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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schulen im Untergrund

    Die russischen Besatzungsbehörden setzen an ukrainischen Schulen in den okkupierten Gebieten zunehmend eigene Lehrinhalte durch: Ukrainisch als Unterrichtssprache stirbt, auf dem Programm stehen vermehrt Militarisierung und anti-ukrainische Propaganda. Es gibt zahlreiche Meldungen über Drohungen, Haft und Folter an Lehrpersonen und Lernenden, die sich geweigert hatten, die oktroyierten Änderungen umzusetzen. 

    Laut Schätzungen vom April 2023 leben rund eine Million ukrainische Kinder im schulpflichtigen Alter in den von Russland besetzten Gebieten. Die Russifizierung des ukrainischen Bildungssystems verstößt unter anderem gegen ihr Recht auf Bildung. Etwa 62.400 Kinder nehmen laut ukrainischem Bildungsministerium weiterhin am Online-Unterricht von ukrainischen Sekundarschuleinrichtungen teil. Sie begeben sich in unmittelbare Gefahr und müssen zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. iStories fragt, wie Kinder aus Nowa Kachowka und Melitopol weiterhin an ukrainischen Schulen lernen.

     Foto / Collage: istories
    Foto / Collage: istories

    In den vorübergehend besetzten Gebieten der Ukraine gibt es 901 Schulen. Ein Teil davon wurde geschlossen, in anderen geht der Unterricht mit Lehrbüchern aus Russland weiter. Es gibt aber auch Schulen, in denen weiterhin nach den Standards des ukrainischen Bildungssystems unterrichtet wird, und zwar online.  

    Diese Schulen zu besuchen, wenn man sich in den besetzten Gebieten befindet, ist gefährlich. Deshalb verstecken die Eltern die USB-Sticks mit den Hausaufgaben und Lehrmaterialien und ziehen sogar aus der Stadt aufs Land, um den Kontrollen zu entgehen. 

    Wie sich für Kinder in den besetzten Gebieten seit 2022 das Schulwesen verändert hat, berichten die Direktorin eines Lyzeums in Nowa Kachowka und eine Lehrerin eines landwirtschaftlichen Lyzeums in Melitopol. 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht.“ 

    Iryna Dubas begann ihre Karriere als Lehrerin für Grundschulklassen und leitet jetzt das Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka. Als sie noch stellvertretende Direktorin des Lyzeums war, machte sie ein Volontariat in den USA, um die dortigen Methoden kennenzulernen. Sie war beeindruckt, dass die Kinder in amerikanischen Schulen selbst entscheiden, was sie lernen, und dass die Lehrkräfte ihnen wie auf Augenhöhe begegnen. Als Direktorin veränderte sie den Bildungsansatz in ihrer Schule. Sie begann mit der Inneneinrichtung: Die Gänge wurden neu gestrichen, es wurden Blumentöpfe aufgestellt, in den Klassenräumen bekamen die Schüler Einzeltische, damit jeder seinen persönlichen Bereich hat. 

    „Die Reinigungsfrauen haben sich heftig beschwert: ‚[Iryna] Petrowna, die Kinder haben alle Spiegel beschmiert!‘ und ‚Petrowna, die Kinder haben die Blumentöpfe umgeworfen!‘ Ich habe da immer ruhig reagiert: ‚Das ist normal. Das heißt nur, dass die Spiegel geputzt und die Pflanzen in Ordnung gebracht werden müssen. Wir werden das so lange machen, bis sich die Schüler dran gewöhnt haben.‘ Ein paar Monate später hat niemand mehr die Blumen angerührt oder etwas auf die Spiegel geschrieben.“ 

    Die wichtigste Veränderung war der Umgang mit den Schülern: „Ich wollte, dass die Kinder fröhlich sind, dass sie zu Hause erzählen, was sie gelernt haben und wie sehr ihnen das gefallen hat. Ich habe die Lehrerinnen eindringlich gebeten, mit den Kindern tolerant und diplomatisch umzugehen, sie wie gleichberechtigt zu behandeln, und ihnen mehr Freiheiten zu lassen. Den Lehrern der älteren Generation missfiel das, ein Teil von ihnen ging. Dafür waren die Kinder glücklicher.“ 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch Anna But. Sie hat im Landwirtschaftlichen Lyzeum Melitopol Biologie, Deutsch und politische Bildung unterrichtet: 

    „Die Kinder müssen vor allem erzogen werden, erst dann kommt der Unterricht. Ich kann tausend Mal etwas aus dem Lehrbuch wiederholen, aber wenn die Kinder keinen Spaß am Unterricht haben, ist das nichts wert. Deswegen bin ich im Biologieunterricht mit den Kindern an den See neben dem Lyzeum gegangen, damit sie sich selbst alles ansehen können, anfassen können, begreifen können. Und bei der politischen Bildung sind wir ins Stadtzentrum gegangen, wo eine riesige Flagge hing. Ich fragte die Kinder, welche Emotionen das bei ihnen auslöst, und erzählte von meinen eigenen Gefühlen.“ 

    „Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘ “  

    Vom Beginn des großangelegten Krieges erfuhr Anna praktisch von den Schülern. Sie traf morgens auf dem Weg zur Arbeit einen Nachbarn, der sagte, dass die russische Armee den Flugplatz von Melitopol bombardiert. Anna glaubte ihm nicht, dachte nur, der Mann habe wieder mal einen über den Durst getrunken. Sie ging in ihre Klasse, schrieb auf Deutsch das Datum ‚24. Februar‘ und hörte Lärm aus dem schuleigenen Internat: ‚Alle stehen mit Taschen da und schreien ‚Es ist Krieg!‘. Ich geh zum Fernseher und sehe, dass es überall in der Ukraine brennt, überall gibt es Luftangriffe; die Sprecher reden von einer großangelegten Invasion.“ Die Direktorin stellte auf Online-Unterricht um, damit Schüler und Lehrer nicht ins Gebäude des Lyzeums kommen müssen. Am 26. Februar wurde Melitopol von der russischen Armee besetzt. 

    Ab dem 28. Februar ging sie zusammen mit ihrer Tochter, mit Kollegen, Schülern und anderen Bewohnern der Stadt jeden Tag zu den Protesten. Als das Militär begann, Aktivisten gefangen zu nehmen, und es nicht mehr möglich war, in Massen zu protestieren, verteilte Anna in der Stadt Flugblätter und Bändchen in den Farben der ukrainischen Flagge. Sie versuchte auch, ihre Schüler zu unterstützen: „Jetzt war ich nicht mehr Lehrerin, sondern Psychologin. Wir trafen uns mit den Schülern und ihren Eltern bei mir zuhause oder am See in der Nähe des Lyzeums. Ich sagte, alles werde gut, man müsse sich nur zusammenreißen und durchhalten. Mit denjenigen, denen die Flucht gelungen war, telefonierte ich. Ich habe den Schülern gut zugeredet, dass sie jetzt ruhig bleiben und auf sich aufpassen sollen.“ 

    Anna und ihre Tochter protestierten jedoch weiter. Sie machten keinen Hehl aus ihrer proukrainischen Haltung und berichteten in den sozialen Netzen, was in Melitopol vor sich geht. Nach einer Weile bekamen die Frauen Drohungen. Sogar Bekannte schrieben ihnen: ‚Schmort in der Hölle, ihr ukrainischen Schlampen.“ Zu jener Zeit wurden bereits proukrainische Aktivisten entführt, umgebracht und durch die „Keller“ geschickt. Als sie befürchten mussten, denunziert zu werden, verließen die beiden im April 2022 Melitopol. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    Iryna Dubas blieb bis zum August 2022 in Nowa Kachowka. Sie war am 24. Februar gerade in einem Krankenhaus bei Kyjiw gewesen, als ihr Stellvertreter anrief und sagte, in der Stadt gebe es Explosionen und die Kinder seien zusammen mit ihren Eltern zur Schule gekommen. Iryna ordnete an, alle aufzunehmen: In der Schule gab es einen großen Kellerraum, in dem man vor den Angriffen Schutz suchen konnte. 

    Am nächsten Tag wurde in der Schule der Unterricht offiziell eingestellt; der Keller fungierte aber weiter als Luftschutzraum. Iryna beschloss, in die Oblast Cherson zurückzukehren. „Ich musste stark sein. Mein Stellvertreter war in Panik, die Eltern riefen an, und ich sollte allen mit fröhlicher Stimme sagen, dass alles gut wird.“ 

    Die Oblast Cherson war bereits besetzt. Iryna konnte erst am 14. März nach Nowa Kachowka zurückkehren, als eine Überquerung des Dnipro möglich wurde. Zusammen mit den anderen Lehrerinnen ging sie täglich in die Schule. Sie machten mit dem Unterricht weiter, allerdings online. 

    Im April veranstaltete Wladimir Leontjew, das von den Besatzungsbehörden eingesetzte „Stadtoberhaupt“, eine Sitzung. Er versammelte die Direktoren aller Schulen und Kindergärten von Nowa Kachowka. Dort versprach er hohe Gehälter und erklärte, Bildung für die Kinder sei wichtiger als jeder Konflikt. Der Unterricht müsse jetzt aber in russischer Sprache erfolgen, und mit Lehrbüchern aus Russland. 

    Iryna lehnte das sofort entschieden ab. Im Juli, als sie die Schule auf das neue Schuljahr vorbereitete, kamen Vertreter der neuen, prorussischen Verwaltung zu ihr, begleitet von bewaffneten Männern. 

    „Das war [Wjatscheslaw] Resnikow, der ehemalige Direktor der Schule Nr. 10. Den hatten die Besatzer zum Leiter der Bildungsverwaltung ernannt. Mit ihm war Sorjana Us gekommen, die sogenannte Pressesprecherin des ‚Gauleiters‘ und dann drei Typen mit Maschinenpistolen, arme Bengel, die kaum so groß waren wie ihre Knarren. 

    Sorjana und Wjatscheslaw setzten sich, die mit den MPs bauten sich hinter mir auf. Resnikow fing an: ‚Sie sollten mitmachen, Iryna Petrowna. Bei Ihnen läuft alles so gut, sie sind so fortschrittlich. Unsere [die Russen] haben schon fast Mykolajiw und Odessa eingenommen, das ist halt so. Wir sind für die Bildung zuständig. Wenn Sie nicht wollen, werden das andere Direktoren machen.‘ Er gab mir zwei Wochen Bedenkzeit. Für mich war da gar nicht dran zu denken. Ich wollte auf keinen Fall dieses Russland; ich glaubte an den Sieg und war bereit, meine Schule bis zum Letzten zu verteidigen.“ 

    Den Sommer über sammelte das Lyzeum neue Schüler und bereitete den Online-Unterricht auf Ukrainisch vor. Dann wurde die Schule durchsucht und am 18. August wurde Iryna gefangengenommen. 

    Auf der Polizeiwache wurde sie in die „Zelle“ gebracht; in einen Raum wo früher die Passstelle war. Es gab auch andere Gefangene: die Direktorin des Lyzeums Nr. 2 in Nowa Kachowka, Oksana Jakubowa, und ehemalige Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung. Die Frauen hatten praktisch nichts zu essen und zu trinken. Ein altes Dreiliterglas diente als Toilette. Aus Gesundheitsgründen musste Iryna täglich Spritzen bekommen. Jakubowa half ihr dabei. 

    Jeden Tag wurde Iryna zu „Gesprächen“ mit einem Mitarbeiter des FSB geführt, der Umar genannt wurde. Seinen wirklichen Namen kennt Iryna nicht: 

    „Er fragte mich, ob ich nun endlich bereit sei, die Schule ins russische Bildungssystem zu überführen. Er drohte mir, sagte, dass ich 15 Jahre kriege, wenn ich in Russland ukrainische Bildung verbreite. Er beschuldigte mich, Artillerieziele auszuspionieren, und dass meinetwegen ein Dorf beschossen wurde. Mich haben sie zwar nicht angerührt, aber die anderen Frauen wurden mit Strom gefoltert; mir sagten sie, ich wäre als Nächste dran“, erinnert sich Iryna. 

    Am 23. August, am fünften Tag ihrer Gefangenschaft, holte Umar sie wieder zum Verhör: Sie solle alle Geräte (Fernseher, Tablets und Laptops) einsammeln und Lilija Grischagina übergeben, damit diese zum neuen Schuljahr das Lyzeum Nr. 1 aufmachen könne. Erst dann wurde Iryna freigelassen. Sie floh nach Kyjiw. 

    „Nach all dem wandte ich mich an eine Psychotherapeutin und Psychiaterin, weil es Dinge gibt, die ich nur einem fremden Menschen erzählen kann, der sie dann tief in sich vergräbt. Ich dachte, die Zeit würde den Schmerz lindern, aber der will nicht verschwinden“, erklärt Iryna. 

    Foto / Archiv Irina Dubas
    Foto / Archiv Irina Dubas

    „Es wird immer schwieriger, sich zu verstecken“ 

    Am 26. August, ihrem ersten Tag in Kyjiw, brach Iryna in Tränen aus – zum ersten Mal seit Beginn des großangelegten Krieges. Am Abend legte sie sich Teebeutel auf die geschwollenen Augen, nahm Baldrian und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen machte sie sich sofort wieder daran, ihr Lyzeum aufzubauen. 

    Sie erkundigte sich, wer von den Lehrkräften mitmachen will, fand neue Mitarbeiter, teilte Klassenlehrerinnen ein und kontaktierte die Eltern der Schüler. „Ich konnte meine Schule nicht im Stich lassen. Ich hatte das Gefühl: Ich habe Gefangenschaft und Besatzung überstanden, also schaffe ich alles auf der Welt“, sagt Iryna. 

    Bis zum 1. September 2022 hatte Irynas Lyzeum Nr. 3 in Nowa Kachowka 647 Schüler für den Online-Unterricht beisammen, von denen sich ein Großteil im Ausland oder unter Besatzung befand. Vor der Vollinvasion waren hier 637 Schüler zur Schule gegangen. 

    Fernunterricht hatte man schon während der Corona-Pandemie eingeübt, doch neue Herausforderungen kamen hinzu. Aus Sicherheitsgründen unterrichteten an diesem Lyzeum ausschließlich Lehrende, die sich auf ukrainisch kontrolliertem Gebiet oder im Ausland aufhielten.  

    Die Familien in den besetzten Gebieten mussten lernen, für sich und ihre Kinder ein sicheres Lernumfeld zu schaffen, um nicht von russischen Sicherheitskräften entdeckt und verfolgt zu werden. Dafür zogen viele von der Stadt aufs Land, wo es praktisch keine Militärs und keine Hausdurchsuchungen gab.  

    Auch das Landwirtschaftliche Lyzeum von Melitopol setzte seinen Betrieb online fort, ebenfalls mit Schülern, die unter der Besatzung lebten. Zu persönlichen Treffen kamen die Lehrkräfte in Saporischschja zusammen. 

    Im Schulgebäude in Melitopol wird der Unterricht fortgesetzt, allerdings nach russischen Lehrbüchern. Bücher in ukrainischer Sprache sollen die russischen Soldaten gar zusammen mit der ukrainischen Flagge auf dem Schulhof verbrannt haben. Die Traktoren und LKW für das Fahrtraining der Schüler nahmen sie einfach mit. Vier von den in Melitopol verbliebenen Mitarbeitern des Lyzeums kooperieren jetzt mit dem Besatzungsregime. Der Rest nahm Abschied.  

    Wie genau das Lyzeum jetzt funktioniert, weiß Anna nicht. Bekannte berichten aber, dass man das „kaum Unterricht nennen“ könne. Der Sportlehrer Alexander Sidorow unterrichte plötzlich vier andere Fächer, darunter Geografie und Wirtschaftskunde. 

    Annas Bekannte erzählen, dass in Melitopol überall Georgsbänder und Schriftzüge hängen: „Russland ist der Heimathafen“, „Melitopol ist Russland“. „Tausende Bewohner von Melitopol sind entsetzt über diese Propaganda. Das Schlimmste ist, wir Erwachsenen wissen ja, dass das Agitation ist, wenn auch nicht alle das verstehen. Aber die Kinder durchschauen das nicht, und keiner ist da, der es ihnen erklärt. Es gibt Jugendliche, die schon in T-Shirts und Kappen mit dem russischen Wappen rumlaufen“, erzählt Anna, was sie von Bekannten gehört hat. „Aber das macht mir keine Angst. Sie können ja nichts dafür, dass ihre Eltern sie nicht weggebracht haben. Ich habe Kinder und Jugendliche sehr gern, und wenn wir zurückkommen, wird dieses Zeug wieder verschwinden. Weil wir Lehrer alles tun werden, damit die Kinder die Ukraine wieder lieben. Wir werden an ihre Herzen appellieren und sie öffnen.“ 

    In Melitopol ist der Besuch einer russischen Schule Pflicht [wie überall in den russisch besetzten Gebieten – dek]. Anna sagt, die meisten Lehrerinnen, die sie kennt, hätten sich aus dem Bildungsbereich verabschiedet: Der Unterricht sei zu einer Propagandaveranstaltung geworden, und sie hätten keine Lust, die Kinder russische Trikoloren malen zu lassen. Anna sind Fälle bekannt, wo bewaffnete Soldaten zu den Familien kommen und mit vorgehaltener MP verlangen, dass sie ihre Kinder in eine russische Schule schicken.  

    Trotz aller Risiken gibt es in Melitopol immer noch Eltern, die ihre Kinder in ukrainische Online-Schulen schicken. Meist haben die Kinder dort abends Unterricht, weil sie tagsüber in eine russische Schule müssen. Um sich vor den Razzien der Soldaten zu schützen, gehen die Eltern während der Schulstunden für alle Fälle mit ihren Kindern in eine andere Wohnung. 

    Foto / Archiv Anna But
    Foto / Archiv Anna But

    „Es erfordert großen Heldenmut, unter der Besatzung weiterhin eine ukrainische Schule zu besuchen“, sagt Anna. „In Melitopol verraten sich die Leute gegenseitig. Jeden Moment kann dich ein Nachbar denunzieren, weil er gehört hat, dass du ukrainisch sprichst“. 

    Sich zu verstecken, wird immer schwieriger: Telefongespräche werden abgehört, auf der Straße können Eltern mit ihren Kindern jederzeit durchsucht werden, dann werden auch die Handys kontrolliert. Die Sticks mit dem Unterrichtsmaterial versteckt man in den hintersten Winkeln der Wohnungen.  

    „Die Kinder ergrauen unter der Besatzung. Das ist keine Übertreibung. Sie können einfach nicht wissen, wann das alles ein Ende haben wird.“ (Anna But, Lehrerin)  

    Deswegen haben die Kinder nach und nach aufgehört, am Unterricht [unseres Online-Lyzeums] teilzunehmen, wir mussten ganze Jahrgänge schließen. Am Ende des letzten Schuljahres [2023/24] hatten wir fast keine Schüler mehr.“ 

    Für 2024/25 hat das Landwirtschaftliche Online-Lyzeum gar nicht mehr genug Anmeldungen. „Diese Schule ist mein Leben, das ist für mich mehr, als meine Arbeit zu verlieren.“ Anna zufolge haben es nicht alle ihre Kollegen geschafft, bis zum Beginn des neuen Schuljahres an anderen Bildungseinrichtungen unterzukommen.  

    „Die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben“ 

    Wie Melitopol steht auch Nowa Kachowka unter Besatzung. Schulen gibt es dort aber so gut wie keine. Die von Russland eingesetzten Behörden haben Iryna zufolge den Schulbetrieb noch nicht in Gang gebracht. „2023 wurde in Nowa Kachowka nur die Schule Nr. 10 aufgemacht, und das nur online. Einige Eltern wurden genötigt, ihre Kinder dort anzumelden; dafür bekamen sie ein Lebensmittelpaket und zweitausend Rubel. Aber keiner kontrolliert, ob die Kinder dort am Unterricht teilnehmen.“ 

    Genau wie in Melitopol müssen Eltern es sorgfältig geheimhalten, wenn ihre Kinder online eine ukrainische Schule besuchen. Trotzdem hatte das Online-Lyzeum Nr. 3, das Iryna leitet, im Schuljahr 2023/24 ganze 568 Schüler und Schülerinnen. Zwei der fünf Absolventen mit Auszeichnung haben das ganze Jahr unter Besatzung verbracht. Zu ihrem Abschluss konnten sie in ukrainisch kontrolliertes Gebiet ausreisen (Details zur Strecke können aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden), um von Iryna ihre Zeugnisse und Medaillen entgegenzunehmen und sich an ukrainischen Hochschulen zu bewerben. 

    Trotz der schwierigen Arbeitsbedingungen im Krieg hat Dubas ihre Einstellung zur Schulbildung beibehalten: Oberste Priorität haben das Wohlbefinden und die Sicherheit der Kinder. „Seit der Befreiung von Cherson [am 1. November 2022] steht Nowa Kachowka unter ständigem Beschuss, sehr oft gibt es keinen Strom und kein Internet. Daher findet der Unterricht für die Kinder dann statt, wenn es wieder eine Verbindung gibt.“ 

    Das Thema Krieg vermeiden die Lehrenden während des Unterrichts. Sie erinnern nur an die Sicherheitsvorkehrungen: Sie bitten die Schüler in den besetzten Gebieten, auf der Suche nach Handyempfang, um die Hausaufgaben abzugeben, nicht auf Bäume zu klettern. So was ist nämlich schon vorgekommen. „Wenn ein Schüler seinen Test nicht besteht, ist das kein Drama. Wir wollen in Zeiten wie diesen die Kinder und Eltern nicht unter Druck setzen. 

    Ich schalte mich immer wieder zu den Online-Sitzungen dazu, um die Kinder zu sehen und einfach zu sagen ‚Passt auf euch auf‘. Die Kinder brauchen jetzt besondere Unterstützung, sowohl jene, die unter Besatzung leben, wie auch jene, die auf ukrainisch kontrolliertem Territorium immer wieder Beschuss erleben, und auch die, die fern von zuhause im Ausland sind. 

    Die Schüler sind ganz versessen auf den Unterricht. Sie wollen möglichst viel Zeit mit ihren Schulfreunden verbringen, wenigstens auf dem Bildschirm. Deswegen bieten die Klassenlehrerinnen auch Freistunden an, in denen die Kinder sich einfach unterhalten, und organisieren Feste für sie, um ihnen das zu geben, was der Krieg ihnen genommen hat: Spaß und Freude.“  

    Iryna steht auch den Lehrenden zur Seite, sie versucht nicht nur, Gehaltsaufbesserungen für sie herauszuschlagen, sondern kümmert sich auch um deren psychische Gesundheit: 

    „Eine Lehrerin muss ausgeglichen, gut gelaunt und für ihre Sache engagiert in den Unterricht gehen. Lernen muss für die Kinder interessant sein. Nach den Stunden können die Lehrkräfte so viel weinen und Angst haben, wie sie wollen, aber die Kinder müssen sehen, dass wir stark und positiv bleiben. Das gibt ihnen ein Gefühl von Sicherheit. Nach dem Unterricht bekommt jede Lehrerin meine Unterstützung, ich rufe mindestens einmal im Monat jede einzelne an.“ 

    „Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist?“ 

    Für das neue Schuljahr 2024/25 hat das Lyzeum in Nowa Kachowka mehr Anmeldungen als vor dem großangelegten Krieg, nämlich 685. Viele der Schüler leben auf besetztem Gebiet [Iryna möchte keine Zahlen nennen, um die Familien nicht zu gefährden – Anm. d. Red.]: 

    „Die Lehrerinnen, die früher in Nowa Kachowka unterrichteten, haben unsere Schule ganzen Klassen empfohlen. Hinzu kommen die Erstklässler. Wir haben auf der Website und in sozialen Medien Werbung gemacht, ich habe alle Kindergärten der Stadt abtelefoniert, und die Eltern haben mir still und heimlich die Unterlagen geschickt. 

    Dieses Jahr werden wir als Experiment in der achten Klasse Finanzwissen einführen. Die Kinder haben sich dieses Fach selbst ausgesucht, dazu gab es am Ende des letzten Schuljahres eine Umfrage“, erzählt die Direktorin von den Plänen. 

    Anna But ist seit 1. September Dolmetscherin und Betreuerin der Hochschulgruppen an der Fachhochschule Melitopol, die zur Taurischen Staatlichen Universität in Simferopol gehört. Unterrichtet wird online, und die Lehrenden treffen sich wie die des Landwirtschaftlichen Lyzeums in Saporischschja. Auch in dieser Fachhochschule gibt es Studierende aus dem besetzten Melitopol.  

    Außerdem engagiert sich Anna weiterhin als Freiwillige. Seit 2014 knüpft sie Tarnnetze für die Armee. Solange sie in den besetzten Gebieten war, hat sie diese Tätigkeit unterbrochen. Für ihr ehrenamtliches Engagement und die Proteste in Melitopol hat ihr der Präsident der Ukraine die Auszeichnung „Nationale Legende der Ukraine“ verliehen: 

    Foto / president.gov.ua
    Foto / president.gov.ua

    „Es war schon die ganze Zeit so: Den halben Tag hab ich unterrichtet, die zweite Hälfte zusammen mit den Kindern Netze geknüpft. Das [die Unterstützung der Front] hat jetzt oberste Priorität. Wenn wir der Armee nicht helfen, dann wird es auch keine Bildung mehr geben. Wie kann von Unterricht die Rede sein, wenn Krieg ist? Danach werden wir Neuerungen beim Unterricht vornehmen.“ 

    Ehemalige Schüler von Anna und Iryna, unter anderem die, die 2021 ihren Abschluss gemacht haben, verteidigen jetzt die Ukraine. Manche von ihnen sind jetzt in russischer Kriegsgefangenschaft. 

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  • „Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt“

    „Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt“

    Seit 2022 gibt es in Russland Menschenrechtsorganisationen, die Soldaten und von der Mobilmachung betroffene Männer bei der Fahnenflucht unterstützen. Eine davon ist Idite lessom (dt. Geht durch den Wald bzw. Haut ab!). Auf iStories sprechen ein Funker aus dem Ural und ein Militärarzt aus Burjatien anonym darüber, wie sie mit Hilfe der Organisation dem Fronteinsatz in der Ukraine entkommen konnten.

    „Ich denke, dass man immer eine Wahl hat“, sagt ein Militärarzt aus Burjatien, der einem Fronteinstatz entkommen konnte / Foto © IMAGO / SNA

    „Ich bekam Angst und unterschrieb den Vertrag”

    Funkmelder aus dem Ural. Desertierte nach sechs Monaten an der Front

    Ich bin in einer ganz normalen Familie im Ural aufgewachsen. Wenn mir Zeichentrickfilme vorgesetzt wurden, schaltete ich um auf Kriminelles Russland. Ich träumte vom Himmel, wollte auf die Fliegerschule und Pilot werden, weil mich Flugzeuge und Kampfjets faszinierten. 

    2018 ging ich zum Wehrdienst, dachte, es sei nichts dabei, ein Jahr meines Lebens der Armee zu schenken. Ich war MG-Schütze in den Truppen der Nationalgarde, habe dort die Fußball-WM miterlebt – meine einzige positive Erinnerung an diese Zeit. 

    An meinen Händen klebt Blut bis zu den Ellenbogen

    Nach der Entlassung suchte ich mir eine normale Arbeit, während meine Kameraden zum FSB, ins Ermittlungskomitee und zur Staatsanwaltschaft gingen. Als die Mobilmachung begann, haben sie mir gesagt, dass ich das Land nicht mehr verlassen könne. Sie rieten mir, den Vertrag freiwillig zu unterschreiben und versprachen mir Tipps, wie ich die Front meide und am Leben bleibe. Ich hatte Angst, dass meine Familie Probleme kriegen würde, wenn ich mich weigerte (sie hatten dem FBK Geld überwiesen, das könnte ihnen womöglich zum Verhängnis werden) und unterschrieb den Vertrag. Ich wollte bei nächster Gelegenheit sofort aussteigen. Dann erfuhr ich, dass der Vertrag automatisch bis zum Ende der „Spezialoperation“ verlängert wurde. Ich konnte weder kündigen noch Urlaub nehmen – es gab keine Rotation. Oder wie man uns später sagte: Im Verteidigungsministerium herrscht Leibeigenschaft.

    Ich kam [mit Hilfe meiner ehemaligen Kameraden] in eine Sonderabteilung der Aufklärungsgruppe, offiziell hieß meine Funktion „Funkmelder der Gruppe für Korrespondenz und Kommunikation für kleinere Funkstationen der Sondereinsatzgruppen“. Ich stand auf der Sendestation und funkte der Artillerie die Richtung durch. Ja, an meinen Händen klebt Blut bis zu den Ellbogen von diesem Artilleriefeuer. Aber ich habe nie selbst auf jemanden geschossen.  

    Wie landen die Leute an der Front? Mein Kamerad verdiente zum Beispiel im Bergbau 150.000 Rubel [rund 1500 Euro – dek]. Das war ihm zu wenig, also wurde er Vertragssoldat. Ich hab auch andere gefragt, warum sie hier sind. Manche der Mobilisierten sagten, Hauptsache weg von zu Hause, von der Ehefrau. Manche sind einfach nur Gesocks. Einer sagte: „Ich hab eine große Familie und wusste nicht, wie ich sie ernähren soll, und dann wurde ich einberufen.“ Er hat sich also einfach damit abgefunden, das bricht mir das Herz.

    Ein anderer Vertragssoldat hat geantwortet, zu Hause sei ihm langweilig gewesen. Ich sagte zu ihm, er sei ein kompletter Vollidiot. Später, nach einem Beschuss, sah ich die Angst in seinen Augen und dass er erkannt hatte, wo er da gelandet war und dass sein Leben keinen müden Heller wert ist.

    Und dann gibt es die sogenannten Patrioten. Ich kann mich an einen Jungspund erinnern, der zu unserer Brigade kam und sagte, er wolle was erleben, „die Chochly aufschlitzen, von einem Ohr zum anderen“. Ein paar Tage später konnte ich zusehen, wie es ihm den Kopf abriss – er wurde von einem Granatsplitter getroffen, „von einem Ohr zum anderen“.

    Ich war nicht der Einzige, der sich entschloss, zu fliehen: Bei uns waren es vier, in anderen Einheiten einer oder zwei. 

    Anfang April 2023 gerieten unsere Stützpunkte unter Beschuss: Ein Kamerad, der erst seit einem Monat dabei war und nicht wusste, wie man unbemerkt zum Stützpunkt zurückkehrt, hatte eine ukrainische Drohne angelockt. Sechs Personen, mich eingeschlossen, wurden verletzt – ich hatte eine leichte Gehirnerschütterung und Splitter im Arm. Wir liefen zu Fuß bis zum Evakuierungspunkt, dann brachte man uns ins Spital. Dort traf ich unseren Kommandanten (er war schon früher verletzt worden) und sagte zu ihm: „Ich gehe nicht mehr dahin zurück, du weißt selber, warum.“ Ich wusste, dass er ebenfalls keine Illusionen mehr hatte. Er antwortete: „Ja, ich verstehe dich“, und drückte mir die Hand. 

    Mein verletzter Kamerad bekam zu hören: ,Laufen kannst du ja‘ – und wurde wieder in die Schlacht geschickt

    Von anderen Soldaten erfuhr ich, dass ein Entlassungsschein drei Millionen Rubel [ca. 30.000 Euro – dek] kostet. Das heißt, man wird verletzt und steckt dann die ganze Entschädigung in die Vertragsauflösung. Aber das geht nur über Angehörige im Kaukasus, und ich bin vom Ural. 

    Sie zogen mir die Splitter raus, operierten mich. Mein Arm funktionierte nicht mehr richtig, Sehnen und Muskeln waren beschädigt. Im Fall einer Verletzung bekommt man 30 Tage frei, in dieser Zeit engagierte ich Juristen, die mir helfen sollten, da rauszukommen. Mein Kamerad, der eine Verletzung am Bein hatte, bekam zu hören: „Egal, laufen kannst du ja“ – und wurde wieder in die Schlacht geschickt. 

    Einmal kamen vier „Kontrabässe“ aus meiner Einheit zu meinem Haus – das sind Kontraktniki [Vertragssoldaten – dek], die versucht haben, den Dienst zu verweigern, aber aufgrund der folgenden Drohungen dann doch geblieben sind. Sie dienten sozusagen als auswärtige Wachhunde und passten auf, dass ich nicht abhaue. Zwei Tage hingen sie vor meiner Tür herum, einer saß die ganze Zeit auf einem Pappkarton und lauerte.  

    Neben meinem Haus stand ein Baum. Ich beschloss, mir Jägermeister und ein paar Schmerzmittel einzuwerfen und vom dritten Stock auf diesen Baum zu springen. Ich hatte sogar mit einem Freund abgemacht, dass er mich unten aufsammeln würde, falls ich mir die Beine breche. Aber ich musste zum Glück nicht springen: Die Nachbarn gaben Bescheid, dass die beiden Wachhunde weg waren, und ich verließ die Stadt.

    Einer von meinen Verwandten erzählte mir dann von der Organisation Idite lessom und schickte mir eine Videoreportage von iStories über fahnenflüchtige Offiziere. Was eine solche Flucht betraf, war ich skeptisch, zudem dachte ich ja, meine Juristen würden mir helfen. 

    Ich tauchte ein paar Monate unter. Es wurde sogar ein Fahndungsfoto von mir überall in der Stadt aufgehängt. Ein Kamerad, mit dem ich im Krieg gewesen war und der nach einem Urlaub mit Hilfe von Bekannten in den Ural versetzt wurde, erzählte mir, dass man ihm Geld und einen Posten versprochen hätte, wenn er mich verrät. Als wir zusammen gedient haben, lieh ich ihm immer wieder Geld, damit er es seinen Eltern nach Hause schicken konnte, wenn er mal wieder kein Gehalt bekam. Und er erzählte mir, dass die Spionageabwehr nach mir fahnden würde – weil ich ja ein Staatsgeheimnis unterzeichnet habe. Aber er sagte auch, diese Suche würde eine gewisse Zeit dauern, und die sollte ich nutzen, um mir „einen Fluchtplan auszudenken“. Da schrieb ich an Idite lessom. Gleich am nächsten Tag schickten sie mir einen Plan mit einer Fluchtroute, und ich verließ das Land. 

    Inzwischen bin ich in Russland wegen Artikel 337 angeklagt: Unerlaubtes Entfernen von der Truppe. Meinen Verwandten, die noch immer in Russland sind, hat man jedoch gesagt: „Er kriegt Artikel 275, Landesverrat. Wenn ihr uns nicht sagt, wo er ist, dann obendrein noch Artikel 338, Fahnenflucht.“ Bislang lebe ich von dem Geld, das ich als Soldat verdient und in Cryptowährung angelegt habe. Für die Verletzung habe ich drei Millionen bekommen. Damit habe ich meiner Familie geholfen, ihre Kredite abzuzahlen, der Rest ging bei dem Versuch drauf, eine Kündigung aus medizinischen Gründen zu erwirken – als Honorar für die Anwälte, die mir nicht helfen konnten.

    Ich kenne Leute, die über Soldaten sagen: Das sind Trottel, Arschlöcher. Kann man das auch über mich sagen? Ja, von mir aus, nur zu. Ja, es war mein Fehler, dass ich da hingegangen bin und nicht sofort versucht habe, abzuhauen.

    Wir müssen alles tun, damit ihr nicht kämpft

    Jetzt muss ich erst mal weiter, einen Ort finden, an dem ich sicher bin. Ich fühle mich sehr allein. Ich kann mich schwer mit meiner Vergangenheit abfinden, schwer damit leben. Ich würde am liebsten alles vergessen und niemandem davon erzählen. Euch erzähle ich das, weil es vielleicht jemandem bei der Entscheidung hilft, jemandem zeigt, dass es Möglichkeiten gibt. Oder wie sie bei Idite lessom gesagt haben: „Wir müssen alles tun, damit ihr nicht kämpft.“
    Wahrscheinlich klingt das, als wollte ich auf zwei Stühlen gleichzeitig sitzen. Aber verdammt. Ich habe mir von Anfang an geschworen, jede Möglichkeit zu nutzen, um nicht an diesem Krieg teilzunehmen. Aber das System hat mich gebrochen. Ich habe meine geliebte Heimat verloren, meine Verwandten, Eltern, Freunde, obwohl sie mich unterstützen. Meine Leute wissen, dass ich kein kompletter Vollidiot bin. Aber ich habe das Gefühl, dass ein Teil von mir dort geblieben ist. Meine Heimat hat mich gefressen und ausgespuckt.  

    „Ich wollte nicht Handlanger für diese Kriegsverbrechen sein”

    Militärarzt aus Burjatien. Flüchtete vor seinem Einsatz an der Front aus Russland

    Ich bin in Ulan-Ude geboren und aufgewachsen. Meine Familie gehört statistisch gesehen zur Mittelschicht: Die Mutter Lehrerin, der Vater Fabrikarbeiter. Ich war noch ganz klein, als sie sich scheiden ließen. Als Schüler war ich in einem militär-patriotischen Klub, das war mein Einstieg. Ich nahm mir vor, zum Militär zu gehen, ich fand, das war ein gefragter Männerberuf.

    Nach der Schule studierte ich an der militärmedizinischen Akademie. Im dritten Studienjahr fing ich an, mich näher mit der Kultur meines Volkes zu befassen, die burjatische Sprache zu lernen und das alles ernster zu nehmen. Der Wunsch, Offizier der russischen Armee zu werden, ließ gleichzeitig nach, weil mir bewusst wurde, dass Russland der direkte Rechtsnachfolger der Sowjetunion und des zaristischen Imperiums ist. Es kam mir plötzlich sehr dumm vor, unbedingt in die Armee zu wollen. Ich wollte mein Studium abbrechen und stellte einen Antrag auf Exmatrikulation. Erfolglos: Die Akademie schrieb meinen Eltern einen Brief mit der Aufforderung, „Maßnahmen zu ergreifen“. Meine Eltern sagten, es sei doch mein Plan gewesen, Offizier zu werden, also solle ich erst mal meinen Abschluss machen: Was man anfängt, das muss man auch durchziehen. Ich schloss also mein Studium ab und arbeitete dann meiner Ausbildung entsprechend als Arzt.    

    Als der Krieg begann, war ich gerade im Außendienst: als Bereitschaftsarzt für Soldaten, die in Russland ein Infrastrukturobjekt sanierten. Ehrlich gesagt, hat mich das kalt erwischt, und das gab den Ausschlag dafür, dass ich beschloss zu kündigen.

    Der Außendienst dauerte bis zum Sommer, nach meiner Rückkehr reichte ich die Kündigung ein. Die Entlassung eines Militärangehörigen – und erst recht eines Offiziers – ist nicht gerade ein einfacher und schneller Vorgang. Es hilft, sich bei den Vorgesetzten unbeliebt zu machen, damit sie selbst daran interessiert sind, einen loszuwerden. Ich hatte gerade damit angefangen, aber dann kam die Mobilmachung und alle Kündigungen wurden aufgehoben. Wieder musste ich in den Außendienst, in den Fernen Osten, als Chefarzt einer Division.

    Ich versuchte, eine Entlassung aus gesundheitlichen Gründen zu erwirken. Verbrachte fast drei Monate im Spital, wo sie ein paar Erkrankungen feststellten. Aber für eine Entlassung reichte es nicht. Ich wurde in Kategorie B eingestuft – tauglich mit leichten Einschränkungen.  

    Im Februar 2023 kehrte ich an meine permanente Dienststelle zurück. Im Frühjahr wurde mir mitgeteilt, dass wir nach Zentralrussland versetzt werden, eine neue Einheit bilden und in der Ukraine kämpfen sollen. Mir blieben gerade mal zwei Wochen, in denen ich mich noch relativ frei im Land bewegen konnte.

    Ich schrieb auf Instagram der Mitbegründerin der Stiftung Swobodnaja Burjatija (dt. Freies Burjatien) Viktoria Maladajewa, fragte sie um Rat. Sie gab mir ein paar Tipps und empfahl mir das Team von Idite lessom. Ich erklärte ihnen meine Situation und dass ich keinen Reisepass habe. Sie schlugen mir eine Route vor. 

    Ich hatte Angst vor den Konsequenzen, falls ich erwischt würde, aber ich bemühte mich, diese Gedanken wegzuschieben und einem exakten Plan zu folgen. Von meiner Familie wurde ich sehr unterstützt. Meine Schwester kam extra zu mir nach Moskau, buchte meine Tickets, mietete Unterkünfte an – sie machte alles. 

    Es hat geklappt. Jetzt bin ich weder in Russland noch in der Ukraine. Laut Gesetz der Russischen Föderation bin ich ein Deserteur, und das ist ein strafrechtlich relevantes Verbrechen. Das Land, in dem ich jetzt bin, kann mich nach Russland ausliefern. Deswegen habe ich Angst, einen Reisepass zu beantragen. Ständig rechne ich mit einem Anruf von zu Hause, dass sie sagen: Das war’s, du wirst gesucht. Aber noch ist meine Familie von Hausdurchsuchungen und Verhören verschont geblieben. 

    Ich wollte nicht als einer der vielen Kriegsversehrten zurückkehren, die danach weiter Gräueltaten verüben

    Warum ich mich zur Flucht entschieden habe? Ich wollte einfach nicht Handlanger sein für diese Kriegsverbrechen, die dort begangen werden. Ich wollte nicht als einer der vielen Kriegsversehrten zurückkehren, die in weiterer Folge auch immer wieder Gräueltaten verüben. Auch das ist eine Art Beihilfe.

    Ja, ich bin Offizier, ich stehe unter Vertrag und ich dachte bis zu einem bestimmten Moment, dass ich meine Pflicht erfüllen muss. Doch sobald sich eine Möglichkeit geboten hat, habe ich sie genutzt. Ich habe viele Studienkollegen, die gleich nach der Ankündigung der Mobilmachung das Land verlassen haben. Das heißt, zumindest von jenen, zu denen ich noch Kontakt habe, ist der Großteil nach Möglichkeit abgehauen. Bisher ist keiner meiner Freunde und guten Bekannten in den Krieg gezogen und hat es auch nicht vor. Was sie da über die Burjaten schreiben, ist mir egal. Ich glaube, die meisten Burjaten wollten von Anfang an nicht kämpfen und wollen es auch jetzt nicht. 

    Ich denke, dass man immer eine Wahl hat. Ich will keine Namen nennen, aber ich kenne Leute, die sich einen Finger abgehackt haben, um ins Krankenhaus zu kommen und nicht an die Front. Auch eine Entscheidung.

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    „Du krepierst hier und keiner kriegt es mit“

    Melitopol im Süden der Ukraine fiel schon im Februar 2022 unter russische Kontrolle. Seitdem wurde die Stadt zur Hochburg des ukrainischen Widerstandes gegen die Besatzer. Und gleichzeitig, wie iStories berichtet, zum „größten Gefängnis Europas“, wo Russland hunderte Zivilisten entführt und foltert. Polina Ushwak hat mit Menschen gesprochen, die Opfer dieses Terrors wurden.

     
    „Mama, ich war in der Hölle“ – die Videoreportage zum Material von iStories mit englischen Untertiteln 

    Bereits am 25. Februar 2022 kam die russische Armee nach Melitopol. In den ersten Tagen beschimpften die Stadtbewohner die Besatzer, forderten sie auf, ihr Staatsgebiet zu verlassen. „In der ersten Woche reagierten sie [die russischen Soldaten] zurückhaltend, vermieden den Kontakt. Wenn die Leute sie fragten: ‚Was wollt ihr hier? Haut ab!‘ senkten sie den Blick und schauten weg. Erst später, als sie sich ein bisschen eingelebt hatten, zeigten sie Zähne – sie errichteten Kommandanturen und Foltergefängnisse. Immer mehr Menschen verschwanden …“, erinnert sich der 29-jährige Maxim Iwanow, ein Landschaftsdesigner aus Melitopol. 

    „Umerziehung“ mit dem Gummiknüppel

    Zum ersten Mal wurden Maxim und seine Freundin Tatjana Bech Anfang April entführt. „Ich hatte eine kleine [ukrainische] Flagge bei mir. Als ein Panzer an uns vorbeifuhr, habe ich sie aus der Tasche gezogen und gerufen: ‚Verpisst euch aus unserem Land.‘ Der Panzer hielt an, und mich umzingelten an die zehn Männer, sie schmissen die Flagge auf den Boden und trampelten darauf herum. Dann sagten sie: ‚Ihr kommt jetzt mit zur Umerziehung.‘“ 

    Maxim und Tatjana mussten die Nacht in der Kommandantur verbringen. Da waren auch andere, die wegen einer proukrainischen Haltung oder Verstoß gegen die Ausgangssperre festgehalten wurden. „Sie [die russischen Soldaten] haben gesagt: ‚Du hast doch Ruhm der Ukraine gerufen? Ruf jetzt Ruhm für Russland!‘ Ich habe geantwortet, dass ich so einen Scheiß nicht rufen werde. Da haben sie mit Gummiknüppeln auf mich eingeschlagen. Damals kamen mir diese Schläge heftig vor.“ Am nächsten Tag mussten Maxim und Tatjana unterschreiben, dass sie keinerlei Beschwerden hätten, und durften gehen. 

    Erst wurden vor allem Leute aus den einheimischen Behörden entführt. Später dann Lehrkräfte, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten

    Im März häuften sich solche Entführungen. Ein Notfalltelefon wurde eingerichtet (Entführt in Melitopol). Dort konnte man anrufen, wenn ein Angehöriger entführt wurde. Man wurde beraten, was man tun und welche Behörden man informieren soll. Außerdem erhielt man psychologischen Beistand. 

    Natalja, eine Mitarbeiterin des Call-Centers, erzählt, kurz nach der Besatzung seien vor allem Leute aus den einheimischen Verwaltungsbehörden entführt worden. Zum Herbst hin, als die Besatzungsmacht einen russischen Lehrplan vorschreiben wollte, begannen die Entführungen von Schulleitungen und Lehrkräften, die weiter nach ukrainischen Standards unterrichteten. „Dann kamen die Bauern dran. Es gab auch eine Phase, in der sehr viele Veteranen der ATO [Antiterroristische Operation, wie der Krieg im Donbass von 2014 bis 2018 genannt wurde, ab 2018 hieß er ,Operation der vereinten Kräfte‘ – iStories] entführt wurden“, erzählt Natalja. „Und viele Geschäftsleute, um Lösegeld zu erpressen.“

    Seit Ausbruch des vollumfänglichen Angriffskriegs verzeichnen Mitarbeitende des Notfalltelefons 311 Entführungen, 107 Menschen sind nach wie vor in Geiselhaft, zu 56 Personen liegen keine Informationen vor. Nach Einschätzung der Mitarbeitenden des Notfalltelefons Entführt in Melitopol ist die Dunkelziffer der Entführungen dreimal so hoch. 

    500.000 Rubel für Denunzianten

    Am Morgen des 22. August verließen Maxim Iwanow, der wegen der ukrainischen Flagge „zur Umerziehung“ festgenommen worden war, und seine Freundin Tatjana ihre Wohnung. Sie wollten zum Tag der Unabhängigkeit der Ukraine (24. August) Flyer kleben, doch sie schafften nur ein paar wenige. „Dann kam die sogenannte Polizei. Sie durchsuchten uns und fanden die Flyer, und außerdem noch Nachrichten auf meinem Handy an einen Menschen, dem ich Koordinaten [von russischem Militärgerät] übermittelt hatte.“ Sie warfen Maxim zu Boden, fesselten ihn und steckten ihn in den Kofferraum. So wurden Tatjana und er zum zweiten Mal festgenommen und auf das Polizeirevier in der Tschernyschewski-Straße gebracht. 

    Tatjana ist sich sicher, dass ein Einheimischer sie denunziert hat. „Die Leute bekommen Geld dafür, dass sie es gleich per Anruf melden, wenn sie etwas sehen. Diesmal haben wir mit der Klebeaktion im Stadtzentrum angefangen. Sobald wir bei den Wohnhäusern waren, war fünf Minuten später die Polizei da – jemand hatte uns verpetzt.“

    In manchen Bezirken hat die Besatzungsmacht eigene Telegram-Bots eingerichtet, wo jeder Informationen über „Saboteure“ hochladen kann. Bei einer Festnahme der beschuldigten Person soll der Denunziant angeblich 500.000 Rubel [etwa 5200 Euro – dek] bekommen. 

    Tatjana Bech und Maxim Iwanow wurden von russischen Besatzern entführt, als sie Flyer zum ukrainischen Unabhängigkeitstag klebten / Foto © privat/iStories
    Tatjana Bech und Maxim Iwanow wurden von russischen Besatzern entführt, als sie Flyer zum ukrainischen Unabhängigkeitstag klebten / Foto © privat/iStories

    „Ich habe die Koordinaten von Truppenbewegungen und Militärgerät in Melitopol und Umgebung bei einem Chat-Bot hochgeladen. Das war sehr riskant, aber ich wollte diese Dämonen aus unserer Stadt verbannen und weiß, dass das richtig war …“, erzählt Maxim.

    Schon beim ersten Verhör wurde er auf dem Polizeirevier geschlagen, ihm wurden mehrere Rippen gebrochen. Sie sind auch ein Jahr später noch nicht verheilt. Am nächsten Tag wurde er zu den Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol gebracht und abermals brutal zusammengeschlagen.

    Du krepierst hier und keiner kriegt es mit

    „Sack über den Kopf und raus. Sie schubsen mich, ich falle. Sie schlagen mit einer Eisenstange und irgendwelchen Stöcken auf mich ein. Auf die Brust, auf den Rücken. Dann stülpen sie mir einen Eimer über den Kopf und hämmern darauf ein. Ich fiel immer wieder hin, verlor mehrmals das Bewusstsein. Ich habe nichts mehr gespürt. Später sah ich, dass meine großen Zehen gebrochen waren, das musste beim Hinfallen passiert sein. Sie konnten mich jeden Moment umbringen. Ich habe gefragt, ob ich meine Eltern anrufen kann, um mich zu verabschieden. Vergiss es, hieß es, du krepierst hier und keiner kriegt es mit. Dann brachten sie mich in eine Garage und ließen mich dort zurück. Ich öffnete die Augen: Das Blut rann nur so an mir herunter, es war überall“, erinnert sich Maxim Iwanow.

    Illustration © iStories
    Illustration © iStories

    Am nächsten Tag gingen die Misshandlungen weiter. „Es war immer das Gleiche. Ich stand da mit dem Gesicht zur Wand, sie kamen rein und schlugen mir von hinten auf die Rippen, richtig heftig, und auf den Nacken.“ Am fünften Tag wurden Maxim und andere Gefangene zum Duschen nach draußen gebracht. „Da war nur ein Wasserschlauch. Aber wir haben uns gefreut, wir hatten uns so lange nicht gewaschen. Ich zog mich aus, da fingen die Aufseher an zu tuscheln, dann sagte einer: ‚Der ist fertig, nehmt ihn mit.‘ Wahrscheinlich haben sie gesehen, dass mein Rücken und meine Rippen komplett schwarzblau waren, und entschieden, dass es reicht.“

    Alles „ganz zivilisiert“?

    Vor dem Krieg lebte der 23-jährige Leonid Popow bei seiner Mutter in der Oblast Poltawa. Ende 2021 kam er nach Melitopol, um mit seinem Vater Neujahr zu feiern, bei Kriegsbeginn war er immer noch dort. Von den ersten Tagen der Besatzung an führte er Tagebuch, er notierte alles, was er sah: dass ständig Schüsse zu hören waren; dass die Leute durchdrehten und Lebensmittelläden plünderten, dass er einen erschossenen Mann auf der Straße liegen sah. Seine Mutter Anna flehte Leonid immerzu an, sich evakuieren zu lassen, solange es noch gehe, aber er wollte nicht. „Nein, Mama, gerade jetzt, wenn in der Stadt so etwas passiert, gehe ich nicht weg. Ich werde hier gebraucht“, antwortete er. Anna erzählt, sie habe ihrem Sohn Geld für den Lebensunterhalt geschickt, mit dem er Bedürftige in Melitopol und Geflüchtete aus Mariupol unterstützte.

    Im Mai 2022 wurde Leonid zum ersten Mal entführt. Er verließ das Haus, um ein Schawarma zu kaufen, da wurde er in ein Auto gezerrt und in eine Kommandantur gebracht. Dort kam er erst nach drei Tagen wieder raus. Seiner Mutter erzählte er nicht, was in diesen drei Tagen geschah. Dass ihr Sohn gefoltert wurde, erfuhr sie erst von ihrem Ex-Mann. „Betrunkene Kadyrowzy haben ihn an der Wand fixiert, sie haben gelacht und mit Messern nach ihm geworfen, ihn mit Stromschlägen gequält. Er weiß bis heute nicht, warum sie ihn entführt haben. Vor der Freilassung haben sie ihm seinen Pass weggenommen und gesagt, er soll sich einen russischen besorgen – das hat er alles seinem Vater erzählt“, sagt Anna.

    Auch Leonids jüngerer Bruder Jaroslaw blieb nicht von den massenhaften Entführungen verschont. Als im Mai 2022 alle Handynetze der Stadt darniederlagen, ging er – wie viele andere – nach der Sperrstunde noch raus, um ein Signal zu suchen. Alle wurden festgenommen und auf eine Kommandantur gebracht. Anna erzählt, ihr Sohn sei mit etwa 30 Personen in einer sehr engen Zelle gewesen.

    Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab

    Laut Jaroslaw sei darunter ein psychisch kranker oder betrunkener Mann gewesen. Er habe die ganze Zeit geschrien und Radau gemacht. „Die Soldaten sagten: ,Wenn ihr ihm nicht das Maul stopft, knallen wir euch alle ab wie junge Katzen.‘ Da haben die Leute Angst bekommen, haben zu mehreren auf den Mann eingeprügelt. Als er trotzdem weiter schrie, haben sie angefangen ihn zu würgen, damit er aufhört. Bis er tot war. Ich habe meinen Sohn gefragt: Und was hast du gemacht? Er sagte, er habe sich weggedreht, mit dem Finger in der Mauer gepult und zum ersten Mal in seinem Leben gebetet“, erzählt Anna die Erinnerungen ihres Sohnes nach.

    Jaroslaw wurde im Mai 2022 von russischen Besatzern entführt und erlebte, wie ein Mithäftling in der Zelle getötet wurde / Foto © privat/iStories
    Jaroslaw wurde im Mai 2022 von russischen Besatzern entführt und erlebte, wie ein Mithäftling in der Zelle getötet wurde / Foto © privat/iStories

    Auch nach seiner ersten Entführung und der Folter mit Stromschlägen weigerte sich Leonid Popow, Melitopol zu verlassen. Er verbrachte ein Jahr in der besetzten Stadt und war erst im April 2023 bereit, sich von freiwilligen Helfern rausbringen zu lassen. Doch zwei Tage vor der geplanten Abreise verschwand er. 

    Bei der Polizei, an die Leonids Vater sich wandte, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, sagte man ihm, dass sein Sohn höchstwahrscheinlich von Soldaten mitgenommen worden sei. „Machen Sie sich keine Sorgen. Das ist nur so ein Kontrollverfahren, sie halten ihn zwei Wochen fest und lassen ihn wieder laufen. Alles ist gut, machen Sie sich keine Sorge, alles läuft ganz zivilisiert“, erzählt Anna die Worte ihres Ex-Mannes nach. „Das ist ja deren Lieblingssatz: Alles ganz zivilisiert“, kommentiert sie. 

    Drei Monate nach der Entführung brachten Soldaten Leonid mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus

    Leonid kam nicht frei – nicht nach zwei Wochen und auch nicht nach zwei Monaten. Vertreter der zivilen und der Militärpolizei setzten sich mit seinen Eltern in Verbindung und versprachen, ihn zu finden. Aber Anna erfuhr erst von einem anderen Entführten, der mit Leonid in einer Zelle gewesen war, was mit ihrem Sohn passiert ist. 

    „Im Juni hat ein Mann Leonids Vater angerufen und gesagt, er sei mit unserem Sohn im Keller einer Kommandantur festgehalten worden. Er sagte, dass es Leonid sehr schlecht geht. Er liege da und bewege sich nicht, sei völlig abgemagert und flüstere ständig: ‚Ich hab Hunger.‘ Er erzählte, dass sie dort nur alle zwei, drei Tage ein bisschen Wasser kriegen. Essen bekommen sie auch nicht jeden Tag und immer nur sehr wenig. Außerdem sei das Zeug ungenießbar, schlimmer als Hundefutter. Und sie würden geschlagen.“

    Anna befürchtete, dass sich die psychische Erkrankung ihres Sohnes in Geiselhaft verschlimmern könnte. Mit 17 wurde bei Leonid Schizophrenie festgestellt. Dank einer Therapie konnte eine Remission erreicht werden, doch die Ärzte warnten Anna, dass sich Leonids Zustand bei starkem Stress verschlechtern und er auf die intellektuellen Fähigkeiten eines Zehnjährigen zurückfallen könnte.

    In Geiselhaft wurde Leonids Gesundheitszustand kritisch. Drei Monate nach der Entführung brachten ihn Soldaten mit akuter Unterernährung ins Krankenhaus: Bei einer Größe von 1,95 m wog er nur noch 40 Kilo. 

    Leonid Popow mit seiner Mutter Anna vor der russischen Invasion (links) und nach drei Monaten in russischer Gefangenschaft (rechts) / Foto © privat/iStories
    Leonid Popow mit seiner Mutter Anna vor der russischen Invasion (links) und nach drei Monaten in russischer Gefangenschaft (rechts) / Foto © privat/iStories

    Während des Krankenhausaufenthaltes gelang es Leonid, vom Handy seines Zimmernachbarn ein paar Nachrichten an seine Mutter zu schicken. „Ich hatte in der Zelle solche Angst vor dem Einschlafen. Angst, dass sie wiederkommen und mich würgen, zu Tode quälen. Durst hatte ich auch so sehr, sie gaben uns nichts zu trinken. Und Hunger. Außerdem haben sie mich heftig geschlagen. So fest, dass ich vier Tage lang nicht auf die Toilette konnte. Weswegen, Mama? Vielleicht weißt du, was ich getan habe?“, schrieb er an seine Mutter.

    Gegen Leonid wurde nie eine offizielle Anklage erhoben. Seinem Vater wurde nur mündlich mitgeteilt, Leonid sei festgenommen worden, weil er Militärtechnik fotografiert und Kontakt zur ukrainischen Armee gehabt habe. Beweise wurden dafür keine geliefert.

    Mit einer Tüte über dem Kopf und Elektroden am Arm

    Anhand von Gesprächen mit Menschen, die Entführungen und Folter überlebt haben, und mit Angehörigen von Menschen, die immer noch in Gefangenschaft sind, konnten wir fünf Adressen ausmachen, wo man die Entführten festhält.

    Meistens kommen sie in die Kommandanturen. Eine befindet sich in einem ehemaligen Gebäude der Verkehrspolizei auf der Alexejewa-Straße 26, eine andere auf der Tschernischewski-Straße 37, in einer ehemaligen Polizeidienststelle für den Kampf gegen organisierte Kriminalität.

    Leonid Popow wurde auf der Alexejewa-Straße festgehalten, bis er akut unterernährt war. Das Gebäude der Verkehrspolizei ist überhaupt nicht als Haftanstalt geeignet. 

    Die Räume, in denen verhört und gefoltert wird, befinden sich direkt neben den Zellen. Deswegen können die Gefangenen hören, wie andere gefoltert werden. Die schlimmste Folter kommt zum Einsatz, wenn jemand in der ukrainischen Armee gekämpft hat oder der Weitergabe von Koordinaten verdächtigt wird. 

    Das Wasser hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte

    Bei seiner ersten, dreitägigen Entführung hielt man Leonid in der Tschenyschewski-Straße fest. Dorthin kamen auch Maxim und Tatjana. Maxim wurde am Folgetag in die Garagen unter der Brücke nach Nowy Melitopol verschleppt, wo er weiter misshandelt wurde. Tatjana wurde durchsucht, sechs Stunden lang verhört und dann in einen Container im Innenhof der Kommandantur gesperrt. „Da war ein Parkplatz, auf dem ein Container stand, wie für Frachtschiffe. Ohne Fenster, eine Tür war hineingesägt, die abgeschlossen werden konnte. Es war August – tagsüber unerträglich heiß und nachts sehr kalt. Da drin gab es zwei Bänke und einen Hocker. Auch Wasser stand da, aber es hat so gestunken, dass ich es nicht trinken konnte. In den ersten Tagen bekam ich nichts zu essen. Später brachte mir irgendein Koch was. Auf die Toilette durfte ich nur zwei Mal am Tag, aber das war unmöglich. Ich fand einen kleinen Eimer und machte da rein, das kippte ich ihnen später am Eingang vor die Füße.“

    Nach dem Container und den Misshandlungen wurden Maxim und Tatjana auf das Polizeirevier in der Getmanskaja-Straße gebracht. Dort saßen sie in verschiedenen Zellen. Tatjana wurde in Ruhe gelassen, aber Maxim wurde auch hier schwer misshandelt. 

    Sie machen den Strom erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe

    „Zwei Männer kommen rein. Tüte übern Kopf, die sie mit Klebeband so umwickeln, dass ich kaum Luft bekomme. Ich soll mich auf den Boden setzen, sagen sie. Dann spüre ich, wie sie mir Zangen an die Zehen machen, wie so Klemmen …“, erzählt Maxim. „Mittlerweile kann ich ruhig darüber reden. Aber sobald ich es mir wieder bildlich vorstelle … Sie verpassen mir Stromschläge, ich schreie. Sie fragen mich nach dem ukrainischen Sicherheitsdienst, nach Soldaten, nach der Polizei. Ich sage ihnen, ich kenne niemanden, ich habe ja nicht einmal Kontakt zur Polizei, mit dem SBU hatte ich überhaupt noch nie zu tun. Aber die meinen: ‚Du lügst!‘ Sie verpassen mir Stromschläge, zwanzig Minuten lang. Lassen den Strom sieben Sekunden laufen und machen erst aus, wenn ich nicht mehr schreie, sondern wegkippe. Ein paar Sekunden später wieder.“

    Um den Lärm zu übertönen, schalteten die Folterer von 8 bis 22 Uhr laute Musik ein, wie uns alle erzählten, die die Folter erlebt haben. Maxim erinnert sich, dass die russische Nationalhymne dabei war, und viel „suizidales Zeug“, Songs über den Tod, aber auch russische Pop- und Rockmusik: Gasmanow, Morgenshtern, Instasamka, Korol i Schut, Aria. Es war auch der Song Das geht vorbei von Pornofilmy dabei, darin heißt es:

    „Mit einer Tüte überm Kopf
    und Elektroden am Arm
    sitzt mein Russland im Knast
    aber glaub mir: Das geht vorbei!“

     
    Inoffizieller Clip zum Song Das geht vorbei der seit 2022 im Exil lebenden Punkband Pornofilmy

    „Seltsam, dass sie das dort gespielt haben“, wundert sich Maxim. „Aber uns tat es gut, es gab Hoffnung, dass der, der die Playlist zusammenstellte, noch nicht völlig hinüber war.“

    Ganz konnte die Musik die Schreie der gefolterten Häftlinge dennoch nicht übertönen. „Es gab Tage, an denen es still war, aber die meiste Zeit wurde irgendwo gefoltert. Man hörte, wie jemand geprügelt wurde. Hörte Schreie. Manchmal schrie jemand ‚Hilfe, Gnade, es reicht, bitte‘, manchmal war es einfach nur ein langes: ‚A-a-a-a‘“, beschreibt Maxim die Zustände in den Zellen. 

    Manche Häftlinge hielten es nicht aus und begingen Suizid. „Der Wärter schaute in die Zelle, griff zum Handy und meldete nur, es habe sich einer die Pulsadern aufgeschlitzt. Danach hörte man, wie sie den Leichnam verpacken und in irgendetwas einwickeln“, erinnert sich Maxim an einen solchen Fall. Von Suiziden erzählten uns auch andere Entführte.

    Die Militärs haben das Sagen

    In der besetzten Stadt existieren weiterhin eine Staatsanwaltschaft, ein Ermittlungskomitee und die Polizei. Aber in Wirklichkeit haben allein die Militärs das Sagen. 

    Als Leonid im Krankenhaus lag, rief jemand vom Ermittlungskomitee seinen Vater an und sagte, gegen Leonid gebe es kein laufendes Verfahren, er könne seinen Sohn abholen. „Ich habe mich so gefreut! Er ist frei! Ich habe schon einen Fahrer gesucht, um zu ihm nach Melitopol zu kommen“, erinnert sich Leonids Mutter an ihre damaligen Gefühle. Die Freude währte nicht lange.

    Leonids Vater brachte ihn nach Hause. Aber kaum waren sie aus dem Wagen gestiegen, hielt ein schwarzer Niva mit getönten Scheiben neben ihnen. Ein Soldat stieg aus – es war derjenige, der Leonid in der Kommandantur das Essen gebracht hatte – und sagte, niemand habe ihn freigelassen. „Er hielt ihm die Tüte hin und sagte, so laufe das nun mal. Leonid hat sie sich selbst über den Kopf gezogen“, erzählt Leonids Vater von der dritten Entführung. 

    Beim Ermittlungskomitee sagte man Leonids Eltern, man habe keinen Einfluss auf das Militär. „Bei uns laufen Untersuchungen, um seinen Aufenthaltsort festzustellen. Bei uns ist er nicht. Wenden Sie sich an die Militär-Kommandantur. Wir haben das auch schon getan, aber wir können Ihnen die Antwort nicht mitteilen – Ermittlungsgeheimnis“, sagte die Ermittlerin, die für Leonid Popows Fall zuständig ist. 

    Nicht nur russische Soldaten

    Doch an dem System der Entführungen sind nicht nur russische Soldaten beteiligt. Nach ihrer Freilassung konnte Tatjana Bech den Ermittler Alexander Kowalenko identifizieren. Er hatte ihr erstes Verhör geführt. Vor dem Krieg war er in Melitopol bei der ukrainischen Polizei gewesen. 

    Nach Leonids Entführung nahmen drei Männer Kontakt zu seinen Eltern auf. Der erste sagte, er sei ein Ermittler von der zivilen Polizei. Er stellte sich nicht vor, sondern sagte: „Schreiben Sie einfach Fox.“

    Später rief Leonids Vater jemand an, der stellte sich als Militärpolizist vor und schlug ein Treffen vor. Er sagte, Leonid gehe es gut, er bekomme zu essen und werde nicht misshandelt, festgenommen habe man ihn, weil er Militärgerät fotografiert habe. Wir fanden heraus, dass es sich bei dem Anrufer um Igor Kara handelte, einen ehemaligen Ermittler aus Mariupol. Als wir ihn anriefen, stritt er zunächst ab, Leonid Popow zu kennen, später gab er zu, mit dessen Vater gesprochen zu haben. Dann verwies er auf das Ermittlungskomitee: „Dort ist er vermisst gemeldet. Das Ermittlungskomitee kümmert sich um die Suche.“

    Der dritte Mann, zu dem Leonids Eltern nach seiner Entführung Kontakt hatten, war ebenfalls von der Militärpolizei und hieß Lew. Anfangs gab er vor, nach Leonid zu suchen. Aber als Leonids Eltern von einem anderen ehemaligen Häftling erfuhren, dass sich ihr Sohn in der Kommandantur befindet, erklärte Lew sich bereit, Lebensmittel zu überbringen. Er war es auch, der Leonid abholte, als er zum dritten und letzten Mal entführt wurde. Mittlerweile haben alle drei Männer Annas Nummer blockiert und den Kontakt abgebrochen. 

    Ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut

    Maxim und Tanja wurden nach der Folter gezwungen, bei einem Propagandavideo über ein Attentat auf Jewgeni Balizki mitzumachen, den Vorsitzenden der Besatzungsverwaltung der Oblast Saporishshja. Kurz danach wurde Tatjana freigelassen. Maxim wurde noch einen weiteren Monat misshandelt. Nach zwei Monaten Gefangenschaft und Misshandlung war Maxims Zustand kritisch. „Ich konnte nicht mehr richtig gehen, ich kroch auf allen vieren und pinkelte Blut“, erinnert er sich. Ende Oktober 2022 wurde er auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet deportiert – unter der Bedingung, dass er den Russen von dort per Telegram Koordinaten der ukrainischen Armee durchgibt. Der Ermittler hatte den Namen eines Telegram-Kanals auf einen Zettel geschrieben und ihn Maxim in die Hosentasche gesteckt.

    Zu Fuß bis zum ukrainischen Kontrollposten

    Man brachte Maxim bis Wassiljewka, zum letzten Kontrollposten auf besetztem Gebiet. Damals konnte man von dort noch zum ukrainisch kontrollierten Teil der Oblast Saporishshja gelangen – mittlerweile haben die Russen diesen Weg blockiert.

     „Sie haben vor der Kamera ein Urteil gesprochen, dass ich in Melitopol eine Persona non grata sei“, erinnert sich Maxim. „Danach lief ich 40 Kilometer zu Fuß von Wassiljewka bis [zum ukrainischen Kontrollposten in] Kamenskoje. Es war die Hölle. Kamenskoje ist eine Grauzone, da sind auf einem Hügel unsere Jungs, und auf dem nächsten diese Wichser. Und ständig wird geschossen. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich wollte irgendwo klopfen und fragen, ob ich übernachten könnte, aber das Dorf war tot, die Häuser zerstört. Ich fand eine verlassene Tankstelle und verbrachte die Nacht dort. Es war kalt – Ende Oktober. Raureif überall, meine Füße waren Eiszapfen. Ich fand ein Stück Glaswolle und deckte sie damit zu. Und ständig Schüsse. Es schlägt irgendwo neben mir ein, und ich höre die Erde herunterprasseln. Ich dachte schon, diese Tankstelle würde mein Grab.“

    Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen

    Bei Sonnenaufgang erreichte Maxim einen Kontrollposten. „Ich habe die ukrainische Flagge gesehen und bin auf die Knie gefallen – ich hätte weinen können. Ich dachte, sie bringen mich gleich um, weil ich keine Papiere bei mir habe. Aber unsere Jungs haben mir etwas zu essen gegeben, mir Kaffee eingeschenkt und mich beruhigt. Es kamen ein paar Polizisten, sie brachten mich nach Saporishshja. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, fühlte ich gar nichts mehr. Ich konnte nicht glauben, dass das alles wahr war: dass ich die Sonne sehe, frische Luft atme und nicht beim kleinsten Geräusch zusammenzucken muss.“

    Tatjana war schon einen Monat vorher ausgewiesen worden. Heute lebt sie mit Maxim in Saporishshja. Sie arbeitet in einer Fabrik, Maxim kann noch nicht arbeiten, weil er von der Folter zu viele Verletzungen davongetragen hat, und nicht nur körperliche. „Es ist fast ein Jahr her, aber für mich fühlt es sich an wie eine Woche“, sagt Maxim. „Bei der kleinsten Beugung nach vorn habe ich furchtbare Schmerzen, denn mit den Rippen ist es leider nicht so wie mit einem Bein, man kann sie nicht eingipsen, deswegen weiß ich gar nicht, wie sie zusammengewachsen sind. Meine Zehen sind falsch zusammengewachsen. Ich habe oft Albträume. Früher kannte ich so etwas nicht. Je länger die Ereignisse zurückliegen, desto häufiger erinnert mich mein Unterbewusstsein daran … Viele glauben mir bis heute nicht, sie sagen: Was für eine Folter denn im 21. Jahrhundert? Aber ich habe es erlebt, genau wie tausend andere Männer und Frauen, und es passiert auch heute noch.“

    Den Erlass zur „Ausweisung von Bürgern, die an Terrorakten beteiligt waren“ hat der Verwaltungsvorsitzende der besetzten Oblast Saporishshja im Juli 2022 unterschrieben. Die Verwaltung stufte die Deportation als „die humanste Strafmaßnahme“ ein. Die Vorgangsweise wurde gefilmt: Den Folteropfern mit Säcken über dem Kopf wurden ihre „Urteile“ verlesen und anschließend befohlen, zum ukrainischen Kontrollposten zu laufen, der sich mehrere Dutzend Kilometer entfernt befand. Vielen bekamen ihre Ausweispapiere nicht zurück. Die letzte uns bekannte Ausweisung war im Januar 2023, seitdem wurden keine entführten Menschen mehr aus der Stadt gelassen. 

    Anna Machno weiß nicht, wo ihr Sohn ist und was mit ihm passiert ist. Seit seiner letzten Entführung sind fünf Monate vergangen. Beim russischen Verteidigungsministerium behauptet man, Leonid sei nie von russischen Soldaten festgenommen worden. Das Ermittlungskomitee in Melitopol führt Scheinermittlungen durch, obwohl eindeutige Beweise vorliegen, dass Leonid entführt und gefoltert wurde. Die russische Menschenrechtsbeauftragte Tatjana Moskalkowa lässt Leonids Mutter bereits seit zwei Monaten auf Antwort warten. 

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    Wo Arbeitslosigkeit und Wirtschaft gemeinsam schrumpfen

    Wenn nicht die Sanktionen selbst, dann werde die hohe Arbeitslosigkeit den Kreml schon in die Knie zwingen – so oder ähnlich haben zahlreiche Experten den Niedergang des Systems Putin nach dem russischen Überfall auf die Ukraine prognostiziert. Nun bewegt sich Russland auf Vollbeschäftigung zu, und auch das Realeinkommen der Bevölkerung soll 2023 um 3,4 Prozent steigen. Dabei ist die russische Wirtschaft 2022 um über zwei Prozent geschrumpft, für das laufende Jahr wird ebenfalls eine Rezession vorausgesagt, die Arbeitsproduktivität ist gewohnt niedrig. Wie geht das alles zusammen? 

    Was zunächst widersprüchlich erscheint, aber für den Kreml gut klingt, verschleiert tatsächlich eine Vielzahl von Schwierigkeiten der russischen Wirtschaft, die sich langfristig noch verschärfen dürften. Zu dieser Einschätzung kommen Jekaterina Mereminskaja und ihre Kollegen von istories, die mit zahlreichen Experten gesprochen haben. 



    Die Arbeitslosigkeit in Russland bricht seit einem halben Jahr alle Minusrekorde. Zuletzt war sie im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991. Und laut Maxim Reschetnikow, dem Minister für wirtschaftliche Entwicklung, sei damit womöglich nicht einmal der Tiefststand erreicht – die Arbeitslosigkeit könne noch weiter zurückgehen.

    Es scheint, als gäbe es keine Krise. Denn: „Normalerweise bedeutet jedes einzelne Prozent BIP-Rückgang zwei Prozent[punkte – dek] mehr Arbeitslosigkeit“, führt Oleg Itskhoki, Professor an der University of California, als Beispiel für entwickelte Industrieländer an, „in diesem Sinne ist der Zustand der russischen Wirtschaft phänomenal.“ Im ersten Quartal ist das BIP im Jahresvergleich um 1,9 Prozent geschrumpft, die Arbeitslosigkeit aber ebenfalls zurückgegangen. Wie ist das möglich, und was bedeutet das?

    Niedrige Arbeitslosigkeit − die „heilige Kuh“ des Kreml

    Die russische Führung legt ein besonderes Augenmerk auf die Arbeitslosenquote – das ist einer ihrer Schwerpunkte. Eine hohe Arbeitslosigkeit zieht soziale Probleme nach sich und bricht damit den Gesellschaftsvertrag aus der Zeit vor dem Krieg: Wir gewährleisten euch einen annehmbaren Lebensstandard, und ihr haltet euch aus der Politik raus. Die Regierung hat selbst in schwierigsten Zeiten von der Wirtschaft verlangt, auf Entlassungen zu verzichten. Nach der weltweiten Finanzkrise war Russlands BIP im Jahr 2009 um 7,9 Prozent gefallen, die Arbeitslosenquote jedoch nur von 6,2 auf 8,3 Prozent gestiegen. 

    In Krisen hat man das Problem nicht gelöst, sondern verschleiert: Mitarbeiter wurden in unbezahlten Urlaub geschickt, auf Teilzeit gesetzt und so weiter – alles, nur keine Massenentlassungen. Dabei ging es nicht nur um den Wunsch, die Zahlen zu schönen – auch für die Betroffenen war es so oft bequemer. In jedem Fall handelt es sich dabei um versteckte Arbeitslosigkeit. Offiziell dagegen ging die Arbeitslosigkeit allmählich zurück.

    Das geschah vor allem auf natürlichem Wege. Die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre werden nach und nach durch die des „demografischen Einbruchs“ Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre abgelöst. Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen, so die Wirtschaftsgeografin Natalja Subarewitsch. 

    Die Zahl der jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter ist „aufgrund der Besonderheiten der Alterspyramide in Russland“ um mehr als ein Viertel zurückgegangen / Grafik © Kaj Tallungs/wikimedia unter CC BY-SA 4.0

    Der Krieg hat die Situation weiter verschärft. Viele haben das Land verlassen, andere wurden zum Militär eingezogen. Anstelle der Zuwanderung von Migranten aus anderen Ländern, die den Arbeitskräftemangel in Russland bislang ausgeglichen haben, überwiegt nun die Abwanderung: 20.600 Menschen haben [im Wanderungssaldo – dek] das Land im Zeitraum Januar bis Oktober 2022 verlassen. 2021 war die Bevölkerung Russlands durch Migration noch um 320.000 Personen angewachsen. Infolge der Mobilisierung wurden 300.000 Männer dem Arbeitsmarkt entzogen, so Subarewitsch. Die Abwanderung nach der Verkündung der Mobilisierung beziffert sie mit „mindestens einer halben Million“. 

    Mit der Arbeitslosigkeit ist es wie mit der Körpertemperatur 

    Man könnte meinen, dass es denen, die geblieben sind, gut gehen müsste. Auf den ersten Blick bedeutet die historisch niedrige Arbeitslosigkeit, dass fast alle einen Job haben und die Bezahlung steigt. So legte das Realeinkommen (inflationsbereinigt) im ersten Quartal 2023 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 1,9 Prozent zu. 

    Tatsächlich führt ein solcher Rekord zu vielen Problemen. Dem Land fehlen ganz einfach Arbeitskräfte. Der Personalmangel in Russland ist ein altes Problem, aber nach der Mobilisierung im Oktober erreichte er einen Höchststand. Bereits im November stieg der Anteil der Unternehmen, die „aus formalen Gründen“ (Einberufung, Gerichtsverfahren, Tod) Mitarbeiter verlieren, von den bislang gewöhnlichen 38 Prozent auf 60 Prozent. 

    Der Lohnwettbewerb zur Abwerbung von Arbeitskräften, insbesondere von hochqualifizierten Industriearbeitern, hat bereits begonnen

    Praktisch überall fehlen Leute. Viel wird über IT-Spezialisten gesprochen, für die man sich sogar besonders günstige Hypotheken ausgedacht hat, aber in der Industrie sieht es nicht besser aus. „Es gibt ein allgemeines Problem mit Personalkapazitäten, auch mit hochqualifizierten Fachkräften für die Industrie“, so Wassili Osmankow, erster stellvertretender Minister für Industrie und Handel. „Wir sind immer stärker mit entsprechenden Einschränkungen konfrontiert.“ Während Sanktionen umgangen werden können, indem man deutsche Maschinen durch chinesische ersetzt oder über Drittstaaten einkauft, lassen sich Personalprobleme nicht so leicht lösen. „Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter“ – darauf kommt es eigentlich an“, erklärt Osmankow. 

    Mit der Arbeitslosenquote ist es wie mit der Körpertemperatur: Es gibt einen Normalbereich (ständig werden Jobs gewechselt, Jobs gesucht, beispielsweise von Berufseinsteigern) − das ist eine natürliche Arbeitslosigkeit, die das Wirtschaftswachstum nicht hemmt und die Inflation nicht antreibt. Für Russland liegt diese Quote bei rund fünf Prozent. Der Internationale Währungsfonds IWF bezifferte die natürliche Arbeitslosigkeit von 2000 bis 2016 mit durchschnittlich 5,5 Prozent (russische Wissenschaftler ermittelten Mitte der 2000er Jahre einen ähnlichen Wert: 5,6 Prozent) und prognostizierte einen Rückgang dieser Quote um jährlich 0,1 Prozentpunkte. Wenn diese Prognose stimmt, müsste die natürliche Arbeitslosigkeit jetzt bei 4,8 Prozent liegen. 

    Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger

    Aber es kann Abweichungen geben: Hat ein Wirtschaftsorganismus mit Problemen zu kämpfen, steigt die Arbeitslosigkeit. Und auch eine zu niedrige Arbeitslosigkeit kann ein schlechtes Zeichen sein. 

    Die Arbeitslosigkeit in Russland war im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991 / Foto © Mikhail Tereshchenko/ITAR-Tass/imago images
    Die Arbeitslosigkeit in Russland war im Mai mit 3,2 Prozent so niedrig wie noch nie seit Beginn der Erfassung 1991 / Foto © Mikhail Tereshchenko/ITAR-Tass/imago images

    „Normalerweise deutet ein Rückgang der Arbeitslosigkeit auf einen Anstieg der Beschäftigung und eine Belebung der Wirtschaft hin. Deshalb propagiert die Führung das als ihre ‚Errungenschaft‘“, sagt Subarewitsch. Doch das, was sich jetzt beobachten lässt, ist schon ein Verfall. Die Wirtschaft verfügt kaum noch über Personalressourcen, aber die gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für Wachstum. Die sogenannte Transformation der Wirtschaft braucht auch Arbeitskräfte, doch die sind nirgendwo zu bekommen.

    „Offensichtlich besteht schon in vielen Branchen ein großer Personalhunger, hier unterscheidet sich die Situation deutlich von der, die wir 2020 bis 2021 hatten“, räumt Maxim Oreschkin ein, Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten. 

    Jeder löst das Problem, so gut er kann. Eine besonders radikale Lösung hat der Autohersteller AwtoWAS gefunden: Für die Montage des Lada Vesta NG sollen Häftlinge verpflichtet werden. „Gebraucht werden allerdings qualifizierte Leute, die müssen extra geschult werden. Und da spreche ich noch nicht von Motivation und Arbeitsqualität“, kommentiert Wladimir Gimpelson, Professor an der University of Wisconsin-Madison. 

    Andere Zusatzmaßnahmen, mit denen Arbeitgeber den Arbeitskräftemangel bekämpfen wollen, erfasst die Zentralbank. So hat ein Chemieunternehmen in der Wolga-Wjatka-Region die Zahl der HR-Manager erhöht, um die Personalbeschaffung zu forcieren. Im Ural haben Unternehmen begonnen, Rotationsprogramme, bessere Bedingungen für den Umzug (zum Beispiel Bereitstellung von Wohnraum, Reisekostenerstattung, Fortbildungen) anzubieten und die Löhne zu erhöhen. 

    Lohnerhöhung bringt Inflation

    Lohnerhöhungen sind natürlich die häufigste Maßnahme. Aber für die Wirtschaft ist das − so seltsam es klingen mag − ein Problem. Die Löhne steigen schneller als die Arbeitsproduktivität, wiederholt immer wieder die Zentralbank: Das muss dann durch Preiserhöhungen kompensiert werden, was wiederum die Inflation anzuheizen droht. 

    Analysten der Zentralbank ermittelten auf Grundlage der Daten von 2018, dass die niedrige Arbeitslosigkeit in Russland in den meisten Regionen (48) schon vor den jüngsten Rekordtiefs die Inflation angeheizt hatte, indem sie die Löhne nach oben trieb. 

    Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter – darauf kommt es eigentlich an

    Nicht alle jedoch können die Personalausgaben erhöhen. Der Fluggesellschaft Aeroflot fehlt bereits das fünfte Jahr in Folge das Geld für Gehaltsanpassungen. Nach Einstellung der meisten Auslandsverbindungen überlebt die Airline nur mit staatlicher Hilfe. Im Mai legten Beschäftigte im Autowerk Uljanowsk (UAZ), das auch staatliche Aufträge erfüllt, die Arbeit an den Montagebändern für den Geländewagen Patriot nieder und forderten eine Lohnerhöhung mit dem Argument, im letzten Monat im Durchschnitt 20.000 Rubel [im April umgerechnet ca. 230 Euro – dek] erhalten zu haben. Der Generaldirektor des Werks versprach noch am selben Tag eine Lohnerhöhung um 12 Prozent ab Juni. Die Streikführer wurden unterdessen von Ordnungskräften festgenommen. 

    Denn Streiks gehören ebenfalls zur Schattenseite: „Eine niedrige Arbeitslosigkeit und fehlende Arbeitskräfte geben den Beschäftigten zusätzliche Sicherheit. Es ist für sie einfacher, Forderungen zu stellen, ohne Entlassungen befürchten zu müssen“, erläutert Gimpelson. Seiner Meinung nach könne sogar die Rüstungsindustrie ihre Löhne wahrscheinlich nur in begrenztem Maße erhöhen. 

    Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen

    Indes wächst das Problem des Arbeitskräftemangels weiter. Im Mai sei in einer Reihe von Branchen die wirtschaftliche Aktivität gestiegen, so dass sich der Arbeitskräftemangel weiter verschärft habe, stellt die Zentralbank fest. Die Unternehmen stocken wegen der höheren Nachfrage ihre Belegschaft auf. Darum entstehen aktuell so viele und so schnell wie nie seit November 2000 neue Arbeitsplätze. Das geht aus einem Enterprise Survey der Firma S&P für den PMI-Index hervor. 
      
    „Der Anstieg der Nachfrage nach Arbeitskräften entspricht in seinem Ausmaß eher einer Phase intensiven Wachstums“, geben sich Experten des Moskauer Zentrums für makroökonomische Analysen und Kurzzeitprognosen (ZMAKP) überrascht, „vermutlich ist Russlands Wirtschaft (sollten keine neuen Schocks auftreten) bereit für eine neue Wachstumswelle.“

    Wachstum bräuchte Arbeitskräfte und Investitionen

    Doch das ist eher unwahrscheinlich. Denn derartige Probleme erschweren wirtschaftliches Wachstum. Es fehlen die notwendigen Arbeitskräfte. Die Verfügbaren sind nicht immer in der Lage oder bereit zu arbeiten, weil sie nicht befürchten müssen, entlassen zu werden. Einerseits halte Russland eine künstliche Überbeschäftigung aufrecht, die die Arbeitsproduktivität verringert, räumen die Experten des ZMAKP ein. Andererseits führe die niedrige Produktivität zur Unterbewertung von Arbeit – so entsteht ein Teufelskreis. 

    Bei der Einführung neuer Technologien kommt es zu Verzögerungen. „Es fehlen Anreize für die technische Modernisierung von Unternehmen und für den Ersatz von Arbeitskräften durch Roboter“, warnen die ZMAKP-Experten weiter. „Eine immer größere Rolle in der Produktion spielen unzureichend qualifizierte Arbeitskräfte, was sich wiederum auf die Qualität auswirkt.“ Das ist ein weiterer Schritt Richtung „umgekehrte Industrialisierung“ aufgrund rückständiger Technologien, wie sie die Zentralbank für Russlands Industrie vorausgesagt hatte. 

    Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung und den sogenannten Strukturwandel verlangsamen. Die Abwanderung von Humankapital dürfte angesichts erhöhter Unsicherheit weiter anhalten, glaubt auch Alexander Knobel, Leiter der Forschungsabteilung für internationalen Handel am Gaidar-Institut für Wirtschaftspolitik. 

    Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist

    Eine weitere Folge der niedrigen Arbeitslosigkeit in Russland ist Armut, denn dahinter verbirgt sich oft Unterbeschäftigung. Beschäftigte werden zwar nicht entlassen, bekommen aber weniger Geld. Laut Rosstat-Angaben waren im ersten Quartal mehr als vier Millionen Personen in Kurzarbeit, durch Verschulden des Arbeitgebers unbeschäftigt oder in unbezahltem Urlaub. Etwa sechs Millionen „Beschäftigte“ erhalten nicht einmal den Mindestlohn (MROT), und 12 Millionen haben keinen Arbeitsvertrag, räumt die Vize-Ministerpräsidentin für Soziales, Tatjana Golikowa, ein. 

    Die wirtschaftlichen Auswirkungen dessen, dass Russlands Arbeitsmarkt mehr als eine Million Menschen entzogen wurden (durch Mobilisierung und Ausreise), seien jedoch deutlich geringer als die sozialen Folgen, glaubt Itskhoki von der University of California. Man könnte wohl noch weitere 300.000 abziehen, die Wirtschaft würde weiter funktionieren. Doch die Folgen dieses Verlustes junger, produktiver Menschen würden noch lange spürbar sein, warnt der Experte: „Diese Probleme werden die russische Wirtschaft lange beschäftigen, auch dann noch, wenn Putin schon nicht mehr da ist − fünf bis zehn Jahre, vielleicht auch noch länger.“

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  • Fake-Satire als Propaganda

    Fake-Satire als Propaganda

    Die Chefs der NATO-Staaten schauen eine Videoansprache von Wladimir Putin an, auch der ukrainische Präsident Selensky ist dabei, am Arm eine rote Hakenkreuzbinde. Alle scheinen von Putins Rede derart beeindruckt zu sein, dass sie sich in die Hose machen. Die Urinspuren zu ihren Füßen formen die Abkürzung für die Nordatlantische Allianz. So soll angeblich eine Titelseite des spanischen Satire-Magazins El Jueves aussehen. Jedoch: Das Magazin mit diesem Cover hat es nie gegeben, es ging von einem russischsprachigen Telegram-Kanal aus viral. 

    Diese gefälschte Titelseite eines bekannten Satire-Magazins ist kein Einzelfall. Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig solche Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen. Im russischen Exil-Medium iStories geht Ilja Ber, Gründer und Chefredakteur des Faktchecking-Portals Provereno (dt. Geprüft), diesem relativ neuen Trend der Desinformation nach.

    Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen / Collage © iStories
    Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen / Collage © iStories

    Je länger der Krieg andauert, desto erfinderischer wird die russische Propaganda: Sie wird zunehmend nicht mehr von den traditionellen Massenmedien produziert, sondern von Bloggern (vor allem auf dem Messengerdienst Telegram). Darunter finden sich „Kriegsreporter“, bekannte Fernsehmoderatoren, „Experten“ mit zweifelhafter Qualifikation oder anonyme „Analytiker“, die Hunderttausende von Followern haben. Seit ein paar Monaten greifen die kremltreuen Telegram-Kanäle zu einer Methode, die die Propaganda früher eher selten benutzt hatte: Sie posten von vorne bis hinten erfundene Berichte, die angeblich aus ausländischen Medien stammen. Faktenchecker aus verschiedenen Ländern haben mehr als zwanzig Beispiele für solche Beiträge entdeckt, die zuerst bei Telegram viral gingen und dann auch von den traditionellen Medien aufgegriffen wurden.

    Propaganda kommt zunehmend von Bloggern – vor allem auf dem Messengerdienst Telegram

    Am 7. Juli erklärte Boris Johnson seinen Rücktritt vom Posten des britischen Premierministers. Eine Woche später twitterte der Fraktionsvorsitzende der Partei Gerechtes Russland im Unterhaus des russischen Parlaments und Ex-Vorsitzender des Oberhauses Sergej Mironow ein angebliches Cover der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf dem ein Kobold abgebildet ist, dessen Kopf und Hut zusammen die Umrisse Großbritanniens ergeben und der den Ex-Premierminister auskotzt. Rechts unten in der Ecke ist ein Hund mit dem Gesicht von Wolodymyr Selensky abgebildet, der den abgerissenen Arm eines Asow-Kämpfers im Maul hält. Das Bild wurde sowohl von großen russischen Telegram-Kanälen mit Hunderttausenden Abonnenten als auch von privaten Nutzern in den sozialen Netzwerken geteilt.

    Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, aber … 

    Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, doch das Cover mit Johnson und Selensky als Hund findet sich nicht in ihrem Archiv. Es wurde weder in den sozialen Netzwerken diskutiert, wie das sonst mit den Neuerscheinungen der französischen Zeitschrift passiert, noch haben die großen Medien darüber berichtet; alle fremdsprachlichen Erwähnungen sind Übersetzungen oder Reposts von russischsprachigen Seiten. Zum ersten Mal tauchte das Titelblatt, wie die Mitarbeiter des Faktchecking-Projekts Provereno [dt. Geprüft] recherchierten, am 12. Juli auf dem Telegram-Kanal Neboshena mit einer halben Million Followern auf.

    Vor dem Hintergrund der Berichte von angeblich „inszenierten“ Bildern des Raketenschlags auf ein Geburtskrankenhaus in Mariupol und der Massenmorde im okkupierten Butscha erscheint dieses Fake aus dem russischen Telegram-Segment relativ harmlos. Doch die Charlie Hebdo-Ausgabe, deren Titelblatt angeblich eine Karikatur von Johnson und Selensky geziert haben soll, war die erste aus einer ganzen Reihe von Publikationen, mit deren Hilfe man den Lesern im Internet offenbar beweisen will: In Europa und anderen Teilen der Welt habe man die Ukraine-Hilfe satt und unterstütze das Vorgehen des Kreml auf jede erdenkliche Weise.

    Fake Cover propagieren Putins Sicht auf die Welt 

    Nach dem Johnson-Cover gingen im Internet mindestens fünfzehn weitere Fake-Cover von Charlie Hebdo und anderen weniger bekannten Magazinen aus den USA, der Türkei, Spanien und Deutschland viral. Sie wurden von Internet-Usern in diversen Ländern aufgegriffen und propagierten alle auf die eine oder andere Weise Putins Sicht auf die Welt. Hier sind einige Beispiele:

    • Ende August/Anfang September 2022 tauchte im Netz ein angebliches Charlie Hebdo-Cover auf, auf dem der französische Präsident Emmanuel Macron mit dem Wasserwerfer auf französische Demonstranten schießt, links unten in der Ecke war wieder der Hund mit dem Selensky-Gesicht abgebildet (zwei Wochen später war der ukrainische Präsident in derselben Gestalt auf einer weiteren Fake-Titelseite mit dem neuen britischen König Charles III. zu sehen.)
    • Gegen Ende September wird die geografische Reichweite größer – diesmal verbreiten die Telegram-Kanäle ein angebliches Cover des spanischen Magazins El Jueves. Es zeigt die Leader der NATO-Länder, wie sie eine Videoansprache von Wladimir Putin sehen, die sie offenbar derart beeindruckt, dass sie sich in die Hose machen – die Urinspuren zu ihren Füßen ergeben die Buchstaben OTAN, die spanische Abkürzung für die Nordatlantische Allianz.
    • Anfang Oktober taucht die erste Titelseite aus den USA auf – angeblich soll die Zeitschrift Mad eine Karikatur veröffentlicht haben, die Joe Biden als Laokoon mit der berühmten antiken Skulpturengruppe zeigt. Als Schlangen fungieren die unlängst gesprengten Rohre der Gasleitung Nord Stream, daneben wieder die schon bekannte Gestalt des ukrainischen Präsidenten. „Natürlich war es Biden, er hat es bloß vergessen“, lautet die Bildunterschrift.
    • Ende November erschien ein Interview mit Papst Franziskus, in dem er sagte, Tschetschenen und Burjaten hätten sich als „die grausamsten“ Kriegsteilnehmer hervorgetan. Die russischen Machthaber reagierten umgehend auf seine Worte, indem sie den Pontifex an die Kreuzzüge erinnerten und ihm vorwarfen, er würde der LGBT-Gemeinschaft nahestehen; auf den Telegram-Kanälen tauchten wieder gefälschte Titelseiten auf. Eine – wieder angeblich von Charlie Hebdo – zeigt Franziskus, wie er einem Jugendlichen an den Hintern fasst, auf einer anderen – angeblich von der türkischen LeMan – sagt der Papst, neben einem Mann in Nazi-Uniform stehend: „Die Tschetschenen sind die eigentlichen Menschenquäler – nicht wir!“

    Fakes mit veralteten Strichcodes 

    Weder Charlie Hebdo noch die Kollegen aus den anderen Ländern haben Ausgaben mit diesen Titelseiten herausgebracht, wie das Faktencheck-Projekt Provereno und andere zeigten. Diese Karikaturen finden sich nicht auf den Seiten der entsprechenden Satire-Blätter, und unter den Nummern sind ganz andere Ausgaben erschienen. Zudem wurden auf den Fakes veraltete Strichcodes verwendet und Grammatikfehler gemacht. Die Zeitschrift Charlie Hebdo, die bei den russischen Telegram-Kanälen besonders beliebt ist, hat sogar eine Erklärung veröffentlicht, in der sie abstreitet, irgendetwas mit den in Umlauf gebrachten Karikaturen zu tun zu haben.

    Fake-Cover wenden sich an die Russen, die überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt

    Sämtliche Cover waren zunächst im russischsprachigen Segment des Messengers Telegram aufgetaucht und nicht in den sozialen Netzwerken oder auf den Seiten der Satiremagazine. Die beiden Cover mit Charles III. und der Pipeline Nord Stream wurden als erstes von Kristina Potuptschik gepostet, Medienmanagerin und ehemalige Kommissarin der kremltreuen Jugendbewegung Naschi [dt. die Unsrigen]. Die Karikatur von Macron und Selensky erschien erstmalig auf dem Telegram-Kanal Pul N3 – dahinter steht Dimitri Smirnow, der mit der Komsomolskaja Prawda eine der größten russischen Zeitungen im Journalistenpool des Präsidenten vertritt. Andere Cover erschienen auf Kanälen mit so sprechenden Namen wie Ukrainski Fresh, Putin TG Team und Putin bei Telegram.

    Vermutlich richten sich die Fake-Cover an die Russen, die auf diese Weise davon überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt, wobei die Regierungen der westlichen Länder das ignorieren und, besessen von dem Wunsch, das große Russland zu bezwingen, ihr Spiel spielen. Viele dieser Publikationen wurden auch außerhalb der russischen Föderation populär, was offenbar ein netter Bonus für ihre Erschaffer ist. Die Befürworter von Putins Krieg in Europa und anderen Teilen der Welt brauchen eine ähnliche Message wie die in Russland – und die bekommen sie.

    Die meisten der Karikaturen – von einem oder mehreren anonymen Autoren für kremltreue Telegram-Kanäle gezeichnet  – wurden als Titelseiten von Charlie Hebdo ausgegeben, einer Zeitschrift, die weder in Russland noch international einer Erklärung bedarf. Die Fälschung von Titelblättern einiger anderer Magazine war offenbar situationsbedingt, zum Beispiel ein Fake-Cover der Oktoberausgabe der deutschen Satirezeitschrift Titanic, auf dem Selensky als schwarzes Loch dargestellt ist, das militärische und finanzielle Hilfe anderer Staaten verschlingt. Diese Karikatur ist ein Beispiel für ein weiteres Narrativ, das auf Telegram aktiv vorangetrieben wird: Man vermittelt den Lesern, in den verschiedensten Ländern hätte die Bevölkerung vom ukrainischen Präsidenten die Nase voll.

    Glaubt man den kremltreuen Telegram-Kanälen, dann sind Vergleiche Wolodymyr Selenskys mit einem schwarzen Loch von Oktober bis Dezember 2022 auch als Graffiti in europäischen Hauptstädten und im Fernsehen vorgekommen, und engagierte Studenten aus Serbien hätten sogar dafür plädiert, ein echtes schwarzes Loch im Weltall nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. Hier ein paar dieser Falschmeldungen: 

    Geräusche aus dem schwarzen Loch    

    Mitte Oktober meldeten russische Telegram-Kanäle gefolgt von mehreren reichweitenstarken Medien einen Fauxpas im regionalen US-amerikanischen TV-Sender Local 4 News: Die Moderatoren hätten davon berichtet, dass es der NASA gelungen sei, die Geräusche eines schwarzen Lochs aufzuzeichnen, doch beim Abspielen des Videos sei ein Ausschnitt aus einer Videobotschaft von Wolodymyr Selensky auf dem Bildschirm erschienen. In Wirklichkeit war die Sendung bereits Ende August ausgestrahlt worden und der ukrainische Präsident kam nicht darin vor. 

    Graffitis mit schwarzem Loch

    Anfang November berichteten Medien und zahlreiche Internet-User, dass Graffiti-Künstler Selensky in Warschau als schwarzes Loch verewigt hätten. Diese Meldungen stützten sich auf einen Instagram-Account, der zu diesem Zeitpunkt 35 Follower hatte und nur einen einzigen Post – aus dem Zentrum der polnischen Hauptstadt. Dabei gab es in den Sozialen Netzwerken keine anderen Fotos dieses Werks, das sich an einer der belebtesten Kreuzungen Warschaus befunden haben soll. Die lokalen Behörden dementierten seine Existenz und Street-Art-Kenner hatten Zweifel daran – es sei unmöglich, unbemerkt und so schnell eine derart aufwändige Arbeit zu vollbringen. Zum Ende des Monats wurden Publikationen zu einem identischen (und ebenfalls nie existenten) Graffiti in Paris beliebt. 

    Banner mit schwarzem Loch

    Mitte November wurde auf Telegram die angebliche Reportage eines deutschen Mediums verbreitet (der Fernsehsender blieb ungenannt), zu sehen war da ein Bus mit der Aufschrift „Selensky ist ein schwarzes Loch“. Wie sich herausstellte, hatten die Produzenten des Fakes einen Ausschnitt aus einem sechs Wochen alten Interview mit einer Bundestagsabgeordneten für Die Welt manipuliert: Bei dem war im Hintergrund ein Bus mit dem Logo eines Transportunternehmens und nicht mit einer Diffamierung des ukrainischen Präsidenten vorbeigefahren.

    Benennung eines schwarzen Lochs nach Selensky

    Ende November tauchte in den Sozialen Netzwerken ein Video auf, das angeblich von der Deutschen Welle (DW) publiziert worden war. Es ging darin darum, dass Studenten der Universität Belgrad vorgeschlagen hätten, ein schwarzes Loch nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. In offiziellen Social-Media-Accounts der DW fehlt dieses Video allerdings, die englischen Untertitel zur Erklärung weisen massenhaft grammatikalische und stilistische Fehler auf, und die „serbischen Studenten“ sind in Wirklichkeit Cottbuser Schüler aus einem Beitrag der DW von 2017. 

    Wie auch im Fall der Cover war das erste Beispiel dieses Narrativs – Selensky als schwarzes Loch – erstmals in Kristina Potuptschiks Telegram-Kanal zu sehen. Auch sonstige erfundene Beweise dafür, dass die Bevölkerung westlicher Länder von der Unterstützung der Ukraine genug hätte, postete die Medienmanagerin, aber nicht als Erste. Verbreitet wurden diese Fakes unter anderem von wichtigen russischen Medien wie Argumenty i fakty, Life und Rossiskaja Gaseta, sowie von Wladimir Solowjow und anderen Größen des russischen Fernsehens.

    Crossover goes Propaganda

    In der Pop-Kultur nennt man es „Crossover“, wenn in einem Film oder Buch Figuren aus anderen Werken vorkommen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Diesen Kniff wenden allem Anschein nach jetzt auch die Propagandisten an. Uns sind mindestens zwei solcher Fälle bekannt.

    Bei einem davon geht es ebenfalls um den Vergleich Selenskys mit einem schwarzen Loch – Anfang November meldeten russische Medien, etwa Izvestia oder Ren TV, dass auf einem Bildschirm auf dem New Yorker Time Square ein Video mit den Worten „black hole“ und einer Porträtaufnahme des ukrainischen Präsidenten gelaufen sei. Von diesem Zwischenfall berichteten übrigens weder amerikanische Medien noch die zigtausend New Yorker, die jeden Tag über diesen betriebsamen Platz laufen. 

    Mitte des Monats teilten dann Telegram-Blogger, allen voran Potuptschik, fleißig eine Karikatur – angeblich vom Cover der spanischen Zeitschrift El Jueves. Sie zeigte den Time Square mit Selensky auf einem Bildschirm, während einfache New Yorker kotzen. „So aufdringlich wie ein Dickpic“, lautet die Bildunterschrift. Und selbstverständlich hat genau wie bei unseren bisherigen Beispielen die angeblich zitierte Satirezeitschrift nie ein solches Cover herausgebracht.

    Neonazis bei der Fußball WM

    Das andere Crossover wurde rund um das propagandistische Klischee über die flächendeckende Verbreitung des Neonazismus in der Ukraine konstruiert. Am 22. November, kurz nach Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, berichteten regierungstreue russische Blogger und einige Medien, ukrainische Fans hätten in Katar ein Banner beschmiert, dem darauf abgebildeten Turnier-Maskottchen ein Hitlerbärtchen aufgemalt und „Sieg Heil“ dazugeschrieben. Die Autoren der Meldung beriefen sich auf ein angeblich von Al Jazeera gemachtes Video, das, wie Faktenchecker herausfanden, erstmals im russischen Telegram aufgetaucht ist. Das Video war aus YouTube-Filmen montiert worden (eines davon neun Jahre alt), und das einzige Foto vom angeblichen Ort des Vandalismus wurde mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändert. 

    Telegram wird zu einer Karikatur seiner selbst

    Trotzdem kursierte in den sozialen Netzwerken bereits zwei Tage später ein angebliches Charlie-Hebdo-Cover, auf dem das Banner gerade beschmiert wird und Einheimische von Katar dazu meinen, das sei „etwas auf Ukrainisch“. Natürlich hat es so ein Titelblatt nie wirklich gegeben. In einem Kommentar zu diesen Fake-Covers erklärte die Redaktion der berühmten französischen Zeitschrift: „Die App Telegram … ursprünglich erfunden, um den russischen Geheimdiensten auszuweichen, wird zu einer Karikatur ihrer selbst.“ 

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • Warum Putin diesen Krieg braucht

    Warum Putin diesen Krieg braucht

    Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 hat Russland die gesamte Ukraine angegriffen. Sämtliche diplomatische Bemühungen, die es seit Dezember 2021 auf internationaler Ebene gegeben hat, als Russland von der NATO und den USA weitreichende „Sicherheitsgarantien“ gefordert hatte, sind damit komplett gescheitert. 
    Zuvor hatte sich die Entwicklung massiv zugespitzt: Schon beim Besuch von Olaf Scholz am 15. Februar hatte Putin von einem „Genozid“ im Osten der Ukraine geprochen. Am Montag, 21. Februar, erkannte Russland die Separatistengebiete im Osten der Ukraine als unabhängig an, verbunden damit, dass Putin Truppen losschickte. In einer TV-Rede, ausgestrahlt am Montagabend, nur Stunden vor dem Ingangsetzen der Militärkolonnen, hatte Putin der Ukraine ihre eigene Staatlichkeit abgesprochen. Ein „Meisterwerk der Demagogie“, nannte der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel den Auftritt. 

    Worum aber geht es dem Kreml, worum geht es Moskau? Wirklich um Kränkungen durch den Westen, vermeintlich nicht eingehaltene „Versprechen“ und Sicherheitszusagen aus den 1990er Jahren? 
    Die Politikanalystin Tatjana Stanowaja schrieb nach Putins Rede: „Heute ist der Tag, an dem Wladimir Putin auf die dunkle Seite der Geschichte übergewechselt ist. Es ist der Anfang vom Ende seines Regimes, das sich nur noch auf Waffen stützt.“ 
    In einem langen Analysestück auf Vashnyje Istorii skizziert Kirill Rogow ein Regime, das auf Repression und Rohstoffe setzt, aber keine wirkliche Zukunftsperspektive zu bieten hat. Und so zum Aggressor wird. Einen Tag vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine wurde der Text veröffentlicht. 

    „Krieg ist ein Verbrechen am eigenen Volk. Weg mit dem Zaren“ steht auf dem Plakat, das ein junger Mann am Donnerstagabend im Zentrum Moskaus in den Händen hält / Foto © Dimitri Lebedew/Kommersant
    „Krieg ist ein Verbrechen am eigenen Volk. Weg mit dem Zaren“ steht auf dem Plakat, das ein junger Mann am Donnerstagabend im Zentrum Moskaus in den Händen hält / Foto © Dimitri Lebedew/Kommersant

    Wofür braucht Putin einen Krieg? Wissenschaftler suchen nach einer Erklärung für den exzentrischen und aggressiven außenpolitischen Kurs des Kreml, versuchen, die Logik dahinter und seine wahren Ziele zu erklären. Diese Versuche führen allerdings zu einer anderen, allgemeineren Frage: Was leitet autoritäre Regime überhaupt bei der Wahl ihres außenpolitischen Kurses? Sind die Eskalation des Konflikts mit dem Westen und die Vorbereitung eines realen Krieges gegen die Ukraine [Text vom 23.02.22 – dek] eine Reaktion auf äußere Bedrohungen – oder werden sie von innenpolitischen Gründen diktiert?

    Einige Vorteile einer Eskalation sind mit dem bloßen Auge erkennbar. Wer war Putin noch vor einem Jahr? Er war jemand, dem die Welt einen Mordversuch mit einer verbotenen Chemiewaffe am Anführer der Opposition vorwarf. Selbst der amerikanische Präsident unterstrich diesen Vorwurf mit einem Wort. In Russland haben zig Millionen Menschen den Film [von Alexej Nawalny – dek] über Putins Palast gesehen, der ihn als im Pomp versinkenden Mafiaboss zeigte.

    Sind die Eskalationen Reaktion auf äußere Bedrohungen – oder von innenpolitischen Gründen diktiert?

    Derselbe Putin erscheint heute als jemand, der bereit ist, einen großen Krieg zu führen, um die russischen Interessen zu verteidigen und die „Umzingelung Russlands durch die NATO“ aufzuhalten. Die Machthaber dieser Welt statten ihm einer nach dem anderen Besuche ab und diskutieren betont respektvoll über seine Sorgen und Forderungen. Niemand erwähnt den Palast, den Anschlag auf Alexej Nawalny oder die im ganzen Land zunehmenden Repressionen. Wenn das mal kein überzeugender Nutzen einer Eskalation ist. Fighting Fire with Fire, oder klin klinom wyschibat, einen Keil mit dem anderen rausschlagen, wie es auf Russisch heißt.

    Aber es gibt auch eine tiefer gehende Perspektive, die die Dynamik der Putinschen Eskalationen erklärt. 2011, als Putin verkündete, in den Präsidentensessel zurückkehren zu wollen, sah er sich zum ersten Mal mit Massenprotesten konfrontiert. Sein berühmtes Rating, seine Beliebtheitsskala, sank auf einen Tiefstand. Anti-Putin-Äußerungen wurden zu einem wesentlichen Bestandteil im innenpolitischen Geschehen. Der Kreml reagierte darauf mit verstärkter Kontrolle der Medien, gezielten Repressionen und einer Verschärfung der Demonstrationsgesetze. In der Folge wurde 2013 das organisatorische Potential der Opposition gesprengt, die Demonstrationswelle verebbte. Doch die Umfragewerte blieben unten. Putins Legitimität als autoritärer, alternativloser Herrscher wurde nicht wiederhergestellt. Erst nach der Annexion der Krim und den entfachten Kämpfen im Donbass schnellte das Rating wieder in die Höhe. Der „schwache Putin“ löste sich auf im Rauch eines siegreichen Krieges.

    Als Putin Ende 2020/Anfang 2021 erneut mit einer Reihe von ernstzunehmenden Herausforderungen konfrontiert wurde – der aufgedeckte Mordanschlag, der Film über den Palast, Massenproteste, die diesmal auch die Provinz ergriffen –, holte er wieder zum Gegenangriff auf die Opposition und die unabhängige Presse aus, schickte Dutzende von Oppositionellen ins Gefängnis oder vertrieb sie aus dem Land, und erklärte Nawalnys Organisationen für illegal. Und wieder gelang es ihm, das Potential der Opposition erfolgreich zu sprengen. Doch genau wie beim letzten Mal führte das nicht zur Wiederherstellung der Legitimität Putins als autoritärer Leader. Das Rating blieb auf demselben Niveau, und die Proteststimmen bei den Wahlen im vergangenen Jahr konnten lediglich mithilfe von Fälschungen abgefangen werden. Das heißt, das Problem war nur halb gelöst.

    Es ist an der Zeit, sich die Wechselbeziehungen zwischen der Innen- und der Außenpolitik genauer anzuschauen

    Doch diese Argumentation überzeugt jene nicht so recht, die in den Handlungen des Kreml ein Bekenntnis zu den nationalen Interessen sehen. Und es ist an der Zeit, sich diese Interessen und die tieferen Wechselbeziehungen zwischen der Innen- und der Außenpolitik genauer anzuschauen.

    In Russland existieren schon seit Jahrhunderten zwei große Narrative, die seine Beziehungen zur Außenwelt beschreiben.

    Zwei große Narrative

    Das erste sieht Russland als ein riesiges, an Territorium und natürlichen Ressourcen außerordentlich reiches Land, was sein Potential als Großmacht sozusagen von Anbeginn an definiert. Die Länder, die Russland umgeben, sind demzufolge neidisch auf diesen Reichtum und fürchten sein Potential, und deshalb trachten sie danach, Russland zu spalten, von innen heraus zu unterwandern oder seine Möglichkeiten zur vollen Entfaltung dieses Potenzials einzuschränken. Russlands primäre Aufgabe besteht in diesem Narrativ darin, sich diesen feindlichen Handlungen unter Einsatz seiner inneren Kräfte zu widersetzen. Das ist das Narrativ von Schutz und Verteidigung.

    Das zweite Narrativ ist wohl nicht weniger historisch verankert und praktisch jeder Russe, jede Russin kennt es. Es beschreibt Russland ebenfalls als ein an Territorium und an Ressourcen reiches Land mit einem riesigen Potential, welches es nicht vollends entfalten kann – allerdings, weil das Land nicht genügend entwickelt ist und technisch, wirtschaftlich wie gesellschaftlich hinter dem Westen zurückbleibt. Das Land muss also unbedingt eine Kraftanstrengung unternehmen und den Westen einholen, damit sich sein Potential vollends entfalten kann. Dieses Narrativ ist das der Modernisierung und der aufholenden Entwicklung.

    „Schutz und Verteidigung“ versus Modernisierung

    Diese zwei Narrative stehen in der öffentlichen Meinung in ständiger Konkurrenz, wobei sie die Prioritäten der nationalen Interessen, der entsprechenden politischen Ziele und notwendigen Handlungen auf unterschiedliche Weise definieren. Was meistens bei der Analyse durchrutscht, ist, dass diese zwei Narrative und die politischen Prioritäten, die sie implizieren, grundsätzlich unterschiedliche Kompetenzen von den Leadern und Eliten auf den Kommandoposten erfordern. 

    Im ersten Fall sind das die Kompetenzen der Verteidigung und der Bewahrung von Ordnung – also Kompetenzen der Gewalt. Im zweiten Fall ist es die Kompetenz, Technologien und Institutionen zu übernehmen und sie anzupassen sowie Allianzen zu schließen und Handel zu treiben. Die zwei Narrative führen nicht nur zu einer Konkurrenz, was die priorisierten Ziele in der öffentlichen Meinung angeht, sondern auch zu einer Konkurrenz zwischen zwei Typen von Eliten, die auf unterschiedliche Kompetenzen und Mechanismen in der Verwaltung, in den Institutionen ausgerichtet sind.

    Löwen und Füchse

    In Phasen, in denen in Russland das erste Narrativ populär ist, dominiert an der Spitze der Führungspyramide jener Typ von Elite, den Vilfredo Pareto in Anlehnung an Machiavelli als „Löwen“ bezeichnete und die wir hierzulande als Silowiki kennen. Dominiert das zweite Narrativ, betreten die Bühne diejenigen, die Pareto und Machiavelli als „Füchse“ bezeichneten. Ändert sich das dominierende Narrativ, kommt es unweigerlich zu einer Umgestaltung der Eliten.  

    Betrachtet man Russlands Geschichte der letzten Jahrzehnte aus diesem Blickwinkel, kann man sagen, dass seit Gorbatschows Reformen Mitte der 1980er Jahre bis Anfang der 2000er Jahre in der russischen Politik die Füchse dominierten, die ein Aufholen in der Entwicklung und eine pragmatische Kooperation mit dem Westen in den Vordergrund der nationalen Interessen stellten. In diese Zeit fielen die massenhaften Privatisierungen, und die Füchse, die feste politische Posten innehatten, wussten diese für ihren eigenen Vorteil zu nutzen.     

    Mit Putin kamen die Löwen

    Doch mit Putins Einzug in den Kreml im Jahr 2000, betraten immer mehr Löwen, oder Silowiki, wie man sie in Russland nennt, die politische Bühne. Ab 2012 dominierten sie das Regierungssystem vollends. Wir dürfen nicht vergessen, dass in Putins 20-jähriger Amtszeit eine massive Umschichtung privatisierter Vermögenwerte stattgefunden hat, überwiegend zum Vorteil der Löwen. Jetzt stehen sie genau wie Putin vor der Frage, wie sie ihre Vorherrschaft festigen und zusammen mit dem erbeuteten Reichtum an die nächste Generation von Politikern und Eigentümern weitergeben können: an ihre Kinder und Erben.    

    Während es in den 2000er Jahren zunächst danach aussah, als würden Putin und seine Regierung über Kompetenzen sowohl des ersten als auch des zweiten Typs verfügen – also als würden sie sowohl die Wirtschaft ankurbeln als auch Ordnung schaffen – geriet das Wirtschaftswachstum 2010 beträchtlich ins Stocken. Das stellte die Fähigkeiten der Putinschen Elite auf diesem Gebiet in Frage und holte den Modernisierungsbedarf wieder zurück auf die Tagesordnung. Das heißt, es eröffnete den Füchsen wieder die Chance, ihre Positionen in der russischen Politik zu stärken. Davon zeugten sowohl die Modernisierungsrhetorik während Medwedews Präsidentschaft als auch die Proteste 2011 und 2012, bei denen soziale Gruppen neue Forderungen stellten, die über die Ideale von Sicherheit und Stabilität hinausgingen.

    Dies ist der Hintergrund, vor dem die Krim-Wende in der russischen Politik vonstatten ging. Die Annexion der Krim kam wie die symbolische Rückkehr eines sowjetischen Elysiums mit dem Titel Supermacht daher. Und sie schuf nicht nur ein unlösbares Problem in Russlands Beziehungen zum Westen, sondern blockierte auch jeden Versuch, das Land wieder auf den Weg der Modernisierung zu bringen. Die Annexion der Krim und der Konflikt mit dem Westen wurden zum Hebel, mit dem die Füchse an den Rand gedrängt und ihr politischer Einfluss untergraben wurde. Damals wie heute provozierte der hohe Konfrontationsgrad den Westen zwingend zu einer Reaktion, die es wiederum erlaubte, das Narrativ vom sich verteidigenden Russland als alternativlos und einzig möglich darzustellen – und dieses Narrativ als eine einvernehmliche Doktrin nationaler Interessen durchzusetzen.

    Die Isolation Russlands ist keine Nebenwirkung der Konfrontation, sondern ihr Ziel, so paradox das auch klingen mag

    Vertreter der Elite ersten Typs – Löwen, Silowiki – besetzen heute die politischen Spitzenpositionen der Herrschaftspyramide und aller weiteren Ebenen, sowie die Schlüsselpositionen der Wirtschaft und Geschäftswelt. Eine antiwestliche Haltung und der Isolationismus sind für sie nicht nur ein formaler, sondern ein realer ideologischer Identifikationsrahmen, der durch ihre entsprechenden Kompetenzen (Kontrolle, Bewachung, Unterwerfung, Repression) und institutionellen Präferenzen gestützt wird.
     
    Die Isolation Russlands ist daher keine Nebenwirkung der Konfrontation, sondern ihr Ziel, so paradox das auch klingen mag. Sie soll den Modernisierungseffekt aus zweieinhalb Jahrzehnten prowestlicher Orientierung des Landes nivellieren. Sie sichert das Funktionieren eines geschlossenen wirtschaftlichen Umverteilungsmodells, in dem der durch Rohstoffexport erzielte Gewinn zum überwiegenden Teil in den Händen des Staates landet und die Dominanz der Löwen festigt. Diese Ressourcen reichen aus, um notwendige technische Ausrüstungen anzuschaffen und einen riesigen Sicherheitsapparat zu unterhalten. Gleichzeitig lässt dieses Modell keinen nennenswerten Zufluss von ausländischem Kapital zu. Das würde nicht nur dem inländischen Kapital und den traditionellen Patronage-Eliten Konkurrenz machen, sondern auch die Position der Modernisierungs-Eliten stärken, die für den Austausch mit anderen Ländern besser geeignet sind.

    Russlands wirtschaftliche Interessen zu opfern, wirkt gar nicht so irrational – wenn man bedenkt, dass es um den Erhalt der herrschenden Stellung in der russischen Politik und um die Weitergabe von erbeutetem Vermögen an die Nachfolger geht. Sanktionen, die politische und wirtschaftliche Isolation, begleitet von einer drastischen Schwächung der rivalisierenden Eliten und deren politischer Narrative – all das sichert eine reibungslose und sichere Weitergabe.

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  • Die First Daughter und ihre Milliarden-Mitgift

    Die First Daughter und ihre Milliarden-Mitgift

    Unter den reichsten Menschen der Welt ist und bleibt Putin der geheimnisumwobenste, resümierte im März 2019 Wladislaw Inosemzew. Der Wirtschaftswissenschaftler gab damit seine Einschätzung zu einem damals verabschiedeten US-Gesetz ab, dessen Aufgabe darin besteht, korrupte Machenschaften des russischen Präsidenten aufzudecken. Die US-Nachrichtendienste werden mit ihren Beweisen in keiner Weise Putins Legitimität beeinträchtigen, schrieb Inosemzew – wohl aber ein Licht auf die Geschäfte von Putins nächstem Umfeld werfen.

    Nun werfen nicht die ausländischen Nachrichtendienste dieses Licht, sondern vermehrt unabhängige russische Medien: So hat im November 2020 das Online-Magazin Projekt in seiner Recherche über die mutmaßliche Ex-Geliebte des Prä­si­denten berichtet, eine Millionärin. Das Investigativmedium Washnyje istorii zieht den Kreis enger und nähert sich Putins Tochter und ihrem Ex-Gatten an – der mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde. 

    Im Januar 2019 entdeckte Troy Hunt, ein australischer Fachmann für Websicherheit, in einem Hackerforum etwas, das sogar ihn, der schon lange Jagd auf gestohlene Userdaten machte, in Staunen versetzte. Hunt ist ein Cyber-Robin-Hood: Seit vielen Jahren durchstöbert er Foren von Cyberkriminellen und kauft Datenbanken gehackter Accounts – nicht, um daran zu verdienen, sondern um die Opfer vor der drohenden Gefahr zu warnen. 

    Doch an jenem Tag stieß Hunt auf ein Archiv, dessen Dimensionen ihn verblüfften. In der Datenbank befanden sich 773 Millionen E-Mail-Adressen und 21 Millionen Passwörter. Der Verkäufer des Archivs nannte es Collection #1. Über Hunts Fund wurde weltweit berichtet, man sprach von der größten Sammlung gehackter Accounts, die jemals veröffentlicht wurde.
    Wer hätte ahnen können, dass in der riesigen Collection #1, zufällig entdeckt von einem australischen Cyber-Robin-Hood, zwischen hunderten Millionen E-Mail-Adressen der Kontakt eines Mannes auftauchen würde, den man ruhig als Hüter eines der wichtigsten Staatsgeheimnisse Russlands bezeichnen kann.

    Dieser Mensch arbeitet weder im Verteidigungsministerium, noch entwickelt er Geheimwaffen oder rekrutiert Mitarbeiter ausländischer Geheimdienste. Er ist ein Unternehmer aus Sankt Petersburg, von dem die meisten Menschen in Russland wahrscheinlich noch nie gehört haben. Und obwohl er bereits mit 32 Jahren zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes wurde, gibt es in seiner Biografie Dinge, die noch viel mehr Aufmerksamkeit verdienen.

    Mit 32 Dollarmilliardär und Hüter wichtiger Staatsgeheimnisse

    Der Mann, um den es hier geht, ist in ein russisches Geheimnis eingeweiht, das mindestens so streng gehütet wird wie geheime Atomraketenstützpunkte: Er kennt Wladimir Putins Familie und weiß Bescheid über Hunderte Millionen Dollar schwere Offshore-Deals von Verwandten des Präsidenten.

    Woher hat dieser Mensch so viel Einblick in Wladimir Putins Familie und ihre Geschäfte? Ganz einfach: Mehrere Jahre lang war er selbst ein Mitglied der russischen First Family. Er heißt Kirill Schamalow und war verheiratet mit Wladimir Putins Tochter Katerina Tichonowa.


    Teil I

    Anfang 2020 erhielten Mitarbeiter von Washnyje istorii Zugang zum E-Mail-Archiv von Kirill Schamalow. Die Dokumente wurden den Journalisten von einer anonymen Quelle zugespielt, die sich vermutlich mithilfe der Daten aus der Collection #1 Zugang zu Schamalows E-Mail-Postfach verschafft hatte. Wir kennen weder seinen (oder ihren) Namen noch die Motive. Die Person schrieb nur, dass sie dieses Archiv auch anderen russischen Medien angeboten habe, aber niemand auch nur einen Blick auf das Material werfen wollte. Die Quelle stellte lediglich eine Bedingung: keine medizinischen Daten verwenden. Sie teilte uns außerdem mit, dass sie Schamalow über den Klau seines Accounts informiert habe.  

    Der Sohn von Putins Freund

    Kirill Schamalow ist der Sohn von Nikolaj Schamalow, einem der ältesten und engsten Freunde Wladimir Putins. Schamalow senior gehörte zum Kreis der Wenigen, die der Präsident regelmäßig zu seinem Geburtstag einlud. Mitte der 1990er Jahre waren Schamalow und Putin Mitgründer der berühmten Datschen-Kooperative Osero bei Sankt Petersburg. Als Wladimir Putin Präsident wurde, bekamen fast alle seine Datschen-Nachbarn hohe Posten in der Politik oder in Staatskonzernen.

    Nikolaj Schamalow (2020 wurde er 70 Jahre alt) hat sich nach Auskunft seiner Bekannten mittlerweile zur Ruhe gesetzt und verbringt viel Zeit bei der Jagd. Doch sein Geschäft wird von seinen Söhnen weitergeführt. Der älteste, Juri, leitet seit über 15 Jahren eine der größten privaten Rentenversicherungen Russlands, Gazfond. Eine noch beeindruckendere Karriere hat aber der jüngste Sohn Kirill gemacht.

    Die „Neuen Petersburger“

    Kirill Schamalows E-Mail-Archiv ist nicht nur deshalb von großer gesellschaftlicher Bedeutung, weil es bisher unbekannte Details zu wichtigsten Geschäftsabschlüssen und politischen Entscheidungen enthält. Dieses Archiv ist gewissermaßen eine Milieustudie zur russischen Elite im 21. Jahrhundert in eigens von ihr verfassten Briefen.

    Die russische Elite – das sind unter anderem die Kinder derjenigen, die in den Medien und im Volksmund als „Piterskije“, „die Petersburger“, bezeichnet werden: Putins zahlreiche Datschen-Nachbarn, seine Judo-Sparringspartner, Masseure und Kollegen aus der Petersburger Stadtverwaltung, die Anfang der 2000er Jahre Schlüsselpositionen im Land einnahmen. Doch seither sind mehr als 20 Jahre vergangen, die Piterskije sind gealtert, und an ihre Stelle sind ihre Kinder und Enkel getreten – die Neuen Piterskije.

    Zusammen mit den Schlüsselpositionen haben die Neuen Piterskije von ihren Eltern auch die Führungsmethoden übernommen. 

    2009 war Schamalow erst 27 Jahre alt. Aber er war bereits Vize-Präsident für Business Administration beim größten russischen Petrochemie-Konzern Sibur und hatte zuvor bereits bei Gazprom, Rosoboronexport, der Gazprombank und im Apparat der russischen Regierung gearbeitet.

    Doch der größte Sprung seiner Karriere kam erst später: 2014 erwarb Schamalow 17 Prozent des Unternehmens Sibur im Wert von fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek] und erhöhte damit seine Anteile am Konzern auf mehr als 21 Prozent. Dieser Deal brachte ihn mit einem Schlag auf die Forbes-Liste der reichsten Russen und machte ihn außerdem zum jüngsten Dollarmilliardär des Landes. Zu diesem Zeitpunkt war Schamalow gerade mal 32 Jahre alt.

    Doch dem war ein noch bemerkenswerteres Ereignis vorausgegangen. Wie die internationale Nachrichtenagentur Reuters mitgeteilt hatte, heiratete Schamalow 2013 die Vorsitzende der Stiftung Innopraktika, Katerina Tichonowa. Mittlerweile gibt es in den Medien zahlreiche Beweise, dass es sich dabei um die jüngere Tochter von Wladimir Putin handelt; der Kreml jedoch verweigert schon seit vielen Jahren die Bestätigung der Verwandtschaft. 

    Kirill Schamalows E-Mail-Archiv lässt weder einen Zweifel daran, dass es sich bei Tichonowa um die Tochter des russischen Präsidenten handelt (aus Rücksicht auf ihre Sicherheit veröffentlichen wir hier keine persönlichen Dokumente), noch dass sie im Februar 2013 seine Frau wurde. Davon zeugen die gegenseitigen E-Mails sowie Fotos von ihrer Hochzeit, die nie zuvor an die Öffentlichkeit gelangten.

    Wahrscheinlich würden wir an dieser Episode ihres Privatlebens gar nicht rühren (wobei fraglich ist, wie privat das Leben des Präsidenten und seiner Familie sein kann), wäre da nicht Folgendes: In Schamalows Mails wird erwähnt, dass seine Offshore-Firma ein Aktienpaket des Konzerns Sibur im Marktwert von 380 Millionen Dollar für gerade mal 100 Dollar gekauft hat.

    Und dem zeitlichen Ablauf nach zu urteilen, könnten diese zwei unglaublichen Glücksfälle im Leben des jungen Geschäftsmannes – die Ehe mit der Präsidententochter und die quasi geschenkten Aktien des größten Petrochemie-Konzerns des Landes – miteinander zusammenhängen.


    Illustrationen © Natalja Jamschtschikowa

    Teil II

    Kirill Schamalows Mailfach sagt nichts darüber, wie und wo Katerina Tichonowa und er sich kennengelernt haben. Es gibt nur indirekte Hinweise darauf, dass Schamalow und Tichonowa sich seit ihrer Kindheit kennen und auch als Jugendliche in Kontakt geblieben sind. Wann aus ihrer Bekanntschaft mehr wurde, wissen wir nicht, aber 2012 waren sie bereits vollauf damit beschäftigt, sich ein gemeinsames Luxusleben in Russland und Frankreich einzurichten.

    Ein Anwesen auf der Rubljowka und ein Schloss in Biarritz

    Am 2. Juni 2012 bekam Schamalow eine E-Mail von der Frau, die von dem jungen Paar mit dem Um- und Ausbau einer Villa beauftragt worden war, und zwar im Dorf Ussowo an der Rubljowskoje Chaussee – einem der teuersten Orte Russlands. Das Haus befindet sich in der Nähe des Anwesens des Präsidenten in Nowo-Ogarjowo.

    „Sehr geehrter Kirill, anbei übersende ich Ihnen Fotos von den Möbeln, die Katja für den Garten ausgesucht hat. Sie sind alle in Italien vorrätig (wie uns bestätigt wurde). Für die Bestellung muss eine Vorauszahlung in Höhe von 60 Prozent der ausgewiesenen Gesamtsumme überwiesen werden“, schreibt ihm die Frau.

    Im Anhang findet sich eine Liste von Einrichtungsgegenständen für den kleinen Gartenpavillon: Tisch, Sofa, ein paar Sessel, Stoffvorhänge – im Gesamtwert von 53.000 Euro.

    Diese E-Mail leitete Kirill an Katerina Tichonowa weiter, mit dem Kommentar: 

    „Gefällt mir, keine Einwände. Was denkst du?“

    Insgesamt kosteten Umbau, Möbel und Einrichtung fast neun Millionen Euro. Nimmt man das Grundstück und das Haus selbst dazu, könnten sich die Gesamtkosten für das Anwesen auf etwa 15 bis 17 Millionen Euro belaufen.

    Das Haus in Ussowo war nicht die einzige teure Immobilie von Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa. Zeitgleich zum Umbau des Anwesens bei Moskau richteten sie ein kleines Schloss in Frankreich ein.

    Im Oktober 2012 hatte Schamalow über seine Firma Alta Mira mit Sitz in Monaco eine Villa im Städtchen Biarritz gekauft. Das Anwesen gehörte früher der Familie von Gennadi Timtschenko, einem alten Freund von Wladimir Putin und einem der größten russischen Öl-Exporteure. Den Dokumenten in Kirill Schamalows Postfach nach zu urteilen, kostete ihn das Haus in Frankreich rund 4,5 Millionen Euro.

    Biarritz und seine Umgebung kann man ruhig als Auslandsreiseziel Nummer eins von Wladimir Putins Familie bezeichnen. Wie das Netzwerk OCCRP herausfand, erwarb 2013 ein weiterer russischer Staatsbürger ein Haus unweit von Kirill Schamalows Schloss: Artur Otscheretny. Er ist verheiratet mit Ljudmila Putina, der Ex-Ehefrau des russischen Präsidenten. Das Paar hatte 2013 offiziell die Scheidung bekanntgegeben, und 2016 entdeckte die Zeitung Sobesednik, dass Ljudmila Putina in den Papieren zu ihrer Sankt Petersburger Wohnung ihren Nachnamen in Otscheretnaja geändert hatte.

    Von 2013 bis 2014 ließen Schamalow und Tichonowa die französische Villa von Designern einrichten. Daran, dass die jüngste Tochter des russischen Präsidenten plante, das Mini-Schloss auch zu benutzen, gibt es keinen Zweifel: Sie war unmittelbar in die Gespräche um die Renovierung des Anwesens in Biarritz involviert.

    Unternehmer sollten bescheidener sein. Sie haben Recht

    Während der Schwiegersohn des russischen Präsidenten Aktien von Offshore-Firmen besaß, ausländische Konten eröffnete und Immobilien in Ländern der NATO erwarb, leitete Wladimir Putin den Prozess der „Nationalisierung der russischen Eliten“ ein. 2013, genau zu der Zeit also, als Schamalow und Tichonowa fleißig ihr französisches Schlösschen einrichteten, brachte Putin einen Gesetzentwurf in die Staatsduma ein, der es Beamten und Führungskräften von Staatsunternehmen verbieten sollte, Konten im Ausland zu eröffnen und ausländische Bankeinlagen oder Wertpapiere zu besitzen. Das Verbot erstreckte sich auch auf Ehepartner und minderjährige Kinder. Im Erläuterungstext hieß es, das Gesetz diene „der Gewährleistung der nationalen Sicherheit“.

    Das luxuriöse Anwesen von Schamalow und Tichonowa in Ussow kann der Präsident wohl ebenfalls kaum gutgeheißen haben. 2016 antwortete er auf die Frage einer Journalistin des Portals Znak nach dem nicht gerade bescheidenen Lebensstil der Chefs von Staatskonzernen: „Was unsere Geschäftsleute anbelangt, auch innerhalb von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung und dass sie derart provokante Immobilien bauen, da stimme ich Ihnen zu – sie sollten bescheidener sein. Sie haben Recht. Ich habe ihnen das schon mehrfach gesagt. Und ich hoffe, dass sie darauf hören. […] Man muss verstehen, in was für einem Land wir leben, und die Leute nicht reizen.“

    Hochzeit in Igora

    Die Hochzeit mit Katerina Tichonowa wird in Kirill Schamalows Korrespondenz zum ersten Mal am 7. September 2012 erwähnt. An diesem Tag erhielt er eine E-Mail von einer Frau, die sich um die Hochzeitvorbereitungen kümmerte:

    „Ich möchte Ihnen und Jekaterina für die angenehme Bekanntschaft und unser Treffen danken. Wir haben die wichtigsten Punkte, die wir dort besprochen haben, in einer kurzen Übersicht zusammengefasst.“

    Dem Schreiben war ein kurzer Ablaufplan für die Hochzeitsfeier im Skiort Igora in der Nähe von Sankt Petersburg beigefügt. Ursprünglich sollte die Feier im Januar 2013 stattfinden, wurde dann aber auf den 23. bis 25. Februar verschoben.

    Ab Ende Januar versendete Schamalow an seine Freunde Hochzeitseinladungen mit detaillierter Beschreibung des Dresscodes: 

    „23. Februar. Herren: Dresscode Cocktail im russischen Stil. Samtjackett, dazu Halstuch, Hemd mit Stehkragen. Damen: Cocktail im russischen Stil. Kleid, Rock oder Sarafan, bodenlang, in Pastelltönen, Haare geflochten, Kopftuch;

    24. Februar. Herren: Creative Black Tie im russischen Stil. Smoking und Fliege dürfen farbig sein. Damen: Creative Black Tie im russischen Stil. Abendkleid in A-Form, Hochsteckfrisur mit Tiara-Kopfschmuck im Kokoschnik-Stil;

    25. Februar. Herren: Casual chic im russischen Stil. Lockerer Anzug mit Polohemd, Rollkragen oder Pullover. Damen: bodenlanger Glockenrock, Feinstrickpullover.“

    Insgesamt lud das Brautpaar rund 100 Gäste ein. Auf der langen Gästeliste fehlten die Eltern von Katerina Tichonowa – der Präsident und seine Gattin (zu diesem Zeitpunkt war die Scheidung noch nicht offiziell). Ihr Fehlen auf der Liste könnte allerdings auch mit dem Sicherheitskonzept erklärt werden, für das sechs Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten (SBP) verantwortlich waren. Für diese hatte das junge Paar sogar eigens ein Haus angemietet.


    Teil III

    Seinem Postfach nach zu urteilen war Kirill Schamalow sowohl vor seiner Heirat mit Katerina Tichonowa als auch danach – als Schwiegersohn des russischen Präsidenten – Eigentümer von Offshore-Firmen. Ein Großteil der Firmen, die von Juristen aus verschiedenen Ländern geführt wurden, war auf Strohmänner registriert. Haupthüter der Offshore-Geheimnisse von Kirill Schamalow und dessen Vater Nikolaj war Dario Item, Botschafter des kleinen Inselstaates Antigua und Barbuda, der die Interessen seines Landes in Spanien, Monaco und Liechtenstein vertritt.

    Ein großzügiges Geschenk

    Im Juni 2013 kaufte Kirill Schamalows Offshore-Firma Kylsyth Investments Ltd. mit Sitz in Belize von einer anderen Offshore-Firma, Volyn Portfolio Corp. mit Sitz auf den britischen Virgin Islands, 38.000 Aktien einer dritten Offshore-Firma auf der Insel Guernsey, Themis Holdings Ltd. Zu diesem Zeitpunkt war die Themis Holdings Ltd. die Muttergesellschaft des Unternehmens Sibur. Mit anderen Worten: Mit dem Kauf von Anteilen der Themis Holdings Ltd. erwarb Kirill Schamalow automatisch 3,8 Prozent am Konzern Sibur. Bereits vor diesem Deal hatten ihm 0,5 Prozent der Holding gehört: Insgesamt hielt er nun also einen Anteil von 4,3 Prozent.

    Doch das Interessanteste an dieser Reihe von Deals ist nicht einmal, dass Wladimir Putins Schwiegersohn – ungeachtet der vom Präsidenten geplanten „Nationalisierung der Eliten“ – exotische Offshores für seine Investitionen in ein strategisches russisches Unternehmen benutzte, sondern wie viel er für diese Aktien bezahlt hat: 3,8 Prozent der Anteile am Konzern Sibur kosteten ihn bloß einhundert Dollar. Dabei hat Schamalow selbst in einem Interview mit der Zeitung Kommersant den Gesamtwert des Konzerns auf rund zehn Milliarden Dollar geschätzt. Damit könnte der Marktwert seines Aktienpakets bei etwa 380 Millionen Dollar liegen (den Rabatt für fehlenden Anspruch auf Kontrollrechte nicht mitgerechnet) – oder, mit anderen Worten: 3,8 Millionen Mal höher, als der Schwiegersohn des russischen Präsidenten dafür bezahlt hat.

    Der Pressedienst von Sibur übermittelte Washnyje istorii eine Stellungnahme von Dimitri Konow, dem Vorstandsvorsitzenden des Konzerns: 

    „Die Transaktionen im Jahr 2013 fanden im Rahmen eines 2011 von Aktionären ins Leben gerufenen Programms statt, das der zusätzlichen Motivationssteigerung eines breiten Kreises von leitenden Managern des Unternehmens dienen sollte. In jeder Etappe gab es andere Teilnehmer und unterschiedliche Bedingungen für die verschiedenen Teilnehmergruppen. Die Bedingungen für den Aktienverkauf der von Ihnen angesprochen Transaktion unterschieden sich nicht von denen für einige andere Manager. Exklusive Bedingungen für K. N. Schamalow persönlich gab es nicht. Womöglich ist Ihnen nicht bewusst, dass bei der Bewertung des Aktienwerts die Höhe der Schulden der betreffenden juristischen Person berücksichtigt wird/wurde“, teilte Konow mit.

    Washnyje istorii hat sich jedoch die Verträge von elf Topmanagern genau angeschaut, die an dem Optionsprogramm von Sibur teilgenommen haben, von dem Konow spricht. Sie alle haben echtes Geld für ihre Anteile bezahlt – abzüglich eines Rabatts von etwa 15 Prozent des Marktwerts, was der gängigen Praxis solcher Motivationsprogramme entspricht. So musste beispielsweise der geschäftsführende Direktor Sergej Komyschan laut Vertrag für 0,26 Prozent an Sibur-Aktien 21,6 Millionen Dollar zahlen. Das heißt, für ein fünfzehn Mal kleineres Paket als das des Präsidenten-Schwiegersohns hat Komyschan 216.000 Mal mehr bezahlt. Alexej Filippowski, der Vizepräsident des Unternehmens, musste für sein Paket von 0,15 Prozent 12,7 Millionen Dollar zahlen.

    Auf unsere Frage, warum andere Manager im Gegensatz zu Schamalow echtes Geld für ihre Aktien bezahlen mussten, entgegnete Dimitri Konow bloß, unsere Zahlen seien „inkorrekt“. Welche Zahlen seiner Ansicht nach korrekt sind, sagte er allerdings nicht.

    Wenn man die Dinge beim Namen nennt, ist also Folgendes passiert: Die Offshore-Firma des Schwiegersohns des russischen Präsidenten hat für 100 Dollar etwas gekauft, was eigentlich rund 380 Millionen kostet.

    Und das war erst der Anfang der beispiellosen Bereicherung von Kirill Schamalow.

    Auf der Suche nach der passenden Mitgift

    Kirill Schamalow hatte sehr viel Glück mit seinen Beratern und Assistenten. Den E-Mails nach zu urteilen, war ein ganzes Team für ihn tätig: Es recherchierte Investitionsprojekte für ihn, schrieb Redebeiträge für seine Auftritte bei Foren und Sitzungen des Direktorenrats, inklusive der Antworten auf mögliche Fragen aus dem Publikum. Ganz wie zu Studienzeiten, als man ihm dabei half, sein Diplom zu verteidigen und seine Rede für den Prüfungsausschuss vorzubereiten. 

    Nach der Hochzeit mit Tichonowa hatten die zahlreichen Helfer des Präsidenten-Schwiegersohns alle Hände voll zu tun: Sie mussten ein groß angelegtes Finanzprojekt finden, das in den Besitz ihres Chefs übergehen sollte. E-Mails mit märchenhaften Angeboten über Milliarden von Dollar landeten eine nach der anderen in Schamalows Postfach – und Wladimir Putins Schwiegersohn suchte sie sich so aus, wie wir uns im Supermarkt Milch aussuchen.

    Am 16. Mai 2013 schickte Schamalows Assistent Denis Nikijenko ihm den Vorschlag, Anteile an gleich drei Unternehmen zu kaufen – Rostelekom, Tele2 und Trikolor TV –, um sie danach zu einem „nationalen Telekommunikations-Champion“ zu vereinen, wie es in dem Schreiben hieß. Die Gesamtkosten für die Realisierung dieser Idee beliefen sich auf neun Milliarden Dollar. Wo sollte Schamalow dieses Geld hernehmen? Nikijenko erklärte das in einer Notiz:

    „Die finanzielle Grundlage für den Erwerb könnten Kreditressourcen von der WTB, Sberbank und Gazprombank bilden. Zur Bildung der 20 bis 30 Prozent sogenannter Eigenmittel wäre es denkbar, befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond oder Gazprombank.“

    Abgesehen davon, dass Schamalows Assistent vorschlägt, dieses enorme Vorhaben auf Kosten von Staatsbanken zu finanzieren, enthält das Zitat eine weitere interessante Formulierung: die „20 bis 30 Prozent ‚sogenannte Eigenmittel‘“.

    Jeder, der bei der Bank eine Hypothek aufnehmen will, um eine Wohnung zu kaufen, muss 20 bis 30 Prozent des Kaufpreises selbst aufbringen. Genauso ist es, wenn ein Investor Aktiva erwerben will, besonders wenn es sich dabei um riesige Projekte über hunderte Milliarden Rubel handelt. Wie aus Nikijenkos E-Mail hervorgeht, hatten Schamalows Betraute jedoch offenbar nie vor, Eigenmittel ihres Chefs einzusetzen. Stattdessen schlugen sie vor, „befreundete Finanzinstitutionen zu beteiligen, zum Beispiel Gazfond“ – der, wie der Zufall es will, von Schamalows älterem Bruder Juri geleitet wird.

    Im April 2014 schrieb Nikijenko Schamalow schließlich eine weitere E-Mail, die gleich mehrere Vorschläge enthielt. Der erste war, 51 Prozent an dem Konzern VSMPO-Avisma zu erwerben, dem weltgrößten Titanproduzenten (dieses Paket kostete zu diesem Zeitpunkt über eine Milliarde Dollar).

    „Warum 51 Prozent? Wenn eine Person, die mehr als 50 Prozent der Anteile an einem Unternehmen besitzt, auf der Sanktionsliste landet, können US-Bürger und -Konzerne keine Geschäfte mehr mit diesem Unternehmen machen. Weil die USA an einer Zusammenarbeit mit VSMPO-Avisma interessiert sind, wäre es somit unwahrscheinlich, dass der Konzern oder ein Teilhaber auf die Sanktionsliste kommt“, erklärte Nikijenko die Vorteile einer Übernahme des Titankonzerns.

    Der zweite Vorschlag bestand darin, ein zusätzliches Aktienpaket des Konzerns Sibur zu erwerben.

    „Die Unternehmensbeteiligung von GNT (gemeint ist Gennadi Nikolajewitsch Timtschenko – Anm. Washnyje istorii) schränkt die operative Geschäftstätigkeit des Konzerns ein. Sibur erhält bereits Absagen von Banken und Geschäftspartnern (weil Timtschschenko auf der Sanktionsliste der USA steht – Anm. Washnyje istorii). Um dieses Problem zu lösen, schlagen wir vor, GNT seine Anteile abzukaufen. Die Transaktion kann durch zwei Manager des Unternehmens mit nachträglicher Zusammenführung der Anteile in eine Hand realisiert werden (dieser Vorgang, bei dem eine künstliche Schuld geschaffen und daraufhin von einem zweiten Aktienpaket getilgt wird, ist gut erprobt)“, heißt es in dem Schreiben.

    Wie der weitere Verlauf zeigt, entschied sich Kirill Schamalow offenbar für diesen Vorschlag. Das Interessanteste an der E-Mail ist die Beschreibung des Schemas für den Kauf der Sibur-Aktien von Gennadi Timtschenko: die Schaffung einer „künstlichen Schuld“ und deren Tilgung durch ein weiteres Aktienpaket. Derartige Schemata werden in der Rechtsliteratur und in Handelsgerichtsurteilen als populäres Mittel beschrieben, um die Kontrolle über Unternehmen zum Spottpreis zu bekommen.

    Der Kauf von Sibur

    Am 1. August 2014 registrierte Kirill Schamalow unter seiner Privatadresse in der Zoologitscheskaja Uliza in Moskau die Firma Jausa 12. Laut seinen E-Mails kaufte diese Firma bereits sechs Tage später, am 7. August, 17 Prozent von Sibur. Der Marktwert dieses Aktienpakets lag bei fast 80 Milliarden Rubel [damals etwa 1,65 Milliarden Euro – dek]. Gegenüber Kommersant sagte Schamalow, die Mittel dafür habe er bei der Gazprombank geliehen (in dessen Direktorenrat sein Bruder Juri sitzt – Anm. Washnyje istorii), als Sicherheit hätten eigene Vermögensgegenstände gedient. Welche Vermögensgegenstände das genau waren, sagte er nicht.

    Im Rahmen des Sibur-Optionsprogramms hatte Schamalow fast zum Nulltarif über vier Prozent der Holding akkumuliert. Mit dieser Kreditsicherheit hätte er theoretisch ein Darlehen von rund 500 Millionen Dollar bekommen können. Aber woher hatte der junge Geschäftsmann das restliche Geld für den Erwerb der Aktien?

    Leider enthält Schamalows Korrespondenz keine Antwort auf diese Frage, vorausgesetzt man will nicht die E-Mail seines Assistenten Denis Nikijenko als solche werten, in der zum ersten Mal die Idee der Übernahme von Timtschenkos Sibur-Anteilen mithilfe einer „künstlichen Schuld und ihrer Tilgung durch ein zweites Aktienpaket“ geäußert wurde.

    Wann und wie Schamalows Firma Jausa 12 ihren Riesenkredit abbezahlt hat, wissen wir nicht. Der letzte im Rosstat zugängliche Jahresabschluss stammt aus dem Jahr 2016, in der Zeile „Verbindlichkeiten“ sind dort immer noch 80 Milliarden Rubel angegeben. Den Daten des Föderalen Steuerdienstes zufolge beschloss Schamalow im September 2017, Jausa 12 aufzulösen, was er im Dezember desselben Jahres auch tat.

    Wie dem auch sei, als zweitgrößter Aktionär der größten Petrochemie-Holding des Landes (mit einem Anteil von 21,3 Prozent), zog Schamalow die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Wahrscheinlich, um den Fragen zu seinen Verwandtschaftsbeziehungen und der Herkunft seines Vermögens zuvorzukommen, gab der Schwiegersohn des Präsidenten der Zeitung Kommersant ein Interview. Das Blatt stellte keine unangenehmen Fragen.

    Das Interview endete mit einer patriotischen Äußerung Schamalows: „Ich bin in Russland geboren, aufgewachsen und lebe hier. Mein Business ist hier. Und zwar komplett nach russischem Recht, nicht irgendwo im Offshore. Irgendwelche Hintertürchen und Geschäfte im Ausland – das ist nichts für mich“, erklärte Wladimir Putins Schwiegersohn. Dabei hat er offenbar vergessen, dass er die Sibur-Aktien über eine Firma in Belize gekauft hatte, sein Schloss in Frankreich auf eine Firma in Monaco gemeldet war und er 2015, im selben Jahr, in dem das Interview stattfand, mehrere Konten in der Schweiz eröffnet hatte. Aber 2017, als die Sanktionen einen immer weiteren Kreis von Wladimir Putins Bekannten erfassten, begannen Schamalows Finanzbeauftragte, die Geschäfte seiner Firmen und Fonds mit Konten bei europäischen Banken einzustampfen, und registrierten auf seinen Namen einen eigenen Fonds – den Centurion International Fund auf der Insel Labuan, einem Offshore-Gebiet in Malaysia. Der Fonds läuft über Offshore-Unternehmen aus Belize – einem winzigen Staat an der Karibischen Küste.


    Teil IV

    Kirill Schamalow konnte man durchaus auch vor seiner Liebesbeziehung mit Katerina Tichonowa zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Russlands rechnen – dank der Freundschaft seines Vaters mit dem russischen Präsidenten und seinen eigenen zahlreichen Beziehungen zu Vertretern der Neuen Petersburger. Schamalow war erst 27, als er gebeten wurde, im Streit um die Moskauer Flughäfen Einfluss auf die Entscheidung der Handelsgerichte zu nehmen. Durch die Ehe mit Katerina Tichonowa stieg er allerdings in eine ganz andere Liga auf: Vom Sohn eines Freundes wurde er zum Familienmitglied Wladimir Putins – mit allen Möglichkeiten, die dieser Status mit sich brachte.    

    Ein gemütliches Zuhause

    Einer der Hochzeitsgäste war Kirill Dmitrijew, Chef des Russian Direct Investment Funds (RDIF). Er stand als Gast der Braut auf der Liste: Dmitrijew ist mit Natalja Popowa verheiratet, Katerina Tichonowas Stellvertreterin bei der Stiftung Innopraktika.  

    Der von Dmitrijew geleitete Staatsfonds ist einer der wichtigsten staatlichen Player innerhalb der russischen Wirtschaft. Sie wurde 2011 auf Initiative des Präsidenten (damals Dimitri Medwedew) und des Premierministers (damals Wladimir Putin) gegründet. Hauptaufgabe des RDIF ist es, führende russische Unternehmen zu finanzieren und ausländische Investoren für Projekte zu ködern. Seit seiner Gründung hat der RDIF fast zwei Billionen Rubel [Stand Januar 2021: 22 Milliarden Euro – dek] in verschiedene Unternehmen in Russland investiert.    

    Dem vorliegenden Archiv zufolge bekam Schamalow die ersten Mails von Dmitrijew Mitte 2012, also in einer Zeit, als er sich gerade mit Tichonowa ein gemütliches Zuhause errichtete. Die jungen Paare (Dmitrijew und Popowa, Schamalow und Tichonowa) waren miteinander befreundet. Sie machten mehrfach zusammen Urlaub im Ausland, und Schamalow und Dmitrijew schrieben einander alle paar Tage zu den verschiedensten Themen.  

    Unter anderem schickten der Schwiegersohn des russischen Präsidenten und der Chef des RDIF einander permanent Links und diskutierten Wirtschaftsmeldungen. Das war aber noch nicht alles – mehrmals finden sich in Schamalows Posteingang vertrauliche Dokumente des RDIF, die Dmitrijew seinem geschäftstüchtigen Freund übersandte.

    Eine Hand wäscht die andere

    Kirill Dmitrijew versorgte seinen Freund Schamalow nicht nur mit Informationen, sondern auch mit enormen Summen aus der Staatskasse für sein Unternehmen. Im Januar 2015 schickte der RDIF-Direktor dem Präsidenten-Schwiegersohn einen Artikel der Vedomosti mit dem Titel RDIF unterstützt Sibur. Darin hieß es, Dmitrijews Staatsfonds plane gemeinsam mit ausländischen Investoren, in ein Projekt von Sibur zu investieren, das den Bau eines Petrochemiewerks mit dem Namen Sapsibneftechim in Tobolsk, Oblast Tjumen, vorsah.      

    „Langsam kommen wir in die Gänge :-)“, schreibt Dmitrijew in einer E-Mail. „Super!“, antwortet Schamalow, der zu dem Zeitpunkt der zweitgrößte Aktionär von Sibur ist. 

    Sapsibneftechim ist das größte Petrochemiewerk Russlands. Es wurde im Mai 2019 in Betrieb genommen. Seine Fertigstellung kostete insgesamt schätzungsweise 9,5 Milliarden Dollar. Ende 2015 erklärte der RDIF auf seiner Website, er habe gemeinsam mit anderen Investoren mehr als ein Drittel der Projektfinanzierung zur Verfügung gestellt (3,3 Milliarden Dollar). Doch für die Errichtung einer so großen Anlage reichte Schamalows Firma die Beteiligung des befreundeten Staatsfonds nicht. Und so griff ihm der Schwiegervater unter die Arme. 

    Im Oktober 2015 stimmte Wladimir Putin zu, dass Sibur 1,75 Milliarden Dollar aus dem Nationalen Wohlstandsfonds erhalten soll. Dieser Fonds ist eigentlich für die Förderung der privaten Altersvorsorge der Staatsbürger da, sowie dafür, Defizite in der Rentenkasse auszugleichen.

    Doch nicht nur Schamalow profitierte von seiner Freundschaft mit Kirill Dmitrijew. Dem Chef des RDIF brachte seine enge Bekanntschaft mit Wladimir Putins Schwiegersohn ebenfalls satte Gewinne. Ein Beispiel dafür ist der Kauf des Sibur-Terminals für die Verladung von Flüssigerdgas am Handelshafen Ust-Luga durch den RDIF. Aus der Korrespondenz geht hervor, dass nicht alle Top-Manager von Sibur so begeistert von der Idee waren, den Terminal zu verkaufen. Im November 2015 war der Deal unter Dach und Fach: Für 700 Millionen Dollar hatte der RDIF zusammen mit einem Investorenkonsortium den Terminal in Ust-Luga gekauft.

    Auf die Anfrage von Washnyje istorii, warum er Schamalow vertrauliche Dokumente des RDIF zukommen ließ und inweiweit er dafür gegenüber dem von ihm geleiteten Staatsfonds hafte, reagierte Kirill Dmitrijew nicht.

    Begehrter Partner mit Ressourcen

    Das Besondere am Business von Wladimir Putins Schwiegersohn war nicht nur, dass es ihm gelang, Aktien eines strategischen Unternehmens millionenfach unter ihrem Marktwert einzukaufen, sondern er war auch ein enorm gefragter Partner, bei dem Unternehmer mit den verlockendsten Angeboten buchstäblich Schlange standen. Unter anderem wurden Schamalow Beteiligungen an verschiedensten Firmen offeriert, ohne dafür irgendwelche Gelder zu verlangen – offenbar in der Annahme, dass Putins Schwiegersohn diesen Unternehmen etwas bieten könne, was im heutigen Russland wertvoller ist als Geld. 

    So bekam Schamalow 2017 von seinem ehemaligen Studienkollegen Dimitri Utewski eine Beteiligung an einer großen Müllentsorgungsfirma in der Nähe von Sankt Petersburg angeboten. Utewski versprach ein „fixes Jahreseinkommen“ und bat im Gegenzug – wörtlich – um eine „administrative Ressource (mindestens auf der Ebene eines Gouverneurs)“. Wie Schamalow konkret auf diesen Vorschlag reagierte, wissen wir nicht, aber in seinem E-Mail-Verkehr gibt es genügend Beispiele dafür, wie er seinen Partnern half, Probleme auf höchster Staatsebene zu lösen.

    Zusammen mit seinem Vater war Schamalow jahrelang Miteigentümer des [Zementherstellers – dek] Russkaja zementnaja kompanija und der Holding Sibirski zement. Oleg Scharykin, Hauptgesellschafter dieser Firmen, sagte einmal in einem Interview mit dem Kommersant, mit Schamalow senior verbinde ihn eine Freundschaft: „Nikolaj Terentjewitsch und ich sind vor allem gute Freunde, und unsere Geschäfte beruhen auf zwischenmenschlichen Beziehungen.“

    2016 fand sich dieser Scharykin in einer unangenehmen Situation wieder: Am 7. April hatten Ermittlungsbeamte und FSB-Mitarbeiter seinen Wohnsitz in der Siedlung Nikologorskoje bei Moskau und seinen Firmensitz in Moskau durchsucht. Bereits am 11. April, also nur vier Tage später, erhielt Kirill Schamalow eine E-Mail von Waleri Bodrenkow, dem Vizepräsidenten von Sibirski zement. Betreff: „Lightversion für den Garanten“, im Attachment mehrere Belege und ein an Wladimir Putin adressierter Brief von Oleg Scharykin. (Mit „Garant“ ist der russische Präsident gemeint, i. S. v. „Garant der Verfassung“ – Anm. d. Red. Washnyje Istorii

    In dem Brief an den „Garanten“ schrieb Scharykin, die Durchsuchungen seien von seinem „Businesskontrahenten“ Andrej Murawjow initiiert worden, dem ehemaligen Präsidenten von Sibirski zement. 

    „Ich bitte Sie inständig, verehrtester Wladimir Wladimirowitsch, diese Situation unter Ihre persönliche Kontrolle zu bringen und der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation den Auftrag zu erteilen, das Vorgehen der Organe des FSB und des Ermittlungskomitees der RF im Zuge der Durchsuchung meines Wohnsitzes rechtlich zu überprüfen“, heißt es am Ende von Scharykins Brief. 

    Kirill Schamalow ließ diese E-Mail nach Erhalt umgehend ausdrucken. Wir wissen nicht, ob er sie danach seinem Schwiegervater vorlegte, aber es war nicht das einzige Mal, dass Scharykin ihn um Hilfe bat, und im Archiv finden sich Beweise, dass Wladimir Putins Schwiegersohn diese Bitten erhörte.   

    Ein Jahr später, im April 2017, schickte Oleg Scharykin Kirill Schamalow zwei weitere an den russischen Präsidenten gerichtete Briefe. In einem beklagte er sich, dass seine Firma Keramitscheskije technologii optische Elemente für Boden- und Weltraumteleskope entwickele, aber die staatliche Gesellschaft Roskosmos sie nicht kaufe:     

    „Ich würde Sie bitten, dem Generaldirektor der Staatlichen Weltraumorganisation Roskosmos I. A. Komarow den Auftrag zu erteilen, ein gemeinsames Programm zur Verwertung der vorhandenen Technologie zu erarbeiten“, appellierte Scharykin an Putin. 

    Wie es aussieht, konnte Schamalow seinem Partner zumindest teilweise helfen. Zwei Wochen später, am 12. Mai 2017, schrieb Scharykin ihm wieder eine E-Mail: 

    „Guten Morgen, Kirill. Hier die Protokolle. Das Treffen mit KSW verlief gut, er hat sich alles genau angesehen. Festen Händedruck.“

    Die Abkürzung KSW entspricht den vollständigen Initialen von Kirijenko Sergej Wladilenowitsch, dem ehemaligen Chef von Rosatom und zu jenem Zeitpunkt – wie auch heute noch – stellvertretender Leiter der russischen Präsidialadministration. Seinem Schreiben hängte Scharykin das Protokoll des Treffens mit dem Chef von Rosatom an, bei dem die weitere Zusammenarbeit des Staatskonzerns mit der Firma Keramitscheskije technologii besprochen wurde. Anfragen von Washnyje istorii ließ Scharykin unbeantwortet.  


    Teil V

    Katerina Tichonowa verwendete für den Mailwechsel mit Kirill Schamalow mehrere E-Mail-Adressen. Für ihren Hauptaccount aber wählte sie einen Usernamen, der viel über Wladimir Putins Tochter und ihre Interessen verrät: Hypatia von Alexandria. So hieß eine Gelehrte im antiken Alexandria, die Philosophie, Mathematik und andere Disziplinen unterrichtete. Hypatia wurde nicht nur für ihre wissenschaftlichen Erfolge, sondern auch für ihre Bescheidenheit gepriesen. 

    Hypatia: Bescheidenheit und Rock’n Roll 

    In den Mails des jungen Paares ging es, abgesehen von der Einrichtung ihrer schicken Häuser in Russland und Frankreich, vor allem um zwei Themen: Rock‘n‘Roll-Akrobatik und das Innovationsprojekt Innopraktika.

    Die von Tichonowa geleitete Stiftung wurde 2012 gegründet. Sie verbindet das Zentrum für nationale intellektuelle Reserven der MGU mit der Stiftung Nationale intellektuelle Entwicklung zur Förderung wissenschaftlicher Projekte von Studenten, Doktoranden und jungen Wissenschaftlern, die ebenfalls der MGU untersteht. Vornehmlich kümmert sich Innopraktika um die Vermittlung zwischen Business und Wissenschaft, um innovative Technologien in Russland zu entwickeln und sie auf dem Markt zu positionieren. Die Liste der Partner von Innopraktika würde jede russische Nonprofit-Organisation vor Neid erblassen lassen. Zu ihnen zählen die mächtigsten Konzerne, darunter auch solche mit staatlicher Beteiligung: Rosneft, Rosatom, Sibur, Rostec, Gazprombank, RDIF und viele mehr.  

    Innopraktika wurde für viele Großunternehmer gewissermaßen zur Eintrittskarte in die Sphäre führender Forschungs- und Entwicklungsprojekte (zumindest an der MGU). Und wie Katerina Tichonowas E-Mails zeigen, wusste sie ihre Ehe mit Schamalow für die Voranbringung ihres Fonds zu nutzen. Mehrmals bat die Tochter von Wladimir Putin ihren Mann außerdem, zusammen mit seinen Partnern ihr liebstes Hobby zu finanzieren – Rock‘n‘Roll-Akrobatik. 

    Am 14. April 2014 schickte sie ihrem Mann den Entwurf einer E-Mail von Iwan Sbitnew, dem Präsidenten des russischen Verbands der Rock‘n‘Roll-Akrobatik, die an den Generaldirektor des Erdgasförderunternehmens Nowatek, Leonid Michelson, adressiert war:

    „[…] Wir möchten Sie bitten, die Möglichkeit einer Unterstützung für den russischen Verband der Rock‘n‘Roll-Akrobatik in Form einer Spende für die satzungsgemäße Tätigkeit in Höhe von einer Million Dollar jährlich über fünf Jahre zu prüfen“, stand am Ende seiner E-Mail.    

    Innerhalb der nächsten zehn Tage leitete Tichonowa zwei weitere Schreiben gleichen Inhalts von Sbitnew an Schamalow weiter, eines an den Präsidenten der Gazprombank Andrej Akimow (ohne Angabe der Summe) und eines an den Generaldirektor von Sibur, Dimitri Konow (10 Millionen Rubel [damals rund 200.000 Euro – dek]).  

    Die Chefs dieser russischen Großkonzerne, die Tichonowa um Unterstützung bat, schlugen ihre Bitten nicht ab: Sibur, Nowatek und die Gazprombank tauchten mehrfach in der Liste der Partner und Sponsoren des Verbandes der Rock‘n‘Roll-Akrobatik auf. 

    Trennung

    Anfang 2018 berichtete die internationale Nachrichtenagentur Bloomberg von der Trennung Kirill Schamalows und Katerina Tichonowas. Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte Schamalow das Sibur-Aktienpaket verkauft, das er 2013 von Gennadi Timtschenko erworben hatte. Bloombergs Quellen zufolge machte Schamalow mit diesem Verkauf keinen Gewinn, weil er dieses Paket als Garantie des Vertrauens des russischen Präsidenten bekommen hatte. In Schamalows E-Mail-Archiv finden sich keine Angaben dazu, wie viel er für die Sibur-Aktien bekommen hat. 

    2018 kam Kirill Schamalow auf die Blacklist der USA, weil er nach seiner Hochzeit mit der Tochter des russischen Präsidenten „zu einem ausgewählten Kreis von Milliardären aus dem Umfeld von Wladimir Putin gehörte“. Die amerikanischen Behörden waren mit dieser Entscheidung reichlich spät dran: Die letzte E-Mail von Schamalow an die Präsidententochter stammt vom 15. Juni 2017. Er leitete Tichonowa eine E-Mail von einem berühmten Sankt Petersburger Architekten mit mehreren Planungsentwürfen für eine Villa im Grünen weiter (ohne genaue Adressangabe). Danach gibt es im Archiv keine E-Mails mehr zwischen den beiden.   

    Kirill Schamalow und Katerina Tichonowa ignorierten die Anfragen von Washnyje istorii. Wir baten auch den Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, um einen Kommentar zur Nutzung von Offshore-Firmen durch Wladimir Putins Schwiegersohn, zum Kauf von Aktien millionenfach unter dem Marktwert und zu den Luxusimmobilien in Russland und Frankreich, über die Schamalow zusammen mit der Präsidententochter verfügte. Dazu sagte Peskow wörtlich: „Solche Fragen sind schon oft unbeantwortet geblieben.“   

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  • Fall Nawalny: Was der Kreml nicht sagt

    Fall Nawalny: Was der Kreml nicht sagt

    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets. Im Inforauschen rund um den Fall Nawalny tauchte irgendwann sogar die Version auf, der Oppositionspolitiker sei womöglich in Berlin vergiftet worden. 

    Doch warum das Argument, man habe keine giftige Substanz nachweisen können, gerade dann nicht gelten kann, wenn es um eine Vergiftung durch Nowitschok geht, zeigt eine Recherche von Roman Schleinow für Washnyje istorii und Novaya Gazeta. Warum hätten die russischen Ärzte aufgrund der Symptome Nawalnys sehr wohl auf eine Vergiftung durch Nowitschok kommen können? Es gab schon mal einen ähnlichen – allerdings nicht politischen – Fall: 1995 wurde der Bankier Iwan Kiwelidi durch Nowitschok vergiftet. Da dies allerdings Staatsgeheimnis war, war offiziell stets von einem amerikanisch-britischen Kampfstoff von Typ-V die Rede gewesen.

    Im Vergleich der beiden Fälle, den das Medium unternimmt, tun sich erstaunliche Parallelen auf, was die Symptome angeht, und deutliche Unterschiede, was die Ermittlungen betrifft.

    dekoder hat eine gekürzte Version der umfangreichen Recherche ins Deutsche übersetzt:

    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets / Foto © instagram/navalny
    Russische Ärzte hätten keine Hinweise auf eine giftige Substanz bei Nawalny gefunden, heißt es von offizieller russischer Seite stets / Foto © instagram/navalny

    Der Kreml sieht keinen Grund, im Fall Nawalny Ermittlungen einzuleiten. Das teilte Dimitri Peskow, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, am 25. August 2020 mit – drei Tage, nachdem der Oppositionspolitiker, der zuvor keinerlei gesundheitliche Probleme gehabt hatte, in einem Flugzeug zusammengebrochen und ins Koma gefallen war. 

    „Zuerst muss die Substanz gefunden werden, es muss festgestellt werden, was diesen Zustand herbeigeführt hat“, erklärte Peskow.

    Diese kategorische Haltung des Kremlsprechers überrascht. So musste im Fall des Giftanschlags auf Kiwelidi 1995 nicht zuerst „die Substanz gefunden werden“. Man fand sie auch nicht sofort, sondern nach drei bis vier Monaten komplexer Untersuchungen an den Oberflächen der Gegenstände aus dem Büro des Bankiers. Dass diese Untersuchungen durchgeführt wurden, war nur durch die Einleitung von Ermittlungen und die schnelle Sicherung der Beweismittel möglich. Benannt wurde die Substanz bis zuletzt nicht. In den Akten heißt es, die Eigenschaften „sind Staatsgeheimnis“.

    Fall Kiwelidi: Einleitung von Ermittlungen und schnelle Sicherung der Beweismittel

    Am 1. August 1995 war Iwan Kiwelidi in seinem Büro der Rosbisnesbank plötzlich ins Koma gefallen und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Am nächsten Tag folgte die Einlieferung seiner Sekretärin Sara Ismailowa mit denselben Symptomen. Bereits am 6. August leitete die Moskauer Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein – wegen Anzeichen einer Intoxikation „durch ein unbekanntes Gift“, „mutmaßlich Cadmiumchlorid“.

    Eine Vergiftung durch Cadmiumchlorid vermuteten auch Kiwelidis Angehörige und Kollegen. Doch auch nach dem Tod des Bankiers und seiner Sekretärin konnten bei den Analysen weder Gift noch andere bekannte hochwirksame Substanzen nachgewiesen werden. Die Annahme, es handele sich um Cadmium, bestätigte sich nicht. Nicht einmal das Büro für gerichtsmedizinische Gutachten des Moskauer Gesundheitsministeriums konnte die Todesursache von Ismailowa ermitteln, die offenbar unbeabsichtigt ebenfalls vergiftet worden war. 

    Dennoch genügte im August 1995 der von Kiwelidis Angehörigen und Kollegen geäußerte Verdacht, um eine strafrechtliche Untersuchung einzuleiten. Als Nawalnys Angehörige und Kollegen im August 2020 offen erklärten, er sei vergiftet worden, zeigte das keinerlei Wirkung auf die russischen Sicherheitsbehörden. Die Einleitung eines Strafermittlungsverfahrens wurde abgelehnt. 

    In Russland ist nicht einmal mehr der rätselhafte Tod eines Politikers Grund genug für ein Verfahren. Im Sommer 2003 starb der Duma-Abgeordnete und stellvertretende Chefredakteur der Novaya Gazeta Juri Schtschekotschichin infolge einer seltenen allergischen Reaktion, obwohl er keine Allergien hatte. Nicht nur seine Angehörigen, sondern auch der Vorsitzende des Sicherheitskomitees der Duma, die Partei Jabloko und die Novaya Gazeta hatten darauf bestanden, dass umgehend ein Ermittlungsverfahren eröffnet wird, weil Schtschekotschichin wegen seiner beruflichen Tätigkeit mehrfach bedroht worden war. Ein Verfahren wurde dreimal abgelehnt. Erst fünf Jahre später wurden Ermittlungen aufgenommen, die ergebnislos blieben: Eine Substanz, die eine solche Reaktion hätte auslösen können, wurde nicht gefunden. 


    I. Kein Gift in Nawalnys Organismus nachweisbar – gab es also keine Vergiftung?

    Russische Regierungsvertreter betonen immer wieder, dass die russischen Ärzte kein Gift in Nawalnys Organismus gefunden hätten. 

    „In dem Moment, als Alexej Nawalny Russland verließ, waren keine toxischen Substanzen in seinem Organismus“, erklärte der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin.

    Die These, in Nawalnys Organismus sei kein Gift nachgewiesen worden, äußerte als erster Anatoli Kalinitschenko, der stellvertretende Chefarzt der Klinik Nr. 1, bereits einen Tag nach Nawalnys Einlieferung. Er fügte dann vorsichtig hinzu, dass die anfängliche „Diagnose einer Vergiftung wohl noch nicht ganz vergessen ist, aber wir denken nicht, dass der Patient vergiftet wurde“.

    All diese Erklärungen muten seltsam an. Denn wie der Fall Kiwelidi gezeigt hat, ist es ausgesprochen schwer, eine Substanz aus der Nowitschok-Gruppe im Organismus des Vergifteten nachzuweisen. Bei Kiwelidi und seiner Sekretärin wurden keine bekannten Gifte festgestellt – weder durch die Ärzte der Zentralklinik der Verwaltung für die Angelegenheiten des Präsidenten noch durch die Ärzte der Moskauer Stadtklinik Nr. 1 und auch nicht durch die Gerichtsmediziner.

    Nowitschok ist im Organismus kaum nachweisbar

    Als der Rettungswagen Kiwelidi aus seinem Büro abtransportierte, notierten die Ärzte in ihrem Bericht: „Hatte eine Stress-Situation bei der Arbeit“ (der Bankier kam aus einem hitzigen Meeting); außerdem gaben sie an, er hätte sich unwohl gefühlt, sei ohnmächtig geworden und kurz darauf ins Koma gefallen. In den Vernehmungsprotokollen der drei Ärzte, die im Einsatz waren, lautet die „Diagnose: Verdacht auf schwere zerebrale Durchblutungsstörungen“. 

    Am nächsten Tag wurde Kiwelidis Sekretärin Sara Ismailowa mit ähnlichen Symptomen aus demselben Büro mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Im Vernehmungsprotokoll des Notarztes heißt es, sie „war nicht bei vollem Bewusstsein, stöhnte“, dann sei sie ins Koma gefallen. Der Notarzt stellte die Diagnose: „epileptischer Anfall“. Es vergingen keine 24 Stunden, bis sie starb. Kurz darauf starb auch Kiwelidi. 

    In zwei gerichtsmedizinischen chemikalischen Untersuchungen konnten keine hochwirksamen oder toxischen Substanzen und auch keine Schwermetalle im Blut des Bankiers festgestellt werden. Die Gerichtsmediziner folgerten nur anhand von indirekten Anzeichen, dass eine „unbekannte Substanz“ auf Kiwelidi eingewirkt haben musste. Den Prozessakten zufolge war das erste und wesentliche Anzeichen einer solchen Einwirkung „eine Abnahme der Konzentration von Cholinesterase im Blut“. Cholinesterase ist ein lebenswichtiges Enzym bei der Neurotransmission. „Wird die Cholinesterase gehemmt, kommt es zu einem fast vollständigen Versagen aller lebenswichtigen Funktionen“, heißt es im Abschlussbericht der Gerichtsmediziner. 

    Die Cholinesterase als Marker

    Auch bei Alexej Nawalny stellten die deutschen Ärzte niedrige Cholinesterase-Werte fest, als er im Koma in die Berliner Universitätsklinik Charité eingeliefert wurde. 

    Nawalnys Angehörige hatten seine Verlegung gefordert, mehrere europäische Staats- und Regierungschefs hatten mit Wladimir Putin gesprochen. Schließlich änderten die Gesundheitsbeamten in Omsk, die zuvor erklärt hatten, Nawalny sei „nicht transportfähig“, innerhalb weniger Stunden ihre Meinung. Nach einer Untersuchung des Oppositionspolitikers gab die Charité in einer Pressemitteilung bekannt: „Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation durch eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin. […] Die Wirkung des Giftstoffes, d. h. die Cholinesterase-Hemmung im Organismus, ist mehrfach in unabhängigen Laboren nachgewiesen.“

    „Es ist wichtig herauszufinden, warum der Cholinesterase-Wert gesunken ist. Bisher konnten weder unsere noch die deutschen Ärzte diesen Grund feststellen“, entrüstete sich Putins Pressesprecher. „Wir verstehen nicht, warum die deutschen Kollegen so voreilig von einer Vergiftung sprechen. Diese Version war unter den ersten, die unsere Ärzte in Betracht gezogen hatten. Aber es wurde keine Substanz ermittelt.“ 

    Die Empörung des Kremlsprechers ist wenig plausibel. So wird in den russischen Prozessakten im Mordfall Kiwelidi die Vergiftung durch „rapide gesunkene Cholinesterase-Werte im Blut“, „plötzliche Ohnmacht mit darauffolgendem Koma“ und eine Reihe weiterer Symptome belegt. 

    „Ein überzeugender Beleg für eine Vergiftung durch Cholinesterase-Hemmer war die biochemische Analyse von Kiwelidis Blut, […] bei der sehr niedrige Cholinesterase-Werte festgestellt wurden“, heißt es im gerichtsmedizinischen toxikologischen Befund.

    In den Prozessakten sind außerdem folgende äußerliche Anzeichen der Vergiftung aufgelistet: Blässe, kalte Hände, kalter, klebriger Schweiß, Flimmern vor den Augen, Stöhnen während des Bewusstseinsverlusts, Krämpfe. Den Menschen ergreife Todesangst, er rede konfus, erkenne Angehörige nicht wieder und habe Atemnot. Dies geht aus den Zeugenaussagen im Fall Kiwelidi, der Anklageschrift und dem toxikologischen Befund der Gerichtsmedizin hervor.  

    Alexej Nawalny erzählte Washnyje istorii, was er gespürt hat, als ihm im Flugzeug übel wurde. Mindestens zehn seiner Symptome und Reaktionen entsprechen dem, was Kiwelidi und seine Sekretärin durchgemacht hatten.

    Die Plastikflasche als Träger

    Als Nawalnys Kollegen erfuhren, dass er während des Flugs ins Koma gefallen war, schöpften sie sofort Verdacht. Sie engagierten einen Anwalt und nahmen in dessen Anwesenheit einige Gegenstände aus Nawalnys Hotelzimmer in Tomsk mit. Darunter auch eine Wasserflasche aus Plastik, die Nawalny berührt hatte. 

    Nawalnys Angehörige übergaben diese Flasche und weitere Dinge den Ärzten aus der Charité. Diese zogen ein Speziallabor der Bundeswehr hinzu, das minimale Spuren einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe auf der Flasche feststellte. 

    „Diese Flasche möchte man ja gar nicht erwähnen, so ein Unsinn ist das!“, sagte der Experte des Duma-Verteidigungsausschusses Leonid Rink gegenüber RIA Nowosti. Rink ist ein ehemaliger Mitarbeiter des staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie, an dem die Gifte der Nowitschok-Gruppe entwickelt wurden. 

    Bevor Rink zum Experten der Duma und einem der größten Kritiker der Version wurde, dass Nawalny vergiftet worden sei, war er in den 1990ern in einem geheimen Gerichtsverfahren wegen Handels mit einer toxischen Substanz angeklagt. Die Ermittler vermuteten, dass eben diese Substanz beim Mord an Kiwelidi zum Einsatz kam. Obwohl Rink eine ausführliche Aussage dazu gemacht hatte, wie er das Gift an verschiedene Leute verkauft oder schlicht weitergegeben hat, wurde das Verfahren gegen ihn eingestellt. Beim Prozess im Fall Kiwelidi tauchte er plötzlich als Zeuge auf. Später behauptete Rink in einem Interview für The Bell, er hätte Gift für Nagetiere verkauft und sei an Kontrollkäufen beteiligt gewesen, die von den Geheimdiensten initiiert worden wären.

    Mithilfe der Prozessakten im Fall Kiwelidi lässt sich auch erklären, warum die minimalen Giftspuren auf der Plastikflasche erhalten geblieben sind, die Nawalny kurz angefasst hatte. In den Gutachten heißt es, die Substanz habe die Konsistenz von Wasser oder sei nur geringfügig dickflüssiger, sie könne in Plastik eindringen, in Gummi hingegen nicht. Deswegen fanden sich auch Giftspuren auf dem Telefonhörer im Büro des Bankiers, die sich noch nicht vollständig zersetzt hatten und verdampft waren.


    II. Warum wurden im Fall Nawalny keine Ermittlungen eingeleitet?

    Nawalnys Kollegen taten das, was die russischen Sicherheitsbehörden hätten tun sollen. Und was die Ermittler im Fall Kiwelidi 1995 getan haben. Nach den gerichtsmedizinischen Untersuchungen, in denen niedrige Cholinesterase-Werte bei Kiwelidi und seiner Sekretärin festgestellt worden waren, schlussfolgerten die Ermittler, dass in ihren Getränken, Nahrungsmitteln oder auf den Oberflächen, die die beiden angefasst hatten, Cholinesterase-Hemmer sein mussten. Drei Tage nach dem plötzlichen Koma des Bankiers, wurden Proben von den Oberflächen der Gegenstände in seinem Büro genommen, um sie auf Spuren von toxischen Substanzen zu untersuchen. Man nahm Proben vom Schreibtisch, von den Telefonen und den persönlichen Gegenständen.

    Nach wenigen Tagen waren Kiwelidis Büro und die Nachbarzimmer leergeräumt – man untersuchte alles: von den Tellern bis zu den Putzlappen, nahm Proben von Lebensmitteln, Medikamenten, vom Staub auf den Schränken und der Raumluft. Diese Proben gingen an die fünf höchstrangigen Einrichtungen auf dem Forschungsgebiet.

    Schließlich fand man auf einem Telefonhörer in Kiwelidis Büro Spuren einer stickstoffhaltigen phosphororganischen Substanz, die eine starke cholinesterasehemmende Wirkung haben kann. Die genaue Bestimmung stellte ein Problem dar, weil über solche Substanzen keine Daten vorlagen.    

    Während die Ermittler vor 25 Jahren also ein Verfahren einleiten und die Vergiftung durch eine unbekannte Substanz feststellen konnten, die bis zuletzt nicht benannt wurde, weigert sich die heutige Regierung auch nur Ermittlungen im Fall Nawalny aufzunehmen, obwohl ihr modernere Verfahren und besser qualifizierte Experten zur Verfügung stehen.

    Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Substanz

    Warum betonen die Beamten im Fall Alexej Nawalny, dass in Russland keine giftige Substanz nachgewiesen werden konnte? Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass sogar in diesem politisch neutralen Fall, in dem zu einer ganz anderen Zeit ermittelt wurde, die führenden russischen Labore nicht dahintergekommen sind, welches Gift konkret eingesetzt worden war.

    „Wegen der extrem geringen Mengen, in der der nachgewiesene Stoff vorliegt, ist es nicht möglich, seine physikalischen und chemischen Eigenschaften zu bestimmen“, hieß es im Befund des Zentrums für kriminalistische Gutachten des Innenministeriums. 

    Die Militärakademie für chemische Waffen entdeckte ebenfalls Spuren „einer hochwirksamen giftigen Substanz mit signifikanter cholinesterasehemmender Wirkung“. Doch welcher Substanz genau, konnte sie nicht bekanntgeben.

    Am umfassendsten waren die Untersuchungen des Staatlichen Instituts für organische Chemie und Technologie (GosNIIOChT), wo das System Nowitschok entwickelt worden war. Hieraus ging hervor, dass auf dem Telefonhörer „Spuren einer giftigen Substanz nachweisbar sind, die dem Schädigungsmuster und der cholinesterasehemmenden Wirkung nach den festen, hochtoxischen, phosphororganischen Verbindungen mit signifikanter hautresorptiver Komponente [dringen durch Berührung in den Organismus ein] auf Niveau eines Kampfgifts von Typ V zuzuordnen ist“. 

    Die gerichts-chemische Untersuchung des GosNIIOchT wies Fluor in jenem Giftstoff nach, mit dem Kiwelidi ermordet wurde. Doch eine endgültige Formel nannte auch das GosNIIOChT nicht. Letztlich lief das Gift in den Prozessakten unter dem Titel „unbekannte giftige Substanz“, als „giftige Substanz mit enormer cholinesterasehemmender Wirkung auf Niveau von Kampfgiften des Typs V“. Diese Benennung war noch dazu insofern absurd, als das britisch-amerikanische Kampfgift V gar kein Fluor enthält. Dieses findet man jedoch in Substanzen der Gruppe Nowitschok.  

    Warum im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens niemand das konkrete Gift nannte, ist nachvollziehbar. Ein Experte für Chemie und führender Mitarbeiter des GosNIIOChT, der als Gutachter befragt wurde, sagte im Fall Kiwelidi aus, dass die Eigenschaften dieser Substanz ein Staatsgeheimnis sind. Dass die Substanz der Geheimhaltung unterliege, bestätigte in seinem Verhör auch Leonid Rink, gegen den wegen Handels mit giftigen Substanzen ein Strafverfahren mit dem Vermerk „streng geheim“ eingeleitet, aber dann eingestellt wurde. Heute erzählt Rink den staatlichen Medienagenturen, dass der Fall Nawalny eine westliche Provokation sei.


    III. Symptome einer Nowitschok-Vergiftung

    Wirkungsdauer

    „Im Fall einer Vergiftung mit Nowitschok […] hätte es Nawalny zu keinem Flugzeug geschafft“, erklärte Leonid Rink in einem Interview für RIA Nowosti. „Die ersten Symptome zeigen sich innerhalb weniger Minuten. Nach zehn Minuten tritt der Tod ein“, so Rink.

    In den Prozessakten zum Giftanschlag auf Kiwelidi dagegen, in denen Rink als Zeuge geführt ist, heißt es im gerichtstoxikologischen Gutachten: Bei Aufnahme über die Haut werde eine Inkubationszeit beobachtet, die in der Regel eineinhalb bis fünf Stunden betrage.

    Stoffwechselchaos und Zuckerschock

    Anfang Oktober wurde Alexander Sabajew, Cheftoxikologe des Föderationskreises Sibirien und der Oblast Omsk, zum Interview gebeten. Er erklärte RIA Nowosti, bei Alexej Nawalny sei eine Störung des Kohlehydratstoffwechsels diagnostiziert worden. Diese sei ausgelöst worden durch eine Dysfunktion der Bauchspeicheldrüse, die wiederum zu plötzlichen und extremen Schwankungen des Blutzuckers führe.    

    „Die ersten 12 Stunden, ja, da gab es so ein Zuckerchaos, der Blutzuckerspiegel war hoch – und er ließ sich nicht durch eine Insulintherapie korrigieren“, sagte Sabajew. Er verplapperte sich aber, indem er angab, Nawalny habe keine „offensichtlichen, chronischen, verschleppten Krankheiten“.

    Sabajew sagte zudem, die Krisis sei in der Nacht vom 20. auf den 21. August eingetreten, als Nawalnys Laktatwerte einen gefährlich hohen Wert erreicht hätten. „Zu diesem Zeitpunkt hätte ein Multiorganversagen eintreten können, das zum Tod des Patienten geführt hätte“, betonte Sabajew. 

    Die Erklärung des andauernden Komas mit Hypoglykämie (eines verringerten Blutzuckerspiegels) hält einer Kritik nicht stand, wie die Endokrinologin Olga Demitschewa, Mitglied der European Association for the Study of Diabetes (EASD), dem Magazin Forbes erklärte. „Eine Verabreichung von Präparaten zur Erhöhung des Blutzuckerspiegels hätte das Problem schnell gelöst, und der Patient wäre innerhalb weniger Minuten wieder bei Bewusstsein gewesen“, sagte sie. Außerdem litt Nawalny nicht unter Diabetes.  

    Der israelische Intensivmediziner Michail Fremderman sagte in einem Kommentar für die BBC, nach Angaben der Omsker Ärzte sei Nawalny wie ein Patient in einem Koma unklarer Genese behandelt worden, eine richtige Diagnose hätten ihm die russischen Ärzte nach wie vor nicht gestellt. Fremderman merkte an, die Laktatazidose, von der die Omsker Ärzte sprechen, komme sowohl bei akuten Schüben chronischer Stoffwechselstörungen bei Diabetikern vor – als auch bei Vergiftungen. Bei Nawalny (der kein Diabetiker ist) könne nur eine Vergiftung der Grund für einen solchen Zustand sein . 

    Die Prozessakten im Mordfall Kiwelidi zeigen, dass bei dem Bankier bei seiner Hospitalisierung nach Vergiftung mit einer unbekannten Substanz ebenfalls vor allem erhebliche Zuckerschwankungen aufgetreten sind. Und die Vergiftung hat zu Stoffwechselstörungen und Multiorganversagen geführt. 

    Mit anderen Worten, wenn der Toxikologe Sabajew Nawalnys Blutzuckerschwankungen beschreibt, dann beschreibt er einen Zustand, den auch Kiwelidi nach seiner Vergiftung mit einer Substanz aus der Nowitschok-Gruppe durchlaufen hat.

    Es ist wichtig zu wissen, dass ein phosphororganischer Giftstoff auf besondere Weise wirkt. Wenn die Dosis gering war und der Mensch überlebt, kann der weitere Verlauf auch ganz anders sein als bei einer Vergiftung. Und je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen. 

    Je mehr Zeit vergeht, desto schlechter stehen die Chancen, eine Vergiftung mit einer phosphororganischen Substanz zu beweisen

    Dies erklärte Viktor Schulga bei seiner Befragung zu Kiwelidis Vergiftung. Schulga ist Toxikologe mit 40-jähriger Berufserfahrung und war damals Laborleiter am staatlichen Institut für organische Chemie und Technologie (in einer Außenstelle dieses Instituts wurde das System Nowitschok entwickelt). Im Protokoll gab er an, dass die Symptome einer Vergiftung mit einem phosphororganischen Kampfgift mit der Zeit sowohl auf altersbedingte Veränderungen als auch auf diverse Erkrankungen und so weiter zurückgeführt werden können.   

    Innenministerium, Ermittlungskomitee, Gesundheitsministerium und das Städtische Krankenhaus für Notfallmedizin Nr. 1 in Omsk haben auf unsere Anfragen bezüglich Alexej Nawalnys Situation nicht reagiert.

    Auf die Fragen von Novaya Gazeta und Washnyje istorii, was der Grund für die ungewöhnlichen gesundheitlichen Probleme und die Ermordung von Oppositionellen in Russland sei und ob sich der russische Präsident für das verantwortlich fühle, was mit Oppositionsführern und seinen Kritikern geschehe, antwortete Dimitri Peskow, Pressesprecher des Präsidenten. Er sagt, er lehne „diese Versuche ab, in dem verschlechterten Gesundheitszustand und in der Ermordung von Oppositionsführern irgendwelche allgemeinen Tendenzen zu sehen“.

    Und er fasst zusammen: „Jeder Fall ist strikt als Einzelfall zu beurteilen, und so wird das auch gehandhabt.“ 

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