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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Ein Nato-Beitritt wäre mein Traum“

    „Ein Nato-Beitritt wäre mein Traum“

    Der Omsker Unternehmer Viktor Schkurenko ist einer der reichsten Menschen in Sibirien. Als jemand, der sich offen gegen den Krieg ausspricht, lebt und arbeitet er nach wie vor in Russland. Einige glauben, dass der FSB ihn schützt, andere – seine Steuermilliarden. Sogar Wladimir Solowjow hat bereits gefordert, Schkurenko hinter Gitter zu bringen, aber der Geschäftsmann selbst glaubt an die Gesetze und ist der Meinung, dass er für seine Ansichten nicht belangt werden kann. Jewa Belizkaja und Olessja Gerassimenko erzählen für Holod die Geschichte eines Milliardärs aus Omsk, der vom NATO-Beitritt Russlands träumt. 

    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media
    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media

    Im August 2022 klopfte ein Polizist an die Tür des Omsker Milliardärs Viktor Schkurenko. Der Grund für seinen Besuch war eine anonyme Anzeige – jemandem passte nicht, dass Schkurenko Iwan Urgant zu einer Betriebsfeier eingeladen hatte. Der TV-Moderator hatte sich gleich am ersten Tag der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine offen gegen die russische Invasion ausgesprochen. Er postete ein schwarzes Quadrat mit der Bildunterschrift „Angst und Schmerz“ in den sozialen Netzwerken. Daraufhin setzte der Erste Kanal seine Show Wetscherny Urgant ab. 

    „Sie wollten mir ein Strafverfahren anhängen“, erzählt Schkurenko, ohne konkret zu sagen, wen er mit „sie“ meint. „Aber die Polizei konnte keinen Tatbestand finden.“ Der Omsker Unternehmer erklärte kurz die Sachlage, woraufhin der Polizist mit den Worten „So ein Blödsinn“ wieder abgezogen sei. 

    Schkurenko hatte keine Angst vor dem Beamten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit den Behörden zu tun hatte. 1997 saß er sogar einmal auf der Anklagebank, wegen Steuerhinterziehung. Bei der Urteilsverkündung 2000 ermahnte der Richter, der Schkurenkos Großvater hätte sein können, den damals 28-Jährigen mit erhobenem Zeigefinger, so etwas bloß nicht noch einmal zu tun, und verurteilte ihn zu einer einjährigen Bewährungsstrafe. Seitdem seien die Gesetze der Russischen Föderation und das Strafgesetzbuch seine „Bibel“, sagt der Geschäftsmann. 

    Im April 2024 feierte der Milliardär seinen 52-jährigen Geburtstag. In den vergangenen zehn Jahren ist er regelmäßig unter den Top-10 der reichsten Einwohner von Omsk. Seine diversen Firmen erwirtschaften einen Umsatz von insgesamt 70 Milliarden Rubel [etwa 675 Millionen Euro – dek], die Hälfte davon außerhalb der Region Omsk. „Meine Persönlichkeit besteht zu 90 Prozent aus dem Geld, das ich verdiene“, sagt Schkurenko von sich selbst, „meine politische Einstellung ist nichts weiter als ein Hobby.“ 

    Das „Hobby“ gefällt nicht jedem: Schkurenko sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff – auch außerhalb seiner Geschäftstätigkeit. Mal lädt er Drag Queens zu Betriebsfeiern ein, mal unterstützt er öffentlich Iwan Urgant, mal bringt er den Soziologen Grigori Judin nach Omsk oder den Regisseur Andrej Smirnow, um dessen jüngsten Film Sa nas s wami (dt. Auf uns und euch) einem breiten Publikum zu präsentieren. Der Streifen, der die stalinistischen Repressionen thematisiert, schaffte es nicht in die russischen Kinos. 

    In den 30 Jahren seiner Karriere hat Schkurenko nach eigenen Angaben 280 Geschäfte in Russland und Kasachstan eröffnet, von Hypermärkten bis zu Discountern (u. a. Niskozen, Pobeda, Eurospar). Der Unternehmer besitzt rund 200.000 Quadratmeter an Immobilien, die er verpachtet. Er kauft, übernimmt und investiert aktiv. Er treibt Sport in seinem eigenen Fitnesscenter, kauft Lebensmittel in seinen eigenen Supermärkten, trinkt seinen Kaffee in den Skuratow-Cafés, in die er rund 26 Millionen Rubel investierte, und nach seinem Ableben kann er auf die Dienste eines Krematoriums zählen, das er selbst erbaut hat. 

    Im Januar 2024 eröffnete Schkurenko eine Filiale seiner Handelskette in Moskau und erwarb eine Lizenz für die Einfuhr von Alkohol. Er plant, zum wichtigsten Importeur in ganz Russland zu werden. Er beschäftigt rund 7.000 Arbeitnehmer und zahlt über eine Milliarde Rubel Steuern in den Haushalt der Region Omsk. In dem Ausdruck „zu mutig“, mit dem die Gesprächspartner von Holod Schkurenko gerne beschreiben, schwingen unterschiedliche Emotionen mit: mal Verachtung, mal Bewunderung. 

    „Was hat das denn mit Mut zu tun? Was sage oder tue ich schon groß?“, ereifert sich Schkurenko ist im Gespräch mit Holod. „Umfragen zufolge unterstützen 20 Prozent der Bevölkerung die Spezialoperation nicht. Ich bin eben einer davon. Na und? Das ist meine Meinung, ja! Ich verstoße nicht gegen das Gesetz. Ich halte keine Versammlungen oder Kundgebungen ab. Ich finanziere niemanden, der verboten ist. Ich arbeite kaum mit dem Staat zusammen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, aber ich habe ein soziales Gewissen, das es mir nicht erlaubt, die Füße still zu halten.“ 

    „Wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Bis 2003 war Schkurenko vollkommen loyal gegenüber der Staatsmacht. Als Schüler hatte er Gorbatschow verehrt, als Student unterstütze er Jelzin, und als Unternehmer den frühen Putin, dem er 2000 seine Stimme gab: „Es war doch der reinste amerikanische Traum, besser konnte man es sich nicht ausmalen. Das Bruttosozialprodukt verdoppeln? Wunderbar, was will man mehr? Wie konnte man Putin nicht lieben für diese Idee?“ 

    Die Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003 verursachte die ersten Erschütterungen in Schkurenkos Ansichten. Seine Einstellung zum herrschenden Regime veränderte sich nicht über Nacht, aber damals wurde ihm bewusst, dass „etwas falsch lief“. Doch die ungute Vorahnung wurde von den nächsten Wahlen zerstreut. 

    2008 stimmte Schkurenko für Dimitri Medwedew, den er an allen Fronten unterstütze: „Die vier Jahre Medwedew waren eine glückliche Zeit in meinem Leben. Seine Beziehungen zu Obama, was er mit der Wirtschaft gemacht hat – das war ein Wunder! Wie er die Unternehmer vor den Silowiki verteidigte! ‚Freiheit ist besser als Unfreiheit‘ – wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Vor lauter Begeisterung für Medwedew richtete Schkurenko sich sogar einen Instagram-Account ein. 2012 hatte er in einer Kolumne von Andrej Kolessnikow im Kommersant gelesen, dass der russische Präsident sich als einer der ersten bei dem „bourgeoisen Netzwerk“ angemeldet hätte. „Sein Gespür für die neusten digitalen Technologien war einwandfrei, ich vertraute ihm ganz aufrichtig“, sagt Schkurenko. Er lud sofort die App herunter, lief aus dem Hinterzimmer seines Supermarkts, knipste die Verkaufsregale und postete spontan sein erstes Foto. 

    Nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine wechselte Dimitri Medwedew, nun stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates, zu militaristischer Rhetorik und wurde zu einem der wichtigsten Wortführer der „Kriegspartei“. „Der einstige Bewunderer von Steve Jobs hat sich in einen Anti-NATO-Fabulisten verwandelt. Er hat seine Wahl getroffen. Aber meine Ansichten waren schon immer liberal und sind es geblieben“, sagt Schkurenko. 

    Seine Meinung gegenüber Medwedew hat der Milliardär geändert, aber Instagram blieb er treu. Es ist bis heute das einzige soziale Netzwerk, das Schkurenko nutzt. Jetzt, 12 Jahre später, hat er rund 7.400 Follower. Genauso vielen Menschen gibt er heute Arbeit. 

    Kein Aktivist 

    Als 2011 verkündet wurde, dass Medwedew den Präsidentenposten räumt und Putin wieder das Ruder übernimmt, war Schkurenko endgültig desillusioniert: „Mir ging es schlecht, ich war dagegen.“ Es ärgerte ihn, dass die Staatsmacht gegen das Gesetz verstoßen hatte. 

    Putin wählte der Milliardär nie wieder. 2012 gab er seine Stimme Michail Prochorow, 2018 Xenia Sobtschak. Er wurde sogar ihr Vertrauensmann für die Oblast Omsk. Denjenigen, die ihm Kurzsichtigkeit vorwarfen, erklärte er, dass Sobtschak, Prochorow und Nawalny für ihn ein und dasselbe wären: Leute, die öffentlich für liberale Werte eintraten, und es wäre ihm egal, ob sie Politiker, Clowns oder Protegés des Kreml seien. Putin betrachtete er als jemanden, der sich schon zu lange an seinen Sessel klammerte. „Also habe ich gegen ihn gestimmt“, sagt Schkurenko. 2024 setzte er sein Häkchen hinter Wladislaw Dawankow. 

    Schkurenko sagt, er sei wütend gewesen, als die Krim an Russland angegliedert wurde; die Wirtschaft stagnierte, die Realeinkommen begannen zu sinken. Er war traurig, als Boris Nemzow ermordet wurde. Er war glücklich, als Chodorkowski freikam und Swetlana Alexijewitsch den Nobelpreis für Literatur erhielt. 2020 war er so empört darüber, dass Medwedew samt der ganzen Regierung zurücktrat, dass er 15.000 Rubel [zum damaligen Kurs etwa 170 Euro – dek] an den TV-Sender Dozhd spendete, der darüber berichtete. Dann hörte er, dass Michail Mischustin zum neuen Premierminister ernannt wurde, und beruhigte sich wieder. Er bereute sogar, dass er so impulsiv mit seinem Geld um sich geworfen hatte. 

    Als Alexej Nawalny mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, checkte Schkurenko auf einer Geschäftsreise nach Tomsk im Hotel Xander ein, in dem auch Nawalny im August 2020 übernachtet hatte. Schkurenko verfolgte das Schicksal Nawalnys, machte sich Sorgen um ihn und „wollte, dass er am Leben bleibt“. Und obwohl der gebürtige Omsker der Meinung war, dass ein politisches Programm nicht auf dem Kampf gegen Korruption gründen könne und eine Führungspersönlichkeit innerhalb der Nomenklatura heranwachsen sollte – wie im Falll von Gorbatschow –, bewunderte er Nawalny für seinen Mut und sein entschlossenes Handeln: „Als Politiker hat er das Richtige getan, als er nach Russland zurückkehrte. Das war mutig, ehrlich, einfach gut!“ 

    Als Nawalny nach seiner Genesung im Januar 2021 erneut verhaftet wurde, verfolgte der Unternehmer die vierstündige Live-Sendung auf Dozhd. Mehr allerdings auch nicht. 

    „Ich bin kein Aktivist, kein Politiker. Ich kann keine Revolution machen. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand anders sie machen kann. Ich bin nicht für eine Revolution unter Nawalny, sondern für bürgerliche Freiheit, für eine sanfte Revolution! Für einen Machtwechsel, für die Bildung, für liberale Werte.“ 

    Der Unternehmer ist noch nie mit einem Plakat auf die Straße gegangen oder hat an Kundgebungen teilgenommen. Die einzige Massenveranstaltung, an der er in den letzten Jahren teilgenommen hat, war Gorbatschows Beerdigung. Weil er den Tod des ersten Präsidenten der UdSSR als eine „persönliche Tragödie“ empfunden habe, sei er extra nach Moskau geflogen. 

    Er habe nicht die Macht, die Situation im Land zu verändern, sagt Schkurenko. „Für mich geht nichts über die Marktwirtschaft und die westlichen Demokratien. Aber wie soll ich darauf Einfluss nehmen?“, räsoniert er. „Wenn mein Land diese Richtung einschlägt, freue ich mich. Wenn es seinen eigenen, besonderen Weg sucht, bin ich unglücklich. Als Unternehmer kann ich mein eigenes Glück schmieden, aber da sind noch 140 Millionen andere Menschen im Spiel. In dieser Hinsicht hege ich keine Illusionen. Es hat keinen Sinn, sich vor die Schießscharte zu werfen. Ich werde wütend sein, unglücklich, aber ich will keine Revolution machen, sondern Geld!“ 

    Eine Filiale der Supermarktkette „Pobeda” in Omsk – eine von vielen Ketten im Handelsimperium des sibirischen Milliardärs Viktor Schkurenko / Foto © imago 

     

    Erst das Geschäft, dann die Familie 

    Geld macht Schkurenko seit Beginn der 1990er Jahre. Im ersten Jahr seines Studiums an der Wirtschaftsfakultät der Staatlichen Universität Omsk lernte der spätere Unternehmer seinen zukünftigen Geschäftspartner kennen – seinen Kommilitonen und Tischnachbarn Dimitri Schadrin. Sie stellten bald fest, dass sie beide auf The Doors und auf Genesis standen. Schkurenko lud Schadrin zu sich nach Hause ein, um bei Kaffee und Cognac Peter Gabriel zu hören. 

    In den nächsten fünf Jahren paukten sie zusammen für Prüfungen, trieben Sport, gingen mit Mädchen aus und spielten im Studententheater. Dann unternahmen sie gemeinsam ihre ersten geschäftlichen Schritte: 1992 reisten sie zum ersten Mal nach Moskau, deckten sich mit Champagner, Jeans, Zigaretten und Schnaps ein, füllten ein ganzes Zugabteil mit den Kisten und fuhren zurück, um alles zu verkaufen. 

    Innerhalb von drei Jahren schossen die Umsätze so in die Höhe, dass sie dazu übergingen, Schreibmaschinen und Damenstrumpfhosen mit Lastwagen und Militärflugzeugen zu transportieren: „Du gehst zum [Flughafen – dek] Schukowski, wartest auf einen Militärflug von Moskau nach Omsk, verhandelst mit den Piloten und fliegst los. So machte man das damals“, sagt Schkurenko. 

    Der Wendepunkt war das Jahr 1996, als nach der Privatisierung die Banken begannen, die Aktien von ehemaligen Staatsunternehmen und deren Mitarbeitern aufzukaufen. Nicht jeder wollte seine Zeit damit verschwenden, zur Bank zur laufen. Also fingen Schkurenko und Schadrin die Aktieninhaber vor den Werkstoren ab und tauschten die Wertpapiere gegen Bargeld. Auf diese Weise verdienten sie ihre ersten Dollar-Millionen. Nachdem sie ein solides Kapital zusammen hatten, konzentrierten sich die Partner auf Lebensmittel, gründeten eine Firma und eröffneten die erste Lebensmittelkette in Omsk. 2003 wurde das Unternehmen unter dem Namen Schkurenko Handelsgesellschaft registriert. 

    Seinen Erfolg misst Viktor Schkurenko am Umsatz seines Unternehmens. „Für mich ist das Geschäft wichtiger als die Familie“, sagt er. „Familie und Religion sind für normale Menschen, die keinen ausgeprägten Ehrgeiz haben. Meine Religion ist der Kapitalismus. Wachstum als Ausdruck des Erfolgs – bis ins Unendliche! Darin sehe ich den Sinn meines Lebens: nicht stehen zu bleiben. Wenn ich manchmal schlaflose Nächte habe, dann ist es wegen der Geschäfte.“ 

    Einmal verkrachten sich die jungen Geschäftspartner: Schadrin lernte ein Mädchen kennen, nahm Geld aus der Gemeinschaftskasse und kaufte damit eine Einzimmerwohnung. Es war ein Einzelfall, aber prägend – Schkurenko empfand das als Hochverrat. „Wir hatten Erfolg, weil wir uns nach diesem Vorfall gegenseitig in den persönlichen Ausgaben bremsten“, sagt er. 

    Schkurenkos persönliche Ausgaben liegen laut eigener Aussage bei etwa 100.000 Rubel [ca. 950 Euro – dek] im Monat. Wenn seine Familie nicht wäre, für die er etwa eine weitere Million [9.500 Euro – dek] ausgibt, würde er noch asketischer leben, sagt er. 

    Alle sechs Jahre tauscht er seinen Porsche Cayenne gegen einen neuen aus. An den Wochenenden mietet er eine Hütte im Wald und fährt alleine Langlaufski. In der Stadt bewohnt er eine 250-Quadratmeter-Wohnung, die noch nicht abbezahlt und ohne großen Luxus eingerichtet ist. Auf dem Sofa mummelt sich der Millionär in eine Ikea-Decke und liest Sorokin, Pelewin oder Flaubert. 

    Das einzige, wofür er abgesehen vom Geschäft bereit ist, Millionen auszugeben, ist das Reisen. Seine Frau erinnert sich gerne daran, wie sie 2018 in der Karibik am Strand neben Penelope Cruz und Javier Bardem gelegen haben. Ein Jahr später machte die Familie Urlaub auf den Seychellen – auf der teuersten Privatinsel der Welt, North Island. Die Insel bietet Platz für maximal 22 Besucher. Auf Booking.com liegen die Preise für eine Übernachtung in einer Villa auf North Island zwischen acht- und zehntausend Euro. 

    Eine EuroSpar-Filiale in Moskau. Für die Handelskette mit Sitz in den Niederlanden führt Schkurenko das Russland-Geschäft / Foto © Imago 

     

    „Das Land hat einen Fehler begangen“ 

    Drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, am 21. Februar 2022, postete Schkurenko ein Foto von einer Ziegelsteinmauer mit einer Antikriegslosung auf Instagram

    Zwei Jahre später kann man in Russland für solche Posts und Kommentare in den sozialen Medien eine Haftstrafe bekommen: bis zu 15 Jahre Straflager. Wie zum Beispiel der Renter Michail Simonow, der für seine Posts auf VKontake sieben Jahre wegen „Diskreditierung der Armee“ hinter Gitter sitzt. Doch Schkurenko glaubt weiterhin an das Gesetz und hat nicht vor, etwas zu löschen: „Das ist weder eine Diskreditierung der Armee noch eine öffentliche Antikriegsaktion. Das war noch vor Beginn der Spezialoperation. Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen. Sie müssen die Gesetze genau lesen! Sie werden nichts finden!“ 

    Als der Krieg ausbrach, war Schkurenko besorgt, aber er war gleichzeitig sicher, dass sein Business das überstehen würde. Und er sollte recht behalten. Nach dem Februar 2022 hat sich für ihn nichts verändert, nur „dass das Geld jetzt zwei Tage unterwegs ist anstatt fünf Minuten“. Auch seine persönliche Haltung ist gleich geblieben: „Ich bin Humanist. Ich halte das für einen Fehler, damals wie heute. Sowohl wirtschaftlich als auch menschlich. Das Wichtigste für ein Land ist das menschliche Kapital, nicht Territorium. Man hätte die Spezialoperation nie beginnen dürfen. Am 24. Februar 2022 hat unser Land meiner Meinung nach einen Fehler begangen!“ 

    Nicht alle seine Mitarbeiter teilen seinen Standpunkt. „Es gibt Leute, die das ganz anders sehen“, sagt der Unternehmer. „Mein Filialleiter hat sich zum Beispiel ein Z auf sein Auto geklebt. Er hat mich mit diesem Auto herumgefahren, beim Abendessen haben wir gestritten … Ich diskutiere auch jetzt noch manchmal mit dem einen oder anderen in der Kantine. Aber ich würde niemals auf die Idee kommen, deswegen jemandem zu kündigen oder sein Gehalt zu kürzen.“ 

    Mit seinem Geschäftspartner Dimitri Schadrin spricht er seit fünf Jahren nicht mehr über Politik. Auch der habe eine „andere Meinung zur Spezialoperation“. Schadrin, ehemaliger Abgeordneter im Stadtparlament von Omsk und in der gesetzgebenden Versammlung der Partei Einiges Russland, leitet heute die Vereinigung der unabhängigen Handelsketten in Russland (Sojus nesawissimych setej) und unterstützt das Vorgehen der Machthaber. 

    „Ob er mein Freund ist? Ich bin 52 Jahre alt, ich brauche keine Freunde!“, erklärt Schkurenko. „Er ist mein guter Bekannter und Geschäftspartner. Manchmal feiern wir unsere Geburtstage zusammen.“ 

    Schadrin selbst wollte sich nicht äußern und hat gebeten, nichts über ihn zu schreiben. 

    „Ich habe eine negative Einstellung zum Staat, aber ich lebe damit, dass meine Steuern in die Verteidigung fließen, denn in erster Linie bin ich Unternehmer“, sagt Schkurenko. „Das ist meine Selbstverwirklichung. Das ist mein erstes, zweites und zehntes Ich. Ich habe nicht vor, irgendwo hinzugehen, ich arbeite hier, ich lebe hier, ich liebe dieses Land. Wenn ich aufhören würde, Steuern zu zahlen, wäre ich kein Unternehmer mehr. Das wäre, als würde ich aufhören zu atmen.“ 

    Durch Staatsaufträge erwirtschaftet Schkurenko Hunderte von Millionen von Rubel, aber insgesamt machen sie kaum mehr als ein Prozent seines Gesamtumsatzes aus. Einem der Geschäftsführer der Handelskette zufolge sind das kleine Aufträge: Sie versorgen regionale und kommunale Krankenhäuser mit Butter, Milch und Quark. 2021 stattete Schkurenkos Firma die für 1.650 Personen ausgelegte Kantine des neuen Universitätsgebäudes mit Backöfen, Kühlschränken und Arbeitsplatten aus, erzählt uns Alexander Kostjukow, Jurist und Vizerektor für Bauwesen an der Staatlichen Universität Omsk. 

    „Wir sind in der Lebensmittelbranche tätig“, erklärt Schkurenko. „Der Staat schreibt die Aufträge aus, meine Mitarbeiter bewerben sich. Ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidungen. Sie können Waren an den Staat verkaufen oder nicht, ich sage bei den Besprechungen nicht: ‚Macht keine Geschäfte mit dem Staat‘. Wenn man mir diese Aufträge plötzlich entzieht, habe ich kein Problem damit. Ich habe nicht vor, ihre Zahl zu erhöhen und mich in diese Richtung zu entwickeln.“ 

     In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod
    In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod

    „Ich würde nie einem Obdachlosen 100 Rubel geben“ 

    Für Schkurenko steht, wie er selbst sagt, sein Unternehmen stets an oberster Stelle. Den Teamgeist seiner Mitarbeiter zu stärken, zahlt sich ebenfalls aus. Auf die weithin bekannten Betriebsfeiern seines Handelsunternehmens, die Schkurenko seit über 20 Jahren organisiert, will er auch angesichts der „Militärischen Spezialoperation“ nicht verzichten. In der Oblast Omsk nennt man sie „jährliche Orgien“, „verrückte Teekränzchen“, „Feste der absoluten Freiheit und Toleranz“. Tausende Mitarbeiter aus acht Regionen, in denen der Omsker aktiv ist, feiern mit, und das Budget für die Party beträgt 20 Millionen Rubel (etwa 186.000 Euro – dek). 2023 kamen die Feiern zum Tag der Stadt Omsk mit einer kleineren Summe aus: 18 Millionen Rubel.          

    Für Schkurenko kommt es gar nicht in Frage, dieses Geld an Arme, Flüchtlinge oder politische Häftlinge zu verteilen: „Wohltätigkeit ist für mich Totschka rosta (dt. Wachstumspunkt), ein Wettbewerb für Dorfschulkinder, die Unternehmer werden wollen. Den finanziere ich. Aber ein Obdachloser wird nie 100 Rubel von mir bekommen!“ 

    Schkurenko behauptet, noch nie auf der Straße Almosen gegeben zu haben. Bekannte von ihm erzählen allerdings, er habe anderer Leute Geldstrafen wegen Demonstrationen oder Äußerungen gegen den Krieg beglichen und an ein Hilfsprojekt für politische Gefangene gespendet. Sie räumen aber auch ein, dass das alles Peanuts für ihn sind. Schkurenko weicht diesem Thema aus.  

    „Ich helfe nur den Starken! Denen, die jung und begabt sind. Den Schwachen gebe ich nichts. Wieso sollte ich, wem bin ich das schuldig?! Ich zahle ja Steuern. Alles andere ist Aufgabe des Staates! Ich verdiene seit vielen Jahren jede Kopeke aus eigener Arbeit, und ich werde dem Staat die sozialen Probleme nicht aus der Hand nehmen. Ich hasse Paternalismus! Und für meine Mitarbeiter veranstalte ich tolle Partys.“  

    Kritische Stimmen, die anonym bleiben wollen, wissen wiederum nichts von seinem Engagement für politische Gefangene, erwähnen aber, dass er Abgeordnete und Beamte protegiert. 2017 etwa zahlte er die Konkursschulden von Alexej Sajapin, einem Abgeordneten der Partei Einiges Russland im Stadtrat von Omsk.  Und 2019 klagte er die Schulden von Wjatscheslaw Tarassow ein, der damals Verwaltungsleiter des Bezirks Tewris in der Oblast Omsk war.  

    Schkurenko sagt hingegen, er habe nie Omsker Beamte gesponsert, sondern nur Unternehmern unter die Arme gegriffen, die er persönlich kannte. Das macht er auch jetzt noch. „Es gibt viele, denen ich was leihe, ja“, sagt er. „[Dem Unternehmer Viktor] Skuratow hab ich 500 Millionen geliehen (etwa 4,6 Millionen Euro – dek), das wissen alle. Na und? Der zahlt mir irre Zinsen.“ Er erkläutert: ‚Irre’ ist immer mehr als das Deposit. Vor ein paar Jahren hat er zum Beispiel einen Kredit mit 18 Prozent Jahreszinsen vergeben.  

    „Wenn mich jetzt ein Gouverneur um einen Kredit für einen guten Zinssatz bitten würde, ich würde nicht nein sagen“, sagt Schkurenko, fügt aber hinzu, dass keine Beamten an ihn herantreten, sondern Geschäftsleute. „Tarassow hab ich Geld geliehen, weil er eine Molkerei besitzt. Nicht viel, drei Millionen Rubel (etwa 27.800 Euro – dek), außerdem ihm persönlich und nicht seiner Firma. Auf die Firma wollte er keinen Kredit aufnehmen. Anfangs zahlte er mir Zinsen, dann hörte er auf. Fünf Jahre hat er das Geld nicht zurückgezahlt. Als er Verwaltungsleiter wurde und wir immer noch nicht quitt waren, hab ich ihn verklagt. Hab sogar verloren, wenn ich mich recht erinnere, weil es verjährt war. Das Geld hab ich also nicht mehr gesehen. Dafür sitzt er jetzt im Gefängnis.“  (Der Politiker wurde im März 2022 wegen schweren Betrugs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt – dek).            

    Schkurenko sagt, für ihn sei auch Sajapin nur ein Unternehmer, mehr nicht. „Er ist kein Staatsbediensteter, er war Abgeordneter im Stadtrat, das ist er jetzt nicht mehr. Er ist absolut kein einflussreicher Mann, er hatte eine Firma, die mit Computertechnik handelt. Und dann war er bankrott, ja. Ich hab ihm tatsächlich geholfen, habe seinen Kredit abgelöst, er hat ihn dann von mir zurückgekauft. Warum ich das gemacht habe? Er hat sich an mich gewandt und um Hilfe gebeten. Ich kenne ihn gut, wir haben schon zusammen Wanderungen gemacht und Wodka getrunken. Wieso sollte ich ihm nicht helfen?“ 

    „Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“ 

    Bei den jährlichen Betriebsfeiern, wo auch schon mal eine Drag-Show, Ritterspiele und Crash-Tests mit Bürotechnik auf dem Programm standen, ist Schkurenko auch persönlich mit von der Partie. Er verbringt die Nacht mit seinen Angestellten, verweigert niemandem ein Selfie oder einen Trinkspruch. Mal kommt er, in einen schwarzen Umhang gehüllt, auf einem Rappen geritten, mal in einem rostigen, mit Graffiti vollgesprühten Shiguli angefahren. 2022 ließ er sich von vier Bodybuildern mit nackten, goldbemalten Oberkörpern auf einem Thron hereintragen. Auf der Bühne erwartete ihn bereits Iwan Urgant. 

    Eine Woche nach dieser Veranstaltung zog der Talkmaster Wladimir Solowjow gegen den Omsker vom Leder. Er nannte Urgant eine „Kackwurst im Eisloch“ und Schkurenko eine „Schande für Omsk und ganz Russland“. Einen Monat später kam Solowjow noch mal auf den Geschäftsmann zurück und zog ihn fünf Minuten lang live auf Sendung als „regionalen Schweinehund und Kotzbrocken“ durch den Dreck. „Noch dazu schnappt er sich den Namen Pobeda (dt. Sieg)“, sagte Solowjow, bezugnehmend auf eine von Schkurenkos Handelsketten. „Steht er schon vor Gericht? Ist seine Firma schon bankrott? Alle 2.500 Deppen (damit sind die Gäste der Betriebsfeier gemeint – Anm. Holod) wandern schnurstracks an die Front, wenn sie auch seiner Meinung sind. Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“                 

    Für die Unterstützung von Urgant wurde Schkurenko auch vom Regisseur Nikita Michalkow angegriffen. Und der Vorsitzende der Moskauer Abteilung des Verbraucherschutzvereins, Jewgeni Tschirwin, wetterte: „Ein Verräter unterstützt einen Verräter und ist auch noch stolz darauf, das ist unverzeihlich!“ Russlands Urteil über Schkurenko sei gefallen. Tschirwin rief die sibirische Bevölkerung zum Boykott seiner Läden auf, Schkurenko solle von ihnen keinen Rubel mehr kriegen.  

    Eine anonyme Anzeige, ein Besuch von der Polizei und 5.000 Rubel Strafe (etwa 46 Euro – dek) wegen Ruhestörung standen am Ende dieser Geschichte. Der Boykott kam nicht zustande. Der Gesamterlös der Holding wuchs innerhalb eines Jahres in Rubel um zehn Prozent, auch der Einzelhandel erzielte ein Plus, und der Gewinn der Café-Kette Skuratov Coffee, in die Schkurenko investiert, ist um 50 Prozent gestiegen.  

    „Ich habe kein Gesetz übertreten, und wenn ich jemandem auf den Schlips getreten bin, dann ist das nicht mein Problem“, kommentiert Schkurenko die Kritik. „Ich bin gegen Wolodin und alle Gesetze, die sie da der Reihe nach beschlossen haben, aber formell hab ich kein Gesetz gebrochen, insofern sind meine Handlungen nichts Außergewöhnliches. Ich will weder Gouverneur werden noch Bürgermeister oder Abgeordneter. Von mir geht keinerlei Bedrohung aus. Ich trete mit niemandem in Konkurrenz. Gut, vor 20 Jahren hab ich mal meine Steuern nicht gezahlt, aber jetzt zahle ich alles. Sogar in Russland braucht es einen formellen Grund für ein Strafverfahren. Und eine Geldstrafe kann ich ja berappen, wenn nötig.“                           

    Seine Unabhängigkeit, sagt eine Auskunftsperson (ein Oberstleutnant des FSB im Ruhestand Anm. Holod), komme Schkurenko bestimmt teuer zu stehen. „In den Anfangsjahren war ein FSB-Oberst Teilhaber an einer seiner Firmen“, sagt er. „Die Jungs [Schkurenko und Schadrin] hatten eine kryscha und keine nennenswerten Probleme. Das ist eine wichtige unternehmerische Kompetenz: der Zeit und den Möglichkeiten entsprechend für die eigene Sicherheit zu sorgen. Das haben alle gemacht. Schkurenko hat hundertprozentig auch heute noch eine kryscha. Da war zuerst der Oberst, dann noch ein zweiter, und jetzt ein Moskauer General.“ In der Wirtschaftsdatenbank Spark konnte Holod keine Hinweise auf einen eventuellen dritten Teilhaber finden.    

    Schkurenko sagt, seit Jelzins Erlass über die staatliche Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit im Jahr 1996 hätten er und seine Unternehmen „keine kryscha mehr gehabt und auch keine derartigen Angebote erhalten“. „Wir haben keine FSB-Männer und keine Oberste als Teilhaber, hatten wir nie!“, braust er auf. „Aber sollen sie doch glauben, was sie wollen! Na klar, der FSB wird mich beauftragt haben, für Nadeshdin zu unterschreiben und seine Partei zu sponsern. Auch Urgant habe ich unter seiner Fuchtel eingeladen, und Vertrauensmann von Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak bin ich auch auf FSB-Befehl geworden …“ Schurenko fängt beinah an zu brüllen. 

    Quellen aus Unternehmertum, Beamtenschaft und Medien sind sich einig, dass Schkurenkos Sicherheit erstens durch seinen Respekt vor dem Gesetz und zweitens durch seine Steuern gewährleistet ist. „Ich bezweifle, dass er überhaupt so etwas wie eine kryscha hat“, sagt Oleg Malinowski, der Chefredakteur von RBK Omsk, der Schkurenko als einen der wichtigsten Schlagzeilenhelden der Region schon lange kennt. „Das Einzige, was ihn schützt, ist sein kluger Kopf. Er ist einer der stärksten Steuerzahler, der Staat profitiert ziemlich von ihm. ’Seine kryscha ist also der Staat selbst, ob es ihm gefällt oder nicht.“ 

    „Ich mache überall in Russland Geschäfte und hänge nicht von den lokalen Behörden ab. Wenn sie mir hier blöd kommen, gehe ich eben woandershin. Lasse alles liegen und ziehe mit meinem Geld in eine andere Region.“ Das Gerede davon, dass er von irgendwem protegiert werde, bringt Schkurenko in Rage. „Hinter meinem Business steht keiner außer mir!“ 

    Ein Jahr nach dem Skandal mit Urgant bat Schkurenko 2023 seine Mitarbeiter, als Märchenfiguren verkleidet zur Betriebsfeier zu kommen. Er erklärte die Party zur Hommage an die TV-Sendung Proisschestwije w strane Multi-Pulti (dt. Ein Vorfall im Land Multi-Pulti) mit Iwan Urgant, Alexej Serebrjakow und Alexander Gudkow. Sie alle haben sich auf die eine oder andere Weise gegen die „Spezialoperation“ geäußert. Kurz vor Jahresende wurde die Sendung ohne offizielle Begründung aus dem Programm gestrichen.  

    Schkurenkos Angestellte erzählen, ihr Chef habe während dieser Feier in der Lastschale eines Hebekrans hoch über der Menge geschwebt. Er trug eine orangenfarbene Perücke und einen schwirrenden Propeller auf dem Rücken. Dreitausend Leute begrüßten ihn mit Jubel und Applaus. „Ich bin heute Karlsson vom Dach!“, schrie der Boss ins Mikrofon. „Zuerst wollte ich mich als Hahn von den Bremer Stadtmusikanten verkleiden, doch das wäre für Solowjow ein gefundenes Fressen gewesen!“      

    NATO-Träume 

    Schkurenko postet seine Ansichten regelmäßig auf Instagram, das in Russland verboten ist – mehrmals im Monat. Seit dem Februar 2022 empfiehlt er den neuen Song des DDT-Leaders Juri Schewtschuk und posiert vor der Skulptur Net wojne (dt. Nein zum Krieg), die mit ebenjener Phrase auf dem Sockel in Novosibirsk steht. Er dokumentiert seine eigenen „Gespräche über das Wichtige“, nämlich wie er auf einem Feriencamp mit den Kindern über Humanismus und Freiheit sprach. Er präsentiert, wie er auf die Auszeichnung des „ausländischen Agenten“ Memorial mit dem Friedensnobelpreis ein Gläschen Calvados hebt. Und er schlägt vor, die nächste Versammlung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation in der Tretjakow-Galerie vor dem Bild Apofeos wojny (dt. Apotheose des Kriegs) von Wassili Wereschtschagin abzuhalten. 

    Die Kommentare unter Schkurenkos Posts sind unzensiert. Die Einen unterstützen und feiern seinen Mut, die Anderen beschimpfen ihn wüst und hetzen ihm die Staatsanwaltschaft auf den Hals. 

    „Ich bin gegen jede Zensur: im Internet, im Krankenhaus, in der Bibliothek“, sagt er. „Gegen die Todesstrafe, gegen das Verbot von Abtreibung, Meinungsfreiheit und kreativer Selbstverwirklichung … Es macht mich fertig, dass man für einen Kommentar im Gefängnis landen kann, dass Regisseure verhaftet und Künstler unter Druck gesetzt werden! Dass Berkowitschs Theaterstück mit der Goldenen Maske ausgezeichnet wird, monatelang aufgeführt wird und dann plötzlich ein ominöser Experte auftaucht, der darin eine Rechtfertigung von Terrorismus sieht!“ 

    Schkurenko wollte Kirill Serebrennikows Ballett Nurejew sehen, doch während er noch den Flug plante, wurde es bereits verboten. „Die Duma diskreditiert sich mit ihren Initiativen selbst, trifft immer noch üblere Entscheidungen. Es ist unfair und tragisch, aber da kann man jetzt nichts machen. Man kann nur zusehen. Und den Menschen zeigen, dass es auch anders geht.“ 

    „Es ist immer noch mein Land“, sagt der Unternehmer. „Aber nicht meine Regierung. Der russische Patriotismus trägt den Abdruck eines Kampfstiefels. Deswegen muss man vorsichtig sein. Aber man darf nicht aufhören, kreativ zu sein, sich in äsopischer Sprache zu äußern. Und ich werde in Metaphern sprechen, um nur ja kein Gesetz zu brechen. Um auf alles gefasst zu sein.“      

    Schkurenko hat Respekt vor „den Stärksten“, vor jenen, die „sich in die Schlacht warfen“ wie Solschenizyn und Pasternak. „Aber außer ihnen gab es noch Tarkowski und Andrej Smirnow, die äußerlich buckelten, aber in ihrem Inneren brodelte es. Als Gorbatschow kam, gingen wir alle auf die Straße, um ihn zu unterstützen. Und wenn eine neue Regierung kommt, werden wir wieder draußen stehen.“ Schkurenko glaubt an die Unausweichlichkeit eines Wandels. „Wir sind ein europäisches Land, und das, was bei uns jetzt passiert, ist widernatürlich. Ich bin überzeugt, dass wir wieder mit Europa kooperieren werden. Dass Russland eines Tages der NATO beitritt. Das wäre mein Traum! Weil wir dann weniger für die Rüstung ausgeben müssten und mehr Geld für Bildung da wäre. Ich warte einfach darauf.“

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  • Kein Übel währt ewig

    Kein Übel währt ewig

    Darja Kosyrewa ist eine der jüngsten politischen Gefangenen Russlands. Wegen ihres Protests gegen den Krieg verlor sie zunächst ihren Medizinstudienplatz. Am 24. Februar 2024 befestigte sie ein Plakat am Denkmal für Taras Schewtschenko in Sankt Petersburg. Darauf standen vier Zeilen aus dem Gedicht Vermächtnis des ukrainischen Nationaldichters: 

    Ja, begrabt mich und erhebt euch 
    Und zersprenget eure Ketten,
    Und mit schlimmem Feindesblute
    Möge sich die Freiheit röten!

    Kosyrewa drohen fünf Jahre Haft wegen „wiederholter Diskreditierung der russischen Armee“. In der Untersuchungshaft hat sie einen Appell an ihre Landsleute geschrieben, den das Portal Holod veröffentlicht. Anfang Juli wurde Kosyrewa in die Psychiatrie eingewiesen – zur Begutachtung, wie es hieß. 

    Darija Kosyrewa bei der Anhörung vor Gericht in Sankt Petersburg / Foto © Bumaga

    Russland steckt in einem undurchdringlichen Kokon – einem Kokon aus Schweigen. Wie viele Verbrechen Putins Diktatur auch begeht, wie viele fremde Städte sie erobert und zerstört, wie viel Mord und Folter sie zu verantworten hat – die Reaktion auf alle bösen Taten ist dumpfes Schweigen. 

    Viele wollen lieber gar nicht wissen, was passiert, sie schließen die Augen und halten sich die Ohren zu. Viele täuschen sich und wollen getäuscht werden – wie leicht ist es, dem Fernsehen blind zu glauben, auch wenn dort die ungeheuerlichsten Lügen aufgetischt werden.   

    Doch viele wissen sehr wohl, was diese böse Macht anrichtet. Viele tragen ihre Missbilligung, ihre Empörung, ihren Zorn in ihren Herzen. Und trotzdem schweigen sie.       

    Jede Untat braucht die stille Zustimmung anderer. Und jede Diktatur kann sich nur so lange halten, wie das Volk schweigt. Der Koloss auf tönernen Füßen wird seine Macht verlieren, wenn alle Andersdenkenden den Mund aufmachen. 

    Aber sie schweigen. 

    Der eine glaubt, es sei ohnehin alles entschieden und er selbst sei zu klein und unbedeutend, um sich einzumischen. Der nächste hofft, dass andere für ihn sprechen – doch finden diese anderen ebenfalls Rechtfertigungen, den Mund zu halten. 

    Indes ist der wahre Grund dieses Schweigens die menschliche Angst – eine wahnsinnige Angst. Keiner Diktatur gelingt es, alle und jeden zu überzeugen – deswegen greifen sie auf die Angst zurück. Sie ist ihr erstes und letztes Mittel, das Volk zu unterwerfen. 

    In der Hitlerzeit schrien die Deutschen brav „Heil“, weil sie wussten, was mit ihnen passieren konnte, wenn sie sich weigern. Die Sowjetmenschen unter Stalin sprachen selbst in der eigenen Küche nur im Flüsterton, weil sie Angst vor Denunziation hatten. Die Walze der Repressionen muss gar nicht alle Andersdenkenden erfassen – es genügen ein paar Exempel, und alle anderen halten ganz von selbst den Mund.      

    Die Absurdität von Putins Repressionen hat einen Grad erreicht, in dem jede Kleinigkeit zum Anlass für eine Strafverfolgung werden kann – und keiner weiß mehr mit Sicherheit, was man überhaupt noch sagen darf. Dem Bösewicht im Kreml ist das gerade recht, der Bösewicht im Kreml bekommt, was er will. Solange alle schweigen, ist seine Haut gerettet.       

    Genau deswegen dürfen wir nicht schweigen. Die menschliche Angst ist nachvollziehbar: Seinen Status aufs Spiel zu setzen, seine Perspektiven, seine Freiheit, ist sehr schwer. Wer obendrein noch Familie hat, hat doppelt Grund, sich zu fürchten. Doch wird es diesen Familien in einer Diktatur besser gehen? Mit tödlichen Repressionen und hinter einem eisernen Vorhang? 

    Die Diktatur kann ihre boshaften Taten und ihre Willkür fortsetzen, solange sie Kraft und Macht verspürt. Und nichts wird sich ändern, solange alle ergeben schweigen. 

    Wird es nicht langsam Zeit, den Mund aufzumachen? 

    Jeder, der des Sprechens mächtig ist, sollte jetzt den Mund aufmachen. Die paar, die es bisher gewagt haben, sind zu wenige, um etwas zu bewegen. Alle, die mit dem Moskauer Regime nicht einverstanden sind, müssen jetzt laut werden. Es ist leicht, einzelne für ihre Worte ins Gefängnis zu stecken – aber nur, weil es einzelne bleiben. Doch für alle, für alle, die nicht einverstanden sind, gibt es in Russland nicht genug Gefängnisse. Nicht einmal, wenn das Regime extra für sie noch einmal so viele Gefängnisse baut.   

    Wenn alle ihre Angst überwinden und den Mund aufmachen, dann ist für die Putin-Meute die Zeit gekommen, sich zu fürchten. 

    Kein Übel der Welt währt ewig, jede Diktatur muss eines Tages stürzen. Sie kann unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen wie die UdSSR – oder dank dem Volk, das endlich aufsteht. 

    Lasst diese Diktatur nicht länger überleben als unvermeidbar. Leute, macht den Mund auf! 

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    „Das ist mein Protest gegen die ‚Spezialoperation‘“

    Den ganzen Januar über standen in vielen Städten in Russland die Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen, die Mitte März abgehalten wird. Um als Präsidentschaftskandidat registriert zu werden, muss er bis Ende Januar 100.000 Unterschriften in verschiedenen russischen Regionen sammeln (2500 in je 40 Regionen). Nadeshdin war bis dahin nur wenigen bekannt. Seine Biografie lässt keine eindeutigen Schlüsse zu: Er gibt an, in den 1990er Jahren sowohl mit Boris Nemzow als auch mit Sergej Kirijenko zusammengearbeitet zu haben. Nemzow wurde zu einem der erbittertsten Gegner Putins, 2015 traf ihn eine Kugel vor den Mauern des Kreml. Kirijenko sitzt auf der anderen Seite dieser Mauer im Kreml: Als stellvertretender Leiter der Präsidialverwaltung ist er heute verantwortlich für die Unterdrückung jeglicher Opposition. Ohne sein Einverständnis dürfte Nadeshdin wohl noch nicht einmal für die Kandidatur kandidieren. Dennoch haben in den vergangenen Wochen selbst Anhänger von Alexej Nawalny dazu aufgerufen, Nadeshdins Kandidatur zu unterstützen. Dass es dabei mehr um einen symbolischen Akt geht, mit dem die Menschen sich selbst und einander gegenseitig Mut machen, zeigt eine Umfrage, die das Portal Holod unter den Schlangestehenden durchgeführt hat.

    „Die Zukunft liegt um die Ecke“: Wie hier in Sankt Petersburg standen in vielen russischen Städten Menschen Schlange, um mit ihrer Unterschrift die Kandidatur von Boris Nadeshdin für die Präsidentschaftswahl zu unterstützen / Foto © Artem Priakhin/imago-images

    Anton, 30, Jekaterinburg
    Ich denke, es geht vor allem darum, dass selbst nach der dunkelsten Nacht irgendwann der Morgen kommt. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Veränderungen viel schneller kommen werden, als es scheint – man muss nur daran glauben.

    Leider gibt es in meinem Freundes- und Bekanntenkreis viele Menschen, die verzweifelt sind und nicht mehr an das Gute oder an die Zukunft glauben. Ich sehe ja auch überall das Negative und verstehe, warum die Menschen apathisch werden. Deshalb war ich ehrlich überrascht, als ich sah, dass Leute mehrere Stunden vor Nadeshdins Kandidatenbüro anstehen: Menschen, die nicht verzweifelt sind, die lächeln und an Veränderungen glauben. Das macht Hoffnung.

    Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung

    Dimitri, 37, Ishewsk
    Ich würde das nicht einmal als Schlange bezeichnen. Ich habe nicht länger angestanden als für einen Burger bei KFC. Außerdem, warum denken viele, dass es sowieso nichts bringen wird?

    Für Millionen von Russen erlöschen mit jedem Tag weitere Funken der Hoffnung. Die Hoffnung auf Liebe, auf eine Karriere, die nicht auf Vitamin B beruht, auf ein Leben in Würde. [In Russland] sind die geblieben, die keine Möglichkeit haben, alles hinzuwerfen. Sie haben sich selbst dazu verdammt, Tag für Tag die Maske der Resignation zu tragen. Wir haben Freunde verloren, den Kontakt zueinander, unsere Heimat – und das, ohne dass wir ihre territorialen Grenzen verlassen hätten.

    Die Unterschrift heute ist die einzige legale Möglichkeit, zu versuchen, etwas zu ändern und dem wunderbaren Russland der Zukunft wenigstens ein kleines Stückchen näher zu kommen.

    Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr und habe eine Selbstzensur entwickelt

    Anna, 31, Jakutsk 
    Nach zwei Jahren Krieg nehme ich die Zs und Vs nicht mehr wahr, ich habe mich damit abgefunden, dass es bestimmte Internet-Dienste nicht mehr gibt, und eine Selbstzensur entwickelt. Aber als ich davon hörte, dass Unterschriften für einen Kandidaten gesammelt werden, der sich gegen den Krieg ausspricht, bin ich sofort auf Nadeshdins Internetseite gegangen. Ich habe mich registriert und bin gleich hingegangen, als sein Büro geöffnet war. Warum?

    Weil es für mich eine Möglichkeit ist, sicher und offen mein „Nein“ zu sagen. Nein zur Politik der Einschüchterung, nein zu menschenverachtenden Gesetzen. Schließlich bin ich russische Staatsbürgerin, ich gehöre dem Volk der Jakuten an – ich kann doch meine eigenen Ansichten haben? Ist es etwa ein Verbrechen, sie zu äußern? Seit Februar 2022 fühle ich mich gelähmt, hoffnungslos und apathisch. Ich hätte mir einfach nicht verziehen, wenn ich nicht meine Unterschrift abgegeben hätte. Selbst, wenn es nichts ändert, wenn alles umsonst ist, heißt es nicht, die Hoffnung stirbt zuletzt? Schon sein Name ist ja sprechend [„Nadeshda“ bedeutet auf Russisch Hoffnung dek].

    Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der ‚militärischen Spezialoperation‘ eintritt

    Wladimir, 49, Ishewsk
    Boris Nadeshdin ist der einzige Kandidat, der offen für ein Ende der „militärischen Spezialoperation“ eintritt und die Politik des Präsidenten kritisiert. Allein die Art, wie er seine Unterschriften sammelt (mit Unterstützung von Freiwilligen in Hunderten von Städten in ganz Russland und nicht mit Hilfe des Staatsapparats), spricht dafür, dass bei Weitem nicht alle in Russland die aktuelle Politik unterstützen und eine große Nachfrage nach Veränderung besteht. Allein, persönlich dabei zu sein und echte, lebendige Menschen zu sehen, ist schon eine große Sache. Es ist sicher nur der Beginn eines langen Weges, aber wir müssen den ersten Schritt gehen.

    Oleg, 21, Jekaterinburg
    Ich bin mir natürlich der Aussichtslosigkeit bewusst, aber ich habe trotzdem beschlossen, meine Unterschrift abzugeben – es ist wenigstens eine winzige Chance auf Veränderungen. Ich bin froh, meinen kleinen Beitrag geleistet zu haben. Wenigstens habe ich nicht tatenlos zugesehen, sondern getan, was ich konnte – ich habe selbst unterschrieben und meinen Freunden davon erzählt.

    Fürs Demonstrieren könnte ich von der Uni fliegen – und ich will nicht mein Leben ruinieren

    Jaroslaw, 21, Nowosibirsk/Sankt Petersburg
    Was in den letzten zwei Jahren in Russland passiert, gefällt mir ganz und gar nicht. Auf eine Demonstration zu gehen oder etwas Vergleichbares zu tun, das traue ich mich nicht. Dafür könnte ich von der Uni fliegen, und ich will nicht mein Leben ruinieren für etwas, das dem Land ohnehin nicht viel nützen wird. Aber meine Unterschrift für einen vernünftigen Kandidaten abzugeben, ist eine absolut sichere Form des Protests, und so habe ich wenigstens meinem inneren Unmut Ausdruck verliehen.

    Vera, 63, Moskau
    Ich verfolge seit vielen Jahren die Beiträge von Ekaterina Schulmann, und ich stimme ihr zu: Das Volk muss dem Staat seinen Willen zeigen (wie sie sagt, „es muss sich regen“). Jedes Volk hat die Anführer, die es verdient. Man muss jede noch so kleine Gelegenheit nutzen, die das Leben bietet.

    Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind

    Wladimir, 41, Twer
    Mir ist klar, dass es in Russland keine freien Wahlen gibt, dass für Putin so oder so seine 80 Prozent verkündet werden und Nadeshdin ein paar müde Prozent bekommt. Ich habe meine Unterschrift für ihn abgegeben, damit ich mir guten Gewissens sagen kann, dass ich überhaupt etwas in dieser ganzen Finsternis getan habe. Immerhin habe ich auch eine Menge vernünftiger, anständiger Leute gesehen, von denen es in Russland immer noch viele gibt. Es stimmt optimistisch, dass nicht alle um einen herum nur von Hass und Krieg besessen sind.

    Regina, 35, Ufa
    Wenn wir alle diese kleine Chance, etwas zu bewegen, wieder einmal verstreichen lassen, wer wird dann je etwas verändern? Das ist immerhin eine legale Form des Protests, man kommt nicht ins Gefängnis dafür. Ich rechne nicht damit, dass sie Nadeshdin zur Wahl zulassen werden. Das ist natürlich schade, aber trotzdem ist es besser, zu handeln, als tatenlos zuzusehen. Ich finde es inspirierend, dass ich nicht alleine damit bin und mein Umfeld so enthusiastisch reagiert hat. Also wird alles gut – wenn nicht jetzt, dann irgendwann.

    Ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin

    Katerina, 35, Ishewsk
    Ich habe in einem verbotenen sozialen Netzwerk Posts von Freunden gesehen, dass Unterschriften gesammelt werden. Ehrlich, ich habe mir Nadeshdins Seite nicht einmal genau angesehen, ich bin einfach hingegangen und habe unterschrieben. Außerdem habe ich meine Familie und Freunde dazu aufgerufen – ein Teil von ihnen hat mitgemacht.

    Ich glaube, ich hätte für jeden unterschrieben, der halbwegs anständig wirkt. Hauptsache nicht Putin.

    Anna, 47, Tomsk
    Für mich ist das eine Form des Protests gegen die „Spezialoperation“, gegen die totale Zensur, gegen die aggressive Außenpolitik gegenüber zivilisierten Ländern, das Abgleiten unseres Landes in ein autoritäres Regime, gegen die Inflation. Also gegen all den Wahnsinn, der nach dem Beginn der „Spezialoperation“ folgte. Ich kann nur hoffen, dass Putin sieht, was die Menschen wirklich von ihm halten, und die Unterschriftensammlung wie ein Hebel wirken kann, der ihn dazu bringt, seine Innen- und Außenpolitik zu ändern. Das ist eine Wunschvorstellung, aber vielleicht wird Nadeshdin ja wirklich genügend Unterschriften sammeln und zur Wahl zugelassen werden?!

    Während ich das schreibe, denke ich, was, wenn Sie gar nicht von Holod sind, sondern nur ein Provokateur? Und ich zensiere mich selbst. In solchen Zeiten leben wir! Die Menschen sind verängstigt. Das muss man auch ändern. Das darf nicht sein.

    Mir gefällt hier alles außer der Regierung – ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen 

    Jewgeni (Name geändert), 21, Ufa
    Ich bin geboren und aufgewachsen unter ein und demselben Präsidenten. Von Jahr zu Jahr wird alles schlimmer. Vor meinen Augen verwandelt sich mein Land von einer Demokratie in einen autoritären Staat, eine Diktatur.

    Deshalb halte ich es für meine Bürgerpflicht, meinem Land zu helfen. Mir gefällt hier alles außer der Regierung, und ich habe keine Lust dazu, meine Heimat zu verlassen und in Europa oder der USA meine Freiheit zu suchen. Weil ich glaube und hoffe, dass wir es hier irgendwann sogar noch besser haben könnten als dort.

    Jewgenija (Name geändert), 33, Nowosibirsk
    Für mich ist dies eine Gelegenheit für einen Appell der Anständigen und ein inneres Bedürfnis. Wie das Zwitschern der Spatzen im Winter: „Wir leben! Wir auch!“ Es geht mir schlecht, weil ich nicht offen sagen kann, was ich denke, und mich nicht ohne Risiko für mich und meine Familie über die Missstände empören kann. Ich halte es für nötig, alles zu tun, was nicht verboten ist, um mich selbst zu schützen. Das schließt auch das Wahlrecht ein. Vielleicht werde ich meinem Kind, wenn es irgendwann einmal Politikunterricht in der Schule hat, davon erzählen, wie wir unsere Unterschrift für Nadeshdin abgegeben haben – vielleicht wird das in zehn Jahren ein wichtiges Ereignis gewesen sein? 

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  • Gaunersprache im Kreml

    Gaunersprache im Kreml

    Mit den immer gravierenderen Verstößen gegen Menschen- und Völkerrecht in Russland ging in den vergangenen Jahren auch eine Verrohung der Sprache und der Umgangsformen der politischen Elite einher. Selbst Diplomaten verwenden heute Formulierungen, die ursprünglich aus der kriminellen Unterwelt stammen. Wladimir Putin brüstet sich damit, in seiner Jugend selbst ein Rowdy gewesen zu sein. Nicht zuletzt in Verbindung mit einer populären Streaming-Serie wurde zuletzt wieder viel über die Kultur gewalttätiger Jugendgangs diskutiert, deren Mitglieder sich selbst als Pazany bezeichnen. Sie handeln nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem eigenen Kodex, po ponjatijam. Dort zählen allein Stärke und Skrupellosigkeit, Nachgeben ist ein Zeichen von Schwäche, wer sich entschuldigt, hat verloren. Die Soziologin und Kriminologin Svetlana Stephenson von der London Metropolitan University hat die Entstehung solcher krimineller Jugendgangs in den 1980er Jahren der Sowjetunion erforscht und in ihrem Buch Gangs of Russia beschrieben. In einem Beitrag für das Online-Magazin Holod erklärt sie, wie Sprache und Umgangsformen dieser kriminellen Subkultur Eingang in die russische Politik fanden.

    Ein Anführer darf keine Schwäche zeigen. Er muss bereit sein, mit allen Mitteln um die Macht zu kämpfen. Szene aus der Serie Slowo pazana / © Rostelecom
    Ein Anführer darf keine Schwäche zeigen. Er muss bereit sein, mit allen Mitteln um die Macht zu kämpfen. Szene aus der Serie Slowo pazana / © Rostelecom

    Ein Paradox im öffentlichen Auftritt der russischen Staatsmacht ist der Graben zwischen den Beteuerungen über Russlands Größe, seine Geschichte, Kultur und Moral einerseits, und dem Straßenbanden- und Knastsprache, die eben jene Staatsmacht oft und gern verwendet. Wobei ausgerechnet Personen diesen Kreml-Fenja verwenden, die selbst nicht in der Gosse aufgewachsen sind, sondern ganz im Gegenteil in gebildeten, ja geradezu elitären Kreisen ihre Erziehung genossen.

    Die Hinwendung dieser „Elite“ zur Sprache der Hinterhöfe und Gefängnisse begann allerdings nicht in den 1990ern, in denen der Einfluss der Kriminalkultur auf die Gesellschaft seinen Höhepunkt erreichte. Damals wurden Film und Literatur von der düsteren Tschernucha überschwemmt, und aus jedem Radio dudelten Lieder aus der Lagerfolklore. Doch Jelzin (wie auch seine Vorgänger) und sein Umfeld benutzten keinen Gefängnisjargon, wenn sie sich an die Bevölkerung oder ausländische Amtskollegen wandten. Zur Staatssprache wurde Kreml-Fenja erst unter Putin. Die Gewalt der Straße, die in den 1990ern blühte, wurde von staatlicher Gewalt abgelöst, die sich der Sprache der Hinterhöfe und der Unterwelt bedient.

    Die Elite spricht eine Sprache der Drohungen und Erniedrigungen

    Begonnen hat diesen Trend Putin, der mit stolzer Brust seine Kindheit im Sankt Petersburger Hinterhof heraufbeschwört. Im Gespräch mit den Verfassern seiner ersten Biografie Aus erster Hand erzählte er: „Ich war ja ein Rowdy, kein Pionier […] Ich war eigentlich ein Rabauke.“ Die Sprache der Straße, der Drohungen und Erniedrigungen („im Klo abmurksen“, „wer uns beleidigt, überlebt keine drei Tage“), die Vorstellung von Gewalt als Beziehungsgrundlage („wir haben Schwäche gezeigt, und Schwache kriegen Prügel“, „wenn eine Schlägerei unvermeidbar ist, schlag als erster zu“) – all das gehört mittlerweile zu dem Stil, den die Entourage des Präsidenten an den Tag legt. 

    Seit Jahren bedienen sich die russische Führung und die Kreml-Propaganda des Gaunerjargons. Erinnern wir uns etwa daran, wie Viktor Solotow, der Befehlshaber der Nationalgarde, Alexej Nawalny eine otwetka (dt. wörtl. „eine kleine Antwort“) in Aussicht stellte, als dieser ihn der Korruption bezichtigte. Kürzlich lieferte sich der bekannte Moderator Wladimir Solowjow einen Schlagabtausch mit dem Gouverneur der Oblast Swerdlowsk, Jewgeni Kujaschew, in einem Jargon, der wörtlich ins Deutsche übertragen etwa so klingen würde: „Schlägst du mir etwa einen Uhrzeiger ein, Gouverneur?“ (was so viel heißt wie: Willst du mir etwa vorschreiben, wann wir uns treffen?). Worauf dieser den Moderator ermahnte: „Passen Sie auf, was Sie da sagen.” Was ähnlich klang wie der Jargon-Ausdruck: „Passen Sie auf, was Sie da zum Basar tragen.” Was so viel heißt wie: Seien Sie bloß vorsichtig.

    Als der Schanson-Sänger Alexander Nowikow daraufhin Solowjow in noch ausgefeilterem Fenja den Marsch blies, bewies das einmal mehr, dass mittlerweile Gouverneur und Staatspropagandist und Schanson-Sänger denselben Kriminaljargon sprechen.

    Wenn der Außenminister, an die internationalen Regierungschefs gewandt, sagt: „Der Pazan hat’s gesagt, der Pazan hat’s getan“, wenn der Fernsehmoderator mit einem Eimer Kot ins Studio kommt und droht, ihn über seinen Opponenten zu kippen, und der UNO-Botschafter des Landes sein Gegenüber harsch auffordert: „schau mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“, dann fühlen wir uns wie in einem schlechten Gangsterfilm.

    Ein Befreiungsschlag gegen den Anstand 

    Der Einsatz von Redewendungen aus dem Knast und aus der Gosse und generell die saloppen Verhaltensweisen haben etwas Karnevaleskes, einen Show-Effekt, sie wirken wie ein erleichternder Befreiungsschlag gegen den Anstand. Allerdings ist die Karnevalskultur, wie der Philologe Michail Bachtin schrieb, traditionell eine niedere, eine Volkskultur. Hier jedoch haben wir es ganz deutlich mit karnevaleskem Verhalten von Angehörigen des Establishments zu tun, die öffentlich und genüsslich gesellschaftliche Normen übertreten. Und wenn die Lachkultur des Volkes auf Tollerei beruht, die die Ketten der Kontrolle und Unterdrückung durch die Machthaber sprengt, so ist der Karneval der Machthaber ein Fest des Todes, der Gewalt und Unterwerfung. Dem Eros des Volkes, der Leben hervorbringt, stellt sich der Thanatos der Macht entgegen.           

    Ein auf brutaler, überbordender Gewalt basierendes Verhalten hat tatsächlich viel mit dem Verhalten gemein, das in dem Milieu üblich ist, in dem „echte Pazany“ am Werk sind, Mitglieder von Straßenbanden. Da der Pazan der Souverän seines Territoriums ist, ist er dem ungeschriebenen Gesetz der Straße folgend – po ponjatijam – immer im Recht. Was auch immer er getan hat, selbst wenn es keine Absicht war, irrtümlich, aus Dummheit oder so genannter Willkür (wenn also die Gewalt durch nichts zu rechtfertigen ist) – er muss darauf bestehen, im Recht zu sein. Unter keinen Umständen darf er sich entschuldigen.   

    Dieser Regel folgt ganz offensichtlich auch die russische Regierung (erinnern wir uns an die abgeschossene Boeing der Malaysia Airlines und an all die Versionen von „wir sind dort nicht“, [mit dieser Formulierung wurde nach 2014 der Einsatz russischer Soldaten im Donbass geleugnet – dek]). Das Eingeständnis einer Schuld bedeutet Gesichtsverlust, daher werden alle Vorwürfe sofort zurückgewiesen. Sogar da, wo es im eigenen Interesse gelegen hätte, die Situation zu entschärfen – wie zum Beispiel nach Lawrows ungeheuerlichen Äußerungen über Hitlers jüdische Wurzeln und antisemitische Juden –, blieb das Außenministerium noch eine Weile bei dieser These und beschuldigte Israel, in der Ukraine Neonazis zu unterstützen. Dass Putin sich beim israelischen Premierminister entschuldigte, ist eine große Ausnahme und auf existenzielle Interessen eines Regimes zurückzuführen, das einen Verbündeten braucht. Zudem erfolgte die Entschuldigung heimlich: Dass der russische Präsident mit Naftali Bennett telefoniert hatte, wurde nicht aus dem Kreml berichtet, sondern aus Israel. 

    Angegriffen werden nur Schwächere

    Das Wort des Pazans hat sofortige und unmittelbare Gültigkeit. Er darf keine leeren Drohungen aussprechen. Wenn Putin der Welt mit Atomwaffen droht, dann behauptet er durchaus po ponjatijam: „Wir spucken keine großen Töne, wir tun das, und fertig.“ Wem die Banditenlogik fremd ist, dem erscheint eine solch bedingungslose Entschlossenheit, wenn es um Leben und Tod von Millionen Menschen geht, moralisch unmöglich. Aber po ponjatijam ist alles ganz einfach: Ein Pazan darf nicht nur mit der Waffe herumprahlen, sonst riskiert er einen Gesichtsverlust. Sobald er sie zeigt oder auch nur erwähnt, muss er auch bereit sein, sie einzusetzen. 

    Steht ein Pazan jedoch ganz unerwartet auf der Straße einer überlegenen Gruppierung gegenüber oder gerät in eine Schießerei, so verhält er sich ganz anders. Er fängt an zu bluffen: Er tut, als erwarte er jeden Moment Verstärkung, beult seine Taschen aus, um gar nicht wirklich vorhandene Waffen vorzutäuschen. Auf solche Bluffs ist man hinterher unheimlich stolz, sie finden genauso wie Geschichten über Straßenkämpfe und Massenschlägereien Eingang in die Bandenfolklore. Einer stärkeren Bande erklärt niemand absichtlich den Krieg – man greift immer nur scheinbar Unterlegene an. Zusammenstößen mit überlegenen Gegnern versucht man lieber auszuweichen.   

    Eine Konfrontation auf der Straße beginnt oft mit der Forderung: „Schau mich gefälligst an!“ (Oder auch umgekehrt: „Was glotzt du mich so an?“) Auf diese Weise ergreift ein Pazan die Initiative und demonstriert, dass er es ist, der die Regeln der Interaktion bestimmt. Nur wer ein Pazan ist, hat einen Namen und ist den anderen ebenbürtig. Wer zu keiner Bande gehört, zu keinem Clan, keine Macht hinter sich hat, der ist ein namenloser Niemand. Deswegen nimmt Putin auch Nawalnys Namen nicht in den Mund, weil er ihn damit als ebenbürtig anerkennen würde. 

    Ein Anführer in diesem Milieu muss ständig seine Macht und Stärke demonstrieren 

    Bei unseren Recherchen zur organisierten Kriminalität in Kasan fasste ein Bandenmitglied die Ordnung innerhalb der Bande im Interview so zusammen: „Der Anführer muss ein harter, selbstsicherer Mann sein, der die Macht liebt und bereit ist, mit allen Mitteln darum zu kämpfen.“ Schwäche zu zeigen oder die Gruppe durch Kämpfe mit Gegnern zu schwächen, kann für den Anführer den Verlust seiner Macht oder sogar seines Lebens bedeuten. 

    Anführer und Autoritäten, die sich von Straßenbanditen zu Bossen krimineller Vereinigungen hochgekämpft haben, müssen auf jede erdenkliche Art ihre Macht demonstrieren: mit Brutalität, Unberechenbarkeit und Grobheit, um nicht nur Gegnern Angst einzujagen, sondern auch den Respekt seiner eigenen Mitstreiter zu verdienen. Während der allseits bekannten Versammlung des russischen Sicherheitsrats am Tag vor der Invasion in die Ukraine spielte Putin den skrupellosen Mafiaboss, der in seinem Umfeld keine Zweifel duldet und über Leichen geht. 

    Auch gemäßigtere Autoritäten machen demonstrativ harte Ansagen, um weiterhin zur herrschenden Elite zu gehören. Zum Beispiel Ex-Präsident Dimitri Medwedew, der einst als liberal galt, jetzt aber den ukrainischen Gegnern rät, „sich nach allen Seiten gründlich umzusehen“, und überlegt, wie man „den [nach Westen orientierten] Sapadniki die Nasen in den Dreck stoßen“ könnte.

    Aus einer Bande kommt man nur sehr schwer ohne Verluste heraus. Wenn einer geht, wird er kollektiv „abgefertigt“, verprügelt, noch dazu wird ihm alles Geld abgeknöpft, das er angeblich der Gruppe schuldet. Manchmal enden solche „Abfertigungen“ mit schweren Verletzungen oder sogar dem Tod ehemaliger Mitglieder der Pazan-Bruderschaft. Dieses „Abschiedsritual“ veranschaulicht, dass die Einigkeit der Gruppe über der früheren Freundschaft und über geleisteten Verdiensten steht. Hier kann man Parallelen zu Vergeltungsaktionen sehen, die Mitgliedern der herrschenden Elite drohen, wenn sie beschließen „zu gehen“, auszuwandern oder es wagen, die Staatsmacht zu kritisieren. 

    Die Staatsspitze ist selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden

    Natürlich ist die Struktur des russischen Staates komplexer als die einer kriminellen Bande. Der Stil der Pazany und die entsprechende Verhaltenslogik der Regierung lässt jedoch auf ihre tiefgreifende Primitivisierung schließen. Insofern ist die Staatsspitze rund um Putin, die den Rechtsstaat und die gesellschaftlichen Institutionen zerschlagen hat, universelle moralische Normen großkotzig mit Füßen tritt und das soziale Gefüge zerstört, selbst zu einer quasi kriminellen Bande geworden.     

    Primitiv ist auch die russische Gesellschaft geworden. Die Sprache und die Praxis der Gewalt können ethische Inhalte nicht ersetzen, sie können keinerlei positives Programm liefern. Hinter dem barbarischen Karneval verbirgt sich Leere. Diese Leere beginnt allzu leicht der Faschismus auszufüllen, der einerseits das Böse und die Zerstörung verkündet, andererseits die Primitivität und Leere „mit intensivierter Vergeistigung und Moralismus“ stopft, wie Merab Mamardaschwili schrieb.

    Diesen Kult der nackten Gewalt hat die Staatsmacht mit einem Kult der Ahnen umgeben, mit der heiligen Geschichte, der ethnischen Exklusivität und in letzter Konsequenz dem Krieg. Aus primitiven, kriminellen, mafiösen Formen werden vor unseren Augen ultrarechte, faschistische Phänomene. 

    Derzeit ist schwer vorstellbar, wie und wann die Primitivisierung ein Ende findet und das Wachstum von sozialen Bindungen und institutionellen Beziehungen wieder einsetzt, die nicht auf ponjatija gründen und nicht allein aus Herrschaft und Unterdrückung bestehen. Aber eins ist klar – solange Krieg ist, müssen wir in den Abgrund der Verrohung blicken, der sich hinter dem jahrelangen Karneval der Gewalt aufgetan hat.

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    Ein Gaunerehrenwort bewegt das Land

    Die achtteilige Serie Slowo pazana war das Kulturereignis des Jahres in Russland, und auch ein enormer Erfolg in vielen Nachbarländern, in denen Russisch verstanden wird. Selbst in der Ukraine stand der Titelsong der Gruppe Aigel an der Spitze der Charts. Der Regisseur Shora Kryshownikow erzählt die Geschichte krimineller Jugendgangs in der Sowjetunion der 1980er Jahre. Unter Jugendlichen entstand in kürzester Zeit ein enormer Kult um die Serie, die auf der Plattform wink.ru gestreamt werden kann. Auf der Straße, in Cafés, in den Sozialen Medien, in der Staatsduma und in Propaganda-Talkshows wird über sie gesprochen. Allein im November wurde auf dem russischen Google-Pendant Yandex häufiger nach Slowo pazana gesucht als im gesamten Jahr nach Informationen zum Krieg in der Ukraine – das zeigt ein Vergleich der Suchanfragen, den das Onlinemedium Verstka durchgeführt hat.

    Nachdem Anfang Dezember im Gebiet Irkutsk ein 15-Jähriger von Gleichaltrigen getötet wurde, die dabei ein Zitat aus Slowo pazana verwendeten, wurden Forderungen laut, die weitere Ausstrahlung zu verbieten. In russischen Medien und im Internet wurde heftig debattiert, ob die Serie unterschwellige Kritik an den Verhältnissen in Russland übt, die von dieser kriminellen Bandenwelt geprägt sind, oder ob sie im Gegenteil im Sinne des Regimes ein Bild von der guten Staatsmacht zeichnet, die die Kriminalität bekämpft und sich rührend um Jugendliche kümmert, die vom rechten Pfad abkommen. Für die eine Lesart spricht zum Beispiel, dass die Sängerin des Titelsongs den Krieg in der Ukraine öffentlich mit deutlichen Worten verurteilt hat. Den Liebhaber einer Polizistin spielt ausgerechnet Iwan Makarewitsch, der Sohn des Musikers Andrej Makarewitsch, der wegen seiner kritischen Haltung zum Kreml und seiner Ablehnung des Krieges im Exil leben muss. Für die andere Lesart gibt es aber auch gewichtige Argumente. Nicht zuletzt wurde die Serie vom Institut zur Entwicklung des Internet gefördert, eine Organisation, die in staatlichem Auftrag eine patriotische Agenda vorantreibt und unter anderem auch den Z-Pop-Sänger Shaman und Militärblogger unterstützt hat. Die Redaktion von Holod hat Svetlana Stephenson gefragt, was an der Serie authentisch ist und was fehlt. Die Professorin für Soziologie und Kriminologie an der London Metropolitan University hat in ihrem Buch Gangs of Russia. From the Streets to the Corridors of Power die Geschichte der Straßengangs untersucht. Es war auch eine Inspiration für die Autoren der Serie.

     
    Wowa Adidas ist aus dem Krieg in Afghanistan heimgekehrt und führt jetzt eine Straßengang in Kasan an / Plakat: Rostelecom
    Wowa Adidas ist aus dem Krieg in Afghanistan heimgekehrt und führt jetzt eine Straßengang in Kasan an / Plakat: Rostelecom

    Der Erfolg der Serie Slowo pazana liegt in hohem Maße am Thema. Die kriminelle Kultur ist für Außenstehende eine verborgene Welt und macht allein deshalb schon sehr neugierig. Einerseits ist die Welt von Banden, Gangs und Mafia beängstigend; ein Verbrechermilieu, das unsere friedliche Existenz bedroht. Andererseits stellen sich viele diese Welt als eine Welt vor, in der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit herrschen und das Individuum sich in einer Gemeinschaft auflöst (selbst wenn das mit Kriminalität und Gewalt einhergeht).     

    Die Serie entführt die Zuschauer in ein von manchen schon fast vergessenes, von den meisten nie gekanntes Leben in einer sowjetischen Stadt in den 1980er Jahren. Gelungen ist die Vermittlung des schäbigen sowjetischen Alltags mit seiner ewigen Mangelwirtschaft und der stolzen Brühwurst auf dem Tisch, wo der Verlust der Pelzmütze zu einer echten Tragödie werden kann (weil sie Unsummen kostet und auch nirgendwo zu kriegen ist). Gut getroffen ist auch die unwirtliche urbane Landschaft, in der die jungen Protagonisten leben und um deren Straßenpflaster sie so verbissen kämpfen. Der Zuschauer spürt die feuchtkalten Straßen und Treppenhäuser regelrecht auf der Haut, er taucht ein in die Atmosphäre einer Zeit, in der es überall grob zugeht – vom harschen Ton der Verkäuferinnen bis zum erniedrigenden Umgang der Lehrerinnen und sogar der Putzfrauen mit den Schülern. Nur kleine Inseln der Kultur – Musikschulen – heben sich irgendwie von der allgegenwärtigen Gewalt ab, doch auch sie sind nicht in der Lage, ihre Schützlinge vor der magnetischen Anziehung der Straße zu bewahren. Dort gründen die Jungs ihre kriminellen Bruderschaften.        

    Diese Welt ist sehr glaubwürdig dargestellt. Als Expertin für Straßenbanden in Russland kann ich sagen, dass die Serie die Lebensweise und soziale Organisation der Kasaner Jugendgangs jener Zeit äußerst genau abbildet. Auch der Jargon ist gut getroffen, genau so die Rituale: Die Versammlungen der Straßengangs, von denen Außenstehende ausgeschlossen sind, Schießereien und Racheakte, Initiation und  Ausschluss-Rituale für jene, die sich nicht nach den Regeln (po ponjatijam) verhalten.

    Ein ganz normaler Teenager beginnt nach den Regeln der Straße zu leben

    Die Serie vermittelt wahrheitsgetreu, wie sich die Bandenmitglieder als  Herren über ihr Territorium verstanden und sich berechtigt fühlten, von allen, die es betraten, Schutzgeld zu erheben – vor allem von Jugendlichen, die keiner Bande angehörten und von Leuten, die dort ihre Firmen gründen wollten.

    Den Machern von Slowo pazana gelingt es, ohne belehrend oder moralisierend zu wirken die Geschichte eines ganz normalen Teenagers zu erzählen, der sich einer Bande anschließt, nur weil er sich sonst nicht sicher fühlen kann. Dann beginnt er, wie es damals hieß, „mit den Pazany zu leben“: Er gerät in eine Gesellschaft, in der die Illusion einer männlichen Gerechtigkeit geschaffen wird, in der einer für alle einsteht und alle für einen, und in der das Gaunerehrenwort als unanfechtbares Gesetz gilt.

    Je tiefer der Held jedoch in diese Welt eintaucht, desto mehr Gefahren ist er ausgesetzt. Das Risiko, im Gefängnis zu landen, die Gesundheit oder gar das Leben zu verlieren, ganz zu schweigen vom Leid der Angehörigen – das ist es, was die Jungs in ihrem neuen Leben erwartet. Und Gerechtigkeit suchen sie in den Banden vergeblich.

    Obwohl das nicht alles in der Serie vorkommt, gehörten interne Konflikte bis hin zur Ermordung der einen Bandenführer durch die anderen, der Raub der Gemeinschaftskasse jüngerer Gruppen und deren gnadenlose Ausbeutung durch ältere Banden zur Norm. Die männlichen Bruderschaften erwiesen sich in einer Gesellschaft, in der auch Beziehungen innerhalb der Gruppen mit Gewalt reguliert wurden, als äußerst unzuverlässig. Ein junger Mann, der sich von seiner Bande bereits losgesagt hat, und den ich zu Forschungszwecken interviewt habe, beschrieb es so:

    „Was ich damals bemerkenswert fand: Da ist zum Beispiel ein Typ von der Straße, den man kennt, man ist richtig befreundet mit ihm, verbringt viel Zeit zusammen, er gilt als Kumpel. Doch dann baut er irgendwie Scheiße, und auf einmal wird er geschasst, alle verprügeln ihn, pressen ihm Kohle ab. Gerade noch war man gut Freund, lag sich in den Armen, und auf einmal spuckt man ihn an und schlägt ihn. Das ist doch eine Schweinerei, das geht doch nicht. Ich brachte so etwas nie zustande, mir war das irgendwie zu arg. Mehreren von uns ging es ähnlich, die konnten das auch nicht. Aber zum Teil waren da Leute, für die war man heute ein Freund und morgen einfach nur ein Niemand.“

    Auf das berüchtigte Gaunerehrenwort – in der Serie hört man den Begriff Slowo pazana ständig – war in jenen Jahren auch nicht wirklich Verlass. Es funktionierte nur in Bezug auf ebensolche Pazany, alle anderen konnte man ohne jegliche Konsequenzen damit verarschen – auf Betrug und Diebstahl an Außenstehenden war man besonders stolz.

    Die Verflechtung krimineller Gangs mit der Polizei fehlt in der Serie

    Die Serie wird von liberal gesinnten Kritikern sehr gelobt. Von den künstlerischen Vorzügen abgesehen, lesen sie eine politische Botschaft heraus, die sich ihnen klar erschließt: Die jungen Serienhelden sind als Opfer des morschen sowjetischen Systems dargestellt, mit seiner Korruption und Verlogenheit, mit seinen wachsenden wirtschaftlichen Problemen. Diese Jungs der 1980er werden als Vorboten der weiteren Entwicklung von Putins Russland gesehen, in dem Putins hinfälliges System, das noch dazu einen unnötigen Krieg angezettelt hat, das Land fast unweigerlich in ein Chaos von Straßenbanden, Gewalt und krimineller Umverteilung des Eigentums stürzen wird.

    Ich sehe aber auch, wie die Serie bei all ihrem Wahrheitsgehalt mal wichtige Realien der damaligen Zeit außen vor lässt, mal dem sowjetischen Alltag etwas hinzufügt, das es gar nicht gab. Die Gopniki und ihre Eltern und Lehrer sind äußerst überzeugend dargestellt, doch gleichzeitig stechen bei der Darstellung der damaligen Silowiki ziemliche Unstimmigkeiten ins Auge.

    Die Miliz ist durch zwei unglaubwürdige Typen vertreten: ein wunderschönes Turgenjewsches Mädchen, das Andrej, den Pionier und Gopnik, mit beinah liebevoller Fürsorge bedenkt, und ein infernalischer Ermittler, der Anzüge einer damals nicht vorhandenen Preisklasse trägt (er scheint eher einem heutigen, ebenfalls der Kinoleinwand entsprungenen und allmächtigen FSB-Agenten nachempfunden als einem sowjetischen Milizionär). 

    Die Autoren der Serie zeigen zwar die Sitten und Gebräuche der Straße, versäumen dabei aber, zu beschreiben, wie sich dieses Milieu in das große Ganze einfügt, wo es komplexe Wechselbeziehungen zwischen kriminellen und legalen Machtstrukturen gab. Solche Verbindungen zwischen Polizei und kriminellen Autoritäten sind in Kasan dokumentarisch belegt. Der Kriminalfall Tjap-Ljap zum Beispiel (eine berühmte Bande, die in den 1970ern in Kasan Massenprügeleien und Morde zu verantworten hatte und als Ausgangspunkt des so genannten Kasan-Phänomens gilt – Anm. Cholod) enthält Beweise, dass die Miliz die Bande gedeckt hat. Nach der Verurteilung ihrer Anführer wurden fünfzig Beamte gekündigt. Davon ist in Slowo pazana an keiner Stelle die Rede. Dafür wartet die Serie mit einem primitiven Antiamerikanismus auf, den es in jenen Jahren nicht gab. Im Gegenteil, Ende der 1980er war alles Ausländische heiß begehrt, Amerika wurde – wie überhaupt der ganze Westen – von Ferne geliebt. Und in der Diskothek tanzten die Gopniki nicht zu Laskowy maj, sondern zu Pop aus dem Westen.

    Schön wäre es, eine Fortsetzung der Serie zu sehen, mitzuverfolgen, wie die Banditen und ihre Bosse im neuen kapitalistischen Russland aufsteigen, wie sie die Gewinne der privatisierten sowjetischen Betriebe und privater Firmen kassieren, wie sie Chefsessel von Unternehmen, hohe Funktionen in der Staatsverwaltung und Rektorenposten an Universitäten besetzen. Aber eine solche Fortsetzung werden wir wohl kaum zu sehen bekommen, zumindest nicht in nächster Zeit.

     

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  • Ded Putin – „Der Großvater der Nation“

    Ded Putin – „Der Großvater der Nation“

    Ein per internationalem Haftbefehl gesuchter mutmaßlicher Kriegsverbrecher im Propaganda-Gewand eines fürsorglichen Opas: Die sogenannten Imagemakery des russischen Präsidenten inszenieren ihn zunehmend als „gütigen Opa der Nation“. Die Philologin Xenja Turkowa beschreibt auf Holod, weshalb sie dieses Bild gebastelt haben – obwohl „Opa“ anfangs noch eine hämische Diffamierung war.

    Wann wurde aus dem Macho Putin der „gute Opa der Nation“? / Foto © Mikhail Klimentyev/Russian Presidential Press and Information Office/ITAR-Tass/imago-images

    Am 8. Juli ließ der stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrats, Dimitri Medwedew, wieder einmal eines seiner patriotischen Postings vom Stapel, in dem er wie üblich nicht mit heftigen Ausdrücken geizte. Er nannte US-Präsident Joe Biden einen „verschlafenen Volltrottel“ und „kranken, dementen alten Mann“ und schloss mit der Vermutung: „Vielleicht ist aber auch alles ganz anders. Vielleicht hat der von kranken Fantasien geplagte sterbende Alte einfach beschlossen, einen schönen Abgang hinzulegen – das nukleare Armageddon auszulösen und die halbe Menschheit mit ins Jenseits zu nehmen …“ 

    Medwedews Bild vom alten Biden, der die nukleare Keule schwingt

    Medwedews Äußerung über „den Alten“ wurde prompt überall in den sozialen Netzwerken zitiert, allerdings aus dem Zusammenhang gerissen und umgedeutet. Bei dem Bild eines sterbenden alten Mannes, der die nukleare Keule schwingt und die halbe Welt mit in den Abgrund reißen will, dachten die Menschen an jemanden ganz anderen, als der Autor wohl beabsichtigt hatte. 

    Medwedews Worte sind schon die zweite öffentliche Äußerung in den letzten Monaten, bei der das Bild des Großvaters oder Opas als Anspielung auf Putin verstanden wird. Die erste hatte es in einem Monolog von Jewgeni Prigoshin gegeben, in dem der Chef der Wagner-Gruppe nach Kräften einen gewissen „Opi“ beschimpfte: „Opi ist glücklich und glaubt, dass es ihm gut geht. […] Aber was soll das Land tun, wenn sich, nur mal angenommen, plötzlich herausstellt, dass dieser Großvater eigentlich ein Flachwichser ist?“

    Mit dem glücklichen Opi sei keinesfalls Putin gemeint, so Prigoshin

    Prigoshin selbst erklärte dann, mit „Opi“ sei keinesfalls Putin gemeint gewesen, und bot drei Alternativen zur Auswahl an: Michail Misinzew, ehemaliger stellvertretender russischer Verteidigungsminister, Waleri Gerassimow, Chef des Generalstabs der russischen Armee, sowie Natalja Chim, ehemalige Teilnehmerin der Reality-Show Dom 2, die in den sozialen Netzwerken Kisten mit Munition feilgeboten hatte. Weshalb er für die Rolle des mysteriösen „Opas“ auch eine Frau aufführte, blieb Prigoshins Geheimnis. 

    Wen auch immer Prigoshin gemeint haben mag, sein Monolog und Medwedews Telegram-Post haben gezeigt, wie stark das Bild des Opas mittlerweile mit Wladimir Putin assoziiert wird. 

    Lange Zeit war er ein echter Superman und Macho

    Der russische Präsident hat sich lange als echter Superman, Macho und Sexsymbol inszeniert: Er schwang sich mit nacktem Oberkörper aufs Pferd, tauchte nach antiken Amphoren, flog mit Kranichen, und Frauen besangen ihn und machten ihm Liebeserklärungen in den sozialen Medien. 

    Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“, und ab wann genau wurde „Großvater“ zum bevorzugten Spitznamen für Putin? 

    Dem Newsletter Signal zufolge verdankt er diese Bezeichnung dem Meme „Opa, nimm deine Tabletten, sonst kriegste nen Tritt in den Arsch“, das nach Alexej Nawalnys Verhaftung im Januar 2021 als Parole bei Unterstützungsaktionen verwendet wurde. 

    Wann wurde aus dem Macho der „gute Opa der Nation“?

    In Wirklichkeit begann Putins Metamorphose jedoch schon lange davor. Anfang September 2017 erschien im Magazin The New Times die Kolumne Putin als Großvater der Nation. Der Journalist Andrej Kolesnikow verglich darin den russischen Präsidenten mit Lenin: 

    „Auch Putin trifft sich in letzter Zeit oft mit der Jugend – jedenfalls öfter als mit den Vertretern anderer Altersgruppen. Wladimir Iljitsch wurde „Großväterchen Lenin“ genannt, obwohl er in einem Alter war, in dem ein ordentlicher Staatsoligarch heute gerade mal seine alte Frau gegen eine neue austauscht, die besser zu seiner eben erworbenen Yacht passt. Und ja, auch Putin verwandelt sich im Lauf seiner Direkten Drähte, Tauriden und Offenen Unterrichtsstunden nach und nach vom Vater der Nation zu ihrem Opa. Die Jugend unterhält er größtenteils mit fantastischen Erzählungen über Drohnen, Marsflüge, künstliche Intelligenz und die Passionarität des russischen Volkes, dank derer es seine Souveränität für tausend Jahre sichern und ausweiten, die eigenen Stiefel im Pazifik sauber– und alle anderen im Scheißhaus kaltmachen wird.“ 

    Tatsächlich wurden damals, 2017, einige Zusammentreffen Putins mit Studierenden und Schülern organisiert. Grund dafür war vermutlich die wachsende Popularität Nawalnys, der sich schon immer darauf verstand, eine gemeinsame Sprache mit der Jugend zu finden. Damals gab es überall im Land Kundgebungen seiner Anhänger gegen die Korruption. Laut der Politologin Maria Snegowaja „versuchten die Imagemacher des Kreml, als sie Nawalnys Popularität unter jungen Leuten bemerkten, zunächst auch Putin ein für diese Altersgruppe attraktives Image zu verleihen“. Dies habe jedoch nicht funktioniert und deshalb habe der Kreml auf das Bild des „Großvaters der Nation“ zurückgreifen müssen. 

    Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet 

    Die bekannte Linguistin Jelena Schmeljowa, die die rhetorischen Profile von Politikern untersucht, stellte schon 2018 in einem Interview mit dem Radiosender Golos Ameriki (Voice of America) fest, dass sich der Wandel von Putins Image vom Macho zum Großvater bereits vollzogen habe. Die Treffen mit den Schülern hätten nicht die (vom Kreml) erwünschte Wirkung gehabt, sondern Putins Unfähigkeit, die Sprache der heutigen Jugend zu sprechen, nur noch offensichtlicher werden lassen. 

    „Selbst sein Markenzeichen, die politisch unkorrekten Scherze, sind schon veraltet. Sie finden bei dieser Zielgruppe keinerlei Anklang. Bei einem Treffen mit Schülern des Sirius-Zentrums für hochbegabte Kinder in Sotschi stellte ein Junge eine Frage – eine sehr kluge übrigens: Er nannte seinen Familiennamen, der armenisch war, und sagte, er sei aus Tjumen. Darauf sagte Putin (ich erinnere mich nicht genau an den Familiennamen des Jungen, sagen wir Aslamasjan): ‚Aslamasjan aus Tjumen? Ist es da nicht ein bisschen zu kalt für dich?‘ Dem Jungen kippte die Kinnlade runter, er verstand das einfach nicht. Denn das ist nicht die Art von Scherzen, die bei der Jugend heute gut ankommt.“ 

    Putin bekam das Image des drögen Großvaters verpasst

    Laut Schmeljowa habe man wohl nach diesem Vorfall beschlossen, Putin das Image des redlichen, langweiligen Großvaters zu verpassen, der durch Erfahrung lebensklug ist und sich um alle kümmert. 

    Etwas später bestätigte auch Putin selbst, dass er sich dieses Image zu eigen gemacht hatte. Auf seiner traditionellen Pressekonferenz bemerkte er eine Journalistin, die ein Plakat mit der Aufschrift „Putin bye-bye“ hielt, und ließ ihr das Wort erteilen. Wie sich herausstellte, stand auf dem Plakat in Wirklichkeit „Putin – babai“. Die Journalistin, die aus Tatarstan kam, erklärte, dass „babai“ das tatarische Wort für „Großvater“ sei. Putin tat die Sache mit einem Scherz ab: Im Alter habe eben seine Sehkraft nachgelassen. 

    Beim Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der Hauptkandidaten

    Kurz, das Image Putins als Opa kam schon lange vor 2021 in Umlauf. Massenhafte Verbreitung, später dann noch mit dem Beiwort „Bunker-“, hat dieser Spitzname jedoch tatsächlich durch Nawalny und seine Anhänger gefunden. Beim unabhängigen russischen Wettbewerb Wort des Jahres 2021 war „Bunker-Opa“ einer der drei Hauptkandidaten. 

    Der Ausdruck entstand ursprünglich während der Pandemie, als viel von Putins Selbstisolierung, seiner Angst vor Ansteckung und den strikten Quarantänevorschriften für alle die Rede war, die öffentlich mit ihm zusammentrafen. Im Juni 2020 sagte Alexej Nawalny über Putin und die ungeheuren Ausgaben für die Siegesparade in Moskau

    „Kauft mit dem Geld doch Medikamente für Rentner. […] An die Parade denken die als Letztes. Aber der Bunker-Opa will seine Parade, er muss sich ja auf der Tribüne inszenieren.“ 

    Dieser Spitzname etablierte sich später durch den Enthüllungsfilm des Nawalny-Teams zu Putins Palast in Gelendshik, in dem ein riesiger Bunker erwähnt wird. 

    Im Februar 2021 fügte Nawalny ihm bei seinem Schlusswort vor dem Stadtgericht in Chimki ein weiteres Beiwort an: „Der langfingrige Bunker-Opa“. 

    Yandex blockiert das Anzeigen von Putin-Bildern beim Suchbegriff Bunker-Opa

    Im Januar 2023, auf dem Höhepunkt des Kriegs gegen die Ukraine, brachte ein großes Datenleck des Quellcodes der Yandex-Dienste an den Tag, dass die Suchmaschine das Anzeigen von Putin-Bildern blockiert, wenn der Suchbegriff „Bunker-Opa“ (bunkerny ded) eingegeben wird. 
    Die Wörter „Ded“ und „Deduschka“ haben auf Russisch unterschiedliche Konnotationen. Inzwischen hat der Kreml jedoch offenbar mit beiden Probleme – sowohl mit dem Begriff „Ded“, der mit der Armee bzw. dem kriminellen Milieu assoziiert wird, als auch mit dem drolligen „Deduschka“ (dem Opa in Pantoffeln, der vergessen hat, seine Tabletten zu nehmen). Nach Informationen von Journalisten der Moscow Times wurde sofort nach Prigoshins Meuterei und seinen Anspielungen auf den „glücklichen Opi“ damit begonnen, auf schnellstem Weg ein neues Image für Putin zu kreieren. 

    Ein neuer Putin?

    Der neue Putin soll nicht mehr im Bunker hocken, sondern für alle zugänglich sein – ein Präsident zum Anfassen, dem man sogar einen Kuss geben kann. Was bei Putins dritter Metamorphose nach dem Macho und dem Großvater herauskommen wird, ist noch offen. Doch es wird sicher nicht leicht werden, das neue Image durchzusetzen – gerade, weil der Spitzname schon ziemlich fest haftet. Um es mit Andrej Kolesnikows Worten aus der letztjährigen Kolumne zu sagen: „Man kann den Opa aus dem Bunker herausholen, aber nie den Bunker aus dem Opa.“  

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • Mörder mit Tapferkeitsorden

    Mörder mit Tapferkeitsorden

    „Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus.“ Allem Anschein nach sagt diese Worte auf einem Videomitschnitt Jewgeni Prigoshin, Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner, dem die ukrainische Generalstaatsawaltschaft Kriegsverbrechen vorwirft. 

    Das Begnadigungsrecht übt in Russland der Präsident aus. Anfang Januar haben Journalisten den Präsidentensprecher gefragt, ob Prigoshin recht hat, dass einige Häftlinge-Söldner begnadigt wurden: Peskow wich einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne.

    Es ist nicht bekannt, wie viele Gefängnisinsassen in den russischen Krieg gegen die Ukraine gezogen sind und wie viele begnadigt wurden. Die Journalistin Nina Abrossimowa hat für Holod und Nowaja Wkladka mit einem von ihnen gesprochen: Stanislaw Bogdanow aus Weliki Nowgorod wurde wegen brutalen Mordes zu 23 Jahren Haft verurteilt. 2022 zog er in den russischen Krieg und kehrte ohne Bein aus der Ukraine zurück. 

    Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Gewalttaten.

    Im Oktober 2022 bekam die Rentnerin Olga Pawlowa von mehreren Bekannten denselben Link geschickt zu einem zweiminütigen Video. Fünf Männer sitzen abends auf dem Dach eines Hotels und unterhalten sich. Zwei von ihnen fehlt ein Bein, einem ein Fuß, einem ein Arm. Der einzige unversehrte Gesprächsteilnehmer ist der Gründer der Söldnergruppe Wagner Jewgeni Prigoshin.

    „Aus der TschWK Wagner entkommt man nur als Rentner oder im Zinksarg”, sagt Prigoshin und lacht. „Alles klar, was soll schon sein, alles in Ordnung, oder?”
    „Ja, alles in Ordnung”, antwortet der junge Mann ohne Bein im grauen Hoodie. „Von so etwas hier hätte ich in meiner Situation nur träumen können. Im Fernsehen sehen und träumen.”
    „Wie lange hättest du noch sitzen müssen?”, fragt Prigoshin interessiert nach.
    „Zehn hatte ich schon, 13 musste ich noch. Viel.”
    „Du warst – so nennt man das – ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld.”

    Du warst ein Gesetzesbrecher, jetzt bist du ein Kriegsheld

    Pawlowa wird übel. Der „Gesetzesbrecher” – Stanislaw Bogdanow – hat vor zehn Jahren ihren Bruder totgeschlagen. Sie hatte die Leiche gefunden und danach das Haus von den Blutspuren befreit. Das Gericht hatte den Mörder zu 23 Jahren Strafkolonie mit strengem Regime verurteilt. Nun sitzt er auf einem Rattansofa, im Hintergrund die nächtliche Stadt, auf seinem Hoodie prangen Orden.

    Am nächsten Tag veröffentlicht die Nachrichtenagentur RIA FAN, die Prigoshin gehört, ein weiteres Video: dieselben vier verletzten Männer bekommen der Reihe nach rote Samtkästchen mit Tapferkeitsorden und Gedenkanstecker der Söldnergruppe Wagner für ihre Verwundungen, Urkunden vom Chef des Nationalen Zentrums für Verteidigungsverwaltung, Pässe und Begnadigungsbescheinigungen; das alles findet, wie die Nachrichtenagentur mitteilt, im Krankenhaus von Luhansk statt. In einem kurzen Interview nach Überreichung der Auszeichnungen teilt Bogdanow mit, dass er das Bein während eines nächtlichen Beschusses verloren habe: „Ein Geschoss traf meinen Kumpel, das zweite mein Bein.”

    Gibt es jemanden, der euch aus der Zone holen kann?

    Mit der Anwerbung von Strafgefangenen für den Krieg gegen die Ukraine hatte die Söldnergruppe Wagner im Sommer 2022 begonnen. Auf dem Video aus Joschkar-Ola, das Mitstreiter von Alexej Nawalny veröffentlichten, kam Prigoshin persönlich und versprach den Verurteilten, dass man sie nach einem halben Jahr Vertragsdienst begnadigen würde. „Zur Frage nach den Garantien und dem Vertrauen: Gibt es jemanden, der euch trotz zehnjähriger Haftstrafe aus der Zone holen kann? Was meint ihr?“, sagt der Geschäftsmann auf dem Videomitschnitt. „Es gibt genau zwei, die das können: Allah und Gott – und zwar in einer Holzkiste. Aber ich hole euch lebendig hier raus. Nur bringe ich euch nicht unbedingt lebendig zurück.“ Neben dem Versprechen auf Freiheit gab es das auf Entlohnung: Die Häftlinge sollten genauso viel bekommen wie die regulären Wagner-Kämpfer und eine „Sargprämie“ in Höhe von fünf Millionen Rubel [gut 60.000 Euro – dek] im Falle des Todes an der Front. Laut Olga Romanowa von der Organisation Rus sidjaschtschaja meldete sich in verschiedenen Kolonien im Durchschnitt jeder Fünfte für den Dienst in der Wagner-Gruppe.

    Auch Stanislaw Bogdanow, der wegen Mordes in der Strafkolonie IK-7 Pankowka in seiner Heimatstadt Nowgorod einsaß, unterzeichnete den Vertrag. Schon Anfang August fand er sich in den Schützengräben bei Luhansk wieder, wurde jedoch bald verwundet – und traf sich einige Wochen später mit Prigoshin in Gelendshik.

    Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum?

    Mitte November bekam ich eine Nachricht von Bogdanow im sozialen Netzwerk VKontakte: „Hallo Nina. Warum wühlen Sie in der Vergangenheit herum? Ich bin keine bekannte Persönlichkeit, meine Vergangenheit interessiert niemanden. Jetzt werden sie Dreck über mich verbreiten. Egal, was ich sage oder schreibe, es wird sowieso alles verdreht. So viele Jahre sind vergangen und alles umsonst. Ich werde mich nicht bemitleiden. Was war, das war, man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Ja, ich habe lange gesessen, und das hat mich geprägt, ich bin geduldiger geworden und kann gut mit der Traurigkeit umgehen. Es war meine Entscheidung, mich der Wagner-Gruppe anzuschließen, niemand hat mich dazu gezwungen.“

    Eine halbe Stunde später folgte noch eine Nachricht: „Ich habe nicht vor, in mein altes Leben zurückzukehren. Ich werde nur nach vorne sehen, so wie man es mir beigebracht hat, und ich werde die Jungs nicht vergessen. Sie bleiben in meiner Erinnerung, sie waren bis zum Ende bei mir, und ich werde an sie denken, solange mein Herz schlägt. … Hören Sie auf zu urteilen. Ich habe das gemacht, um mein Land zu verteidigen, um etwas zu ändern, ich habe nichts zu verlieren, ich würde auch mein Leben hergeben, wenn es sein muss. Aber nur für den Sieg unseres Landes …“

    Ich schlug Bogdanow vor zu telefonieren. Er schickte mir seine Nummer.

    Bogdanow verkehrte in Kreisen, wo „fast jeder kriminell war”

    Bogdanow und sein Opfer Sergej Shiganow lebten in Nowgorod ganz in der Nähe voneinander, aber sie kannten sich nicht und wären wahrscheinlich auch keine Freunde geworden. Der 32-jährige Sergej war junger Richter, trug eine Taschenuhr mit Kettchen, wünschte sich die Wiedereinführung der Monarchie und las Fantasyromane. Eines der Zimmer in seiner Wohnung hatte er im viktorianischen Stil dekoriert: dunkle Möbel, Seidentapete, an den Wänden Deko-Schilde und -Schwerter. „Es sah nicht unbedingt aus wie ein Rittersaal aus dem 14. Jahrhundert, aber sehr interessant“, sagte ein Zeuge, der einmal dort zu Besuch war.

    Der 25-jährige Bogdanow verkehrte in Kreisen, in denen laut seiner Aussage „fast jeder kriminell war: manche hatten gesessen, andere waren auf Bewährung draußen, wegen Raubüberfällen, Vandalismus“. Er selbst hatte Anfang der 2010er Jahre bereits viereinhalb Jahre Haft wegen vorsätzlicher schwerer Körperverletzung, Vandalismus, Raubes und Autodiebstahls abgesessen. Er fuhr ohne Führerschein Auto: „Wenn sie mir [das Auto] wegnehmen – auch egal.“ Arbeitete auf dem Bau. Trank billiges Bier. Weil er nuschelte, nannten ihn seine Bekannten Mjamja.

    Am Sonntag, den 23. September 2012, fuhr Bogdanow in die Ortschaft Krestzy, eine Autostunde entfernt von Nowgorod: Er sollte Freunden auf einer Baustelle aushelfen. „Als ich hinkam, hingen sie gerade mit ein paar Mädels rum. Ich hab mitgemacht. Natürlich hab ich auch ein paar Bier getrunken.“

    Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt

    Auch Richter Shiganow fuhr an dem Abend nach Krestzy: Er lebte und arbeitete dort, Familie hatte er keine. Die Wochenenden verbrachte er lieber in seiner Wohnung in Nowgorod und kehrte zum Anfang der Arbeitswoche zurück in das Haus, das er von seiner Großtante geerbt hatte.

    Gegen 23 Uhr kam Shiganow bei seinem Haus an. Der betrunkene Bogdanow und sein Freund saßen gerade ganz in der Nähe im Auto. Als Shiganow versuchte, das Tor aufzuschließen, klemmte es, und er fragte die beiden Männer nach Hilfe. Bogdanow sprang über den Zaun und schob den Riegel nach oben. Shiganow bat seine neuen Bekannten rein. Dann, erzählt Bogdanow, habe ihn der Richter gefragt, ob er schon mal gesessen hätte und warum – und daraufhin wohl gesagt, er möge doch bitte nichts aus seinem Haus klauen. Das brachte Bogdanow laut eigener Aussage auf die Palme. „Er hat noch so dumm gegrinst, dachte wohl, er geht aufs Klo und ich räum in der Zeit seine Bude leer“, erinnert er sich. „Da hab ich diesen Schürhaken genommen und ihm den Schädel eingeschlagen. Er stand natürlich wieder auf: Er war 1,95, einen Kopf größer als ich, und 40 Kilo schwerer. Was sollte ich mit ihm machen? Den Rest erledigte ich von Hand.“

    Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens

    „Shiganow hat eine Bestie in mir geweckt. Ich war selbst überrascht. Als hätte mir der Teufel auf die Schulter geklopft und gesagt: ‚Komm, Stas, mach jetzt, schlag ihn tot, niemand braucht den Typen auf dieser Erde!‘, erzählt Bogdanow weiter. „Sie wissen doch, wie der sich aufgeführt hat, oder? Wie diese Richter durch die Gegend fahren? Rasen besoffen, fahren die Leute tot – und kommen davon. Das wissen Sie doch, oder? Haben Sie diese Videos gesehen? Wie die in diesen schicken Bars sitzen? Und dann mit einer Knarre rausgehen und einfach jemanden abknallen?“ Als ich erwiderte, dass von Shiganow nichts dergleichen bekannt sei, antwortete Bogdanow, dass er „ja grad erst so einer geworden“ sei: „Außerdem, wer weiß, vielleicht hat er kleine Mädchen vergewaltigt.“

    Bogdanow quälte sein Opfer bis fünf Uhr morgens, indem er seine Versuche aufzustehen oder sich irgendwie zu einigen, mit dem Schürhaken unterband. Bogdanow fand weder Geld noch Schmuck, zwang Shiganow aber unter Folter dazu, die PIN-Codes zu seinen Bankkarten rauszugeben. Den tödlichen Schlag versetzte Bogdanow ihm mit einer Hantel: Ließ sie dreimal aus der Höhe seiner Körpergröße auf dessen Kopf fallen.

    „Erst wollte ich das Bügeleisen nehmen, aber das hat scharfe Kanten, und die Hanteln waren rund“, erklärt Bogdanow ungerührt. „Ich dachte, ich sollte lieber nicht alles mit Blut vollspritzen, und schlug ihn mit der Hantel. Naja, um sein Gehirn nicht überall zu verteilen.“

    In der Strafkolonie IK-7 verbrachte Stanislaw Bogdanow zehn Jahre: Das Gericht verurteilte ihn zu 23 – selbst für Mörder ein hartes Strafmaß –, weil er Wiederholungstäter war und die Tat mit einem Raubüberfall einherging.

    Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin

    Vom Beginn des *** (der „Spezialoperation“) erfuhren sie in der Strafkolonie über den Fernsehsender REN-TV. Bogdanow war den Nachrichten gegenüber skeptisch. „[Dort wurde gesagt, dass] das Verteidigungsministerium vorrückt, jeden Tag um zwei, drei Kilometer. Ich zählte das zusammen und da kam für mich raus, dass wir schon bis Polen gekommen sein müssten, bis Warschau“. Als dann Jewgeni Prigoshin in die Strafkolonie kam und den Häftlingen vorschlug, in den Krieg zu ziehen, meldete sich Bogdanow sofort. „[Ich wurde gefragt,] warum ich das will“, erinnert er sich an das Gespräch, das nach seinen Worten mit Prigoshin selbst stattfand. „Ich sagte, dass ich was in meinem Leben verändern will, ausprobieren will, wozu ich noch fähig bin, außer zu diesem Leben hier.“

    Die Kolonieverwaltung erlaubte den Häftlingen nicht, persönliche Sachen mit in den *** (die „Spezialoperation“) mitzunehmen. „Die Leute vom FSIN [dem Föderalen Strafvollzugsdienst – dek] sagten: ‚Ihr dürft nichts mitnehmen, nur ein paar Schachteln Zigaretten‘,“ erzählt Bogdanow. „Und als wir [auf der Wagner-Basis] ankamen, bekamen wir zu hören: ‚Warum habt ihr nichts dabei? Sind die denn dort völlig verrückt geworden?‘ Sie mussten dann natürlich alles für uns kaufen. Handtücher, Seife und Zahnpasta. Socken und Unterhosen. Wir bekamen gute Kleidung. Zwei Paar Stiefel, Jacken, drei Anzüge. Und Sportschuhe. Da gab es überhaupt keine Probleme. Die Jungs fingen an zu streiten: „Scheiße, wir geh’n da als Kanonenfutter hin, oder?“ Ein anderer sagte: „Was laberst du denn von Kanonenfutter, die haben viele Millionen in uns reingesteckt, schau mal unsere krasse Ausrüstung!“

    Während der einwöchigen Ausbildung hatte er zum ersten Mal ein Sturmgewehr in der Hand

    Während der Ausbildung bei Wagner lernte Bogdanow, mit einem Sturmgewehr zu schießen; er hatte da zum ersten Mal eines in der Hand – er war nicht bei der Armee gewesen. Auch war er noch nie einen ganzen Tag bei Hitze mit einer Schutzweste herumgelaufen. Erholung gab es keine. Wo genau er ausgebildet wurde, erzählt Bogdanow nicht. Seinen Angaben zufolge dauerte die Ausbildung eine Woche; ein anderer Häftling, der zusammen mit Bogdanow ausgezeichnet wurde, sagte gegenüber der RIA FAN, dass sie „praktisch einen Monat lang“ trainiert wurden.

    Am 31. Juli wurde Bogdanow zusammen mit anderen Häftlingen aus seiner Strafkolonie (rund 200, sagt er) in die Ukraine geschickt. Dort wurden sie im Gebiet Luhansk eingesetzt. Bogdanow sagt, seine „Arbeit“ bestand darin, „etwas zu schlafen, sich aufzurappeln und vorzurücken“.

    „Wir waren vorbereitet, aber nicht darauf, dass derart auf uns eingedroschen wird“, erzählt er. „Wenn da was aus dem Nichts angeflogen kommt, heilige Scheiße! Da ist es schwer, auch nur einen Tag zu überleben. Es gab da Leute, die kamen an und waren einen Tag später schon nicht mehr am Leben. Da muss man sich jeden Schritt überlegen.“

    Bogdanow selbst hielt sich acht Tage an der Front. Am Abend des 7. August, sagt er, habe die ukrainische Seite seine Gruppe mit Panzern beschossen: In der Dunkelheit sah er etwas grell aufblitzen, dann riss ihm ein Granatsplitter die Wade ab – sie hing nur noch an einer Sehne. Bogdanow schrie laut auf: „Dreihunderter!“ (das bedeutet „Verletzter“). Er wurde verbunden und man rief die Rettungsgruppe. Er machte sich Sorgen, dass man ihn nicht herausholen würde. Er sagt, dass seine Einheit am Morgen des selben Tages erst dort Position bezogen hatte und der Weg dorthin noch nicht gesichert war: Überall lagen schwer zu erkennende Schmetterlingsminen. Ihm kam der Gedanke, ob er sich nicht besser erschießen sollte, um nicht mehr die Schmerzen ertragen zu müssen. Er hielt es aber aus, bis dann seine Leute mit der Trage kamen.

    Sein Leben nach der Verwundung bezeichnet Bogdanow als „Märchen“

    Im Krankenhaus in Luhansk wurde Bogdanow das Bein unterhalb des Knies amputiert. 
    Sein Leben nach der Verwundung beschreibt Bogdanow als „unvorstellbar” und „wie im Märchen“. Im November war er mit anderen verwundeten Wagner-Söldnern in der Reha, nämlich in einem Sanatorium im Dorf Witjasewo bei Anapa. Sie waren in Zweibettzimmern untergebracht, lebten auf einem umzäunten Gelände, durften aber zum Einkaufen (solange es nicht um Alkohol oder Energiedrinks ging) oder zum Strand gehen.

    Irgendwann wurde für die verwundeten Söldner ein Ausflug organisiert. Sie gingen im Alten Park in Kabardinka zusammen mit anderen Touristen spazieren. Das hat Bogdanow gefallen: „Wir sind ja solche Jungs, wir sitzen unser ganzes Leben im Knast, keiner hat je was anderes gesehen.“ Für alle Fälle fügt er hinzu, dass die Gruppe „niemanden angefallen hat“.

    Die Reha-Ärzte haben Bogdanow auf eine Prothese vorbereitet. Seit dem 24. November hat er sich nicht mehr gemeldet; ob die Operation stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Sein verhärteter Stumpf mit tiefen Narben wurde mit Elektroschocks gelockert, ihm wurden Videos mit Übungen gezeigt, die er im Sportstudio beim Sanatorium machen konnte. Die ganze Zeit über erhielt der ehemalige Häftling von der privaten Militärfirma Sold ausgezahlt: 200.000 Rubel im Monat [rund 3000 Euro – dek].

    „Ich bau mir ein Leben auf, was denkst denn du!“, sagte Bogdanow, als ich ihn fragte, was er mit dem Geld vorhat. „Jetzt ist Schluss mit dem Klauen, jetzt muss ich Geld verdienen, ein Haus bauen und von vorn anfangen. Ich geh‘ auf den Friedhof, zum Grab von diesem Richter, werde nicht mal trinken, sondern einfach eine Weile sitzen und mich bei ihm entschuldigen. Wir hatten zusammengesessen, getrunken, es kam zum Streit und ich habe ihn umgebracht. ‚Verzeih, Bruder‘, das werde ich ihm sagen!“

    „Und bei seiner Mutter oder seiner Schwester wollen Sie sich nicht entschuldigen?“

    Bogdanows Antwort war, dass das nichts ändern würde. „Das würde alles wieder aufreißen, damit würde ich es nur verschlimmern. Vielleicht würde sie [die Mutter] sterben? Das Herz [macht es vielleicht nicht mit]. Dann bringen sie mich wieder hinter Gitter und beschuldigen mich, dass ich sie vergiftet oder erschlagen habe.“

    Der Alptraum wiederholt sich in klein

    Olga Pawlowa erzählt, dass Sergej Shiganows 83-jährige Mutter nach dem Tod ihres Sohnes in dessen Wohnung gezogen ist. Alle Sachen, die dem ermordeten Richter gehörten, lässt sie an ihrem Platz; ihre eigenen Mäntel hängt sie auf den Balkon.
    „Sie rührt nichts an und lässt auch mich nicht“, sagt Shiganows Schwester. „Sie bringt es nicht übers Herz, etwas wegzugeben. Ich frage nicht nach. Immer heißt es sofort: ‚Das gehört Serjosha.‘ Am Anfang hat sie mich sogar [gerufen]: ‚Serjosha! … Ach Gottchen, Olga!‘ Hat uns verwechselt.“

    „Als das jetzt wieder hochkam – und dass er [Bogdanow] zurück ist, da hatte ich wieder dieses Bild im Kopf mit dem Blut auf dem Boden und der Leiche“, setzt Pawlowa fort. „Als ob sich der Albtraum in klein wiederholte.“

    Der Mutter hat sie die Neuigkeit nicht erzählt, sie hat auch alle Bekannten um Verschwiegenheit gebeten. Trotzdem fanden sich solche „Wohlmeinenden“, die es erzählten. „Zuerst war sie noch so na ja, aber am nächsten Tag war sie fix und fertig“, sagt Pawlowa. „Nach dem Motto: Was soll das, mein Sohn ist tot, und der sitzt da mit seinen Medaillen und Ehrungen. Und die Strafe ist erlassen.“ (Zu Shiganows Mutter konnte ich keinen Kontakt herstellen.)

    Begnadigt werden kann ein Häftling nur per Erlass des russischen Präsidenten. Bisher wurde kein einziger solcher Erlass veröffentlicht. Anfang Januar berichteten jedoch RIA Nowosti und RIA FAN von zwei weiteren Dutzend begnadigten Häftlingen, die angeblich ein halbes Jahr an der Front verbracht hatten (zusätzlich zu Bogdanow und den anderen drei Männern, die Prigoshin im Oktober ausgezeichnet hat). Auf die Frage von Journalisten, ob der Präsident entsprechende Amnestien unterzeichnet habe, wich Putins Pressesprecher Dimitri Peskow einer Antwort aus, indem er zweimal wiederholte, dass eine Begnadigung nur im strikten Einklang mit dem Gesetz erfolgen könne. 

    Wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wären diese Nazis durchmarschiert. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht

    Ich erzählte Bogdanow, wie Shiganows Familie auf seine Freilassung reagiert hat.
    „Das hat nichts mehr mit mir zu tun. Es heißt ja, die Zeit heilt“, sagte er.
    „Die Mutter hat die Zeit irgendwie nicht geheilt.“
    „Dann ist es nicht meine Schuld.“
    „Sie haben ihrem Sohn das Leben genommen – für sie sind Sie schuldig, und dabei sind Sie in Freiheit und haben einen Orden.“
    „Vielleicht habe ich ja jemand anderem das Leben gerettet, indem ich mein Leben, meine Gesundheit riskiert habe.“
    „Wem denn?“
    „Na ja, das wissen wir noch nicht, wem ich das Leben gerettet habe, womöglich. Werden wir auch nie erfahren. Weil, wenn ich nicht diesen Weg eingeschlagen hätte, wenn niemand diesen Weg gegangen wäre, dann wären diese Nazis durchmarschiert und hätten dort die Leute umgebracht. Die wären bis nach Russland gekommen, Mannomann, und hätten es plattgemacht. Was dann?“

    Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu

    Bogdanow sieht seine Zukunft in den Wagner-Strukturen. „Ich finde, sie haben mir eine Tür geöffnet“, erklärt er. „Wozu behandeln sie uns denn jetzt? Ja wohl nicht, um uns zu entlassen, wenn wir gesund sind. Dieses Unternehmen wächst, und es lässt seine Leute nicht im Stich. Wir werden immer Geld haben. Wir werden Arbeit haben, auch wenn dieser Krieg vorbei ist. An anderen Orten wird er weitergehen.“

    In seiner Heimatstadt Nowgorod verspricht Bogdanow nicht mehr aufzutauchen. „Ich habe da niemanden. Wenn ich hinfahre, seh ich wieder diese Saufköpfe, meine Kumpel, Freundinnen. Wo waren sie die ganzen zehn Jahre? Ich hab Scheiße gebaut, ja, hab jemanden umgebracht. Na, und vorher war ich brav, oder was? Jetzt rufen sie mich an, schreiben: ‚Wieso antwortest du nicht?‘ Mir reicht’s, ich blockiere sie alle! Ich hab jetzt ein neues Leben. Ich hab neue Kumpel, neue Freunde, eine neue Familie. Denen bleibe ich treu.“

    Das Video mit Bogdanows Auszeichnung ging durch Dutzende öffentliche Kanäle auf VKontakte und rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Die einen nennen den Ex-Häftling einen „Vampir und Menschenfresser“ und haben Angst vor seiner Rückkehr in die Stadt, für die anderen ist er ein Held, der [das Verbrechen] „mit Blut abgewaschen hat“. Letztere schlugen vor, Bogdanow in den Patriotismus-Unterricht „Gespräche über das Wichtige“ an Schulen einzuladen.

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    „Ihr seid keinen Deut besser“ – Whataboutism in der Kreml-Rhetorik

    Wer Geld aus dem Ausland bezieht oder bei wem nur der Verdacht besteht, mit ausländischen Geldgebern im Zusammenhang zu stehen, dem droht in Russland der Status des „ausländischen Agenten“. Die Gesetzgebung dazu gibt es bereits seit zehn Jahren, sie wurde immer mehr ausgeweitet und erfährt willkürliche Anwendung auf unliebsame Stimmen. Das russische Justizministerium gibt üblicherweise freitags bekannt, wer diesmal mit dem Label „ausländischer Agent“ als Spion im eigenen Land gebrandmarkt wird – seien es NGOs, Medien(schaffende), Forschende oder Künstler. Der Status bringt Einschränkungen und Schikanen für die Betroffenen mit sich. Viele von ihnen sind nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ins Ausland geflohen. Denn der Status zeigt an: Man ist im Visier der Sicherheitsorgane. 

    Zum 1. Dezember 2022 tritt nun eine Gesetzesänderung in Kraft, wonach nun allein die Feststellung eines „ausländischen Einflusses“ für diese Einstufung ausreichen kann. Auf der Webseite der Staatsduma verkündet deren Vorsitzender Wjatscheslaw Wolodin dazu: „Einem, der mit fremder Stimme singt und dafür Geld bekommt, muss klar sein, dass [eine Einstufung als] ‚ausländischer Agent‘ noch das Demokratischste ist, was andere Länder in solchen Fällen unternehmen. Überall gibt es Haftstrafen dafür, Freiheitsentzug und anderes mehr […]“. Der russische Präsident Putin argumentierte ähnlich, als er das Vorhaben im Sommer unterschrieben hat. 

    „Die anderen machen es genauso, sogar noch schlimmer“ – das Magazin Holod fragt, was sich hinter einer solchen Rhetorik verbirgt, die sich sinngemäß durch viele offizielle Verlautbarungen in Russland zieht, in allen möglichen Bereichen. Gemeinsam mit der russischen Politologin Ekaterina Schulmann analysiert Holod diese Taktik, die aus dem Repertoire sowjetischer Propaganda schöpft. Längst ist sie auch aus sozialen Medien bekannt: als Whataboutism.

    Am 14. Juli unterzeichnete Wladimir Putin ein Gesetz zur „Kontrolle der Tätigkeit von Personen, die unter ausländischem Einfluss stehen“. Darunter fallen alle in Bezug auf „ausländische Agenten“ existierenden Normen. Die wichtigste Neuerung ist, dass der Staat ab jetzt jeden zum „ausländischen Agenten“ erklären kann, der „unter ausländischem Einfluss steht“ (eine Erläuterung dieser schwammigen Formulierung bleibt das Justizministerium bislang schuldig).

    Bei der Debatte zum Gesetzentwurf verwies der Vorsitzende der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin auf die Erfahrung anderer Länder und betonte die „Liberalität“ des russischen Gesetzes: „Einem, der mit fremder Stimme singt und dafür Geld bekommt, muss klar sein, dass [eine Einstufung als] ‚ausländischer Agent‘ noch das Demokratischste ist, was andere Länder in solchen Fällen unternehmen.“

    Damit setzt er die Rhetorik von Wladimir Putin fort: Der russische Präsident erzählt seit 2012 von der „ausländischen Erfahrung“ in Bezug auf „ausländische Agenten“. Damals hatte die Staatsduma Änderungen des Gesetzes „Über Non-Profit-Organisationen“ verabschiedet, woraufhin die ersten russischen Non-Profit-Organisationen den Status von „ausländischen Agenten“ erhielten. Und damals hatte er erstmals auf das in den USA geltende Gesetz zur Registrierung von ausländischen Agenten FARA verwiesen: „Ich finde, wir können in Russland auch ein Gesetz haben, das in den USA bereits 1938 verabschiedet wurde und immer noch in Kraft ist. Damit schützen sie sich gegen Einfluss aus dem Ausland und wenden das Gesetz schon seit Jahrzehnten an, warum soll Russland das nicht auch tun?“

    Offizielle Repräsentanten der USA hatten Putin daraufhin mehrfach widersprochen, dass nämlich FARA vornehmlich auf Lobbyisten abziele, die für ausländische Regierungen arbeiten; auch russische Journalisten und Politologen kritisierten den Vergleich mit FARA.

    Ekaterina Schulmann, Politologin und Stipendiatin der Berliner Robert-Bosch-Academy erklärt: „Der wichtigste Unterschied ist, dass es in der russischen Gesetzgebung zu ‚ausländischen Agenten‘ keinen Auftraggeber gibt, das heißt jemanden, in dessen Interesse der ‚Agent‘ letztlich tätig ist. Wenn das Justizministerium eine Organisation oder eine Einzelperson zum ‚ausländischen Agenten‘ erklärt, muss es zum Beispiel keinen Zusammenhang nachweisen zwischen dem Erhalt eines Honorars für einen Artikel und der öffentlichen Tätigkeit, die das Justizministerium für politisch hält. Zudem betrifft das FARA-Gesetz im Wesentlichen kommerzielle Strukturen wie Lobby- oder Consulting-Unternehmen sowie Medien, die von Regierungen und politischen Parteien finanziert werden, aber nicht Personen des öffentlichen Lebens, Wissenschaftler oder regionale Abgeordnete“, sagt Schulmann.

    Putin erklärte 2013, das russische Gesetz sei liberaler als das amerikanische 

    Die russische Gesetzgebung ist seither immer repressiver geworden: Zu ausländischen Agenten können nun auch Medien und Privatpersonen erklärt werden. Dabei verweist der Präsident ständig auf die Erfahrungen der USA. 2013 erklärte er – genau wie später Wolodin –, das russische Gesetz sei liberaler als das amerikanische. 

    Unter zahlreichen Meldungen der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zum Gesetz über ausländische Agenten findet sich der Hinweis, das russische Gesetz sei eine „notgedrungene Reaktion auf die Unterdrückung der russischen Medien in den USA“.

    Wolodin erzählt natürlich nicht deshalb von der Ähnlichkeit der russischen Gesetzgebung und dem amerikanischen FARA, weil man sich die besten juristischen Entscheidungen der USA abgucken will. „Etwa seit 2012 beobachten wir Aussagen eines neuen Typs – eine Reaktion auf Kritik. Wenn man etwa fragt, warum sie schon wieder den nächsten kannibalischen Gesetzesentwurf durchwinken, kriegt man zu hören, im Westen würde man dafür gehängt, das Gesetz sei dort knallhart, und überhaupt sei alles viel schlimmer. Das heißt, es werden nicht die Vorteile des Gesetzes benannt, sondern seine Mängel gerechtfertigt – dass es woanders genauso oder noch viel schlimmer sei, dass niemand besser ist, sondern alle gleich“, erklärt Schulmann.

    Die Ursprünge des Whataboutism

    1974 schrieb der irische Geschichtslehrer Sean O’Connell eine Kolumne für The Irish Times, in der er die Unterstützer der IRA kritisierte, die in ihrem Kampf für die Unabhängigkeit Nordirlands unter anderem Terroranschläge verübte. Seine Gegner nannte er Whatabouts (vom englischen „What about …?“ – „Und was ist mit …?“), denn auf jede Kritik an der IRA antworteten sie genau mit diesem Argument und verwiesen auf ein noch größeres moralisches Vergehen des Feindes.

    Später benutzten auch andere Journalisten diesen Terminus. Breit gefasst bedeutet er die Rechtfertigung einer historischen Ungerechtigkeit durch eine andere Ungerechtigkeit.

    1978 verwendete der australische Journalist Michael Bernard in einem Artikel für [die australische Zeitung] The Age den Begriff Whataboutism zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Sowjetunion. Seine Kritik richtete sich gegen jene, die behaupteten, dass man dem Kreml nichts vorwerfen könne, weil andere Länder die Menschenrechte ja genauso verletzen würden.

    Die Sowjetunion war in der Anwendung dieser Methode, die russische Diplomaten nachgewiesenermaßen bereits seit 1880er Jahren des Russischen Reiches beherrschen, bemerkenswert erfolgreich. Die sowjetischen Journalisten berichteten fleißig über Rassendiskriminierung, Finanzkrisen und die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten.

    Die Renaissance der Whataboutismen im heutigen Russland 

    Während des Kalten Krieges fanden die Whataboutismen immer häufiger und aktiver Verwendung – und verloren vielleicht auch deshalb an Überzeugungskraft, wurden zu Memes. Das bekannteste ist wahrscheinlich dieser Radio-Jerewan-Witz: Auf die Frage nach dem Durchschnittslohn eines sowjetischen Ingenieurs denken sie beim armenischen Radio Jerewan drei Tage lang nach und antworten dann: „Bei euch werden dafür Schwarze gelyncht!“

    Laut Ekaterina Schulmann war diese Art von Argumenten zwar häufiger in der Presse zu finden, aber sie war nicht Teil des offiziellen Diskurses – wenn man offizielle Vertreter der UdSSR etwa für die Erschießung von Arbeitern in Nowotscherkassk verantwortlich machte, verwiesen sie nicht auf das Lynchen von Schwarzen.

    „Der Westen wurde als aggressiv, verlogen und verfault dargestellt, aber niemand behauptete, dass man bei uns hinter Gitter kommt, wenn man was Falsches sagt, während man im Westen sofort erschossen wird. Das ist ein neues Phänomen, ein eigentümlicher Charakterzug der informationellen Autokratie, die unter den Bedingungen einer relativen Informationsfreiheit arbeitet“, sagt Ekaterina Schulmann. „Heute ist die Welt transparenter als zur Zeit der Sowjetherrschaft, die Menschen sehen und erleben zum Teil selbst, wie das Leben woanders ist. Außerdem ist es schwieriger geworden, die eigenen Sünden zu vertuschen: Es ist günstiger, sie einzugestehen und im gleichen Atemzug zu erklären, dass alle anderen noch viel schlimmer sind. Das weckt mehr Vertrauen. Ich finde es wichtig, auf diesen Unterschied zwischen der Sowjetrhetorik und der heutigen Angewohnheit hinzuweisen, herbeifantasierte westliche Gesetze mit den tatsächlich existierenden russischen zu vergleichen.“

    Während der Perestroika und nach dem Zerfall der UdSSR nahmen die Whataboutismen in der hiesigen Politik merklich ab. Ihre Renaissance im heutigen Russland datieren Forscher spätestens auf Wladimir Putins Münchner Rede, in der er den Westen mit Anschuldigungen überhäuft – einschließlich der Kritik bezüglich der NATO-Osterweiterung und den Versuchen der USA, anderen Ländern das Konzept einer „unipolaren Welt aufzuzwingen“.

    ein eigentümlicher Charakterzug der informationellen Autokratie

    Im Weiteren benutzte die russische Propaganda solche Bemerkungen als Reaktion auf jegliche Kritik am Vorgehen der russischen Regierung – angefangen bei der Annexion der Krim bis hin zur Kriegserklärung an die Ukraine. Dabei knüpfte man aber durchaus an die Erfahrung aus der Sowjetzeit an: So berichteten die staatstreuen Medien 2014 aktiv über die Ausschreitungen in Ferguson nach dem Mord an einem unbewaffneten schwarzen Jugendlichen durch einen Polizeibeamten. Die Zeitung The Moscow Times sah in diesem Interesse am Thema einen Versuch, die Aufmerksamkeit von den Ereignissen abzulenken, die zur selben Zeit in der Ukraine ihren Lauf nahmen. 2015 warf Igor Korotchenko, Mitglied des Öffentlichen Rates des russischen Verteidigungsministeriums, dem amerikanischen Journalisten Michael Bohm auf Twitter vor, Leute wie er würden „Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abwerfen und Schwarze lynchen“. 2017 schlug der russische UNO-Botschafter als Antwort auf die britische Kritik an der Annexion der Krim vor, Großbritannien solle doch erstmal die Falkland Islands und Gibraltar zurückgeben.

    „Der moderne russische Whataboutism ist ein Triumph der Emotionen über das logische Denken, des Irrationalen über das Rationale. Dasselbe lässt sich übrigens auch von der russischen Außenpolitik sagen. Schließlich ist Russland, wie es die Entscheidungsträger frei heraus erklären, aktuell damit beschäftigt, die Amerika-zentrische Weltordnung zu zerstören, allerdings ohne sich dabei allzu viele Gedanken darüber zu machen, was an ihre Stelle treten könnte. Aber um etwas zu zerstören, eignen sich primitive Waffen ohnehin viel besser als Hochpräzisionsinstrumente“, schreibt [der Historiker] Iwan Zwetkow.

    Ekaterina Schulmann ist der Ansicht, das Ziel der Whataboutism-Rhetoriker sei es, das Verständnis von Tugend und Recht zu verwischen: „Der Gedanke, der auf diese Weise in die Hirne des Publikums eingepflanzt werden soll, ist der, dass alle gleich und wir nicht schlechter sind als die anderen. Es gibt kein Vorbild, an dem man sich orientieren könnte, folglich gibt es auch niemanden, der uns unsere Fehler zum Vorwurf machen könnte. ‚Wer seid ihr überhaupt, dass ihr uns etwas erzählen wollt?‘, ‚Ihr seid keinen Deut besser. Niemand ist besser.‘ Die Politiker wollen zeigen, dass die Tugenden von Recht und Demokratie an sich nicht existieren – es gibt nur diejenigen, die so tun, als würden sie sie besitzen, und die, die gar nicht erst so tun.“

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  • „Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

    „Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

    Russlands Krieg gegen die Ukraine wird auch in den Köpfen der Menschen geführt. Das Politische schneidet dabei so scharf ins Private ein, dass ganze Familien zerbrechen. Seit der Invasion passiert das in Russland zigfach, noch mehr als das ohnehin schon seit 2014 und dem Krieg im Donbass der Fall war. Diese Kluft verläuft entlang der offiziellen Linie der russischen Führung, zwischen Eltern und ihren Kindern, unter Geschwistern, ja sogar Eheleuten. Der bekannte russische Journalist Andrej Loschak hat darüber einen Dokumentarfilm gedreht: Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch). Er wurde auf YouTube veröffentlicht, eine der wenigen Nischen, in der in Russland noch kritische Standpunkte zum Krieg zu finden sind. 

    Mit Loschak hat die ukrainische Journalistin Anna Filimonowa, Herausgeberin des Online-Magazins Majak, für Holod über seinen Film gesprochen – über Mütter, die Putin alles glauben, das Klammern an Mythen und die letzten Chancen des Zweifelns. 



    Hier gibt es die Doku Rasryw Swjasi (dt. Beziehungsabbruch) mit englischen Untertiteln

    Anna Filimonowa: Ich wollte Sie eigentlich zunächst fragen, seit wann Sie sich für das Thema Ukraine interessieren. Doch in Ihrer Dokumentation Rasryw swjasi geht es im Grunde gar nicht um die Ukraine, oder?

    Andrej Loschak: Das ist heute schwer zu trennen – es ist nicht das erste Mal, dass Russland in die Ukraine einmarschiert und dort einen Krieg beginnt. Leider hängt die Situation in der Ukraine jetzt davon ab, was die Russen dazu denken und fühlen. Da gibt es eine direkte Verbindung: Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein. Und für mich als Journalist, der immer mit dem russischen Kontext gearbeitet hat, lag es in der Natur der Sache, etwas darüber zu machen, wie das alles in Russland wahrgenommen wird. Allein schon, weil ich viel weniger davon verstehe, wie es die Ukrainer wahrnehmen.

    Die Idee mit der Kluft zwischen Familienmitgliedern hatte ich eigentlich seit 2014. Schon damals hat die Krim die Gesellschaft stark polarisiert. Wobei es jetzt, wie mir scheint, mehr Menschen gibt, die gegen den Krieg sind – oder zumindest zweifeln. Weil sie diesmal nicht mit irgendwelchen Märchen über grüne Männchen durchkommen und von Anfang an alles schiefgelaufen ist. Die Menschen sehen, dass das eine blutige, schwerwiegende, furchtbare Geschichte ist, sodass trotz allem Zweifel aufkommen.  

    Je mehr Russen aufhören, das Vorgehen der Regierung zu unterstützen, desto schneller wird die Aggression vorbei sein

    Ich habe mir diese Mütter in Ihrem Film angesehen und hatte den Eindruck, dass für sie allein schon der Gedanke unerträglich ist, dass ein russischer Soldat vergewaltigen, plündern und Zivilisten töten kann. Sie schieben diese Vorstellung weit von sich – das kann nicht wahr sein, das ist Fake. Meines Erachtens ist das ein sehr wichtiger Aspekt, denn er zeigt, dass nicht alles Menschliche in ihnen abgestorben ist.   

    Natürlich. Für mich ist genau das der Knackpunkt des Films: Eigentlich sehen wir ganz normale Menschen. Das heißt, sie sagen ziemlich ungeheuerliche Sachen, aber wir sehen auch, dass sie liebende Eltern, Ehemänner und dergleichen sind. Das war der Grund, warum ich familiäre Beziehungen zum Thema machte – die sind immer sehr menschlich: Man sieht lebendige Gefühle, Leiden, Freude etc. Auch hier. Aber wenn sie über das zu sprechen anfangen, was in der Ukraine passiert, verlieren sie ihre Menschlichkeit irgendwie. Ob sie jetzt Zombies sind oder Unmenschen – irgendetwas stimmt mit ihnen nicht. Ihre Gedanken sind nicht ihre Gedanken. Als ob sie nicht mit eigenen Worten sprechen würden. Ihre Stimmen, die Intonation, ihr Gesichtsausdruck – an allem sieht man, dass das nicht ganz sie sind. Als würde etwas von ihnen Besitz ergreifen, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Das ist wahrscheinlich etwas Psychologisches oder Psychiatrisches.

    Die Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird

    Wenn sie den Gedanken zulassen würden, dass die Russen das alles wirklich machen, dass sie auf fremdem Territorium Menschen umbringen, dann wäre das sehr schlimm für sie, sehr schockierend. Mit diesem Gedanken will die Mehrheit der Menschen, nach allem zu urteilen, einfach nicht leben.      

    Diese Menschen haben 22 Jahre lang gedacht, dass alles gut ist, dass Putin unser Präsident, unser nationaler Leader ist, dass er gegen Feinde der Heimat kämpft, gegen den Westen, der uns zerstören will. Ihnen schien, dass alles mehr oder weniger okay ist. Und dann sagt man dir plötzlich, dass Russland mittlerweile als eine Art faschistisches Deutschland wahrgenommen wird. Es ist sehr schwer, das zu glauben, es ist sehr schwer, das zu akzeptieren. Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe, die sein Bewusstsein ihm hinwirft. „Unsere Soldaten sind zu so etwas schlichtweg nicht imstande.“ Wirklich nicht? Haben Sie gesehen, was sie in Tschetschenien angerichtet haben?

    Der Mensch ist offenbar so angelegt, dass er sich bis zuletzt an irgendwelche Mythen klammert wie an Rettungsringe

    Ich habe Bücher über einfache Leute und über Soldaten im Dritten Reich gelesen, die ungeheuerliche Verbrechen begingen, aber bis dahin ganz normale Bürger waren. In ihren Verhörprotokollen ging es darum, wie sie sich verhalten haben und warum sie sich so verhalten haben. Sie sagten, sie wollten dazugehören. Alle machen das, soll ich etwa nicht? Bin ich etwa keiner von ihnen? Bin ich denn schwach, bin ich feige? Nein, ich will auch dabei sein. Man will nicht in der Minderheit sein – das macht Angst. Wenn man zur Mehrheit gehört, fühlt man sich irgendwie wohler. Und dann zimmert man sich seine Realität zurecht: Unsere Soldaten würden das nie tun. Punkt. Sie glauben das ja wirklich. Es ist nicht so, dass sie mich zynisch hinters Licht führen wollten, sondern sie glauben das. 

    Ihr Film wurde in Tbilisi öffentlich gezeigt, und die Zuschauer lachten an den Stellen, wo Befürworter des Kriegs sprachen. Hat Sie das beeindruckt?

    Ich habe davon gehört, dass die Leute gelacht haben, ja. Und meine Redakteurin Darina Lukutina sagte, dass das wie eine Schutzreaktion klang, ein sehr nervöses Lachen. Ich habe im Grunde kein Problem damit, wenn jemand über Dummheit oder logische Ungereimtheiten lacht – davon gibt es in den Antworten jener, die für den Krieg sind, genug, und ich habe bewusst versucht, sie herauszustellen.   

    Es gibt da auch einen interessanten Effekt. Sie übernehmen quasi irgendwelche Formeln aus dem Fernsehen oder woher auch immer. Doch wenn man weiterbohrt und versucht, in die Tiefe zu gehen, fangen sie an, sich zu widersprechen und zu stammeln wie Studenten bei einer Prüfung, für die sie nicht gelernt haben. Das zu zeigen, war mir wichtig. Wie Menschen, die sich vor der Realität verstecken, einfach das glauben, was ihnen die Propaganda vorgaukelt. Aber die Propaganda benimmt sich oft seltsam – wenn sie etwas richtig verschissen haben, dann verbreiten sie einfach tonnenweise unterschiedliche Versionen und überfluten den Informationsraum mit Dreck. So wie bei Butscha. So kriegt man das Gefühl, dass alle lügen, und glaubt niemandem mehr – auch den Ukrainern nicht. 

    Sie sind Menschen, normale Bürger, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, auf keinen Fall

    Ich glaube nicht, dass das Publikum aus Herzlosigkeit gelacht hat. Und ich wollte meine Protagonisten auch nicht karikieren und lächerlich machen. Ich wollte, dass die Zuschauer in ihnen Menschen sehen. Weil das alles sehr komplex ist, sie sind nicht einfach irgendwelche Trolle oder Orks. Sie sind Menschen, normale Leute, die sich auf diese Weise über Wasser halten. Doch das befreit sie nicht von ihrer Verantwortung, das auf keinen Fall.

    Sie sprechen davon, wie brüchig ihre Haltung ist. Wobei es unmöglich ist, sie von etwas anderem zu überzeugen.

    Das ist deswegen unmöglich, weil es ein Glaube ist und sich somit außerhalb jeglicher Logik befindet: Es ist absurd, also glaube ich.

    In Ihrem Film spricht eine Psychotherapeutin über eine narzisstische Spaltung: ein beklemmendes Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, das man mit einem Gefühl von Grandiosität bekämpft. Das wird als narzisstischer Schutz bezeichnet. Mit der Mutter dieser Psychotherapeutin hatte ich am meisten Mitgefühl, weil sie so vertrauensselig in dieser Falle sitzt und inständig glaubt, für das Gute zu sein, aber in Wirklichkeit auf der Seite des Bösen steht. Was alle anderen betrifft, kommt natürlich so ein Gefühl auf, wo man auf Revanche hofft: Ich warte auf den Moment, wenn ihr endlich die Wahrheit erfahrt. So einen Film würde ich mir gern anschauen. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob das je passieren wird.  

    Ja, ich träume auch davon, das zu sehen. Nicht aus Schadenfreude – für mich als jemanden, der immer noch russischer Patriot ist und dem Land  nur das Beste wünscht, ist es wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung. Das würde ich gern noch erleben. Denn solange mindestens die Hälfte des Landes in einem realitätsfremden Zombie-Zustand verharrt, wird in diesem Land nichts besser werden. Und das ist eine echte Bedrohung für die ganze Welt.

    Es ist wichtig, dass diese Leute aufwachen. Das Entsetzen in ihren Augen zu sehen – das wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer umfassenden Genesung

    Ich weiß nicht, was die Soldaten denken. Ich würde ja gern eine Methode erfinden, wie ich in die Köpfe jener Leute hineinkriechen kann, die die Kriegsverbrechen verübt haben. Die Protagonisten von Rasryw swjasi kann man als Opfer betrachten – sie wurden gehirngewaschen, für dies und jenes drohen Haftstrafen, sie haben Angst und all das. Aber sie sind nicht direkt an Kriegsverbrechen beteiligt. Doch die, die im Krieg sind – ich würde nur zu gern wissen, was in ihnen vorgeht, was sie antreibt zu tun, was sie tun.  

    Verfolgen Sie weiterhin, was mit Ihren Protagonisten passiert? Diejenigen, die in Russland leben und gegen den Krieg sind, gehen ja bestimmt ein Risiko ein. Hat sich in ihrem Leben etwas verändert?

    Noch scheint alles relativ okay zu sein. Bis auf ein paar nervenaufreibende Anrufe ist bisher nichts passiert. Es sah zwar so aus, als gäbe es [für die staatliche Willkür] überhaupt kein Halten mehr, aber vielleicht doch. Den Leuten wird nicht einfach gekündigt, nur weil sie im Film sagen, dass sie gegen den Krieg sind. Mehr sagen sie ja nicht, sie sagen nichts Strafbares. Nur: Wir wollen keinen Krieg. 

    Halten Sie es für möglich, dass Sie nie mehr nach Russland zurückkehren können?

    Ja. Wahrscheinlich ist mir das noch nicht sehr bewusst, aber ich will nicht so wie die Protagonisten in meinem Film sein und mich an irgendwelche illusorischen Konstrukte klammern. Man muss sich deutlich bewusst machen, dass diese Möglichkeit besteht. Die Erfahrung früherer Migrationswellen zeigt, dass sich das jahrzehntelang hinziehen kann. 

    Noch habe ich keine nostalgischen Anfälle von Heimweh, weil diese Erfahrung ja noch ganz frisch ist. Später wird das schon noch kommen, aber darum geht es nicht. Das Problem ist, dass mein Beruf mit Russland verbunden ist. Das ist das, wo ich mich halbwegs kompetent fühle: Ich kann Geschichten aus der russischen Pampa erzählen, über Russland und die russische Mentalität. Mich haben die Paradoxa dieser Mentalität immer interessiert, und damit habe ich gearbeitet. Ich kannte die Antworten nicht, aber ich wusste, welche Fragen ich stellen will. Jetzt muss ich mich wohl irgendwie umorientieren. Hinfahren [nach Russland] wird kaum gehen, dabei mache ich hauptsächlich Reportagen: Man fährt an den Ort, in die Gegend, und unterhält sich mit den Leuten dort. Wie es für mich jetzt ohne dieses Land weitergehen soll, das ist die große Frage.   

    Wie es für mich jetzt ohne Russland weitergehen soll, das ist die große Frage

    Wahrscheinlich wird sich mit der Zeit der Kontext ändern, es werden andere Interessen dazukommen. Aber ich stelle mir auch die Frage: Wozu machst du das? Weil ich eigentlich schon die russische Zielgruppe vor Augen hatte. Für wen soll ich sonst arbeiten, wenn nicht für sie? Wenn die Verbindungen jetzt endgültig abreißen – wenn das Internet abgedreht wird oder einfach bei jedem, der irgendetwas aus dem Ausland anklickt, sofort Genosse Major anklopft. Das ist denkbar, es geht in diese Richtung, ich bin darauf gefasst. Aber es macht mich fertig.    

    Ich kann die Ukrainer nicht dazu bewegen, mit den Russen mitzufühlen, aber ich glaube, wir vergessen manchmal, dass ihr euer Land verliert. Wir verlieren unser Land nicht. Es stimmt, uns droht der Tod, aber was uns bleibt, ist unser Land. 

    Ja, das ist ein grundlegender Unterschied. Ihr habt ein Land, in das ihr zurückkehren könnt. Also, natürlich müsst ihr euch erstmal von dieser Horde befreien, aber dann könnt ihr zurückkehren und aufbauen. Und ihr wisst, was ihr bauen wollt und wie. Bei uns herrscht absolute Ungewissheit. Vor uns liegt die Finsternis, ansonsten sieht man nichts mehr.          

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    Seit dem Eurovision Song Contest 2020 sind Little Big auch außerhalb Russlands populär: Little Big sollte in dem Jahr Russland vertreten mit dem Song Uno. Der ESC 2020 fand nicht statt, wegen Corona, Uno eroberte dennoch die europäischen Zuschauerherzen und wurde zum meistgeklickten Video auf dem offiziellen ESC-Youtube-Kanal mit mehr als 250 Millionen Aufrufen. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit auch im Ausland, als Little Big am 24. Juni aus dem Exil in den USA heraus ihren neuesten Clip veröffentlichten: Generation Cancellation, ein Antikriegssong: „War is not over. Stop war in Ukraine. Stop wars worldwide. No one deserves war“ haben sie auf Youtube unter das Video geschrieben.

    Am 24. Februar, dem Tag, an dem Russland den Angriffskrieg auf die Ukraine begann, hatte Little Big-Sänger Ilja Prussikin auf seinem Instagram-Account folgendes Bild gepostet: ein schwarzes Quadrat, darauf in weißen Lettern die Aufschrift No War, Нет Войне. Im März hat die Band Russland schließlich verlassen, über Dubai sind sie nach Los Angeles geflogen. 

    Im aktuellen Videoclip finden Little Big nun plakative Antikriegsbilder: Ein Kind, das einen Hotdog überreicht bekommt – mit Rakete statt Würstchen. Der Nachrichtensprecher der Sendung Fake News sitzt auf der Toilette – deren Abwasser direkt in die Köpfe der Zuschauer gespült wird. 
    Auch andere russische Bands und Musiker protestieren gegen Russlands Krieg in der Ukraine: Der Hiphop-Star Oxxxymiron etwa hat Russland ebenfalls verlassen. Gegen Juri Schewtschuk, berühmter Sänger der Band DDT, wurde nach einem Auftritt in Ufa außerdem ein Verfahren eingeleitet wegen „Diskreditierung der russischen Armee“, was auch ein Konzertverbot mit sich bringt.

    Das unabhängige russische Online-Medium Holod hat mit Ilja Prussikin, dem Sänger von Little Big, gesprochen: über Kritik an dem Clip von russischer wie ukrainischer Seite und darüber, ob man Kunst und Politik überhaupt voneinander trennen kann und soll.

    Holod: Hattet ihr die Wahl, ob ihr in Russland bleibt oder nicht?

    Ilja Prussikin: Natürlich nicht.
     
    Habt ihr für euer Anti-Kriegsposting [am 24. Februar auf Instagram dek] von der Regierung eins auf den Deckel gekriegt?

    Es gab Anrufe, Andeutungen. Vielleicht waren es nur Pranks, gab es damals viele, aber sie sagten: „Löschen.“ Ich sagte, ich lösche es nicht.
     
    Hattet ihr Zweifel wegen des Postings?

    Nein. Viele wollen jetzt behaupten, der Krieg in der Ukraine sei nicht so eindeutig, aber WTF, was heißt da nicht eindeutig?! Die Regierung der Russischen Föderation hat beschlossen, ein souveränes Land anzugreifen. In der Propaganda heißt es immer: „Vielleicht wollte die Ukraine uns angreifen?“ Hätten sie uns angegriffen, hätten wir uns verteidigt. Aber das hier ist eine komplett andere Situation. 
     
    Am 24. Juni habt ihr den Clip zu eurem Song Generation Cancellation veröffentlicht. Hattet ihr die Idee dazu sofort nach Kriegsbeginn?

    Ich glaube, wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen und hatten auch gleich die Idee zu dem Clip. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen. Im März landeten wir in den USA und haben im Grunde sofort den Clip gedreht. 

    Wir hatten den Song am 25. Februar aufgenommen. Das ging ganz schnell, wir wollten unsere Meinung sagen

    Er kam erst jetzt raus, weil die Grafik Russen gemacht haben, die sich jetzt über die ganze Welt verteilt haben. Für Sachen, die normalerweise einen Tag dauern, haben wir zwei Wochen gebraucht.       
     

     
    Gab es nach dem Clip Drohungen, Bot-Angriffe, Anrufe bei euren Verwandten? 

    Komischerweise nicht. Nur die Kremlbots haben alle Fotos unserer Vokalistin Sonja Tajurskaja [auf Instagram] gemeldet. Das ist ihre Lieblingsmethode.  
    Und die Medien haben das Thema breitgetreten, ob man uns die Staatsbürgerschaft entziehen soll (gemeint ist der Vorschlag von Produzent Iossif Prigoshin, den Bandmitgliedern von Little Big die russische Staatsbürgerschaft zu entziehen – Anm. Holod). 

    Wenn ich in Amerika bin, bin ich schon ein ‚ausländischer Agent‘

    Dann sagte Prigoshin, er habe das nie gesagt, das sei eine Erfindung der Medien. Von Galkin und „ausländischen Agenten“ haben sie auch geschrieben, so: „Sie hassen ja ihr Heimatland, nehmen wir ihnen doch die Staatsbürgerschaft weg!“ Das können die Behörden, wissen wir doch. Sie haben ja auch diesen Scheißparagrafen [mit den „ausländischen Agenten“] gemacht. Was soll der Dreck? Heute kann man schon wegen „Einflüssen aus dem Ausland“ als „ausländischer Agent“ gelten. Wenn ich also in Amerika bin, bin ich schon ein „ausländischer Agent“!
     
    Haben euch manche der Kollegen, die in Russland geblieben sind, Respekt ausgedrückt für euren Clip und eure Ausreise?

    Ja, sehr viele. Gott sei Dank hab ich keinen einzigen Bekannten oder Freund, der geschrieben hätte: „Hör mal, Alter, das ist doch kein Krieg, das ist eine militärische Spezialoperation.“

    Krieg ist ein Horror, der mit nichts zu rechtfertigen ist. Ich habe schon hundertmal gesagt, ich bin der reinste Humanist. Da ist Gott, der ist ephemer, und da ist das menschliche Leben – das ist real. Und es gibt nichts Wichtigeres und nichts Heiligeres. Meine Freunde sind derselben Meinung.

    Die Ukrainer haben euren Clip sehr kritisiert. Es gab ein langes Video, in dem es hieß, der Clip zu Generation Cancellation sei  zu unkonkret.

    Ein Clip ist ein Kunstwerk. Es gibt etwas, das nennt man Kunst. Da gibt es zum Beispiel ein Bild, und jeder sieht darin, was er sehen will. Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder? Wir haben uns heute diese Kritik angesehen, der Autor hat sich nicht mal die Mühe gemacht, unsere Pressetexte zu lesen und alles, was wir über den Krieg sagen.         

    Das Bild muss sich nicht selbst erklären. Das wäre ja bescheuert, oder?

    Wir positionieren den Clip als Manifest gegen den Krieg. Wir wollen die ganze Welt erreichen, weil der Krieg in der Ukraine nicht der einzige ist. Und unsere Position zu diesem Krieg, den die Regierung der RF angefangen hat, steht in den Begleittexten, in den Pressemitteilungen und so weiter. Das eine ist die Kunst, das andere das politische Statement. Es wäre ja banal, zu singen, dass Putin den Krieg begonnen hat. Das wären Tschastuschki. 

    Im Clip gibt es eine Szene über Fake News, die als Scheiße in die Köpfe gepumpt werden. Der Autor in dem Video fragt: „Wieso steht das nicht auf Russisch da?“ Ja, weil das doch keiner auf der Welt verstehen würde, außer dir und uns. Er produziert selber Fake News, stellt eine erfundene Bedeutung als real hin, aber wir haben es anders gemeint. 

    Russische Musikkritiker haben außerdem geschrieben, dass ihr mit dem Weißen Haus am Ende des Clips andeuten wollt, dass Amerika an allem schuld sei. 

    Google mal das Weiße Haus und google mal Putins Palast! Im Clip geht es um Putins Palast. Und überhaupt, Kunst darf nicht konkret sein, dafür ist es ja Kunst.

    Das ist übrigens der häufigste Vorwurf von Kritikern und Publikum an Künstler – ihr trennt angeblich die Politik von der Kunst. 

    Wir haben ein Manifest gegen den Krieg gemacht. Ist es bedeutungslos, nur weil wir keine Namen nennen, keine Beteiligten, keine Parolen? Das ist doch beknackt! Das ist dann keine Kunst, sondern eine Ansammlung von Fakten. Wozu soll ich dann noch Musik machen, da schreib ich doch lieber ein Buch darüber, wie das alles passiert ist, und wer ein Arschloch ist und wer die Guten sind? Deswegen haben wir dieses Manifest gegen den Krieg gemacht und unsere Position in allen Medien – in ukrainischen, russischen, amerikanischen, englischen – ganz klar formuliert.   

    Wenn einer sagt: ‚Das ist keine Kunst, das ist Scheiße‘ – kein Problem

    Ich will es gar nicht allen recht machen. Es ging mir [mit dem Clip] nicht darum, dass mich die Ukrainer lieb haben. Mir ist schon klar, dass sie mir böse sein werden, weil ich nicht genug getan habe. Ich werde ihnen das auch niemals vorwerfen, denn sie werden mit Raketen beschossen. Aber ich werde so handeln und so kämpfen, wie ich es für richtig halte. Wenn sich irgendwelche Musiker nicht zum Krieg äußern, dann hab ich deswegen nichts gegen sie. Ich habe mich geäußert! Ich habe mich positioniert und habe Kunst gemacht. Wenn einer sagt: „Das ist keine Kunst, das ist Scheiße“ – kein Problem. Tja, ich bin Künstler, ich sehe das so.  

    Wenn wir schon von Kunst und Krieg sprechen: Manche ignorieren, was derzeit passiert, gar nicht mal aus politischen Überlegungen oder aus Angst, sondern weil sie finden, dass es ohnehin schon genug schweren Content gibt.

    Ich kann keinem was vorwerfen, das fände ich schlechten Stil. Ich mag es selber nicht, wenn mir jemand sagt, dass ich dort oder da zu wenig den Mund aufgemacht habe. Ich weiß, was ich tun will und wie, und ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt. Es steht mir doch nicht zu, jemandem vorzuschreiben, ob er sich äußert oder nicht. Ich hab doch nicht das Recht, mich in das Leben eines anderen Menschen einzumischen. Genauso wie Putin und die Regierung der RF nicht das Recht haben, sich in die Angelegenheiten eines souveränen Staates einzumischen.

    Und was soll mit Künstlern passieren, die in Z-Konzerten für den Krieg auftreten?

    Von denen will ich nichts wissen, ich will sie und das, was sie machen, nicht sehen. 

    Vielleicht sind auch manche von Little Big enttäuscht, weil ihr nicht das sagt, was sie sich wünschen würden?

    Die Leute sind eher enttäuscht, weil sie glauben, wir haben die Hosen voll davor, im Clip konkret den Krieg in der Ukraine zu nennen. Alter, wir haben ihn ja konkret genannt [im Pressetext]. Sollen wir das im Clip überall drunter schreiben? Versteht ihr überhaupt irgendwas von Kunst?

    Ich mache das nicht, um irgendwem damit zu gefallen, sondern weil es mich juckt

    Ich glaube, die Enttäuschung hat einen anderen Grund, da geht es nicht um unsere Haltung. Unsere Haltung ist eindeutig und klar. Und sie ist überall, wir verstecken sie nicht, sie ist in allen Medien frei zugänglich, sogar die beschissenen Propagandamedien haben geschrieben, dass wir gegen den Krieg und gegen die Regierung der RF auftreten.  

    Macht ihr noch weitere Antikriegsvideos und Manifeste?

    Wir haben einen Song, der heißt Refugees, den haben wir so Anfang April aufgenommen. Da geht es um Flüchtlinge. Ein sehr trauriger Song, richtig Abfuck. Aber das wird keiner unserer klassischen Tracks, sondern was anderes.   

    Seid ihr im Westen irgendwie auf Ablehnung gestoßen?

    Ich weiß nicht, wie es in Europa ist, in Amerika gar nicht. Dort cancelt niemand russische Kultur. In New York laufen Theaterstücke mit Baryschnikow und einem ukrainischen Regisseur. Allen ist klar, dass die Russen nicht Putin sind. Es gibt natürlich Leute, die den Krieg unterstützen, aber das ist deren Scheißproblem, nicht unseres.  

    Fühlt ihr euch verantwortlich für das, was passiert?

    Ich fühle mich verantwortlich dafür, dass wir alle Kriege ignoriert haben und dachten: „Gehen halt irgendwelche Libyer drauf, na und.“ Aber warum sollte ich die Verantwortung übernehmen für Leute, die keine Ahnung haben, was sie mit dem Land machen sollen, die stehlen und rauben? Ich kenne keinen einzigen Menschen, der Putin und Einiges Russland wählen würde. Auch ich habe meine Pflicht erfüllt – ich habe sie nicht gewählt. 

    In diesem Kontext hat man euch an eure alten Video-Blogs im Rahmen des Projekts Danke, Eva! erinnert, das vom Kreml gesponsert wurde.

    Wir wussten das damals nicht [dass Danke, Eva! von der Regierung finanziert wurde]. Das lief nicht länger als ein Jahr und ich habe da die regierungskritische Gaffi-Gaf-Show gemacht. Juri Degtjarew (der Gründer von Danke, Eva! – Anm. Holod) ist ein genialer Verkäufer, der hat den Behörden diesen Scheiß angedreht, wo sie selbst gedisst werden. Weiß der Geier, wie er das geschafft hat. Wer glaubt, dass ich was im Auftrag der Regierung gemacht habe, braucht sich nur diese Videos anzusehen – dann haut es euch krass weg. Mehr gibt’s da nicht zu sagen. 

    Wollt ihr euch in Zukunft als Band aus Los Angeles positionieren?

    Wir sind Russen, daran gibt’s nichts zu rütteln. Auch wenn wir 300 Jahre hier leben – sollte es irgendwann ein krasses Mittel gegen Altwerden geben – sind wir immer noch Russen. Und ich liebe mein Land, ich liebe mein Zuhause, auch wenn ich den Staat hasse. Was soll man da machen! Damit müssen wir leben, mit dieser verfickten Scheiße!      

    Plant ihr euer Leben auch nur einen Monat voraus?

    Wir sind momentan einfach nur fertig. Wir wissen, dass wir ein neues Leben anfangen, dass wir nicht mehr so leicht zurück können. Ich glaube, in unserem Fall ist es unmöglich, irgendwas zu planen. Wir leben wie die Kinder. Wie nach der Uni, wo du dir denkst: „Was jetzt? Gehen wir halt ins Studio und nehmen was auf.“ So war meine Kindheit. Wir tun, was wir tun, und was kommt, das kommt. Nur so.

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