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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Nawalny, Proteste – und wie geht’s weiter?!

    Nawalny, Proteste – und wie geht’s weiter?!

    Die landesweiten Proteste nach Nawalnys Rückkehr waren die größten in Russland seit 2011/12. Nachdem Sicherheitskräfte hart durchgegriffen hatten – laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info gab es mehr als 10.000 Festnahmen –, erklärte Nawalnys Stab nach dem Gerichtsurteil gegen den Oppositionspolitiker, die Proteste nun aussetzen zu wollen. In staatsnahen Medien wurden die Demonstrationen als „Kinder-Kreuzzug“ diskreditiert.

    Vergangenes Wochenende machten wieder Bilder die Runde in den Sozialen Medien, versehen mit dem Hashtag Liebe ist stärker als Angst. Statt zur Demo waren die Menschen zum Flashmob aufgerufen worden: Sie sollten abends für eine Viertelstunde raus vors Haus, ihre Handytaschenlampe anschalten oder eine Kerze anzünden. Auch wenn es am Abend selbst nur 19 Festnahmen gab – im Vorfeld waren zahlreiche Büros von Nawalnys Team durchsucht worden, einzelne Medien wurden angehalten, Berichte über die Aktion zu löschen. Die im Ausland ansässigen russischen Medien Meduza und Spektr gerieten ebenfalls ins Visier der Medienaufsichtsbehörde: Meduza musste einen Bericht über staatliche Reaktionen löschen, Spektr wurde aufgrund des Verweises auf die Aktion blockiert, weil es angeblich zu „Massenveranstaltungen“ aufrief, die „die bestehende Ordnung verletzen“ würden. Am heutigen Dienstag geht eine Verleumdungsklage gegen Nawalny in die nächste Runde vor Gericht. 

    Was machen all die Ereignisse der vergangenen Wochen mit der Stimmung im Land selbst? Wie viele Menschen stehen hinter Nawalny, wie viele hinter Putin? Und welche Aussichten gibt es, dass der Protest nach der angekündigten Pause weitergeht? 
    Lewada-Soziologe Denis Wolkow beantwortet diese Fragen auf Forbes anhand aktueller Umfrageergebnisse des Meinungsforschungsinstituts.

    In ganz Russland folgten die Menschen am Wochenende dem Aufruf zum Flashmob zur Unterstützung Alexej Nawalnys, wie hier in Jekaterinburg / Foto © Schtab Nawalnogo, Jekaterinburg
    In ganz Russland folgten die Menschen am Wochenende dem Aufruf zum Flashmob zur Unterstützung Alexej Nawalnys, wie hier in Jekaterinburg / Foto © Schtab Nawalnogo, Jekaterinburg

    Ohne jeden Zweifel ist Alexej Nawalny zur Hauptfigur des politischen Saisonauftakts geworden. Seine Rückkehr nach Russland, seine Verhaftung, die Veröffentlichung seines neuen Enthüllungsfilms im Internet, die rasche Gerichtsverhandlung und Verurteilung, der neue Prozess wegen Verleumdung eines Kriegsveteranen – das alles sorgt dafür, dass der Politiker seit einem Monat ständig Thema ist, sowohl im In- als auch im Ausland.
    Doch wie haben sich die Ereignisse auf die öffentliche Meinung in Russland insgesamt ausgewirkt, und was könnte uns in Zukunft erwarten? Dazu gibt es neue Umfragewerte.

    Gemäßigt empört

    Beginnen wir mit dem Film über den Palast. In drei Wochen wurde das Video über 100 Millionen Mal angeschaut – beispiellos für diese Art von Material. Die Umfragen bestätigen ein starkes Interesse an der Untersuchung, obwohl sie von etwas niedrigeren Zuschauerzahlen in Russland ausgehen: So haben 70 Prozent der Russen zumindest etwas von dem Film gehört. Wobei nur etwa ein Viertel der Befragten angab, den Film gesehen zu haben. Mit anderen Worten: Die Zahl der Zuschauer in Russland beläuft sich nach vorsichtigen Schätzungen auf etwa 30 bis 35 Millionen.

    Bei allen exorbitanten Zuschauerzahlen sind die Reaktionen auf den Film zurückhaltend. Nur knapp ein Fünftel der Befragten zeigte sich empört über die im Film geschilderten Tatbestände der Korruption – deren Einstellung zu Putin hat sich dementsprechend verschlechtert. Insgesamt überwiegen in der Gesellschaft jedoch Distanziertheit, der Unwille, sich mit den Details der Untersuchung zu beschäftigen, sowie die Bereitschaft, Putin zu rechtfertigen. Die Menschen sagen Dinge wie: „Und was ist daran neu?“, „Putins Palast – ja, und?“, „Der Präsident muss schließlich gut leben!“, „Nach 20 Jahren kann er sich das doch ruhig gönnen“ und sogar „Das ist doch bescheiden – sehen Sie sich mal die Gemächer von ganz normalen Staatsbeamten an!“.

    Viele ältere Befragte halten derartige Untersuchungen gar für eine Provokation aus dem Westen, einen Versuch, das Land zu destabilisieren. Viele werfen Nawalny vor, sozialen Unfrieden zu schüren. Diese in der russischen Gesellschaft weit verbreiteten Ansichten lassen sich nur schwer ins Wanken bringen. Ein, zwei Untersuchungen – selbst so effektvolle wie Nawalnys Filme – reichen da nicht aus.

    Immun gegenüber Enthüllungen

    Es darf daher nicht verwundern, dass es in der russischen Gesellschaft in den letzten Monaten keine großen Verschiebungen weder zugunsten Alexej Nawalnys noch zugunsten Putins gegeben hat. Die Zahl derjenigen, die Nawalnys Tätigkeit befürworten, liegt seit September vergangenen Jahres unverändert bei 20 Prozent. Demgegenüber ist unter dem Einfluss der jüngsten Ereignisse die Zahl seiner Gegner sogar leicht angestiegen – auf 56 Prozent (hier schlagen vor allem diejenigen zu Buche, die sich früher nicht für Nawalny interessierten). Etwas gestiegen ist das Vertrauen in Nawalny als Politiker, doch das wirkt eher so, als hätte er in den Augen seiner Sympathisanten ein neues Image: Sie sehen in Nawalny zunehmend eine Alternative zu Putin. Auf ein breiteres Publikum scheint sich diese Vorstellung allerdings nicht zu erstrecken.

    Auch die Einstellung zum Präsidenten hat sich nicht wesentlich verändert. Seine Zustimmungswerte sind seit Ende 2020 um einen Prozentpunkt gesunken (seit vergangenen September um fünf) und liegen heute bei rund 64 Prozent. Das Vertrauen in den Präsidenten ist innerhalb von drei Monaten um drei Prozentpunkte gesunken (auf 29 Prozent; gestellt wurde eine offene Frage, bei der die Befragten Politiker nennen sollten, denen sie vertrauen). Obwohl die Gründe für diese Veränderungen nur schwer eindeutig zu beurteilen sind, klingt das mehr nach den Auswirkungen der zweiten Welle von Corona-Verboten als nach einer Reaktion auf Nawalnys Untersuchung.

    Also bestätigt der Film die schlimmsten Befürchtungen derjenigen, die sowieso schon von den Machthabern enttäuscht sind – vor allem junge Leute, Internet-Nutzer und Follower von Telegram-Kanälen. Diejenigen, die die Regierung unterstützen, sind gewissermaßen immun gegen solche Enthüllungen.

    Man sollte anmerken, dass selbst in den sozialen Gruppen, die dem Regime am kritischsten gegenüberstehen, die Zahl der Loyalisten immer noch hoch bleibt (bis zur Hälfte der Befragten) – bei weitem nicht alle Kritiker des Regimes sind auch Befürworter Nawalnys. Der Anteil seiner Unterstützer bewegt sich in diesen Gruppen normalerweise zwischen einem Drittel und einem Viertel der Befragten.

    Proteste als „Aufstand der Kinder“ … 

    Kommen wir zu den Protesten. Die werden überwiegend negativ bewertet. Damit unterscheiden sich die jüngsten Ereignisse deutlich von den Protesten in Chabarowsk und sogar von denen in Moskau 2019. Damals war die Bevölkerung eher bereit, mit den Protestierenden zu sympathisieren. Wie sich unschwer erraten lässt, herrscht die negative Einstellung vor allem unter Vertretern der älteren Generation, Fernsehzuschauern und Unterstützern des Regimes vor.

    Der größte Vorwurf gegen die Organisatoren scheint darin zu bestehen, dass sie Jugendliche, Schüler und Kinder auf die Straße gelockt hätten. Charakteristisch ist folgendes Bild, das einer unserer Befragten äußerte: „Das ist ein Kreuzzug der Kinder“, die am Ende alle „in die Sklaverei verkauft“ würden. Dabei spielt es keine Rolle, dass dieser Eindruck den Fakten nicht standhält: Untersuchungen zeigen, dass die Hauptmasse der Demonstranten Menschen zwischen 25 und 35 Jahren waren – keineswegs Kinder. Das Bild des „Schülerprotests“ hat sich tief in die Köpfe eines großen Teils der Bevölkerung eingebrannt, und es wird schwer werden, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

    … und Nawalny als „Verführer der jungen Generation“ 

    Das Problem mit den Januar-Protesten ist also gar nicht, ob sie nach der Pause, die Nawalnys Stab ausgerufen hat, weitergehen. Es ist gut möglich, dass sie in irgendeiner Form weitergehen. Das Problem ist, dass die aktuellen Proteste beim Großteil der russischen Gesellschaft keinen Rückhalt finden. Das bedeutet wiederum, dass es schwierig wird, die Teilnehmerzahl zu steigern. Die Machthaber haben einen Nerv getroffen, indem sie die Proteste als einen Aufstand der Kinder und Nawalny als Verführer der jungen Generation zeichneten: die Überzeugung des überwiegenden Teils der älteren Bevölkerung, dass „wir unsere Jugend verlieren“ und dass wir diesen Prozess so schnell wie möglich unterbinden müssen, auch mit harten Mitteln.

    Ein weiterer Faktor, der ein Zunehmen der Proteststimmung hemmen könnte, ist die angelaufene Massenimpfung, die schrittweise Aufhebung der Quarantäne-Beschränkungen und die Rückkehr zum normalen Leben. Erinnern wir uns daran, dass im vergangenen Jahr schon die kurze Atempause zwischen der ersten und der zweiten Welle den Russen ein gewisses Maß an Optimismus einflößte und sie die Situation deutlich positiver einschätzen ließ.

    Nawalny versus Trägheit

    Das alles schmälert natürlich nicht die Verdienste von Alexej Nawalny und seinem Team. Die Umfragen zeigen, dass er heute der prominenteste Oppositionspolitiker ist. Er gehört längst zu den zehn Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, denen die Russen am meisten vertrauen. Aber es bedurfte jahrelanger mühevoller Arbeit und ständiger Medienpräsenz, um dieses Vertrauen zu gewinnen. Ein Verschwinden aus den Nachrichten könnte ihn schnell in Vergessenheit geraten lassen. Die Frage ist, ob die politische Maschine, die Nawalny über die Jahre aufgebaut hat, auch ohne ihn funktionsfähig ist.

    Zudem wird die Wahrnehmung Nawalnys unter anderem auch von Faktoren beeinflusst, die nur geringfügig von seinen Bemühungen abhängen: vom Verhältnis von Internet- zu Fernsehpublikum, von den sinkenden Ratings der Machthaber, die vor allem auf ihrem eigenen Unvermögen beruhen, den Wohlstand der Bürger zu mehren, und anderen ureigenen Fehlern. Die Anstrengungen Nawalnys und seiner Mitstreiter prallen immer wieder auf die Toleranz der russischen Gesellschaft gegenüber Korruption, die Akzeptanz der staatlichen Gewalt, auf den Generationenkonflikt, auf die erlernte Hilflosigkeit, die in unserer Gesellschaft sehr weit verbreitet ist, sowie auf das Gefühl der Alternativlosigkeit der aktuellen Ordnung der Dinge. 

    Das Beispiel Nawalny zeigt, dass jeder, der in Russland etwas grundlegend verändern will, nicht nur gegen das Regime ankämpfen muss, sondern auch gegen eine ungeheure Trägheit in der Gesellschaft.

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  • Gefängnis oder Tod

    Gefängnis oder Tod

    Im August soll der Prozess gegen die drei Schwestern Chatschaturjan beginnen. Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan wird vorgeworfen, ihren Vater Michail vorsätzlich ermordet zu haben. Mit einem Messer hatten sie auf den Schlafenden eingestochen, 36 Messerstiche werden später gezählt. Den Schwestern drohen nun bis zu 20 Jahren Haft.

    Der Fall Chatschaturjan hat in Russland für heftige Debatten über häusliche Gewalt gesorgt. Der Journalist Pawel Kanygin hatte für die Novaya Gazeta ausführlich darüber berichtet. Was seine Recherchen zutage brachten, liest sich schrecklich: Der Vater, der auch gewalttätig gegen die Mutter der jungen Frauen gewesen war, hatte diese sowie den gemeinsamen Sohn aus dem Haus gejagt. Seit 2015 wohnte er mit seinen drei Töchtern alleine. Diese schildern jahrelangen psychischen und physischen Missbrauch und Folter. Die jüngste der drei Schwestern soll versucht haben, sich umzubringen. Nachdem er ihnen wegen Unordnung in der Wohnung Pfefferspray ins Gesicht gesprüht hatte, ermordeten sie ihn.

    Es gibt Stimmen, die den Vater verteidigen, der lediglich versucht habe, seine Töchter streng zu erziehen. Auch unter dem Verweis auf „traditionelle Werte“ war in Russland 2017 das Strafmaß bei häuslicher Gewalt gemindert worden. 
    Opferschutzverbände, aber auch viele Prominente dagegen verteidigen die drei Schwestern, argumentieren, dass sie nach jahrelangem Missbrauch aus Notwehr handelten. 

    Olga Romanowa, renommierte Journalistin und Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Rus Sidjaschtschaja, stellt sich ebenfalls hinter die drei Mädchen: Warum holten sie keine Hilfe von außen, warum wandten sie sich nicht an die Polizei? Auf Forbes Women wirft Olga Romanowa genau diese Fragen auf – und legt dar, weshalb.

    Die Schwestern Krestina, Angelina und Maria Chatschaturjan sind des Mordes an ihrem Vater Michail Chatschaturjan (57) angeklagt. Bei der Vernehmung gestanden sie die Tat und berichteten vom systematischen Missbrauch durch den Vater. Der Strafrechts-Paragraph wegen vorsätzlichen Mordes nach Absprache, der in ihrem Fall zur Anwendung kommen soll, sieht bis zu 20 Jahre Freiheitsentzug vor.  

    Vorrede

    Szenario 1: Es ist spät abends. Sie sind unterwegs nach Hause und werden im Treppenhaus überfallen. Sie schubsen den Angreifer weg, er knallt mit der Schläfe gegen eine Fensterbank und stirbt.

    Szenario 2: Ihr beinahe Ex-Mann zieht aus und packt seine Sachen, er ist nervös, hat getrunken, er brüllt, Sie hätten sein Leben ruiniert, und er versucht Ihnen eine Ohrfeige zu verpassen – es ist nicht das erste Mal, doch nun ist er beim Waffenschrank angelangt, wo er sein Jagdgewehr aufbewahrt, richtet es plötzlich auf Sie und legt schon eine Patrone ein. Da schwingen Sie seinen Golfschläger. Er fällt um, Sie rufen die Polizei. 

    Und dann?

    Dann kommen Sie ins Gefängnis. Ohne jeden Zweifel. Selbst wenn Sie die besten Anwälte haben, die es schaffen, einen Hausarrest zu erwirken oder eine schriftliche Erklärung, den Aufenthaltsort nicht zu verlassen. Doch früher oder später kommt es zum Prozess, und Sie bekommen eine Haftstrafe. Und zwar nicht auf Bewährung.

    Sie bekommen eine Haftstrafe – und zwar nicht auf Bewährung

    Ihre Anwälte und Sie werden argumentieren, es sei Notwehr gewesen und Sie hätten keine Wahl gehabt. Während die Staatsanwaltschaft argumentieren wird, Sie hätten die Grenze der Notwehr überschritten. 

    Hatten Sie im ersten Fallbeispiel andere Handlungsmöglichkeiten? Aber sicher doch. Sie hätten im Treppenhaus versuchen können mit dem Angreifer zu reden, sie hätten ihm Pestalozzi zitieren können, oder zur Not auch etwas aus dem Matthäusevangelium. Er wäre sicher einsichtig gewesen. Aber Sie haben es nicht einmal versucht. 

    Warum mussten Sie den Angreifer denn so schubsen, dass er mit der Schläfe auf der Fensterbank aufschlägt? Man hat Ihnen beim Selbstverteidigungskurs und im Sportunterricht in der Schule doch genau einmal gezeigt, wie man einen Angreifer mit einem Schulterwurf außer Gefecht setzt und fixiert. Warum haben Sie diese simple Technik der Selbstverteidigung nicht angewandt? 

    Und was hatten Sie eigentlich an? Keine dicken Strumpfhosen? Na, da sehen Sie mal! Sie waren an einem Samstagabend allein nach Hause unterwegs, in einem Rock! Sie haben ihn provoziert! 

    Sie hatten keine dicken Strumpfhosen an?

    Und im zweiten Fall mit Ihrem Ehemann ist Ihre Absicht von Anfang an klar: Er hatte Gütertrennung  eingefordert und Sie waren nicht einverstanden? Haben Sie ihn aus Notwehr geschlagen, oder war es vorsätzlicher Mord aus Habgier? Sie wollten Ihr Vermögen nicht aufteilen, deswegen haben Sie ihn provoziert, als er ganz friedlich dabei war, sein Gewehr einzupacken, und haben ihn geschlagen.

    Es wird einen Schuldspruch geben. Darin wird unweigerlich folgende Wendung vorkommen, die wichtigste für Sie: „Die Angeklagte hätte auf eine sozialverträgliche Weise handeln müssen.“ 

    Also versuchen, den Angreifer in ein klärendes Gespräch zu verwickeln. Den Bezirkspolizisten informieren. Sich an die Hausverwaltung wenden. Einen Brief an den Abgeordneten schreiben. Oder Maßnahmen der Selbstverteidigung anwenden, die keine schweren gesundheitlichen Folgen für den Angreifer nach sich ziehen. 

    Das alles haben Sie nicht getan – also ist es Totschlag oder vorsätzlicher Mord (möglich im zweiten und dritten Fall), und Sie bekommen zehn Jahre. 

    Totschlag oder vorsätzlicher Mord – und man bekommt zehn Jahre

    Wie viele solcher Fälle gibt es? In den letzten zwei Jahren wurden etwa 3000 Frauen wegen Mordes unter genau solchen Umständen verurteilt. Wobei es sich in den meisten Fällen um Mord am Ehemann, Lebenspartner oder einem männlichen Verwandten handelt, und zwar beim Versuch der Frauen, sich vor Missbrauch zu schützen. 
    Gleichzeitig sterben jedes Jahr circa 8500 Frauen bei gewaltsamen Übergriffen. Das sind diejenigen, die keinen Golfschläger, kein Messer zur Hand oder nicht genug Kraft hatten, den Angreifer gegen eine Fensterbank zu schubsen. Demnach hat eine Frau immer die Wahl: Sterben oder für zehn Jahre ins Gefängnis gehen.

    Aber schauen wir uns doch mal an, welche „sozialverträglichen Methoden“ es gibt, sich vor Missbrauch zu schützen, ohne radikale Maßnahmen zu ergreifen. Das wird nicht lange dauern. Gar keine gibt es. Gesetzlich ist eine Frau, die angegriffen wird, durch nichts geschützt. Unabhängig davon, ob sie sich wehrt oder nicht. Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis, wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst umgebracht.

    Wenn du dich wehrst, wanderst du ins Gefängnis. Wenn nicht, schlägt man dich zum Krüppel oder du wirst du umgebracht

    Sehen wir uns noch einmal die Statistik an. Ich will vorausschicken:  Wir gehen Schritt für Schritt vor. 

    Wo und wie werden Frauen ermordet? Angriffe durch einen Fremden und Notwehr, die den Tod des Angreifers nach sich zieht, sind selten. Meistens (unabhängig ob Mörder oder Mörderin, hier spielt das Geschlecht einmal keine Rolle) kannten sich Täter und Opfer. 
    Handelt es sich allerdings um eine Mörderin, ist das Opfer der Ehemann, Partner oder ein männlicher Verwandter, und der Grund für den Mord ist immer derselbe: häusliche Gewalt.

    2012 verzeichnete das Innenministerium 34.000 Opfer von häuslicher Gewalt. Fünf Jahre später hat sich die Zahl fast verdoppelt: 65.500 Opfer allein im Jahr 2016. Aber 2017 hat sich die Opferzahl signifikant verringert auf 36.000. 2018 waren es noch weniger. Warum? Weil ein Gesetz zur Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet wurde. Konnte man bis 2017 für die Misshandlung seiner Frau noch ins Gefängnis kommen, so gibt es heute nur noch eine Geldstrafe, die kaum höher ist als fürs Parken im Parkverbot. Nicht auszuschließen, dass sich das Verhältnis der beiden dadurch nur noch verschlechtert, und ob die Frau ihren Mann beim nächsten Mal anzeigen wird, ist mehr als fraglich. 

    Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? 

    Es gibt also abertausende Fälle von häuslicher Gewalt, die nicht zur Anzeige gebracht und damit nicht erfasst werden. Welchen Sinn hat es, Anzeige zu erstatten, wenn du selbst dafür bestraft wirst? Der Staat wird dich nicht schützen. Die NGOs und Vereine, die Hilfe bieten könnten und es auch tun, stehen selbst unter Beschuss und gelten größtenteils als ausländische Agenten. Zudem haben NGOs nicht das Recht, dem Täter ein Kontaktverbot aufzuerlegen oder einer Mutter das alleinige Sorgerecht zu erteilen, während kompetente Behörden entscheiden, was mit dem Gewalttäter zu tun ist. Solche Behörden gibt es bei uns nämlich nicht. 

    Zudem wird jegliche Nötigung, Erniedrigung oder Folter, die nicht mit physischer Gewalt einhergeht, gar nicht erst strafrechtlich verfolgt. Im Gesetz tauchen sie nicht einmal auf.

    Warum steht häusliche Gewalt auf einer Stufe mit Falschparken? Dafür gibt es mindestens drei Gründe.

    Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten

    Der erste ist finanzieller Natur. Der Schutz vor häuslicher Gewalt würde den Staat einiges kosten. Dafür bräuchte man einstweilige Verfügungen, die dem Täter verbieten, das Opfer zu kontaktieren, müsste eine Behörde einrichten, die diese verhängt und deren Einhaltung kontrolliert (so ein System funktioniert in 119 Ländern, aber nicht bei uns). Man müsste staatliche Einrichtungen schaffen, die die Opfer aufnehmen können, die sich oft plötzlich mit ihren Kindern ohne Dach überm Kopf wiederfinden. Solche Einrichtung gibt es in Russland, allerdings nur durch private Initiativen, unterhalten werden sie durch Stiftungen und Spenden.

    Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit 

    Der zweite ist ein außenpolitischer Grund. Russland hat die Istanbul-Konvention des Europarats zur Verhütung häuslicher Gewalt nicht ratifiziert. Die Nichtunterzeichnung der Konvention war offensichtlich eine Reaktion auf die verschärfte Situation zwischen Russland und Europa nach den Sanktionen. 

    Ein weiterer außenpolitischer Grund für die Entkriminalisierung häuslicher Gewalt war die Rechenschaftspflicht gegenüber der Weltöffentlichkeit über die Aufhebung jeglicher Formen der Diskriminierung von Frauen – eine entsprechende Konvention der Vereinten Nationen wurde noch 1982 durch die UdSSR unterzeichnet. Die Entkriminalisierung hat signifikant dazu beigetragen, diese Statistik zu „korrigieren“. 

    Sehen Sie? Da sehen Sie’s doch! In Russland hat sich die Zahl der Opfer häuslicher Gewalt in nur einem Jahr – von 2017 bis 2018 – halbiert. Das liegt daran, dass wir die Diskriminierung von Frauen so effektiv bekämpfen, und keineswegs daran, dass wir komplett aufgehört haben, die Straftäter zu verfolgen. Sie wollten doch eine Statistik? Bitte schön, da ist sie. 

    Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich

    Der dritte ist ein innenpolitischer und religiöser Grund: die Russisch-Orthodoxe Kirche. „Diejenigen Menschen, die versuchen den Kern unserer Gesellschaft zu zerstören – nämlich die Familie –, handeln unter dem Vorwand des Kampfes gegen Gewalt und zum Schutzes der Schwachen“ heißt es in der Erklärung der Patriarchen-Kommission zum Schutz von Mutter und Kind, deren Vorsitz Erzpriester Dimitri Smirnow innehat. Kurzum, die konservative Position in Russland lautet jetzt tatsächlich: „Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich.“

    Das alles hängt mit dem Fall der Schwestern Chatschaturjan zusammen. Damit, warum es so wichtig ist, dass wir einen fairen und öffentlichen Prozess und natürlich einen Freispruch erkämpfen. Weil es jede von uns betrifft. Weil es keine Stelle gibt, an die wir uns wenden können. Weil uns niemand schützt. Weil wir nur zwei Möglichkeiten haben: Gefängnis oder Tod. 

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  • Russlands neue Revoluzzer?

    Russlands neue Revoluzzer?

    Protest-Starre in Russland? Nach den heftigen Bolotnaja-Protesten 2011/12 hat der Kreml zahlreiche Aktivisten verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Außerdem wurde zuletzt eine Reihe von Anti-Terror-Gesetzen verabschiedet, die unter anderem auch die Internetzensur weiter ausbauen. Blogger – gemeint sind damit auch Social-Media-User mit mehr als 3000 Lesern am Tag – dürfen beispielsweise andere Personen nicht „in Misskredit” bringen.

    Der Petersburger Politologe Michail Komin kritisiert auf dem russischen Wirtschaftsportal forbes.ru die Anti-Protest-Maßnahmen des Kreml: Nicht nur, dass das Unruhepotential derzeit weder von Social-Media-Nutzern noch von Bolotnaja-Anhängern, sondern von anderen sozialen Gruppen ausgehe. Die größte Gefahr für den Kreml liege sowieso ganz woanders.

    Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage zu sozioökonomischen und politischen Spannungen in Russlands Regionen hat bestätigt, was längst spürbar war: In den vergangenen Monaten ist die Unzufriedenheit der Bürger mit ihrer Situation bedeutend gewachsen.

    Auch wenn die Soziologen eine leichte Abnahme in der Protestbereitschaft feststellen: Es bleibt doch der Eindruck, dass die russische Gesellschaft in einer „aggressiven Reglosigkeit“ verharrt – einem Zustand, in dem der Ärger über das Verhalten des Vorgesetzten, der lokalen und der föderalen Machthaber enorm groß ist, aber der Punkt, an dem sich die aufgestaute Aggression am Umfeld entlädt, noch nicht erreicht ist.

    Aber dieses „noch nicht“ kann nicht ewig anhalten. Die Probleme, die den gesellschaftlichen Ärger verursachen, haben institutionellen Charakter, doch die herrschende Elite ist offenbar nicht in der Lage, dies zu erkennen.

    Kreml kämpft mit alten Waffen

    Die Maßnahmen-Strategie des Kreml, Proteste einzudämmen, hat sich seit dem Bolotnaja-Platz faktisch nicht verändert – ungeachtet dessen, dass sich die sozialpolitische Landschaft nach der Krimeuphorie gewandelt und sich der Lebensstandard seit dem Ende der 1990er dramatisch verschlechtert hat. Man bleibt dabei, politische Anführer zu verfolgen oder ihnen Verfolgung anzudrohen, jeden, dessen Meinung vom offiziellen Diskurs abweicht, als Verräter abzustempeln und vor den Wahlen innere Säuberungen zu imitieren sowie jeglichen Protest zum Zwergenaufstand zu erklären.

    Aber alle diese Maßnahmen des Kreml haben ausgesprochen wenig mit den tatsächlich wachsenden Spannungen im Land zu tun. Der potentielle Protest, der die Legitimität der Elite unterminieren könnte, geht weniger von den Anhängern der Bolotnaja-Bewegung oder den aktiven Facebook-Nutzern aus. Er kommt vielmehr von ganz anderen sozialen Gruppen, deren Forderungen die Regierung wohl kaum erfüllen kann.

    Die erste und wohl offensichtlichste Quelle des neuen Protestes: Einzelne Berufsgruppen in den großen Städten, die durch die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage mobilisiert werden. Wir konnten bereits beobachten, dass der Kreml keinerlei Vorstellung davon hat, wie er auf Streiks der Ärzte und der Devisenkreditnehmer oder auf die Protestaktionen der Fernfahrer reagieren soll.

    Im Grunde genommen kann man diese Streiks natürlich kaum als Protest bezeichnen. Der Großteil von ihnen steht im Zusammenhang mit nicht gezahlten Löhnen und ist vielmehr ein kollektiver Appell an die Vorgesetzten „die Sache zu klären“. Doch die Zahl der Proteste von Berufsgruppen steigt im Verhältnis zum Vorjahr an. In der ersten Hälfte von 2016 gab es russlandweit in unterschiedlichen Städten bereits mehr als 150 solcher Aktionen.

    Katastrophale Kluft zwischen Elite und „Putin-Mehrheit“

    Auch die lauten Skandale wie Medwedews Ausspruch „Geld haben wir keins, aber haltet durch“, der schon jetzt zum meistzitierten politischen Mem des Jahres avanciert ist, stärken nicht gerade den Glauben der Russen an den paternalistischen Versorgungsstaat. Dasselbe gilt für das zweite Mem des vergangenen Monats – den Hohn des Vizepremiers Schuwalow über die 20-Quadratmeter-Wohnungen der Russen.

    Das alles sind Lakmustests der katastrophalen Kluft zwischen dem, wie die Elite das Leben der einfachen Menschen wahrnimmt und dem, welche Art von Maßnahmen diese einfachen Menschen aus der „Putin-Mehrheit“ derzeit von der Elite erwarten.

    Im Laufe der Geschichte wurden die Bürger in Situationen, in denen ihnen das Ausmaß dieser Kluft bewusst wurde, häufig von einer „aggressiv schweigenden“ zu einer „aggressiv rebellierenden“ Mehrheit, das heißt, sie dienten als Auslöser für revolutionäre Umwälzungen. Die Unaufmerksamkeit des Zaren gegenüber dem Volk am Blutsonntag oder die Versuche der kommunistischen Partei, die Atomkatastrophe in Tschernobyl zu vertuschen, sind nur zwei von vielen Beispielen.

    Zudem sind Arbeitsproteste für jedes autoritäre Regime aus zweierlei Gründen schwer zu verkraften: Erstens ist es kaum möglich, sie einfach vom Tisch zu wischen, sie zu ignorieren und sie den Machenschaften von westlichen Agenten oder der Fünften Kolonne aus dem Inneren zuzuschreiben. Denn die Probleme sind dem Bewusstsein der Massen zu verständlich und zu nah. Das ursprünglich Apolitische des Protestes ist seine Kraft. Sollten einmal Rufe nach einem Machtwechsel folgen, so klingen sie weitaus aufrichtiger, wenn die Regierung es bis dahin nicht vermochte, den grundlegend ökonomischen Forderungen der Protestierenden nachzukommen. Erinnern wir uns daran, dass der Sargnagel für das Sowjetregime Bergarbeiter waren, die mit ihren Helmen gegen die Steine am Roten Platz schlugen. Gorbatschow wusste einfach nicht, wie er auf sie reagieren sollte.

    Zweitens belegen aktuelle Studien, dass spontan entstandene Strukturen in Gesellschaften mit geschlossenem sozialen Kapital (zu ihnen gehört auch das autoritäre Russland) über ein höheres Mobilisierungspotential verfügen. Innerhalb solcher Strukturen entschließen sich Individuen nämlich nicht über die Netzwerke bestehender Organisationen für eine Teilnahme an Protesthandlungen, sondern über lockere soziale Bindungen, wie einem gemeinsamen Arbeitsplatz oder gemeinsamer Nachbarschaft.

    Die Spontaneität solcher Proteste lässt den Teilnehmern offenbar nicht genug Zeit, um an mögliche Risiken und Repressionen zu denken. Zusätzlich erhöht das Gemeinschaftsgefühl die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand kollektiven Handlungen anschließt. In ihrem Erscheinungsbild ähneln diese Proteste den berühmten russischen „Volksversammlungen“.

    Nichtstun und den Bogen überspannen

    Die zweite große soziodemographische Gruppe, die sich als Quelle des Protests erweisen könnte, falls grundlegende Veränderungen in sozialpolitischen Institutionen ausbleiben, ist die neue Generation von selbstgenügsamen Russen in den Nicht-Hauptstädten.

    Laut soziologischen Studien ist die Zahl der Menschen, die sich und ihre Familie selbst versorgen können und nicht auf staatliche Hilfe angewiesen sind, in Russland auf 44 Prozent gestiegen. Zudem ist der Trend erkennbar, dass ihre Zahl in Städten, die weniger als eine Million Einwohner haben, häufig sogar 50 Prozent übersteigt.  

    Dort, wo das Niveau der staatlichen Leistungen niedriger ist als in der Hauptstadt, die Lohn- und Gehaltsangleichung gering ausfällt und die Qualifikation der Beamten nur für Verwunderung sorgt, bleibt nichts anderes, als sich auf die eigenen Kräfte zu verlassen. Denjenigen, denen das einigermaßen gelingt, wird schnell klar, dass der Staat nur zwei Dinge wirklich gut kann: Nichtstun und den Bogen überspannen.

    Die wachsende Ungleichheit und die nicht funktionierenden sozialen Fahrstühle, die allzu oft von den Kindern der herrschenden Elite besetzt sind – das alles trägt dazu bei, dass der Ärger zunimmt und auch das Gefühl, die „Herrschaftsriege“ mische sich zu sehr ins Privatleben ein. Es ist durchaus möglich, dass sich diese soziale Schicht in fünf bis zehn Jahren vollends zu dem entwickelt, was in der Revolutionstheorie als „überflüssiger Mensch“ bekannt ist. Sprich zu einer Generation, der es nicht gelingt, im Leben einen Platz zu finden, der ihrer Bildung und Erfahrung angemessenen wäre, und einen signifikanten Fortschritt in ihrer sozialen und materiellen Situation zu erzielen.  

    Der Glaube an die eigene Kraft wird diesen Gemeinschaften helfen, die mit kollektiven Handlungen verbundenen Mühen zu meistern. Auch kann das Ausbleiben von sichtlichen Verbesserungen in der staatlichen Politik sowie die fortschreitende ökonomische und soziale Abwertung der Regionen zu jenem starken Antrieb werden, der sie auf die Barrikaden treibt.
    Wenn sie sich dann beispielsweise mit den neuen Gesichtern der russischen Arbeiterproteste, den neuen „Bergarbeitern“, auf dem Roten Platz vereinten, könnten aus dieser explosiven Mischung durchaus revolutionäre Umwälzungen folgen.

    Die neuen Anhänger des Russischen Frühlings

    Ein weiterer Herd beim Anwachsen politischer Spannungen könnten die neuen Anhänger des Russischen Frühlings werden: Junge Männer, die von den Kämpfen im Südosten der Ukraine zurückgekehrt sind, weil es ihnen nicht gelungen ist, dort nach dem Krieg Fuß zu fassen.

    Gut ausgebildet und geübt im Umgang mit der Waffe werden sie in Russland keinen Platz finden, bedenkt man die allmähliche Zurücknahme der aggressiven Rhetorik und die Kehrtwende in Richtung einer Zusammenarbeit mit dem Westen. Dann bleiben ihnen zwei Möglichkeiten: Entweder sie setzen ihre militärische Laufbahn in einer Privateinheit wie der TschWK Wagner fort, oder – was weitaus wahrscheinlicher ist – sie versuchen ihr angesammeltes symbolisches und soziales Kapital in der Heimat zu verwenden. Zum Einsatz kommen diese Inhalte und sozialen Gruppen bereits beim Helden des Russischen Frühlings Igor Strelkow, indem er mal das Komitee des 25. Januar, mal die neue Allrussische nationale Bewegung gründet.

    Wenn es ihnen nicht gelingt, sich in das System der politischen Macht einzufügen, werden sie, enttäuscht und frustriert über die faktische Aufgabe des Projekts Noworossija, ihre Loyalität gegenüber dem Kreml gewiss nicht beibehalten. Sie werden sich alternativen Machtzentren zuwenden. Sicherlich würde es ihnen schwerfallen, die beiden oben genannten „revolutionär gefährlichen“ sozialen Gruppen zu verstehen und sich mit ihnen zu vereinen. Dafür liegen die Beweggründe für den Protest und die jeweilige Weltsicht zu weit auseinander. Doch gesetzt den Fall, das System würde mit den sozialen Spannungen nicht mehr fertig, ist es durchaus vorstellbar, dass Menschen mit der Erfahrung militärischer Mobilmachung diese Situation ausnutzen, um unter Losungen der Bewahrung von Ordnung und Einheit des Landes eigene lokale Kontrollzonen zu errichten.

    Betrachtet man das Manifest von Strelkow, so propagiert er keine Machtergreifung sondern eine „Übernahme“ der Staatsmacht, wenn die Krisensituation erreicht ist. Das beschriebene Szenario gilt unter den Anhänger der ANB [Allrussische Nationale Bewegung] als eine durchaus realistische Strategie.

    Das Hauptproblem liegt woanders

    Das Hauptproblem für die Stabilität des russischen Regimes allerdings besteht nicht so sehr in den wachsenden sozialen Gruppen, die zu neuen Quellen des Protestes werden können. Und noch nicht einmal darin, dass der Kreml die Gefahr, die von ihnen ausgeht, übersieht. Es besteht vielmehr darin, dass die politischen Institutionen (insbesondere in den Regionen) degradieren, zunehmend primitiver werden und von Jahr zu Jahr weniger fähig sind, dem wachsenden Widerspruch auf friedliche Weise zu begegnen.

    Die sich verschlechternde sozialpolitische Lage einerseits und das zunehmende Unvermögen, sich an diese anzupassen, andererseits: Derart entgegengesetzte Tendenzen können zu einer sozialen Explosion führen.

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