich nach einem ernsthaften Kräftemessen in verschiedenen Regionen und in verschiedenen funktionellen Bereichen erzielt werden. Am Verhandlungstisch lässt sich das alles nicht lösen, aber dort kann man das erreichte Ergebnis dokumentieren und ausgestalten. So wird eine neue Weltordnung entstehen. 

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  • „Wir sollten keine Feinde sein“

    „Wir sollten keine Feinde sein“

    Nachdem in der ersten Woche nach der Präsidentschaftswahl vorwiegend Lukaschenko-Gegner mit weiß-rot-weißen Flaggen auf den Straßen zu sehen waren, fragten viele Leute schon, wo denn Lukaschenkos Anhängerschaft von 80 Prozent Wählerstimmen sei. Doch schließlich mobilisierte auch die Gegenseite unter der rot-grünen Flagge. Auf einer der ersten Demos stand der Präsident persönlich auf der Rednerbühne und dankte den Anwesenden dafür, dass sie gekommen waren. Kritische Stimmen vermuten, dass Mitarbeiter von Staatsbetrieben zum Teil gezwungen worden waren, mitzudemonstrieren oder in organisierte Busse nach Minsk zu steigen. So wurden in oppositionellen Telegram-Kanälen Anordnungen und Videos veröffentlicht, die ein solches Vorgehen nahelegen, unabhängige Medien berichteten auch über Geldprämien. Tatsächlich waren mit geschätzt 3000 Teilnehmern letzten Endes deutlich weniger Menschen versammelt, als bei der Demonstration der Anhänger Tichanowskajas – zum „Marsch der Freiheit“ waren an demselben Sonntag, 16. August 2020, mindestens 100.000 Menschen ins Minsker Stadtzentrum gekommen. In einem ähnlichen Größenverhältnis zueinander gehen die Kundgebungen beider Seiten im ganzen Land bis heute weiter.
    Der russische Journalist Alexander Tschernych hat sich für Kommersant am 19. August unter der Anhängerschaft beider Flaggen umgeschaut und sich mit Menschen unterhalten, die sich in Alter, Geschlecht und familiärer Situation ähneln – nur eben unterschiedlicher Meinung sind. 

    Ich bin extra eine Stunde vor Beginn vor Ort, trotzdem kann ich keine Busse mit herangekarrten Arbeitern entdecken. Doch die Eingänge zum Park werden von Milizionären abgesperrt, die sorgfältig jeden kontrollieren, der gekommen ist, um Alexander Lukaschenko zu unterstützen. Beim Shukow-Denkmal ist eine Bühne aufgebaut, aus den Boxen dringt vorsintflutliche Popmusik, und hinter den Parkbänken ist eine riesige rot-grüne Flagge aufgespannt. Im Park haben sich erst knapp 40 Leute eingefunden, aber von Minute zu Minute werden es mehr. Vor der Bühne stehen zwei Frauen um die 40 mit einem selbstgebastelten Plakat: „Für Batka!“. Als ihnen langweilig wird, beginnen die Frauen, ihren Slogan zu skandieren, die anderen Anwesenden stimmen munter mit ein. Als ich mich umschaue, gerät mein Weltbild ins Wanken: Eine ganz junge Frau skandiert lauthals mit – normalerweise unterstützen solche Swetlana Tichanowskaja.

    „Ich bin hier, denn das ist meine Meinung als Bürgerin. Ich liebe mein Land und will keine globalen Veränderungen, wie sie die Opposition zu provozieren versucht. Ich bin für Batka“, erklärt sie mir ruhig.
     
    „Und was denken Sie darüber, dass Demonstranten zusammengeschlagen wurden?“
     
    „Ich denke, vieles von dem, was Sie im Internet gesehen haben, ist überzogen“, antwortet die junge Frau kühl. „Ich für meinen Teil kenne niemanden, der zu Schaden gekommen ist.“

    Mein nächster Gesprächspartner sieht in etwa so aus, wie man sich einen typischen Lukaschenko-Anhänger vorstellt: ein älterer Mann mit prächtigem grauem Schnurrbart und großen, schwieligen Händen. Neben ihm steht seine Frau mit weißem Mundschutz. Bevor sie mit mir sprechen, erkundigen sie sich streng nach meiner Akkreditierung, aber glauben mir dann aufs Wort.

    Ich denke, vieles von dem, was Sie im Internet gesehen haben, ist überzogen

    „Wir sind hier, weil wir dieses Land aufgebaut haben“, beginnt der Mann. „Ich habe 43 Jahre lang in der Fabrik gearbeitet und bin stolz darauf. Ich will nicht, dass die aus dem Westen kommen und alles wegstehlen, was ich mein Leben lang aufgebaut habe. Nicht mit mir! Ich lasse nicht zu, dass hier das gleiche passiert wie in der Ukraine. Und wir sind ganz sicher nicht nur drei Prozent!“
     
    „Wenn es nur einen würdigen Kandidaten gäbe …“, seufzt die Frau. Aber dann bricht sie verlegen ab und weigert sich weiterzusprechen: „Mein Mann und ich sind derselben Meinung, reden Sie mit ihm.“
     
    „Was haben Sie denn gegen Viktor Babariko, der nicht zur Wahl zugelassen wurde?“
     
    Der Arbeiter mustert mich abfällig:
     
    „Vielleicht liebt man bei euch in Russland die Banker. Aber ich werde nie im Leben für einen stimmen. Er produziert doch nichts, lebt wie die Made im Speck, während ich Tag und Nacht schufte. Und der soll über mich bestimmen? Nee, danke. Wäre da jemand Ernstzunehmendes, einer aus der Technik, aus der Produktion … Aber solche gibt’s bei uns in der Politik noch nicht.“

    Ich will nicht, dass die aus dem Westen kommen und alles wegstehlen, was ich mein Leben lang aufgebaut habe

    Ich wechsele das Thema:
     
    „Haben Sie die Videos gesehen, in denen auf die Demonstranten eingeprügelt wird? Was denken Sie darüber?“
     
    „Naja, wissen Sie … die OMON-Leute sind ja auch nur Menschen“, antwortet der Mann schon zweifelnder. „Man sollte auch mal für sie Partei ergreifen. Sie standen unter echtem Stress.“
     
    „Ist Stress ein Grund, jemanden zusammenzuschlagen?“
     
    „Ich habe verschiedene Videos gesehen …“, weicht mein Gesprächspartner aus. Dann wechselt er selbst das Thema: „Meinen Sie etwa, dass es keine Provokateure gab? Die gab es ganz sicher – da hat der Westen seine Finger im Spiel. Die wollen Belarus zerstören, damit Russland alleine dasteht. Und sie hier ihre Raketen aufstellen können.“
     
    „Finden Sie, Russland sollte sich einmischen?“
     
    „Natürlich nicht mit Panzern, wie das bei euch sonst üblich ist“, grinst er. „Aber unterstützen – warum nicht? Wenigstens moralisch.“
     
    „Wie könnte das aussehen?“
     
    „Die sollen Lukaschenko Wirtschaftsexperten schicken. Vielleicht können die ihm ein paar gute Ratschläge geben. Wir lieben ja unseren Batka, aber er ist halt ein einfacher Mann. Er kommt vom Dorf, er ist kein Wunderkind, sondern ein echter Arbeiter. In wirtschaftlichen Dingen kennt er sich offenbar zu wenig aus.“
     
    „Trotzdem wollen Sie nicht für einen Banker stimmen?“
     
    „Einen Banker brauchen wir hier nicht. Aber Lukaschenko kann nicht alle Probleme auf einmal anpacken. Wenn ich das richtig sehe, hat Putin ein großes Team von Experten, die sich wirklich mit allem auskennen. Wahrscheinlich haben wir in unserem Land einfach zu wenig Fachleute.“

    Die Russen sollen Lukaschenko Wirtschaftsexperten schicken. Vielleicht können die ihm ein paar gute Ratschläge geben. Wir lieben ja unseren Batka, aber er ist halt ein einfacher Mann

    Mittlerweile haben sich mehrere Hundert Menschen im Park versammelt. Ich erkundige mich bei dem Ehepaar, ob sie es nicht merkwürdig finden, dass die Demonstrationen gegen Lukaschenko Tausende von Teilnehmern anziehen.
     
    „Naja, größtenteils sind das junge Leute – die haben ihre Messenger, das Internet, sie können sich organisieren. Und sie haben sonst nicht viel zu tun. Für Lukaschenko sind eher die Älteren, mit dem Internet kennen wir uns nicht aus, und wir haben auch keine Zeit zu demonstrieren. Da kann sich seine Frau nicht mehr zurückhalten: „Unsere jungen Leute sind nicht arm, sie haben Autos und Handys – aber Lebenserfahrung haben sie keine. Als wir jung waren, haben wir auch vieles nicht verstanden. Anfang der 1990er sind mein Mann und ich auch zu Kundgebungen der Belarussischen Volksfront gegangen, haben Senon Posnjak zugehört und anderen Oppositionellen – wir hatten das Gefühl, dass sie vernünftige Dinge sagen …“
     
    „Aber dann hat Gott uns das Hirn eingerenkt“, scherzt ihr Mann. „Wir haben etwas verstanden. Aber die Jugend denkt nicht genug nach, sie lässt sich von Emotionen leiten. Die Hormone spielen verrückt …“
     
    „Sie wissen nicht, wie das ist, wenn man Lebensmittelmarken zum Einkaufen braucht. Aber wir erinnern uns noch gut daran“, ereifert sich die Frau. „Wir haben Vollzeit gearbeitet und hatten trotzdem nichts zum Anziehen, zum Essen. 20 Dollar haben wir verdient! Heute haben wir alles – obwohl wir Rentner sind, können wir in den Urlaub fahren, ins Baltikum zum Beispiel. Wenn man andere Länder betrachtet – uns hier in Belarus geht es auch nicht schlechter, kein bisschen. Die Jugend vermisst immer irgendwas – ich verstehe es einfach nicht, was wollen die denn noch? Es verbietet denen doch niemand den Mund hier, du kannst sagen, was du willst. Es nervt dich, dass man immer nur Lukaschenko im Fernsehen sieht? Dann sieh halt nicht fern! Wo ist das Problem?“
     
    „‚Freiheit! Wir wollen Freiheit!‘“, äfft der Mann [die Oppositionellen] nach. „Welche Freiheiten wollen die denn? Ich kann um drei Uhr nachts durch ganz Minsk laufen und bin völlig sicher – das ist für mich Freiheit. Das ist sehr viel wert. Diese Freiheit hat man bei Weitem nicht in jedem Land.“
     
    „Glauben Sie nicht, wir hätten nicht versucht, sie zu verstehen, wir haben ihre Meinungen im Internet gelesen. Alle sagen sie: ‚Wenn Lukaschenko bleibt, verlassen wir das Land.‘ Meine Guten, was glaubt ihr denn, wer da auf euch wartet? Was wollt ihr denn dort machen? In Polen Erdbeeren ernten?“

    Ich kann um drei Uhr nachts durch ganz Minsk laufen und bin völlig sicher – das ist für mich Freiheit

    Vor der Bühne steht eine junge Frau, elegant gekleidet, kurze Haare. Sie hält ein Plakat hoch: „Wir wollen eure Veränderungen nicht!“. Die Buchstaben sind mit bunten Wachsmalstiften gemalt. In ihrer Nähe rennt ein kleines Mädchen herum, wedelt fröhlich mit einem rot-grünen Fähnchen.
     
    „Meine Tochter und ich haben das Plakat selbst gemacht, weil wir kategorisch gegen diese Art von Veränderungen sind“, erklärt mir die junge Frau bereitwillig. „Deren Motto ist das Lied von Viktor Zoi. Ich kenne es noch aus meiner Kindheit, aber damals war Belarus ein anderes Land. Jetzt haben die Menschen einfach alles, was sie brauchen. Die Veränderungen sind schon eingetreten, verstehen Sie? Lukaschenko hat so viel für das Land getan, er hat so viel erreicht! Was  wollen sie noch? Mit einem solchen Präsidenten muss man sich weder schämen noch fürchten. In keinem europäischen Land gibt es oder wird es je einen solchen Präsidenten geben, der vor nichts Angst hat. Ich stimme zu – die Menschen sind wirklich zu spät für ihn auf die Straße gegangen. Aber man geht, wenn man gerufen wird, und der Präsident hat uns bislang nicht gerufen. Nun sind wir vielleicht eine Woche zu spät, aber jetzt wird alles anders. Wir werden beweisen, dass Lukaschenkos Anhänger weder Schafe noch Gesocks sind. Es ist kränkend, dass die Demonstranten so etwas sagen. Und es ist sehr kränkend, wie sie unsere heldenhafte Miliz verunglimpfen.“
     
    „Aber die OMON-Leute haben doch tatsächlich Menschen verprügelt.“
     
    „Haben Sie die Videos denn ganz gesehen? Man hat sie mit Betonplatten beworfen! Das sollen friedliche Proteste sein? Im Internet gibt es grad so viele Lügen. Bei mir im Kindergarten arbeiten Mädels, deren Ehemänner jetzt in Uniformen auf der Straße friedliche Menschen beschützen – sie haben einfach Angst um ihre Männer, haben Angst, auf die Straße zu gehen. Aber was soll’s, jetzt gehen wir für den Präsidenten auf die Straße, dann wird es für alle leichter. Gegen 19 Uhr haben sich im Park an die tausend Menschen versammelt. 
    Da hüpft ein junger Mann mit der Stimme eines professionellen Hochzeits- und Firmenfeier-Redners auf die Bühnes. Er heizt die Menge fröhlich an: „Heute haben wir uns hier versammelt, um Belarus zu verteidigen! Man versucht uns aktiv und gewaltsam zu spalten, einen Keil zwischen unsere Brüder und Schwestern zu treiben, zwischen Milizionäre und Lehrer, man will uns in Stücke reißen und zerstören! Sind wir bereit, uns diesem Wahnsinn zu widersetzen?“
    „Ja!“, brüllt die Menge.
    „Unterstützen wir unseren Batka?“
    „Ja!“
    „Dann erkläre ich das Mikrofon für eröffnet! Jeder, der will, kann sich in freier und demokratischer Reihenfolge hier nach vorn begeben!“

    Wir werden beweisen, dass Lukaschenkos Anhänger weder Schafe sind noch Gesocks sind

    Gemäß der „freien und demokratischen Reihenfolge“ treten bei dieser „Volkskundgebung“ ein Vertreter der Kommunistischen Partei auf, ein Mitglied der staatlichen Jugendunion, eine Sängerin des Musiktheaters und so weiter. Sie erzählen alle das Gleiche – loben Lukaschenko und behaupten, die Opposition handle im Interesse des Westens. Ich entferne mich von der Bühne. Weiter hinten im Park steht unter einem Regenschirm ein junges Pärchen – er langhaarig, sie in einem knallbunten Shirt mit Anime-Motiv.
     
    „Ich sag’s dir gleich: Wir sind nicht vom Staat  angeheuert, wir sind freiwillig hier, uns hat niemand die Pistole auf die Brust gesetzt“, lacht das Mädchen. „Weißt du, wir haben’s einfach satt. Die Oppositionellen schreien, dass sie mehr sind als die, die für Lukaschenko gestimmt haben. Also haben wir beschlossen, auch nicht mehr zu Hause zu sitzen.“

    „Warum habt ihr Lukaschenko gewählt?“

    „Ich halte nichts von den Ideen der Opposition. Ich höre sie seit meiner Kindheit – immer dasselbe.“

    „Was genau gefällt euch nicht?“

    „Sie wollen …“ (Die junge Frau überlegt.) „Ja, ehrlich gesagt, hab ich gar nicht verstanden, was sie jetzt wollen. Wir warten alle auf ein konkretes Programm. Bisher gibt es Ankündigungen, dass sie uns von Russland entkoppeln, und es soll nur noch eine Sprache geben. Die bei uns im Land praktisch niemand richtig kann. Na, und so schwammige Versprechen, dass wir alle in die EU kommen. Am Beispiel von Georgien und der Ukraine sehen wir, dass das immer nur leere Versprechen sind – in der EU sind die ja immer noch nicht. Und ich persönlich habe große Zweifel daran, dass das mit unserem Land je der Fall sein wird.“ 

    Die Bäume schützen mich nicht vor dem Regen. Ich schlendere durch den Park, schlüpfe unter die Schirme der Kundgebungsteilnehmer und höre von ihnen immer dieselben Argumente. „Uns haben sie schon in den 1980ern versprochen, dass wir leben werden wie die Deutschen – das war eine glatte Lüge.“ „Die Sowjetunion ist zerfallen, und das Land ist für ungefähr 15 Jahre in einen Abgrund gestürzt. Und jetzt sollen wir schon wieder herumexperimentieren?“ „Andere Leader sehe ich in unserem Land nicht.“ „Ich will keinen Bruch mit Russland.“ „Gewalt wurde nur da angewendet, wo die Polizei angegriffen wurde.“  


    [ — Wenig später auf dem Platz der Unabhängigkeit — ]

    Auf dem Platz versammelt sich jeden Abend die Opposition, unter der Woche sind es rund 10.000 Menschen. Beim Lenin-Denkmal werden Reden gehalten – und das hier ist wirklich ein „Volksmikrofon“: Einer erzählt von seinem Verwaltungsarrest, ein anderer ruft zur Unterstützung der streikenden Arbeiter auf, ein Dritter bittet einfach darum, den Namen seines Dorfes zu skandieren, „wo Lukaschenko genauso unbeliebt ist wie hier“. Die Menge stimmt fröhlich ein: „Ko-lo-di-schtschi!“ Hin und wieder erklingt an verschiedenen Ecken des Platzes aus tragbaren Boxen Viktor Zois Peremen!  Ich nähere mich einem Rentnerpaar, das fast genauso aussieht wie meine Gesprächspartner auf der Lukaschenko-Kundgebung. Ich fasse für sie die wichtigsten Aussagen ihrer Altersgenossen zusammen und bitte sie um ihre Meinung dazu. Der Mann, ein Bauingenieur, seufzt.

    „Was soll ich sagen … Viele Menschen unserer Generation reduzieren ihre Bedürfnisse auf das Minimum. Sie geben sich mit den kleinsten Freiheiten zufrieden. Wie die Schafe: ein bisschen raus auf die Weide, fressen, und zurück in den Stall. Sie haben es ja gut da, werden gehegt und gepflegt. Allerdings auch regelmäßig geschoren.“   
           
    „Leider haben sich die Leute über die Jahre daran gewöhnt, erniedrigt zu werden, keine Wahlfreiheit, keine Redefreiheit zu haben. Vor allem ältere Leute, die schwere Zeiten erlebt haben“, sagt die Frau. „Ich kann mich auch an die 1990er Jahre erinnern. Aber seitdem sind ein paar Generationen herangewachsen, denen all das nicht mehr genügt. Die jungen Leute in Belarus sind sehr begabt und haben Talent, sie haben die Welt gesehen, andere Freiheiten – und wollen dieselben Möglichkeiten für das eigene Land. Sie sehen, dass unser System marode ist, unsere Wirtschaft in der Sackgasse steckt, dass unser Land Entwicklung braucht. Wir können nicht weitermachen mit dieser Kolchosediktatur. Ich bin Rentnerin, und ich persönlich schäme mich für unseren Präsidenten. Viele meiner Altersgenossen sind leider apolitisch. Sie wissen nur das, was ihnen im Fernsehen gezeigt wird. Sie haben bis heute keine Vorstellung davon, was dieser Tagen passiert, wie unsere Mitbürger verprügelt und gefoltert wurden. Aber das sollten sie wissen.“ 

    Wir können nicht weitermachen mit dieser Kolchosediktatur. Ich bin Rentnerin, und ich persönlich schäme mich für unseren Präsidenten

    „Für diese Menschen ist die Hauptsache, dass alles beim Alten bleibt. Dass die Straßen sauber sind. Aber wissen Sie, wie unser berühmter Viktor Schenderowitsch sagt: Die meiste Stabilität gibt es im Leichenschauhaus. Da ist es sauber, alles schön weiß, und alles bleibt, wie es ist. Wie soll ich meinen Landsleuten den Wert der Freiheit erklären? Den Wert der Meinungsfreiheit? Fragen Sie sie einmal, wann sie in ihrem heißgeliebten Fernsehen das letzte Mal eine alternative Meinung gehört haben. Die werden nicht mal verstehen, was Sie meinen. Für sie besteht Freiheit darin, gefahrlos durch die Straßen zu gehen, das ist für sie schon das höchste der Gefühle. Sie tun mir Leid.“
    „Ehrlich gesagt weiß ich nicht, worüber ich mit solchen Leuten reden soll. Wir leben einfach auf unterschiedlichen Planeten. Der nächste Redner stellt sich ans Denkmal, ein ganz junger Mann. „Lukaschenko, du Bestie, ich hasse dich!“, schreit er. „Ich habe dich nicht gewählt! Du bist am Ende! Und alle deine Handlanger auch!“ Die Leute reagieren mit Applaus.
    Die zigtausendköpfige Menge beginnt zu skandieren: „Sascha, du bist entlassen!“ Kein angenehmes Gefühl, wenn man selbst Sascha heißt …
    Relativ schnell finde ich auf dem Platz eine junge Frau mit einer kleinen Tochter. Daneben stehen zwei ihrer Freundinnen.
    „Ich bin schockiert, dass die Jugend auch für Lukaschenko demonstriert“, lacht sie, als sie von ihrem Pendant bei der nachmittäglichen Kundgebung erfährt. „Ich hab gedacht, da sind nur solche … Sie wissen schon, so Frauen mit toupierten Frisuren …“
    „Nein, es haben doch alle ein Recht auf ihre Meinung“, fällt ihr die Freundin entschieden ins Wort. „Ich kann verstehen, dass nicht alle bereit für Veränderung sind. Die Leute haben ihre Gehälter, ihre Renten – und sie machen sich Sorgen, dass sich das Leben zum Schlechteren verändert. Ich verstehe das. Und ich sage Ihnen ehrlich: Wenn Lukaschenko die Wahl tatsächlich gewonnen hätte, hätte ich das akzeptiert. Ich hätte überlegt, wie es für mich weitergehen soll, wohin ich auswandern soll. Aber gegen ein ehrliches Wahlergebnis hätte ich nicht protestiert. Ich respektiere das Gesetz und die Entscheidung des Volkes. Deswegen bin ich jetzt hier.“

    Ich kann verstehen, dass nicht alle bereit für Veränderung sind. Die Leute haben ihre Gehälter, ihre Renten – und sie machen sich Sorgen, dass sich das Leben zum Schlechteren verändert

    „Wieso glauben Sie, dass Lukaschenko diesmal nicht gewonnen hat?“

    „Wir waren Wahlbeobachterinnen und haben alles mit eigenen Augen gesehen. Wir haben gezählt, dass 175 Menschen in der Schule waren – aber im Protokoll stehen 310. Raten Sie mal, wem diese Stimmen zugerechnet wurden. Die Lehrerinnen saßen da und schauten zu Boden. Ich weiß, dass ich belogen werde. Mein Kind muss in einem Land leben, in dem alles von Lüge durchdrungen ist. Ja, viele Leute haben Angst vor Veränderung. Aber bei uns gibt es noch viel mehr Leute, die etwas verändern wollen, weiterkommen wollen, stolz auf ihr Land sein wollen. In den Tagen des Protests habe ich zum ersten Mal an mein Land geglaubt, habe daran geglaubt, hierbleiben zu können.“

    „Sie sagen, meine Altersgenossin ist stolz auf den Präsidenten? Aber ich finde das völlig abnormal, wenn ein Staatsoberhaupt direkt dazu aufruft, jene zu bestrafen, die eine andere Meinung haben. Lukaschenko hat den Rechtsraum komplett verlassen. Er verstößt sogar gegen die Gesetze, die sein eigenes Taschenparlament aufgestellt hat. Er hat gegen das Wahlgesetz verstoßen, seine OMON-Truppen gegen das Strafgesetz. Warum merken das seine Anhänger nicht?“

    „Sie sind der Meinung, die OMON-Leute hätten sich nur verteidigt.“

    „Gut, nehmen wir an, sie haben sich verteidigt. Aber es ist das Eine, einen Angreifer mit dem Schlagstock abzuwehren, ihn zu neutralisieren. Und etwas ganz anderes ist es, zu mehreren auf jemanden einzuprügeln, der auf dem Asphalt liegt und keinen Widerstand leistet. Warum wird das nicht aufgeklärt? Eigentlich gibt es bei uns einen Paragrafen zur Überschreitung der Notwehr. Das Gesetz muss für alle gelten.“

    „Wir haben mit diesen Menschen viel gemeinsam“, sagt ihre Freundin. „Wir sollten keine Feinde sein. Wir alle wollen in einem friedlichen, starken, prosperierenden Land leben. Wir alle wollen, dass sich alle an die Gesetze halten. Aber sie müssen einsehen, dass es ihr Lukaschenko war, der jetzt auf brutale Weise gegen das Gesetz verstoßen hat, nur um an der Macht zu bleiben.“ 

    Wir sollten keine Feinde sein. Wir alle wollen in einem friedlichen, starken, prosperierenden Land leben

    Um das Experiment abzuschließen, suche ich in der Dämmerung lange nach einem passenden jungen Paar. Aber als ich endlich fündig werde, scheuen sie sich und wissen nicht recht, was sie sagen sollen. Dafür antwortet ein Freund von ihnen bereitwillig:
    „Ich glaube schon, dass auf der anderen Seite ehrliche Menschen stehen. Aber ich habe das Gefühl, dass sie nicht ausreichend informiert sind. Als würden sie sich nicht besonders dafür interessieren, was im Land geschieht. Sie sehen, dass die Leute protestieren, aber wollen sich keine Gedanken machen, warum ihre Mitbürger auf die Straßen gehen, was sie auszusetzen haben, was sie verändern wollen. […] Tatsache ist, dass jetzt sie die Opposition sind und nicht wir. Übrigens, was haben die da drüben zur Polizeigewalt gesagt?“

    „Sie glauben nicht, dass die Gesetzeshüter so handeln.“

    „Das heißt, sie haben eigentlich auch Angst“, sagt die Frau bestimmt.
    „Ja, im Grunde ist das eine Abwehrreaktion“, stimmt ihr Freund zu. „Wenn um einen herum etwas Furchtbares passiert, will man erst mal die Augen verschließen und das Offensichtliche nicht wahrhaben. Vielleicht verschwindet es ja dann.“

    Auf dem Unabhängigkeitsplatz ist es dunkel geworden, die Leute schalten die Taschenlampen auf ihren Smartphones ein. Tausende von Lichtern strahlen schön auf die weiß-rot-weißen Fahnen. Die Demonstranten verabschieden sich und versprechen einander, morgen Abend wieder hier zu sein. Jemand dreht wieder Zoi auf, alle singen vergnügt den Refrain von Peremen mit. Der Strophe mit der Zeile „Vielleicht kriegen wir Angst davor, was zu ändern“ schenkt keiner mehr Beachtung.  

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  • Im Dorf des Skripal-Verdächtigen

    Im Dorf des Skripal-Verdächtigen

    Ruslan Boschirow, Tatverdächtiger im Fall Skripal, soll ein Agent des Geheimdienst GRU sein und mit bürgerlichem Namen Anatoli Wladimirowitsch Tschepiga heißen. Das ergaben Recherchen von Bellingcat und The Insider. Demnach ist Tschepiga ein hoher GRU-Offizier und sogar als „Held der Russländischen Föderation“ ausgezeichnet worden. Er soll am 5. April 1979 in Nikolajewka, in der Oblast Amur im Fernen Osten Russlands geboren sein, die Militärhochschule in Blagoweschtschensk besucht und in Chabarowsk in einer der Elitebrigade einer GRU-Sondereinheit gedient haben. Den Decknamen Ruslan Boschirow hat er demnach bei seiner Versetzung nach Moskau erhalten, 2014 soll er möglicherweise auch in der Ukraine eingesetzt gewesen sein.

    Die russische Regierung beharrt trotz der neuesten Recherchen darauf, dass es sich bei Ruslan Boschirow um einen zivilen Touristen handle, der Salisbury rein privat besucht habe.

    Kommersant dagegen nahm diese Untersuchungen zum Anlass, im Dorf Berjosowka, wo die Familie Tschepiga lange lebte, nach Bekannten der Familie zu suchen. Die Dorfbewohner baten darum, anonym zu bleiben, auch aus Angst vor Problemen mit dem FSB. Kommersant veröffentlichte den Text bislang nur online, nicht in der Printausgabe.

    V. l. n. r. - Anatoli Tschepiga (russische Passdatenbank 2003), Ruslan Boschirow (russische Passdatenbank 2012) und Ruslan Boschirow (Fahndungsfoto der britischen Polizei 2018) / Quelle: The Insider/Bellingcat
    V. l. n. r. – Anatoli Tschepiga (russische Passdatenbank 2003), Ruslan Boschirow (russische Passdatenbank 2012) und Ruslan Boschirow (Fahndungsfoto der britischen Polizei 2018) / Quelle: The Insider/Bellingcat

    „Das ist er, Tolja!“, bekräftigt eine Gesprächspartnerin, die zu Schulzeiten engen Kontakt mit Herrn Tschepiga hatte. „Das ist er hundertprozentig. Die fast schwarzen Haare und die Stimme sind seine“, bestätigt sie Kommersant. „Im Jahr 1996 hat er in Berjosowka die Schule abgeschlossen und ist dann an die Militärhochschule DWOKU gegangen. Ein sehr kluger, guter Junge, scharfsinnig, wortgewandt, war ein guter Schüler. Über ihn können alle nur Positives berichten. Hat nicht getrunken, nicht geraucht, war nie in irgendwelche schlechten Kreise geraten. Ich erinnere mich genau, dass er Anfang April Geburtstag hat. Seine Schwester Galja war etwas älter.“ Die Gesprächspartnerin des Kommersant gibt an, dass sie Anatoli Tschepiga in allen veröffentlichten Materialien wiedererkennt.

    Anatoli Tschepigas Vater, Wladimir Maximowitsch, war in den 1990ern Direktor der Baufirma Iwanowskaja in Berjosowka, danach arbeitete er für die Armee. Nach Angaben von kartoteka.ru war Wladimir Maximowitsch Tschepiga Mitbegründer der Baufirma Iwanowskaja in der Oblast Amur mit einem Anteil von 5,61 Prozent (sein Anteil am Stammkapital: 3.300 Rubel). Tschepigas Mutter arbeitete als Buchhalterin in einem der Unternehmen.  

    An die Familie Tschepiga erinnert man sich gut im Dorf, obwohl sie vor einigen Jahren nach Blagoweschtschensk gezogen ist. Anatoli Tschepiga wurde nach Abschluss der Militärhochschule neuen Standortеn zugewiesen. Den Dorfbewohnern zufolge ist er verheiratet und hat zwei Kinder. Vor nicht allzu langer Zeit wurde im Dorf die Neuigkeit diskutiert, seine Familie habe angeblich eine Vierzimmerwohnung in Moskau bekommen.

    „Wir wussten, dass er in geheimer Mission an Brennpunkten eingesetzt ist. Seine Mutter weinte: Selbst die Familie war nicht darüber informiert, wo genau er sich befindet“, erzählt eine Einwohnerin aus Berjosowka. „Seine Frau wohnte in Chabarowsk, wartete. Ich hab ihn das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen, als er seine Verwandten besuchte.“

    „Er war schon fast kahl, nicht so wie auf dem Foto, er hatte einen offenen Blick, aber der auf dem Foto sieht finster drein. Obwohl, die Augen sind auch braun“, sagt sie.

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  • Der Russe ist einer, der Zäune liebt

    Der Russe ist einer, der Zäune liebt

    Wohnhäuser, Datschen, Gräber, alles wird in Russland eingezäunt, gerne auch blickdicht. Wladimir Rubinski recherchierte für Kommersant über den russischen Wunsch nach Abgrenzung, der, ausgerechnet, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs seinen Lauf nahm.

    Der flächendeckende Zaunbau in Russland kam mit dem Privateigentum. „Als nach der Perestroika massenhaft Datschen in der Moskauer Vorstadt gebaut wurden, wurden sie sogleich hoch umzäunt“, erinnert sich der Kulturwissenschaftler und Historiker für Architektur Wladimir Paperny. „Nicht selten tauchten die Zäune sogar noch vor dem Ziegelsteinpalast auf.“

    In der Sowjetunion habe der Staat das Monopol gehabt, Absperrungen und Grenzen zu errichten. Doch Anfang der 1990er sei dieses Monopol zerschlagen worden. „Weil es plötzlich Privateigentum gab, ging die Idee der Abgrenzung von der zentralisierten staatlichen auf kleinere Institutionen und Privatleute über“, so Paperny. „Die Zentralmacht, die die Zäune baut, zerfällt in kleinere Machteinheiten, die nun ihrerseits  Zäune bauen.“

    Schutz vor ungebetenen Gästen

    Zu dem Thema äußert sich auch Pjotr Saposhnikow, Generaldirektor der Firma Stroisabor, einem der Marktführer der Branche in Moskau und Umgebung. „Die Leute fingen damals – das war Anfang der 1990er – damit an, Privathäuser zu bauen“, erinnert sich Saposhnikow. „Zu der Zeit gab es viele kriminelle Machenschaften, die Menschen wollten sich vor ungebetenen Gästen schützen. Seitdem hat es nicht mehr aufgehört. Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen. Die Leute haben Angst, etwas zu zeigen.“

    Vom Wunsch nach Abgrenzung zeugen auch die Zugangssysteme in Mehrfamilienhäusern. „Um in seine Wohnung zu gelangen, muss man im Schnitt fünf armierte Türen passieren: drei im Treppenhaus, die vierte im Vorraum auf dem eigenen Stockwerk und die fünfte – die eigentliche Wohnungstür. Dabei haben wir keine besonders hohe Kriminalitätsrate, wir sind nicht in Johannesburg oder Kolumbien“, bemerkt Sergej Medwedew, Politologe und Historiker der Moskauer Higher School of Economics.

    Sergej Medwedew: „Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen.“ / Foto © Wassili Schaposchnikow/Kommersant
    Sergej Medwedew: „Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen.“ / Foto © Wassili Schaposchnikow/Kommersant

    Das große Bedürfnis nach Absperrung lässt sich laut Wladimir Paperny damit erklären, dass über 70 Prozent der Moskauer in Kommunalkas gelebt hätten; die eigene Wohnung stelle daher einen Umbruch in den sozialen Beziehungen dar. 

    Ein anderer symbolträchtiger Raum für Zäune ist der Friedhof. „Zäune sind das Hauptmerkmal russischer Friedhöfe. Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich gesehen, dass Zäune die Grabmale überragen. Die Zäune sind wichtiger als die Kreuze“, sagt Sergej Medwedew.

    Auf dem Friedhof sind die Zäune wichtiger als die Kreuze

    Im 20. Jahrhundert habe in der Sowjetunion in kürzester Zeit eine Massenumsiedlung vom Land in die Stadt stattgefunden: Anfang des Jahrhunderts hätten 15 Prozent in Städten gelebt, Ende des Jahrhunderts seien es bereits 70 Prozent gewesen. So stelle der Friedhof einen Ort dar, wo der Mensch endlich bekommt, was ihm sein Leben lang fehlte: Privatsphäre und eigene Grenzen.

    Einen Zaun-Bauboom gab es dann Anfang der 2000er Jahre. Bis 2014 wuchs der Markt in der Region Moskau laut Pjotr Saposhnikow exponentiell. Großzügig aufgerundet, wurden pro Jahr allein in der Region Moskau von zehn bis fünfzehn großen Privatunternehmen etwa 3000 Kilometer verschiedenster Zäune errichtet. Würden alle Unternehmen, nicht nur die großen, zehn Jahre lang so produzieren, könnte man den Äquator verzäunen, wie es im Fachjargon heißt. Und wir sprechen hier nur von Privatunternehmen, nur von der Region Moskau, und fast nur von Datscha-Grundstücken.

    „Wie viele Zäune es in ganz Russland gibt, weiß keiner, aber man kann anhand von Datschengrundstücken über ihre Länge spekulieren“, erklärt Andrej Treiwisch vom Institut für Geografie der Russischen Akademie der Wissenschaften. Nach Einschätzung der russischen Gärtnervereinigung gibt es in Russland etwa 16 Millionen Datschengrundstücke. Beziehe man noch die altsowjetischen Datschen und die „Fertigbau-Vorstadtpaläste“ mit ein, komme man auf etwa 20 Millionen. 

    Selbst wenn man von den Angaben des Rosstat ausgehe, der 79.000 private Gärtner-, Gemüseanbau- und Datschenvereinigungen verzeichnet, erreichten die Zäune eine Länge von 790.000  Kilometer (sie könnten die Erde fast 20-mal umrunden).

    Der Zaun symbolisiert die Macht des Eigentümers

    Auf der Moskauer Rubljowka, der hermetischen Wohnwelt für Geschäftsleute und Staatsbeamte, sind die Zäune blickdicht und sechs bis acht Meter hoch. Ähnlich hohe Sichtschutzzäune gibt es sonst nur um Klöster und Gefängnisse herum. „Der Zaun ist ein Segregationsmerkmal im städtischen Raum. Er symbolisiert die Macht des Eigentümers“, bemerkt Alexej Krascheninnikow.

    Für einen amerikanischen Farmer sei ein Zaun in erster Linie eine Markierung, um Streitereien über die Grenzen seines Eigentums zu vermeiden. So etwas sei nur bei entwickelten Institutionen von Recht und Eigentum möglich, und schließe die Hoffnung auf ein faires Gericht mit ein. 

    In Russland liegen die Dinge anders. „In einer Gesellschaft, wo jeder Mensch in der Angst lebte, der Staat oder ein anderer Mensch könne jeden Moment in seinen Bereich eindringen, ist der Zaun ein Symbol des Strebens nach Ruhe und privatem Raum“, schreibt Maxim Trudoljubow in seinem Buch Ljudi sa Saborom (dt. Menschen hinterm Zaun: Privatraum, Macht und Eigentum in Russland). Ihm zufolge gibt es mindestens drei Gründe für die Beständigkeit von Zäunen in Russland: „Erstens waren und sind sie Denkmäler für den nie vollends verwirklichten Traum von Privatheit. Zweitens dienen sie als Pseudolösung für die Probleme mit dem Eigentum – unzulängliche Legitimität und geringer Schutz. Drittens sind Zäune ein konkreter Ausdruck von gegenseitigem Misstrauen der Menschen. Zäune erfüllen überall auf der Welt denselben Zweck, aber bei uns hat sich die Notwendigkeit von Zäunen länger gehalten und ist offenbar stärker ausgeprägt als in anderen Gesellschaften.“

    Pjotr Saposhnikow: „Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen.“ / Foto © Dimitri Skljarenko/Wikimedia
    Pjotr Saposhnikow: „Dem einen geht es um Schutz, dem anderen darum, etwas zu verbergen.“ / Foto © Dimitri Skljarenko/Wikimedia

    „Zu Sowjetzeiten hat in der Stadt eine andere Kultur dominiert, die mit dem kommunalen Leben und Treiben zusammenhing“, erklärt Alexej Krascheninnikow. Das sei vergleichbar gewesen mit der europäischen Tradition vom Leben in einer local community. Nähmen informelle städtische Gemeinschaften eine zentrale Rolle ein, begünstige dies kooperatives Verhalten unter den Menschen. Allerdings habe es in der Sowjetunion einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied gegeben: „In der westlichen Tradition waren die Bewohner auch Eigentümer. Sie waren in den Regierungsorganen vertreten und hatten ein Stimmrecht. Sie waren Bürger.“ Die Basis des Ganzen sei Selbstorganisation gewesen – in der Sowjetunion sei diese dagegen dagegen unterdrückt und de facto erstickt worden. 

    Der Zaun verdeckt die unansehnliche Wirklichkeit

    Der russische Zaun hat noch eine weitere Funktion: Er verdeckt die unansehnliche Wirklichkeit. 

    2011 hat die Regierung von Uljanowsk im Zuge der Vorbereitungen auf den Besuch des damaligen Präsidenten Dimitri Medwedew einen Gartenverein mit einem zwei Meter hohen Sichtschutzzaun abgeschirmt. Allerdings vergaß man, eine Tür einzubauen. Den Eigentümern schlug man vor, sich zu gedulden, bis der Präsident wieder abgereist sei. Im selben Jahr empfing man Medwedew auch in Lytkarino mit einem Zaun. Dort hatte man ein dreistöckiges Haus, das einer Baracke ähnelte, auf diese Weise „dekoriert“. Auf solche Zäune sind auch Wladimir Putin und Sergej Sobjanin bei ihren Reisen gestoßen.

    Ein aktuelleres Beispiel: Die Regierung von Samara beabsichtigt zur Fußballweltmeisterschaft dekorative Zäune von zwei bis zweieinhalb Meter Höhe entlang der Gästeroute zu errichten. Ausländer, die zur WM kommen, werden also mit allen Ehren empfangen – wie die führenden Politiker des Landes.

    „Den meisten ist es recht so“, erklärt Sergej Medwedew. „Viele sehen die Dinge, wollen aber nichts anrühren, weil sich diese soziale Ordnung etabliert hat. Diese Ordnung infrage zu stellen, hieße das gesamte politische System infrage zu stellen.“

    Der Historiker betont, dass jede Kultur, insbesondere aber die sowjetische und auch die russische, auf eine Begrenzung der Bewegung im Raum ausgerichtet sei. Die Entscheidung, was und wie zu begrenzen sei, werde im Endeffekt von einzelnen Personen getroffen, denen dieses Recht von der Regierung übertragen wurde. „Gerade verwirklichen sich alte, langfristige Modelle der russischen Geschichte, die leicht eingefroren waren“, erklärt Sergej Medwedew. „Das alles rührt von einem Halbkriegsstaat her, der auf sein Überleben bedacht ist. Gerade werden archaische Schichten der russischen Psyche wiederbelebt, und mit diesem russischen Archaismus drängt auch die Sache mit den Zäunen an die Oberfläche.“

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  • Totenwasser

    Totenwasser

    Es sollte ein Festtag werden. Stattdessen erschütterte ein schwerer Terroranschlag das südrussische Beslan am ersten Schultag nach den großen Ferien – in Russland traditionell der feierlich begangene 1. September. An diesem Tag im Jahr 2004 überfielen Terroristen die Schule Nr. 1 in der Kleinstadt in Nordossetien und nahmen mehr als Tausend Geiseln. Kinder, Eltern und Lehrer. Das Terrorkommando wollte den Abzug russischer Truppen aus der benachbarten russischen Teilrepublik Tschetschenien erzwingen – und versetzte dem Land mit einem drei Tage andauernden Geiseldrama einen Schock.

    Als Drahtzieher übernahm der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew die Verantwortung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion tobte in Tschetschenien bereits der zweite bewaffnete Konflikt um die Unabhängigkeit der Nordkaukasusrepublik von Russland. Moskau versuchte, eine Abspaltung zu verhindern. Das Geiseldrama trug diesen Krieg auf grausame Art und Weise ins alltägliche Leben. Es gab mehr als 300 Tote, ein Großteil waren Kinder.

    Bis heute gibt es dabei viele offene Fragen auch zum Einsatz der Sicherheitskräfte, zahlreiche betroffene Angehörige und auch Menschenrechtsorganisationen werfen offiziellen Stellen eine gezielte Politik der Desinformation und des Verschweigens vor. Am 12. Jahrestag 2016 protestierten fünf betroffene Mütter mit schweren Vorwürfen an die Adresse Wladimir Putins und wurden dafür verhaftet. Noch in der Nacht verurteilte sie ein Gericht teils zu Geldstrafen, teils zur Ableistung von Sozialstunden.

    Der renommierte Journalist Andrej Kolesnikow hat Beslan während der Tragödie besucht und seine Eindrücke in einer Reportage beschrieben. Sein eindringlicher Text, der am 6. September 2004 in der Tageszeitung Kommersant erschien, soll hier als Zeitdokument stehen.

    Stilles Gedenken: Blumen und geöffnete Wasserflaschen / Foto © ossetians.com

    Tag der offenen Tür

    Die Kämpfe in der Schule Nr. 1 setzten sich am Freitag bis in die Nacht hinein fort. Die Schule brannte. Löscharbeiten waren bereits im Gange. Die Feuerwehrautos fuhren in den Hof der benachbarten Schule Nr. 6, füllten ihre Wassertanks auf und kehrten wieder zurück. Bei einem der Autos stand an einen Baum gelehnt ein Ossete um die 30, in schmutziger Kleidung mit Brandlöchern.

    „Waren Sie drin?“, fragte ich.

    Er nickte: „Wir sind mit der ALPHA da rein, als die Explosionen losgingen.“

    Die Schule war im Sommer renoviert worden, und eine Wasserleitung, die in den Turnsaal führte, war noch nicht eingemauert. Rund um sie herum war nach wie vor eine relativ große Bresche in der Mauer. Dort hatten sich die Feuerwehrmänner mit Brecheisen und Vorschlaghämmern zu schaffen gemacht.

    „Hat es lang gedauert, bis die Mauer durchbrochen war?“

    „Nein, das ging schnell. Das Durchkriechen dauerte. Da war aber noch nicht der Turnsaal, in dem die Kinder festgehalten wurden, sondern so ein gewerblicher Fitnessraum für Krafttraining, glaube ich. In dem Turnsaal, wo sich die Leute befanden, war schon eine Bombe explodiert, und alles brannte. Wir sind rein, und da lagen haufenweise Frauen und Männer und Kinder. Die Kinder alle mit nackten Oberkörpern. Es war kaum möglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber wir mussten da durch. Also gingen wir.“  

    Er sagte, seine eigene Stimme höre sich seltsam für ihn an.
    „Sage das gerade alles ich?“, fragte er skeptisch.
    „Natürlich.“
    „Komisch. Anscheinend sind das meine Worte, und mir ist das passiert, aber ich höre mich selbst wie von außen, aus der Ferne. Gibt es so etwas?“
    „Natürlich“, beruhigte ich ihn.
    Er beruhigte sich wirklich.    

    „Wir haben ein paar Leute aus dem Turnsaal rausgezerrt. Vier habe ich geschleppt. Auf der anderen Seite hat die ALPHA welche rausgetragen. Die Leute lagen wie so Bündel da … Viele hatte die Druckwelle in die Ecken gedrückt. Oder sie sind selbst dorthin geflüchtet. Nur wenige lebten. Wir mussten herausfinden, wer, aber wie? Ich habe mich zweimal geirrt. Als ich gerade ein Mädchen rausgebracht hatte, krachte die zweite Explosion. Davor hatten uns zwei Mädchen aus dem Fenster zugerufen, mit einem Tuch gewunken, die eine etwas älter, die andere vielleicht sieben. Bei ihnen saßen zwei Duchi, die mit Unterlaufgranatwerfern die ALPHA unterstützten. Ich winkte den Mädchen zu und sagte: ‚Ich bin gleich da!‘, und sie haben gelacht, so glücklich waren sie! Dann die Detonation, und die Mädchen hab ich nie wieder gesehen. Ich werde sie in der Schule suchen, sie müssen doch noch drinnen sein.“ 

    Der Kommandant der Feuerwehr gab Anweisungen:

    „Los, Wassertanks auffüllen – und zur Schule! Löschen im ersten Stock! Marsch, alle! Die Rebellen sind tot! Dort ist niemand mehr! Was ist, will da jemand nicht? Los jetzt, alle! Was stehen wir hier noch rum?!“

    „Da sitzen noch drei im ersten Stock“, brummte der Ossete, der sich mir mittlerweile als Ansor vorgestellt hatte. „Die lassen noch nicht locker. Da war so ein eiserner MG-Schütze, der hat alle verblüfft. Den haben sie mit Raketenwaffen beschossen und sonst mit allem möglichen, und immer noch war er am Leben. Saß in diesem Zwischenraum zwischen Dach und erstem Stock … also, ja, auf dem Dachboden … Er hat, glaube ich, sogar Männer von der ALPHA runtergeschossen. Ein richtiger Profi, hat sich perfekt verteidigt. Und vom Nachbarhaus aus hat uns ein MP-Schütze nicht runtergelassen. Also die haben uns echt Probleme gemacht. Jetzt liegen sie unten. Ich hab sieben gesehen. Darunter einen Neger und einen Araber …“           

    Da donnerten ein paar heftige Explosionen.

    „Ach, du Scheiße!“, rief Ansor und horchte auf. „Die schießen aus Panzern auf sie. Offenbar gibt es größere Probleme. Aber unsere Leute müssen ja rein, den Brand löschen. Einen der Rebellen haben sie halbtot rausgezerrt, er war verletzt, sie schleppten ihn auf die Dienststelle, ein Wunder, dass die Leute draußen ihn nicht zerfleischt haben, aber die haben sie abgewehrt. Ein anderer, heißt es, hat nicht überlebt. Ich finde auch, dass man die Leute abwimmeln muss, der soll ja der Gesellschaft noch wenigstens irgendeinen Nutzen bringen.“

     „Alle einsteigen!“, hörte ich das Feuerwehrkommando.

    „Dann muss ich wohl“, sagte Ansor. „Mal sehen, wie und was.“

    Ich ging zum Kulturhaus, dem Arbeitsort der Journalisten während dieser Tage. Es war halb drei in der Nacht. Explosionen gab es keine mehr. Nach einer Stunde kamen nach und nach die Feuerwehrautos zurück. Die Feuerwehrmänner berichteten, von Erdgeschoss und Turnsaal sei nichts mehr übrig, und den ersten Stock hätten sie ohne Zwischenfälle gelöscht: Die Rebellen seien tatsächlich alle weg.   

    Ich stoppte ein Auto (damals hielten sie auch auf das Handzeichen von Passanten an). Wir fuhren aus Beslan raus und waren schon Richtung Wladikawkas abgebogen, als uns eine lange Wagenkolonne entgegenkam. Lautlos drehten sich die Blaulichter, alle nur erdenklichen Scheinwerfer strahlten. Die Kolonne fuhr sehr langsam, ja, schwebte an uns vorüber. Sie bestand aus mindestens 15 Fahrzeugen. Bei der Einsatzzentrale hielt die Kolonne an. Rundherum wurde sofort abgesperrt. Wir mussten schon los. Wie ich später erfuhr, saß in einem der Autos der russische Präsident, der mit dem Flugzeug aus Moskau in Beslan gelandet war.

    Totengedenken       

    Früh am Morgen sah ich zu, wie das Gebiet rund um die Schule abgesichert wurde. Die äußerste Absperrung verlief an der Wand des Kulturhauses entlang. Nicht einmal in den ersten Tagen der Geiselnahme und während der Erstürmung hatte der Zaun so weit entfernt von der Schule gestanden. Die Osseten wussten nicht, was los war. Sie wollten zur Schule hingehen. Dort waren ihre Kinder. In ganz Beslan gab es, glaube ich, keine einzige Familie, die nicht von dieser Tragödie betroffen war. Sie wollten ihre Kinder sehen. Mir war klar: Eben darum lassen sie sie nicht rein.

    Keine einzige Familie, die nicht von dieser Tragödie betroffen war

    „Wissen Sie, was da vor sich geht?“, fragte mich eine Frau mittleren Alters und wies mit der Hand Richtung Schule. „Dort geht der Terror weiter, sonst hätten sie keine Absperrung aufgestellt.“  

    Sie und ihre Nachbarin konnten ihre Kinder nicht finden, die sechsjährige Madina Buchajewa, den 13-jährigen Soso Bigonaschwili und noch weitere – insgesamt sechs.

    „Wir haben überall gesucht, in der Leichenschau, in den Krankenhäusern, haben alles genau geprüft …“, sagte die Frau müde.
    „Ich habe geweint, dann kam ein Soldat raus und fragte, wen ich verloren habe, wie sie heißen, und ich sagte, vielleicht sind sie gar nicht tot. Und er ging weg.“
    „Agunda ist tot, Asa auch“, zählte die Frau tonlos auf, „was haben die uns nur angetan?“

    An einer anderen Stelle der Absperrung kam noch eine Frau auf mich zu:

    „Wissen Sie, was da im Keller los ist? Dort sitzen wieder Rebellen mit Geiseln“, sagte sie leise, „Gespräche sind im Gange, noch ohne Ergebnis. Sie wollen nicht verhandeln, stellen keine Forderungen. Dort sind unsere Kinder! Wir suchen sie überall, dabei sitzen sie da unten! Gott im Himmel, wann ist das endlich vorbei!“

    Ich versuchte sie zu beruhigen und sagte, dort seien keine Rebellen mehr, und Geiseln könne es auch keine mehr geben, die Absperrung sei nur deshalb da, weil alles vermint sei. Sie hörte mir begierig zu. Und ich ertappte mich dabei, wie ich ihr glaubte anstatt mir selbst. 

    Ich umrundete fast die gesamte Absperrung. An einer Stelle traf ich auf Männer, die völlig aufgebracht waren. Ansor Margijew vermisste seine zwölfjährige Nichte Elvira.

    „Sie war mit ihrer Mutter im Turnsaal, als bei einer Explosion der Boden einbrach“, erzählte er. „Ihre Mutter blieb unversehrt, aber die Kleine wurde so eingeklemmt, dass man sie nicht rausziehen konnte. Zumindest gelang es der Mutter nicht. Dann stürzte die Decke ein, sie packte einen anderen dreijährigen Jungen, einen fremden Jungen, also nicht fremd, natürlich, wir kennen uns ja alle, und rannte. Sehen Sie, dort sitzt Elviras Vater auf der Bank, den zweiten Tag infolge spricht er mit niemandem, alt ist er geworden. Und die Kleine liegt dort. Ich weiß genau, wo, ich finde sie, aber sie lassen uns nicht rein!“

    Die Kleine liegt dort. Ich weiß genau, wo, aber sie lassen uns nicht rein!

    Ich hielt einen Burschen auf und fragte ihn, wie ich so nah wie möglich an die Schule herankomme. Er zeigte es mir. Eigentlich war es einfach. Ein Hof, ein Zaun, ein Trampelpfad … Das nächste Hoftor führte direkt zum Haupteingang der Schule Nr. 1.

    Ich hatte gute Sicht auf die Vorgänge im Hof. Auf Tragen schafften die Rettungskräfte schwarze Plastiksäcke aus dem Turnsaal hinaus und reihten sie auf dem Asphalt auf, dort, wo vor drei Tagen der Appell zum Schulbeginn hätte stattfinden sollen. Auf denselben Tragen wurden die Trümmer aus dem Turnsaal gebracht. Der Schutt kam nach links, die Säcke nach rechts. Es waren viele Einsatzkräfte, und sie waren schnell. Pro Minute trugen sie ungefähr fünf Leichen raus. Sie waren schon über eine Stunde am Werk. Machten nur ein paar Raucherpausen.

    Am Eingang der Schule stand eine Kette aus ossetischen OMON-Milizen. Sie ließen niemanden hinein, außer die Ermittler der Staatsanwaltschaft und die Rettungskräfte.

    Die Schmach des Staatsanwalts

    Auf dem Platz vor dem Kulturhaus drängten sich Journalisten und Einwohner Beslans. Der Termin mit den Regierungsvertretern hätte schon vor einer Viertelstunde beginnen sollen.

    „Was ist, seid ihr da, um von uns Fotos zu machen?“, riefen die Osseten den Journalisten zu, die tatsächlich waghalsig von oben, von der Freitreppe aus, fotografierten.

    „Weg mit euren Kameras, oder wir schlagen sie kaputt, zum Teufel nochmal! Euretwegen sind die Rebellen durchgedreht! Weil ihr gemeldet habt, in der Schule seien 354 Leute!! Das waren doch mehr als tausend! Und dann hat’s geheißen, na gut, dann werden aus euch eben 354! Weg mit Euch!“  

    „Kommt denn keiner zu uns?“, sagte eine junge Ossetin leise. „Sind die noch bei Trost?“

    In der Hand hielt sie ein Schulheft, darin ein großes Foto ihrer zehnjährigen Tochter.

    Inzwischen war die Menge in Richtung Absperrung geschwappt. Eine Frau heulte auf, dann noch eine.

    „Jetzt haben sie jemanden zertrampelt!“ stöhnte es entsetzt rund um mich auf.

    Dicht an die Absperrung herangerückt, kam die Menge nicht vor und nicht zurück. Auf der Erde saß eine alte Ossetin, die Augen geschlossen, ihren Kopf umfasste sie mit den Händen. Sie stöhnte und wiegte sich hin und her. Ihr Gesicht war blass, ganz weiß, mit dicken Schweißtropfen.    

    „Drei ihrer Enkel sind in der Schule umgekommen“, sagten die Leute in der Menge. „Und einer ist verschwunden. Sie hat gewartet, dass man ihr sagt, wo er ist. Aber offenbar hat sie nicht mehr die Kraft, weiter zu warten.“

    Zwei weitere Frauen heulten auf, man trug sie auf Händen aus dem Getümmel und setzte sie auf hölzerne Kisten.

    Die Leute blieben, als hofften sie auf ein Wunder

    Immer noch trat keiner von denen, auf die man wartete, aus dem Gebäude. Die Leute blieben, als hofften sie auf ein Wunder. In den vergangenen drei Tagen hatten sie sich daran gewöhnt, auf diesem Platz auf Wunder zu hoffen. Und das Wunder geschah. Am Mittag des zweiten Tages erschien vor dem Kulturhaus der Staatsanwalt von Nordossetien Alexander Bigulow.

    „Derzeit wird der Ort des Geschehens inspiziert“, sagte er. „Die Ermittlungen werden fortgesetzt.“

    „Verpiss dich!“, schrie jemand aus der Menge. „Da drin sind unsere Kinder!“

    Er tat, als hätte er nichts gehört.

    „Verpiss dich!“, schrie jemand aus der Menge. „Da drin sind unsere Kinder!“

    „Das Betreten des Schulgeländes ist untersagt. Die Listen der Toten und Verletzten werden fortlaufend aktualisiert. Das ist alles, was in meinem Kompetenzbereich liegt und was ich euch sagen kann.“

    Er stieg von der Freitreppe herunter.

    „Dreckskerl!“, schrien sie von unten, wurden aber nicht handgreiflich.
    „Meine Tochter ist verschwunden!“, rief eine Frau. „Wie soll ich sie finden? Wie sollen wir sie alle finden?!“
    „Kommen Sie zu mir, um das zu besprechen“, antwortete er über die Schulter.
    „Und deine Nummer, du Drecksack?!“, sagte sie stöhnend zu seinem Rücken.

    Der Staatsanwalt löste sich aus der Menge, sah sich um und fragte bekümmert einen seiner Gehilfen: „Haben Sie Wasser? Aber kaltes.“
    „Kaltes glaube ich nicht“, antwortete der mit gedämpfter Stimme.
    „Schlecht“, der Staatsanwalt schüttelte den Kopf, „stand da wie ein Vollidiot.“ 

    Informationen nach oben

    Ich kehrte über den bewährten Weg zur Schule zurück. Dort war bereits schwere Technik im Einsatz. Es waren jetzt immer mehr Leute im Hof. Ich sah, wie sich ein paar Menschen in Zivil auf den Eingang zu bewegten, schloss mich ihnen an (sie achteten gar nicht auf mich) und gelangte mühelos durch das Tor.

    Ein Bagger schaufelte den Schutt beiseite, den man aus dem Turnsaal getragen hatte. Im Turnsaal selbst war es relativ sauber. Der Saal kam mir sehr klein vor, erstaunlich klein. Ich konnte nicht fassen, wie hier drei Tage lang mehr als tausend Menschen gewesen sein sollten. 

    Viele der Säcke schienen viel zu groß und federleicht

    Der Gestank war schlicht unerträglich. Die Rettungskräfte arbeiteten bedächtig, räumten Aula und Speisesaal aus. Sie meinten, dass auch dort Menschen sein könnten. Wieder fuhr ein Kühlwagen in den Hof, der mit den Leichen beladen wurde, die immer noch auf dem Asphalt lagen. Viele der schwarzen Säcke schienen viel zu groß und federleicht. Darin waren die Leichen der Kinder.

    Etwa 40 Meter entfernt lagen hinter einem kleinen Nebengebäude, Richtung Eisenbahnschienen, die Leichen der Rebellen auf dem Asphalt. Dorthin führten Beamte der Staatsanwaltschaft zwei Männer. Einer war dünn und klein, in auffallend sauberen Jeans und T-Shirt; der andere war groß und trug einen schmutzigen und zerrissenen Trainingsanzug. Ihre Köpfe waren mit Unterhemden umwickelt, mit Schlitzen für die Augen. Polizisten hielten diese Männer am Arm.    

    Die Beamten der Staatsanwaltschaft begannen mit der Identifizierung. Die Beiden brummelten aufgeregt vor sich hin und deuteten dabei auf die Leichen. Sie benahmen sich irgendwie seltsam, flüsterten ihre Aussagen den Beamten ins Ohr, als fürchteten sie, dass noch jemand sie hören könnte.  

    „Überlasst sie uns!“, ertönte ein durchdringender Schrei aus der Menge, die auf dem Bahndamm hinter der Absperrung stand. Die Leute hatten mitbekommen, was da passierte. Der Ermittler sah auf die Gefangenen und schüttelte den Kopf; mit Bedauern, wie mir schien.

    „Gebt sie uns!“, schrie wieder jemand.

    Da rief der Ermittler laut: „Kann ich nicht!“

    Man brachte die Gefangenen weg.   

    Etwa zehn Meter weiter saßen ein paar Leute im Gras.

    224 plus 18, die aus dem Fenster geworfen wurden, die liegen extra, plus 79 gestern. Was macht das? 328? Und dann noch die vier Säcke mit Körperteilen

    „Na, zählen wir mal“, sagte einer. „Wir müssen Informationen nach oben liefern. Ganz nach oben.“

    „Na, und? Im Moment ist doch alles klar. 224 plus 18, die aus dem Fenster geworfen wurden, die liegen extra, plus 79 gestern. Was macht das? 328? Und dann noch die vier Säcke mit Körperteilen.“
    „Nein, 321. Aber dazu noch die Leichen, die im Spital liegen. Und 28 von diesen Scheißkerlen.“
    „Nein, von den Scheißkerlen 26. Aber die zählen nicht. Rausgeworfen wurden aber 21, nicht 18, glaub ich.“
    „Wie viele wurden aus dem Fenster geschmissen, findet das schnell raus! 18? Und bei den Rebellen, zählt ihr da die Weiber mit?“
    „Klar, die auch.“
    „Ok, das wär’s. Ruft oben an!“
    „Aber wir wissen doch nicht, wie viele in den Krankenhäusern in der Leichenschau liegen.“
    „Das geht ja uns nichts an. Los, ruf an!“

    Totenwasser

    Am nächsten Tag fanden in Beslan die ersten Begräbnisse statt. Am Nachmittag ging ich durch die Stadt, die mir wie ein Friedhof vorkam: So gut wie aus jedem Haus hörte man Schluchzen.

    In der Schule war es sehr still. Schon seit gestern war der Zugang gestattet. In der Mitte des Turnsaals standen auf Stühlen Kerzen und geöffnete Zwei-Liter-Plastikflaschen mit Mineralwasser, fünf Flaschen. Ein paar Plastikbecher waren ebenfalls mit Wasser gefüllt. Daneben lagen Blumen und ein Stofftier, ein gelber Plüschelefant mit erhobenem Rüssel. Überall waren Blumen: auf den Fensterbrettern, in den Klassenzimmern, auf den Korridoren. Auf den Fensterbrettern lagen außerdem unzählige Damenschuhe und Kindersandalen. Es herrschte einfach Totenstille. Ängstlich vermieden die Leute jegliches Geräusch.

    Die Leute hielten ihre Regenschirme über die Kerzen

    Der beginnende Regen wurde schnell zum Wolkenbruch, und ich dachte, die Kerzen im Turnsaal, der ja kein Dach mehr hatte, würden jetzt gleich erlöschen. Aber die Leute schützten sie bereits mit Regenschirmen, die sie über die Stühle hielten.

    Der Fitnessraum nebenan, der gewerbliche, von dem Ansor erzählt hatte, war erst recht winzig. Auf dem Boden lagen Gewichte, Hanteln und kaputte Geräte herum. In der Wand war, wie Ansor gesagt hatte, ein relativ kleines Loch. Ein Mensch konnte sich gerade durchzwängen. Die Wand war dick, fünf Ziegel.

    Daneben waren die Toiletten. Der Wasserhahn lief. Der Boden in der Dusche war schon komplett überschwemmt. Ich hätte den Hahn zudrehen können. Aber ich dachte, dass das jeder an meiner Stelle hätte tun können, wenn er gewollt hätte. Niemand wollte. Sie hatten den Wasserhahn aufgedreht und die Mineralwasserflaschen auf die Tische gestellt, beides aus dem gleichen Grund.

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  • AIDS: Schuld sind die Kondome

    AIDS: Schuld sind die Kondome

    Wie viele Aidskranke es in Russland gibt, vermag keiner genau zu sagen. Es fehlt ein landesweites Register. So gehen selbst offizielle Zahlen auseinander: Etwa 742.000 AIDS-Infizierte meldete das Gesundheitsministerium Ende 2015. Das föderale AIDS-Bekämpfungszentrum hatte im Januar 2016 sogar die Daten von einer Million HIV-Infizierten erfasst – und geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl noch höher ist und bei rund 1,5 Millionen liegt. Einig sind sich die Experten allerdings darin, dass  sich die Epidemie tendenziell ausbreitet. So warnte das Gesundheitsministerium vor einem „katastrophalen Anstieg“ der HIV-Infektionen in Russland um etwa 250 Prozent bis zum Jahr 2020.

    Abgeordnete der Moskauer Stadtduma nahmen sich Ende Mai der Problematik an und diskutierten, wie die Verbreitung der Immunschwächekrankheit in der russischen Hauptstadt zu stoppen sei. Dafür luden sie allerdings keine Mediziner, sondern Mitarbeiter des Russischen Instituts für Strategische Studien ein.

    Alexander Tschernych berichtet für Kommersant von einer höchst ungewöhnlichen Anhörung.

    Ludmilla Stebenkowa, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses, eröffnete die Anhörung. Sie erinnerte daran, dass die Abgeordneten bereits vor einem Jahr das Thema HIV erörtert hatten, „weil uns in der Presse laufend angedichtet wurde, dass es bei uns Unmengen von HIV-Infizierten gäbe“. Tatsächlich hatte im Mai vergangenen Jahres der Vorsitzende des Föderalen AIDS-Bekämpfungszentrums Wadim Pawlowski von einer HIV-Epidemie im Lande gesprochen und die Situation als „nationale Katastrophe“ bezeichnet (siehe Kommersant vom 15. Mai 2015).

    Damals hatten die Abgeordneten um eine Prüfung der Daten und ein „Grundlagenpapier zur HIV-Infektion“ gebeten. Hierfür wandte sich die Moskauer Regierung allerdings nicht an Mediziner, sondern an das Russische Institut für Strategische Studien (RISS), ein staatliches Analysezentrum, das 1992 durch einen Erlass des russischen Präsidenten gegründet worden war. Wie es auf der Website des RISS heißt, befasst sich das Institut mit „Fragen der nationalen Sicherheit“ sowie mit der „Verhinderung von Geschichtsverfälschung“. Und wie Ludmilla Stebenkowa erklärte, habe das Institut bislang „ein hervorragendes Papier zur Arbeit vom Westen finanzierter NGOs“ vorgelegt.

    An der Erstellung des HIV-Papiers hatte das RISS beinahe ein Jahr gearbeitet – am 30. Mai wurde es von Tamara Gusenkowa, der Vize-Direktorin des Instituts, präsentiert. Wie aus der RISS-Website hervorgeht, hat Frau Gusenkowa keinen Bezug zur Medizin: Sie ist promovierte Geschichtswissenschaftlerin, kritisiert in ihren Publikationen die neue Regierung der Ukraine und äußert sich zum „Niedergang der EU“.

    AIDS als Teil des Informationskriegs gegen Russland

    Sie nähert sich dem Thema HIV aus einer gewohnten Perspektive und erklärt, dass „das HIV- bzw. AIDS-Problem als Element des Informationskriegs gegen Russland eingesetzt wird“. Im Papier des RISS heißt es, es gäbe zwei Konzepte der HIV-Bekämpfung: Im westlichen Konzept finde sich „neoliberaler, ideologischer Content, ein unsensibler Umgang mit nationalen Besonderheiten und eine Priorisierung der Rechte von Risikogruppen – Drogenabhängigen und LGBT“. Das Moskauer Konzept hingegen „berücksichtigt kulturelle, historische und psychologische Besonderheiten der russischen Bevölkerung und stützt sich auf eine konservative Ideologie und traditionelle Werte“.
    Die internationale Gemeinschaft lege Russland beim Kampf gegen die Erkrankung den westlichen Ansatz nahe und verwandle damit – Gusenkowa zufolge – das Thema der Epidemie „in ein politisches Problem der Konfrontation mit Russland, da Russland es sich erlaubt, eine eigenständige Außen- und Innenpolitik zu betreiben“.

    Den Vergleich zwischen den zwei Konzepten präsentierte die Vize-Vorsitzende des RISS Oxana Petrowskaja, ebenfalls promovierte Geschichtswissenschaftlerin mit Schwerpunkt in süd- und westslawischer Geschichte. Auf der Website des Instituts sind ihre Arbeiten veröffentlicht, zum „Schicksal russischer Nekropolen im Ausland“ und zur Identitätskrise in Polen.

    Frau Petrowskaja berichtete, dass man HIV in Moskau besser im Griff habe als in St. Petersburg, und bot dann auch eine Erklärung: „Die Gründe liegen nicht nur in geographischen und regionalen Besonderheiten, sondern auch in der Traditions- und Werteorientierung“, sagte sie. „Moskau kann man als Symbol für ursprünglich russische Werte ansehen, St. Petersburg dagegen steht für westeuropäische kulturelle Werte.“

    Der RISS-Bericht fasst dies noch konkreter: „Die erdverbundene Ursprünglichkeit des naturgewaltig erwachsenen heiligen Moskauer Bodens steht dem künstlich und rational organisierten St. Petersburg gegenüber, dessen konstituierender Mythos die Apokalypse einer dem Untergang geweihten Stadt ist.“

    Eine Quelle der HIV-Übertragung: die Verhütungsmittel-Industrie

    Der dritte Co-Autor des Papiers, Igor Beloborodow, ist promovierter Soziologe und leitet am RISS den Bereich Demographie, Migration und ethnisch-religiöse Probleme. Er liefert eine Auflistung von Quellen der HIV-Übertragung: „Da ist die Verhütungsmittel-Industrie. Sie ist am Absatz ihrer Produkte interessiert und daher auch daran, dass möglichst viele Minderjährige früh sexuelle Kontakte eingehen. Und was die Pornoindustrie angeht: Trotz all unserer Gesetze kommt man mit zwei Klicks an sämtliches Material.“

    Herr Beloborodow kritisierte auch die Sexartikel-Industrie und sprach von „Lobbyisten, die direkt am Moralverfall der Gesellschaft interessiert sind. Er äußerte sogar die Annahme, dass Sexualkundeunterricht für Schüler vom Westen aufgedrängt werde, um „Länder, die als geopolitische Konkurrenten angesehen werden, demographisch einzudämmen“.

    Bislang gibt es keinen wirksameren Schutz vor AIDS als eine monogame Familie – eine heterosexuelle Familie, wenn ich unterstreichen darf –, in der man sich die Treue hält

    Hauptfeind sind für den RISS-Mitarbeiter jedoch Kondome. Beloborodow berichtete über sein Gespräch mit dem spanischen Epidemologen Jokin de Irala: „Er geht davon aus, dass Verhütungsmittel den Selbsterhaltungstrieb im eigenen Verhalten außer Kraft setzen. Und fünf Kontakte mit Kondom sind bei Jugendlichen gleichzusetzen mit einem ungeschützten Kontakt […] Wie dem auch sei, bislang gibt es keinen wirksameren Schutz vor Geschlechtskrankheiten, und insbesondere vor AIDS, als eine monogame Familie – eine heterosexuelle Familie, wenn ich unterstreichen darf –, in der man sich die Treue hält. Etwas wirksameres wurde bislang nicht erfunden“, führte der Experte aus dem präsidialen Analysezentrum aus, „und ich hoffe, dass auch nichts erfunden wird.“

    Man muss hinzufügen, dass der RISS-Mitarbeiter die Position des spanischen Professors de Irala recht freizügig interpretiert: Der betont in Interviews, dass Enthaltsamkeit allein nicht helfe und vertritt das Konzept „Enthaltsamkeit und Kondome“.

    Die Abgeordnete Stebenkowa unterstrich, sie habe nichts gegen Kondome als Verhütungsmittel, glaube aber nicht an deren Wirksamkeit gegen HIV. Sie sagte, man habe ihr vor Kurzem die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die Sex mit Kondom gehabt hatte – trotzdem habe man bei ihr den HI-Virus festgestellt. „Aber das Risiko sinkt“, bemerkte plötzlich der bei der Anhörung anwesende Leiter des Moskauer AIDS-Zentrums Alexej Masus. „Absoluten Schutz kann ein Kondom aber nicht bieten“, schnitt ihm die Abgeordnete das Wort ab.

    Der Widerspruch des Mediziners blieb aus. Zu guter Letzt teilte Ludmilla Stebenkowa den Anwesenden mit: „Dieses Papier wird unsere weiteren Schritte maßgeblich beeinflussen. […] Im Grunde muss man nicht AIDS bekämpfen, sondern Drogen und Sittenverfall“, sagte sie.

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  • Alles Käse

    Alles Käse

    Die russische Wirtschaft ist stark von Importen abhängig. Das soll sich durch die Politik der Importsubstitution ändern, die u. a. als Antwort auf die westlichen Sanktionen eingeführt wurde. Dabei sollen nicht nur importierte Industriegüter durch solche einheimischer Produktion ersetzt werden, sondern auch viele Nahrungsmittel. Das ist gerade für den Käse folgenreich.

    Wenn früher die Sowjetbürger von einem Paket aus dem Ausland träumten, schwärmten sie von Jeans und Kaugummi, während der einheimische Fetisch die Wurst war. Heute träumen die Russen nicht mehr von Jeans, Kaugummi und Wurst, sondern von Käse. Westlicher Käse ist vielen Russen lieb und teuer geworden, sich in Käsefragen auszukennen, gilt gerade in den großen Städten als Zeichen von Kultiviertheit und gutem Geschmack. Viel mehr als Träumen bleibt derzeit aber nicht: Importware wird an den Grenzen beschlagnahmt und vernichtet, während der russische Käse in den Läden meistens entweder nicht russisch oder kein Käse ist.

    Seit Anfang letzten Jahres seien 200 Tonnen sanktionierter Lebensmittel aus dem Handgepäck nach Russland einreisender Fluggäste und aus Paketen an Russen beschlagnahmt worden, meldete die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor im November nicht ohne Stolz. In der Pressemitteilung hieß es, dass unsere Landsleute noch nie in der Geschichte der Russischen Föderation so viel Käse importiert hätten – erlaubt sind 5 Kilogramm, doch meistens wird diese Menge überschritten.

    Seit August 2015 werden sanktionierte Lebensmittel vernichtet, wenn sie bei der Einfuhr auf russisches Territorium entdeckt werden. Im Herbst lernten die Russen das Wort „Incinerator“ – so heißen die Öfen, die bei der Verbrennung organischer Abfälle zum Einsatz kommen. Für den anfallenden Käse dachte man sich aber auch andere Vernichtungsmethoden aus. In Belgorod walzte man 9 Tonnen konfiszierten Käse mit einem Bulldozer platt, in Samara vergiftete man Edamer und Tilsiter mit dem Bleichmittel Belisna. Natürlich funktionierte es nicht überall: In Pulkowo wurden 20 Tonnen Käse zwecks Vernichtung beschlagnahmt, doch die Verantwortlichen kamen mit dem Auftrag nicht zurande, und der Käse wurde nicht vernichtet.

    Am bedauernswertesten aber ist gar nicht das Schicksal des importierten, sondern das des russischen Käses. Das Produkt, das beim World Cheese Award schon vorher nicht für Medaillenklimpern sorgte, hat seit dem Beginn der Gegensanktionen hoffnungslos an Qualität eingebüßt, und statt Büffel-, Kuh- oder Schafmilch ist nun Palmöl der meistverwendete Rohstoff.

    Bürgermeisterkäse

    Auf der Straße beim finnischen Konsulat in St. Petersburg tauchte ein Werbeplakat in finnischer Sprache auf. Ein grauhaariges Großmütterchen mit einem Stück Butter auf einem Teller lächelt verschmitzt unter einer Aufschrift, die übersetzt lautet: „Wir können das genau so gut wie ihr.“ Die gleiche Reklame tauchte jeweils auf Deutsch, Englisch, Französisch und anderen Sprachen auch bei Dutzenden anderer Botschaften und Konsulate in St. Petersburg und Moskau auf. Damit wollten die Besitzer der neuen Marke Baba Valja die Konkurrenz auf den Arm nehmen. Der nächste Schritt der Troll-Marke war eine virale Reklame darüber, dass die Oma von den Plakaten, Valentina Konstantinowna, als Qualitätschefin der Firma eingestellt worden sei.

    Der finnische Milchfabrikant Valio findet die Witze dieses Produzenten nicht amüsant: Dem Betrieb zufolge kopiere Baba Valja sein Markenzeichen, die Qualität von Butter, Mayonnaise und Käse sei aber ungleich schlechter. In der russischen Firma erklärt man, dass man es humorvoll möge und nicht vorhabe, mit den Witzen aufzuhören. „Wir werden mit Valentina Konstantinowna auf jeden Fall weitere lustige Aktionen auf die Beine stellen“, kündigt der Vertreter der Firma Stanislaw Alexejew an.

    Auch der neue Käsefabrikant Oleg Sirota – der Schwiegersohn von German Sterligow, einem der ersten russischen Multimillionäre – mag es humorvoll. Er hat die Käserei Russischer Parmesan eröffnet und darauf eine Flagge Neurusslands gehisst und erzählt nun Journalisten, dass er für seine Ziege Merkel auf der Suche sei nach einem Bock Obama. Sirota verhehlt nicht, dass er ohne Embargo nicht in dieses Business eingestiegen wäre, und ist voll des Lobes über die Gegensanktionen. Die Eröffnung der Fabrik war sogar auf den Jahrestag der Sanktionen abgestimmt. „Mein größter Alptraum ist, dass die Sanktionen aufgehoben werden könnten“, hat Sirota in Medieninterviews mehrmals gesagt.

    Der leidenschaftliche Imker und ehemalige Bürgermeister Moskaus Juri Lushkow hat ebenfalls bekanntgegeben, dass er auf seinem Bauernhof in der Oblast Kaliningrad mit der Herstellung von Pendants europäischer Spitzenkäse beginnen will. Und dass die erste Sorte zu Ehren seiner Gattin Elena Baturina vielleicht Elena heißen wird. Wobei auch eine zweite, für die Käufer verständlichere Namensvariante in Erwägung gezogen werde – Lushkowski.

    Die in der Käseproduktion führende Region Altai meldet ein so starkes Produktionswachstum, dass es dort unterdessen an Rohmilch fehlt. Letztes Jahr wurden in diesem Gebiet 72.000 Tonnen Käse erzeugt – 16 Prozent der gesamten russischen Produktion. Dieses Jahr ist das Käsevolumen um ein Drittel gewachsen. Übrigens hat der Ankauf von Rohmilch und der dann erfolgende Weiterverkauf an verarbeitende Betriebe letztes Jahr einige Bewohner der Gegend zu Milliardären gemacht. In der Region Altai gibt es davon jetzt fünf, früher war es nur einer.

    Insgesamt wuchs die Käseproduktion im ganzen Land im vergangenen Jahr um mehr als 21,6 Prozent. Auch wenn es sich in Wirklichkeit nicht bei allen 500.000 Tonnen russischen Käses tatsächlich um Käse handelt.

    Ein spezielles Rezept

    Der Importkäse verschwand nach der Bekanntgabe der Gegensanktionsmaßnahmen vom 7. August 2014 nicht sofort aus den russischen Theken – es waren Vorräte für einige Monate vorhanden, die dann allmählich zur Neige gingen. Eine Zeitlang lief der Verkauf durch das Thema „laktosefrei“ weiter. Zur Erinnerung: Laktosefreie Milchprodukte fallen nicht unter das Embargo, und bei den meisten Hartkäsesorten muss nicht einmal groß getrickst werden, weil sie aufgrund ihrer besonderen Herstellung laktosefrei sind. Doch dieses Schlupfloch wurde im Juni 2015 bei der Verlängerung des Embargos gestopft. Daraufhin versuchten die Einzelhändler zu beweisen, dass das Antisanktionsgesetz nur die Einfuhr von Käse nach Russland verbietet, nicht aber den Verkauf – und dem Petersburger Supermarkt Magnit gelang es sogar, eine Buße von 30.000 RUB [360 EUR] wegen des Verkaufs von französischem Schafskäse anzufechten. Dennoch beschlagnahmte der föderale Verbraucherschutz weiterhin Waren in den Läden, und Pawel Sytschew, erster stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaftlichen Kammer zur Unterstützung von Familie, Kindern und Mutterschaft, regte sogar an, das Verkaufen sanktionierter Ware mit Gefängnis zu bestrafen. Der Vorschlag wurde bislang nicht umgesetzt, aber im Herbst gelangte deutlich weniger „verbotenes Gut“ in die Supermarktketten. Importierter Käse kommt zum größten Teil (81 Prozent) aus Weißrussland, den Rest machen teure Käse aus der Schweiz, Argentinien und einigen anderen Ländern aus.

    Nach einer Analyse der in den Regalen verbliebenen Käsesorten erklärte die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde in einer offiziellen Pressemeldung unerwartet, dass 78,3 Prozent der Produkte Imitate seien. Später präzisierte die Behörde, die Untersuchung sei noch nicht allzu aussagekräftig: Spezialisten hätten 23 Käseproben überprüft und in 18 von ihnen Pflanzenfette gefunden.

    Das Ministerium für Landwirtschaft vertritt seinerseits die Meinung, der russische Käse sei durchaus von guter Qualität, nur 10 bis 15 Prozent seien Imitate; nach Angaben des nationalen Milchindustrieverbands Sojusmoloko wiederum sollen es 15 bis 20 Prozent sein.

    Das Grundproblem ist das Fehlen der nötigen Milchmengen. „Es hat sich gezeigt, dass die Produzenten nicht in der Lage sind, den Import von Käse zu kompensieren, dessen Marktanteil sich vor dem Embargo auf rund 50 Prozent belief, weil sie nicht genug Rohmilch guter Qualität bekommen, aus dem man diesen Käse herstellen könnte“, lautet das Fazit des Geschäftsführers von Sojusmoloko, Artjom Below. Im Jahr 2015 seien in Russland insgesamt 30,5 Millionen Tonnen Milch produziert worden, der Markt hätte aber 8,5 Millionen Tonnen mehr benötigt, stellte man im Fachverband fest.

    Anstelle von Milch setzen die russischen Käsefabrikanten daher nun munter Pflanzenfette ein, sprich Palmöl. Der Import nahm 2015 im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel zu, im November überstieg er die 700.000-Tonnen-Marke.

    Palmöl ist zwar nicht schädlich (in Malaysia zum Beispiel hält man es sogar für gesund), aber nach der Fülle an echten Milchprodukten vor dem Embargo hat man irgendwie keine große Lust auf milchfreien Käse. Deshalb essen die Russen nun einfach ein bisschen weniger Käse. „Die Nachfrage nach Käse ist leicht gesunken, um 1 bis 1,5 Prozent, es gibt aber noch keine genauen Zahlen“, sagt der Milchmarkt-Analyst des Moskauer Forschungsinstituts für Agrarmarktkonjunktur IKAR, Wadim Semikin.

    Es fehlt indessen nicht nur am Rohstoff, sondern auch an Erfahrung in der Produktion von Hartkäse. Für Milchverarbeiter ist der ein anspruchsvolles Produkt: Er muss monate- und manchmal jahrelang reifen, und für 1 Kilogramm Hartkäse braucht es 8 bis 10 Kilogramm Milch von guter Qualität (ganz zu schweigen von den nötigen Fertigkeiten, die man sich nicht in ein paar Monaten aneignet). Das bedeutet, es braucht viel Zeit, bis die teure Herstellung sich rentiert – eine kleine, gute Produktionsstätte kostet gut und gern 50 Millionen RUB [600.000 EUR]. Kein Wunder, dass die Leute nicht Schlange stehen, um im großen Stil in die Herstellung von Qualitätskäse einzusteigen – die Einrichtung und viele Zutaten stammen aus dem Ausland und müssen für immer teurer werdende Euro und Dollar importiert werden, und die Zinssätze für Kredite bewegen sich im Bereich der 20-Prozent-Marke.

    Kurz und gut, von den einheimischen Käsefabrikanten erwartet man besser keinen russischen Parmigiano Reggiano, bei dem für die Herstellung eines Laibs eine halbe Tonne Rohmilch sehr guter Qualität benötigt wird. Zumal die Milch dazu nicht pasteurisiert werden darf, was die russischen Aufsichtsorgane nie und nimmer zulassen würden. Da ist es einfacher, Palmöl zuzusetzen oder die gewohnten russischen Sorten herzustellen – Altaiski, Kostromskoi oder Rossiski. Dabei behaupten die Käseproduzenten selbst allesamt, gerade ihr Käse sei wirklich gut, und der größte Troll der Käseindustrie Valentina Konstantinowna zeigt sich durchaus angriffslustig: „Es sind doch die Schweizer, die das mit dem Palmöl machen – unser russischer Käse ist der beste. Das spüre ich am Geschmack.“

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  • Banja, Jagd und Angeln …

    Banja, Jagd und Angeln …

    In der russischen Provinz finden sich immer noch archaische Erwerbsarten, die es bereits in der Zarenzeit gab: Subsistenzwirtschaft, Abwanderung in Großstädte, Schwarzarbeit. Die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen sind nach wie vor die Banja, das Angeln, Jagen und die Gaststätte, wo Staatsvertreter, Volk und Unternehmer die Möglichkeit haben, sich freundlich auszutauschen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Moskauer Higher School of Economics zu Sozialstrukturen in der Provinz.

    Der soziale Status von Bewohnern der Provinzstädte und Dörfer lässt sich nur schwer bestimmen. Weder wurde hier das westliche Klassensystem übernommen, in dem die Einteilung nach Einkommensniveau erfolgt, noch die Ständeordnung mit ihrer Einteilung in Staatsdiener und Angestellte, die ihnen der Staat offeriert. Zu dieser Erkenntnis gelangten Soziologen im Zuge des Projekts Sozialstrukturen der russischen Provinzgesellschaft der Chamowniki-Stiftung.

    Dabei wurde die arbeitsfähige Bevölkerung Russlands in zwei Gruppen eingeteilt – die erste bezieht in irgendeiner Form Einkünfte aus dem Staatshaushalt (insgesamt 71 Prozent), die andere ist als Unternehmer und Freiberufler selbständig (15 Prozent). In diese Kategorie fallen Geschäftsleute, aber auch Wanderarbeiter (Personen, die auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten vorübergehend von Zuhause weggehen). „Wir haben eine Ressourcenwirtschaft und keine Marktwirtschaft, daher gibt es auch keine Klassenunterteilung [im europäischen Sinne]“, erklärt Simon Kordonski, Vorsitzender des Sachverständigenrats der Chamowniki-Stiftung und Professor an der Moskauer Higher School of Economics. „Stände“ ließen sich vier ausmachen: Staatsvertreter (5 Prozent), Volk (66 Prozent), Unternehmerschaft (15 Prozent) und Randgruppen (13 Prozent). Der Staat, so die Meinung der Experten, orientiere sich sich an jener Gruppe, deren Einkommen aus öffentlicher Quelle stamme, während sich „aktive Staatsbürger außerhalb seines Blickfelds“ befänden. Laut Kordonski neutralisiert jeder Stand eine bestimmte Bedrohung, wobei  immer jene Sparte die meiste Unterstützung erfährt, die die akuteste Bedrohung bekämpft. „Im Moment ist das zum Beispiel die Gefahr eines Krieges, also bekommt die Armee am meisten“, schlussfolgert der Soziologe. 

    Der legale privatwirtschaftliche Sektor bietet in der Provinz nicht allen Arbeitswilligen Platz, daher werden sie zu Wanderarbeitern und suchen Arbeit in Großstädten. Aufgeführt wurden außerdem Sonderformen der Beschäftigung: Stufen-Manufakturbetriebe, in denen mehreren Familien je eine Produktionsstufe zugeteilt ist, und die Garagenwirtschaft, bei der man den Garagennachbarn seine Dienste erweist. Beides sind Schattensektoren (laut dem Statistikamt Rosstat macht die Schattenwirtschaft möglicherweise 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus). Die Experten weisen darauf hin, dass die Garagenwirtschaft und Manufakturbetriebe nichts Neues sind: „Das sind historisch bekannte und in der Zarenzeit weit verbreitete Lebenserhaltungsmethoden der Provinzbevölkerung gewesen. Einerseits ist das archaisch, andererseits – was heißt archaisch, wenn wir heutzutage so leben“, überlegt Simon Kordonski.

    Archaisch ist in der Provinz auch das Empfinden für den Status eines Menschen: Es hängt vor allem von seinem Einfluss ab (seinem gesellschaftlichen Status, der bei weitem nicht immer dem offiziellen entspricht), von seiner Zugehörigkeit zu einem bestimmten Klan. Die Zugehörigkeit zum Staatsapparat oder das reale Einkommen stehen als Status-Messer erst an dritter und vierter Stelle. Kordonski führte schließlich auch noch jene Institutionen der Zivilgesellschaft an, die es Staat, Volk und Unternehmern ermöglichen, sich zu treffen und ihre Standpunkte zu verhandeln: „Das sind die Banja, das Jagen, das Angeln und die Gaststätte.“

    „Die Menschen warten auf die Zukunft als Wiederholung einer guten Vergangenheit“, erklärte Simon Kordonski. Und Forschungsleiter Juri Pljusnin, Professor an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, präzisierte: „Die gute Vergangenheit stellt sich allerdings jeder anders vor.“

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