Irpin, Butscha, Mariupol … Die beispiellose Gewalt, die die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine sät, so schreibt der Historiker Sergej Medwedew auf Holod, hat ihre Wurzeln in der russischen Gesellschaftsstruktur.
Nach hundert Tagen Krieg stumpft die Fähigkeit ab, entsetzt und schockiert zu sein. Doch dann tauchen neue Beweise für die Gräueltaten der russischen Armee auf, und man stürzt wieder in den Abgrund.
Anfang April holten russische Soldaten im Dorf Termachiwka bei Kyjiw fünf junge Männer von der Straße, fesselten sie, legten sie im Kreis auf ein Feld, ließen sie zwei Wochen lang so liegen, ein Gewehr auf sie gerichtet. Nachts fielen die Temperaturen auf -10 ° C, es schneite. Einem der Männer schossen sie ins Bein. Neun Tage lag er mit der offenen Wunde da. Dann schleppten die Soldaten die Leiche eines Dorfbewohners an und warfen sie in die Mitte des Kreises: „Damit ihr gut schlafen könnt.“
Diese Soldaten haben wohl kaum den Film Grus 200 von Alexej Balabanow gesehen – dem prophetischen Regisseur, der unter anderem das Phänomen des russischen Faschismus vorausgesagt hatte –, doch von ihren perversen Fantasien hätte selbst der verstorbene Filmemacher noch etwas lernen können.
Orgie epischer, entgrenzter Gewalt
Was seit Februar 2022 in der Ukraine passiert, ist eine Orgie epischer, entgrenzter Gewalt. Mit Massenerschießungen und bestialischer Folter, der Ermordung von Zivilisten, einfach so, aus Langeweile, zum Spaß, mit Vergewaltigungen und Morden von Eltern vor den Augen ihrer Kinder und umgekehrt, mit Gewalt an Frauen und Mädchen im Alter von acht bis 80 Jahren. Diese Berichte zu lesen ist unerträglich, aber notwendig, aus einer Pflicht des Mitgefühls und der Empathie heraus, aber auch im Versuch zu verstehen, woher dieses archaische Böse kommt, das die russische Armee über das Land gebracht hat, aus welchen irdischen Abgründen, aus welchen Albträumen und Horrorfilmen? Hat in Russland eine genetische Mutation stattgefunden, die gleichgültige Sadisten hervorgebracht hat, die jetzt auf ukrainischem Boden angekommen sind?
Die Überlebenden, die Zeugen dieser Gräueltaten wurden, erzählen davon gar nicht so sehr voller Angst als vielmehr maßlos erstaunt: „Wpersche take batschymo“, sowas sehen wir zum ersten Mal. „Wir hatten keine Vorstellung davon, dass so etwas möglich ist.“
Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate
Man muss nicht Fjodor Dostojewski, Juri Mamlejew oder Vladimir Sorokin sein, um die dunkelsten Winkel der russischen Seele zu erkunden. Man braucht sich nur die Chronik der Polizeigewalt anzusehen, die Folter auf den Polizeirevieren und in den Strafkolonien, die Verbrechen der Armee, um zu verstehen, dass die Ereignisse in Butscha, Irpin und in den ganzen anderen von den Russen okkupierten Städten und Dörfern weder Exzess noch Pathologie sind. Sie sind vielmehr ein Teil der Norm, Routinepraktiken der russischen Gewaltapparate.
Die Journalisten von Projekt haben die Vorgeschichte der russischen Einheiten aufgedeckt, die in Butscha stationiert waren – der Name dieses Dorfes bei Kyjiw wird ab jetzt sprechend sein, wie Katyn oder Samaschki.
Und wie sich zeigt, handelt es sich um Einheiten, die auch in Friedenszeiten für ihre Brutalität bekannt waren. So ist zum Beispiel die 64. motorisierte Schützenbrigade der 35. Armee aus Chabarowsk daheim berühmt-berüchtigt. Ihren Rufnamen Mletschnik benutzt man sogar, um Kindern einen Schrecken einzujagen. Immer wieder kommt es dort zu Selbstmorden, Wehrdienstleistende und Vertragssoldaten fliehen aus der Einheit; allein im Februar 2014 gab es in der Truppeneinheit 51460, die in Knjas-Wolkonskoje stationiert ist, sieben Todesfälle innerhalb von drei Wochen. Es ist bezeichnend, dass Wladimir Putin gerade dieser Einheit nach dem Abzug aus dem Gebiet um Kyjiw den Ehrentitel einer Gardeeinheit verliehen hat – als würde er sie für die Kriegsverbrechen auszeichnen, die sie begangen hat.
Einheiten, die auch in Friedenszeiten für ihre Brutalität bekannt waren
Eine ähnliche Spur zieht die 127. motorisierte Schützendivision der 5. Armee hinter sich her, ebenfalls im Fernen Osten stationiert: Sie taucht regelmäßig in den Verbrechensberichten auf, und in ihrem Umkreis findet man Leichen von Soldaten ohne Kopf.
In Butscha waren nicht irgendwelche Fanatiker am Werk (es gab Gerüchte über Spezialeinheiten der Rosgwardija und von tschetschenischen Truppen – wobei offenbar auch die an den brutalen Massakern beteiligt waren), sondern reguläre Einheiten der russischen Armee, die allen Reformen von Anatoli Serdjukow und großangelegten Imagekampagnen zum Trotz nach wie vor auf Brutalität als einzigem Mittel der Führung setzt.
Kriegsverbrechen blieben ungestraft
Jeffrey Hawn von der London School of Economics and Political Science hat die gewalttätigen Praktiken der russischen Armee erforscht. Er kommt zu dem Schluss, dass die Kriegsverbrechen der russischen Armee im 21. Jahrhundert – von Tschetschenien und Georgien über Syrien und den Donbass bis hin zum Beginn der aktuellen Phase des Kriegs – ungestraft geblieben sind. Die russischen Streitkräfte haben im Unterschied zu den westlichen Armeen keine institutionelle Kultur entwickelt, die die Verluste unter der Zivilbevölkerung minimieren würde: In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt.
„Die heutigen Gräueltaten der russischen Armee resultieren aus der latenten Unfähigkeit, das Erbe ihres sowjetischen Vorgängers zu überwinden“, sagt Hawn. „Letalität und Sieg um jeden Preis bleiben die obersten Prioritäten der russischen Armee.“
In der russischen Armee existieren keinerlei Schutzmechanismen gegen ungerechtfertigte, willkürliche Gewalt
Das Gleiche gilt auch für die anderen Institutionen des russischen Machtapparats: die Polizei, die OMON-Einheiten an die Front schickt, die Russische Garde, das Strafvollzugssystem. In den vergangenen Jahren sind dank der Verbreitung von mobilen Endgeräten in den Strafvollzugsanstalten und dem Zugang zu sozialen Netzwerken Terabytes von schockierenden Beweisen für Folter, Missbrauch und Vergewaltigungen an die Öffentlichkeit gedrungen, die seit Jahrzehnten zur gängigen Praxis in den russischen Gefängnissen gehören und zur Norm im Umgang der Verwaltung mit den Häftlingen und der Häftlinge untereinander geworden sind.
Die russische Gefängniswillkür ist über die Grenzen des Landes gedrungen
In der Ukraine kämpfen heute Soldaten, die aus den depressivsten und kriminellsten russischen Regionen kommen, wo die Gefängnissubkultur die männliche Bevölkerung maßgeblich prägt: Die meisten Männer haben entweder selbst gesessen oder haben enge Freunde und Verwandte, die gesessen haben, die Jugendlichen dort sind in die Netzwerke der AUE involviert – und jetzt ist diese Ordnung mit ihren „Sitten“ und Praktiken der extremen physischen und sexualisierten Gewalt auf die okkupierten Gebiete der Ukraine übergeschwappt: Die russische Gefängniswillkür ist über die Mauern der Lager und über die Grenzen des Landes gedrungen.
Dabei beschränkt sich die Gewalt nicht auf staatliche Institutionen, sie herrscht auch in den Familien, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Jüngeren und Älteren, Vorgesetzten und Untergebenen. Sie dringt aus den abgefangenen Telefongesprächen zwischen russischen Soldaten und ihren Kommandeuren, in denen Mat, Drohungen und Demütigungen grassieren. Aus den Telefonaten und Chatnachrichten der Soldaten mit ihren Familien, in denen sich rührselige Sentimentalität mit Grausamkeit und Zynismus vermischt, in denen Ehefrauen ihren Männern sagen, was sie in den Häusern der Ukrainer essen und welche Schuhgröße sie mitnehmen sollen, und andere sie ermahnen: „Beim Vergewaltigen der ukrainischen Weiber nimm ein Kondom.“
Diese Gewalt ist der russischen Gesellschaft in Fleisch und Blut übergegangen, sie ist zum Erkennungscode für das Sozium geworden, das auf Hierarchie und Unterwerfung gründet, auf dem Wegnehmen und Aufteilen von Ressourcen, in dem die rohe Gewalt über der Moral steht und die Macht über dem Gesetz. Diese Ordnung wird abgesegnet durch das Verhalten der regierenden Schicht, die das einfache Volk mit ihren Blaulicht-Limousinen zu Tode fährt, die immer ungestraft davonkommt; sie wird abgesegnet durch die Reden von Präsident Putin, der lehrt, dass man „die Schwachen haut“ und man „als Erster zuschlagen muss“, und dafür tosenden Applaus erntet.
Staatlich sanktionierte und ideologisch begründete Gewalt
Normalerweise ist diese Gewalt, die die soziale und politische Ordnung im Land aufrechterhält und legitimiert, für den inneren Gebrauch reserviert, aber jetzt ist sie zum ersten Mal – mit einer zweihunderttausendköpfigen Invasionsarmee – massenhaft über die russischen Grenzen geschwappt, staatlich sanktioniert und ideologisch begründet. Putins Äußerungen zu den „Nazis und Drogenabhängigen“, die er aus den Propagandafakes aufgeschnappt hat (die ihm offensichtlich als Hauptinformationsquelle über die Lage in der Welt außerhalb seines Bunkers dienen), nehmen die Besatzer wörtlich und fragen die überraschten Ukrainer, in deren Häuser sie einbrechen: „Wo sind denn hier die Nazis?“.
Wenn wir versuchen zu verstehen, was hinter der Bestialität der russischen Besatzer in der Ukraine steckt, sehen wir, dass das Problem nicht einzelne Sadisten und Marodeure sind, sondern das russische System selbst.
Um bei der Militärmetapher zu bleiben: Russland ist genäht wie ein Soldatenmantel. Nicht wie der von Akaki Akakijewitsch, aus dem die ganze russische Literatur hervorgegangen ist, sondern wie die Uniform eines einfachen Soldaten, eines der grundlegenden Archetypen einer ewig kämpfenden Nation. Der Mantel hat eine Außen- und eine Innenseite. Auf der Außenseite – rau, grob und durchgescheuert von den Jahrhunderten – ist das Land, das Imperium, die Weite, der Krieg, die Panzer und Flugzeuge, die Atombombe, das All, die Kultur, Moskau und Petersburg, Kirchen und Schlösser. Auf der Innenseite, für die Außenwelt unsichtbar, aber eng am Körper anliegend, sind Sklaverei, Pöbel, Kriminalität, Lüge, Tyrannei und die unentrinnbare Grausamkeit des russischen Lebens.
Wir haben uns daran gewöhnt und tragen sie, uns ständig juckend und kratzend; vereinzelte Patrioten sind sogar der Ansicht, dass das der Preis für unsere Größe sei und sind heimlich stolz auf diese Ordnung des russischen Lebens: Unser Garten mag nicht gejätet sein, und unsere Notdurft verrichten wir im Freien, aber dafür haben wir das Ballett, die Literatur, eine rätselhafte Seele und ein riesiges Imperium.
Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist
Aber jetzt ist etwas durcheinandergeraten: Russland hat sich „entblößt“, den Soldatenmantel umgekrempelt und seine ganze innere Schäbigkeit in Form der „Invasionsarmee“ enthüllt. Es hat der ganzen Welt die sinnlose russische Wut, die finstere Barbarei, seine Verbrechermentalität, Grausamkeit, Gewalt und die Verachtung gegenüber der menschlichen Würde und dem menschlichen Leben präsentiert, sowohl dem der Ukrainer als auch dem der eigenen Soldaten.
All die nationalen Merkmale, mit denen wir gelernt haben zu leben, sind plötzlich sichtbar geworden: Die ungeflickten Löcher, die Schwachstellen, schiefen Nähte, der halbverrottete Stoff des russischen Soldatenmantels sind ans Tageslicht getreten, und das ist nicht mehr eine Katastrophe für die Reputation, sondern für die Zivilisation. Sie zerstört die Macht der Inszenierung, auf der Russland die letzten paar Jahrhunderte gegründet war: Die äußere Form des Landes, die sich in diesem obszönen Krieg offenbart hat, entspricht nun seinem Inhalt – Russland hat sich der Welt so präsentiert, wie es wirklich ist.
Man kann schockiert sein angesichts des abgrundtiefen Bösen, das sich in Butscha und Mariupol aufgetan hat, aber man sollte sich nicht darüber wundern: Ganz Russland ist unser Butscha.
Der „Tag des Sieges“ am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland. Seit einigen Jahren ist der inzwischen wichtigste Nationalfeiertag Russlands auch Gegenstand von Kritik: In der zunehmend monopolisierten Erinnerungskultur des Landes diene er, so der Tenor, immer weniger dem Gedenken, sondern vielmehr der Legitimation politischer Herrschaft. Andere Kritiker wie der orthodoxe Publizist Sergej Tschapnin bemerkten schon 2011, dass der 9. Mai Züge einer „Zivilreligion“ trage, die Feindbilder pflegt, Kriege glorifiziert und den Stalinismus rechtfertigt.
Der Begriff „Zivilreligion“ geht auf Jean-Jacques Rousseau zurück: Der Philosoph glaubte, dass Aufklärung zu Chaos führt und dass man eine säkulare Ersatzreligion schaffen müsse, um die politische Herrschaft und damit auch die politische Ordnung zu legitimieren.
Der 9. Mai gilt heute unter zahlreichen Wissenschaftlern als der zentrale Ankerpunkt der offiziellen russischen Geschichtspolitik: Der Kampf gegen den Faschismus will nicht nur dem politischen Regime Legitimität verleihen, sondern auch dem russischen Krieg gegen die Ukraine. Doch wie funktioniert eine solche Zivilreligion? Diese Frage stellt der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew im Vorfeld des 9. Mai auf Holod.
Ich habe mich bei einem seltsamen Gefühl ertappt: Seit ungefähr zehn Jahren habe ich Angst vor staatlichen Feiertagen und sonstigen offiziellen Daten, weil ich weiß, dass die Staatsmacht diese zeitlich gerne mit gründlichen Säuberungen verbindet.
Nun warte ich voller Angst auf den 9. Mai, an dem Putin womöglich eine Parade zum Sieg über den imaginären Nazismus veranstalten will, wohl gar mit einer Vorführung gefangener Banderowzy auf dem Roten Platz – sie haben ja bereits im August 2014 in Donezk ukrainische Kriegsgefangene vorgeführt. Hinter ihnen schrubbte eine Straßenreinigungsmaschine ihre Spuren weg, genau wie 1944 in Moskau. Heute blickt die ganze Welt voller Angst auf den 9. Mai, weil alle wissen, dass Putin seinem blutrünstigen Publikum einen „Sieg“ vorweisen muss, und wenn es im Feuerschein einer Atomexplosion ist.
Der „Feiertag mit Tränen in den Augen“ ist nun eine militärisch-patriotische Show geworden
Der Tag des Sieges hat in Putins Russland eine schwindelerregende Entwicklung erlebt. Aus dem „Feiertag mit Tränen in den Augen“, der er Anfang des Jahrhunderts noch war, wurde eine militärisch-patriotische Show – eine gigantische symbolische Maschine, der das Land unterworfen wurde.
Im Grunde hat Putins Staat im 9. Mai seinen wichtigsten Bezugspunkt gefunden, seine Gründungsgeschichte. Die beginnt weder 1917, noch 1991 noch 1999 (obwohl, wieso erklärt man eigentlich nicht die Sprengung von Wohnhäusern im September 1999 zum Anfangspunkt?), sondern 1945 in Jalta und Potsdam, als Stalin mit einem Bleistift in der Hand über der Weltkarte stand. Putin fühlt sich wahrscheinlich am ehesten wie der Generalissimus auf dem Bild von Fjodor Reschetnikow – obwohl er in Wirklichkeit eher dem großen Diktator aus dem gleichnamigen Film von Charlie Chaplin in der berühmten Szene gleicht, in der dieser in seinem Größenwahn den Globus aus dem Ständer nimmt und ihn auf dem Finger wirbelt.
Der 9. Mai wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf
Ab Mitte der 2000er Jahre begann der 9. Mai, sich auf die gesamte historische Zeit auszudehnen, wurde gleichzeitig Gedenkkult und Zukunftsentwurf. Nicht zufällig tauchten damals an den Autos die ersten Sticker mit dem großkotzigen Spruch „Wir können das wiederholen“ auf, mit geschmacklosen Bildern, wie Hammer und Sichel ein Hakenkreuz vergewaltigen. (Muss man erwähnen, was in Butscha und Irpin aus diesem Vergewaltigungskult geworden ist?)
Der Tag des Sieges wurde zur Linse, durch die Russland auf die Welt blickt und ihr seine Gekränktheit, Komplexe, Wünsche, Aggressionen und Ressentiments präsentiert. Der Feiertag ist zu einer konstanten Liturgie geworden, zu einem ekstatischen und mystischen Wiedererleben einer Vergangenheit, die den Menschen die nicht sehr beglückende Gegenwart ersetzt hat.
Die Siegeskathedrale in Kubinka: finster, bedrohlich, auf freiem Feld inmitten eines beängstigend symmetrischen Rasens
In den letzten zwanzig Jahren hat der Tag des Sieges alle Züge eines religiösen Kults angenommen. Im Zentrum dieses symbolischen Universums erhebt sich die monströse Siegeskathedrale in Kubinka, die aussieht, als wäre sie von der Filmkulisse aus Star Wars abgemalt oder einem Gothic-Comic entnommen. Da steht sie finster, bedrohlich, auf freiem Feld mitten auf einem beängstigend symmetrischen Rasen, durchdrungen von Zahlenmagie wie ein Freimaurersaal: Durchmesser des Sockels der Hauptkuppel – 19,45 m, größter Durchmesser der Hauptkuppel – 22,43 m (um 22:43 Uhr am 8. Mai wurde Deutschlands Kapitulation unterzeichnet), die Mosaike im Inneren nehmen eine Fläche von 2644 m² ein, was der Anzahl der Träger des Ruhmesordens I. Klasse entspricht, et cetera. Die Metallstufen sind aus erbeuteten deutschen Waffen aus dem Museum der Streitkräfte gegossen, und eine der „Reliquien“ in der Kathedrale ist Hitlers Schirmmütze: In ihrem Feuereifer, den Sieg über den Faschismus darzustellen, verfällt diese militaristische Version der Orthodoxie in Pathos, Komik und Kitsch.
Das Unsterbliche Regiment ist zu einer bürokratischen Demonstration des staatlichen Patriotismus pervertiert
Zu Ehren des Siegeskults finden Prozessionen des Unsterblichen Regiments statt, die an Kreuzzüge erinnern. Ursprünglich eine zivilgesellschaftliche Grassroots-Initiative von Mitarbeitern des Tomsker Fernsehsenders TV2, hat sich bald die Propaganda dieses Ritual angeeignet, hat es verzerrt und zu einer bürokratischen Demonstration des staatlich verwalteten Patriotismus pervertiert, bei der Staatsbedienstete angewiesen werden, mit Fertig-Porträts unbekannter Helden aufzumarschieren. Vereinzelte Privatpersonen mit Porträts ihrer Vorfahren gehen unter in den Lügen und Performances unverhohlener Freaks: Stalinisten tragen Bilder ihres Götzen, und bei einer solchen Prozession marschierte Natalja Poklonskaja mit einer Ikone von Nikolaus II.
Tatsächlich nehmen die Heldenporträts Züge von Ikonen an. Vor ein paar Jahren kursierte im Netz ein Propaganda-Trickfilm, den eine Anti-Abtreibungsbewegung in Auftrag gegeben hatte: Eine junge Frau teilt ihrem Freund am Telefon mit, dass sie schwanger sei, woraufhin er sagt, sie solle abtreiben. Die Frau denkt nach, und da beginnt, ganz im Stil einer „sprechenden Ikone“, eine Kriegskrankenschwester aus dem Unsterblichen Regiment aus dem Porträt an der Wand zu ihr zu sprechen: „Treib nicht ab, du bekommst einen Sohn, einen Soldaten!“ Danach verschwindet, durchaus typisch, der Mann aus der Handlung, die Frau wird alleinerziehende Mutter und geht Jahre später mit ihrem Sohn zur Siegesparade.
Beim Heldenmythos des Siegs sind historische Fakten unwichtig
Der Heldenmythos des Siegs muss nicht einmal der Realität entsprechen – er ist Gegenstand eines blinden Glaubens, seine Funktion ist es zu überzeugen. Allgemein bekannt ist der Fall gewisser sowjetischen Märtyrer: der 28 Panfilow-Helden. Die Garde-Infanteristen sollen bei Dubosekowo vor Moskau eine Division deutscher Panzer aufgehalten haben. Die Charkower Militärprokuratur fand jedoch im November 1947 heraus, dass sich einer der „gefallenen“ Helden im Frühling 1942 in Kriegsgefangenschaft ergeben und den Deutschen gedient hatte. Woraufhin Ermittlungen ergaben, dass die ganze Geschichte erfunden worden war von einem Korrespondenten des Krasnaja Swesda (dt. Roter Stern) namens Alexander Kriwizki auf der Grundlage tatsächlicher Kämpfe in dieser Region. Trotz allem entwickelte die Legende eine eigene Logik, hielt Einzug in den sowjetischen Patriotismus-Kanon, und als der Direktor des staatlichen Archivs, Sergej Mironenko, 2015 von dieser Fälschung erzählte, wurde er sofort der Russophobie bezichtigt, der damalige Kulturminister Wladimir Medinski erklärte, ein Mythos, der Generationen von Sowjetbürgern inspiriere, sei wichtiger als historische Fakten, und Mironenko war seinen Posten bald los.
Der Kult erfasst die Massen und wird mit siegeswahnsinnigen Ritualen ausstaffiert – geschmückte Autos und Schaufenster, historische Reenactments, Cosplays aus Kriegszeiten und Travestien, Kinder in Militäruniformen, Buggies und Kinderbetten in Panzer-Design. Völlig offensichtlich kommt Kindern hier eine besondere Rolle zu, um Opfer zu legitimieren und Gewalt und Tod durch eine höhere Moral abzusegnen.
Frühlingsriten nach einem langen Winter
Gleichzeitig wird so der Siegeskult in die Frühlingsriten eingeschrieben, bei dem junges Grün auf toter, verbrannter Erde wächst. Hier kann man von der Biopolitik des Sieges sprechen, von der Herstellung neuer Menschenmasse: Die Kinder sind die „neuen Soldaten, die die Weiber gebären“, um den apokryphen Satz zu zitieren, der Georgi Shukow zugeschrieben wird. Es ist ja kein Zufall, dass das vor der Abtreibung gerettete Kind in dem Pro-Life-Video zur Siegesparade geht und auf einem Werbeplakat der Bewegung Für das Leben ein Embryo aus dem Mutterleib appelliert: „Schütze du mich heute, dann schütze ich dich morgen!“ An anderer Stelle sieht man ihn als Fünfjährigen mit Helm und Maschinengewehr.
Siegeskult als vollwertige Staatsideologie
Der Sieg ist zu einem sakralen Objekt geworden, zu einem Raum, in dem es unmöglich ist, die Sowjetunion, das „Siegervolk“, Stalin und Shukow zu kritisieren, in dem das Recht des Stärkeren gesegnet ist und sich ein isolationistisches Bewusstsein à la „Wir allein gegen den Rest der Welt“ herausgebildet hat. Der Siegeskult ist eine vollwertige Staatsideologie geworden, die theoretisch laut Artikel 13 der Verfassung der Russischen Föderation verboten wäre – aber wen kümmert in Russland heute schon die Verfassung?
Russland ist dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen
Im Namen des Sieges werden auch Gesetze beschlossen, die das historische Gedächtnis reglementieren, und es kommt zu Repressionen: Alexej Nawalny stand 2021 in einer fingierten Anklage wegen „Beleidigung eines Veteranen“ vor Gericht.
Und jetzt hat Russland im Namen des Sieges auch noch einen aggressiven Eroberungskrieg begonnen.
Der Bannspruch der Nachkriegsgenerationen hieß: Bloß keinen Krieg. Jetzt heißt es: Wir können das wiederholen
Das ist der wichtigste und schrecklichste Output der militaristischen 9.-Mai-Religion: Anstelle einer Würdigung des Sieges, eines Festakts zum Kriegsende, anstelle einer Feier des Friedens ist Russland dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen. Der Sieg wurde ersetzt durch eine permanente Schlacht. Anstelle eines Aufatmens – nie wieder, never again, нiколи знову –, anstelle des Bannspruchs Bloß keinen Krieg, den die Nachkriegsgenerationen beschworen, hat Russland die revanchistische Losung Wir können das wiederholen geprägt, die es wie eine Beschwörung wiederholt. Aus der Idee des Friedens wurde ein blutrünstiger Kriegskult, der Menschenleben kostet.
Genau das ist am 24. Februar 2022 passiert: Unter dem Deckmantel der „Entnazifizierung“ der Ukraine, abgeschrieben aus Geschichtsbüchern und von Propagandaklischees, hat Russland in Europa den größten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg entfacht. Man wollte 1945 wiederholen, doch Russland hat in dieser blutigen Geschichtsrekonstruktion seine Rolle falsch eingeschätzt: Die Ironie des Schicksals will, dass es nicht die sowjetischen Befreier spielt, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer.
Russland spielt nicht die sowjetischen Befreier, sondern die deutsch-faschistischen Eroberer
Die Geschichte hat einen weiten Kreis gezogen und ihn geschlossen. Die Schlange beißt sich in den eigenen Schwanz, die Sieger über die Nazis wurden selbst zu ihrem jämmerlichen Abbild. Die tatsächlichen Erben von 1945 sind heute die Ukrainer, die tapfer ihre Heimat verteidigen, und nicht die russischen Besatzer, die in ein fremdes Land gekommen sind, um zu vergewaltigen, zu rauben und zu brandschatzen.
Wer das Gedenken des großen Siegs ehrt, der kann nicht anders, als Russland in diesem sträflichen, schändlichen, sinnlosen Krieg eine Niederlage zu wünschen.