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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Die Söldnertruppe Wagner wirbt seit dem Frühjahr 2022 gezielt Gefängnisinsassen an, die sich parallel zur russischen Armee an der Invasion in die Ukraine beteiligen. Wenn sie sechs Monate im Einsatz überleben, winkt den Kämpfern die Begnadigung. Inzwischen kehren einige in ihre Heimatorte zurück – unter ihnen verurteilte Schwerverbrecher wie der 28-jährige Iwan Rossomachin. Sein 200-Seelen-Heimatdorf Nowy Burez in der Oblast Kirow, knapp 1000 Kilometer östlich von Moskau, machte in russischen Medien Schlagzeilen, seit er dort eine Rentnerin ermordet haben soll. Alina Ampelonskaja hat sich für das Sankt Petersburger Nachrichtenportal Fontanka auf seine Spuren begeben – und schildert in einer Reportage ihre Eindrücke.

    Um 17 Uhr ist die Straße [in Nowy Burez] menschenleer. Am Einkaufsladen hängt ein Schild: Öffnungszeiten 8 bis 19 Uhr. Ich ziehe an der Tür – geschlossen. Erst da sehe ich einen zweiten Aushang, ein ausgedrucktes A4-Blatt, das etwas oberhalb der Augenhöhe an der Scheibe klebt: Heute bis 15 Uhr.

    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach. Die Tür steht offen. Ich spähe hinein, in der Hoffnung, irgendjemanden anzutreffen oder wenigstens kurz aufs Klo gehen zu können: Von Kasan bis Nowy Burez sind es vier Stunden Autofahrt. Es gibt auch einen Bus von der Nachbarstadt Wjatskije Poljany hierher, aber er fährt nur dreimal die Woche. Wen es interessiert: montags, mittwochs und freitags.

    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach / Foto ©  Alina Ampelonskaja
    Schräg gegenüber befindet sich das Kulturzentrum – ein einstöckiges Gebäude mit Holzdach / Foto © Alina Ampelonskaja

    Drinnen steht vor der Bühne mit den zwei russischen Flaggen ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke. Daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Die drei wirken überaus freundlich, zumindest bis zu dem Moment, in dem ich mich als Journalistin vorstelle.

    „Wir haben keine Zeit, wir proben für den 9. Mai. Vielleicht finden Sie draußen jemanden, der mit Ihnen sprechen will …“ Ich nicke mit einem Lächeln, aber innerlich resigniere ich. Von draußen komme ich ja gerade und weiß, wie es dort aussieht. „Kann ich vielleicht Ihre Toilette benutzen?“ „Ja, raus und nach links.“

    Vor der Tür bleibe ich kurz stehen: An einem Aushängebrett sind die Eintrittspreise für diverse Veranstaltungen und Dienstleistungen angeschlagen: Film- und Zeichentrickvorführung – 30 Rubel [etwa 0,35 Euro – dek] pro Person, Diskothek – 30 bis 80 Rubel [etwa 0,35 bis 0,90 Euro – dek], Benutzung des Fitnessraums – 30 bis 50 Rubel [etwa 0,35 bis 0,60 Euro – dek] pro Stunde. Aber einen Fitnessraum gibt es hier gar nicht.

    Drinnen steht ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke, daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Sie proben für den 9. Mai / Foto © Alina Ampelonskaja
    Drinnen steht ein Tisch mit einer bordeauxroten Tischdecke, daran sitzen eine Lehrerin und zwei Schüler. Sie proben für den 9. Mai / Foto © Alina Ampelonskaja

    Aus dem Inneren dringt der Anfang einer Reportage des lokalen Fernsehsenders Wjatskije Poljany herüber: „An einem grauen Sonntagmorgen haben sich besorgte Bürger im Kulturzentrum eingefunden, die sich von der Polizei und der regionalen Verwaltung Auskunft über den Vorfall erhoffen …“

    Ich wohne hier nicht mehr, ich besuche nur übers Wochenende meine Oma

    Seit der Rückkehr von Iwan Rossomachin, der als Söldner für die Gruppe Wagner an der Front war, sind knapp zwei Wochen vergangen. Jetzt sitzt er hinter Gittern: Zuerst fünf Tage wegen Sachbeschädigung, mittlerweile steht er unter Mordverdacht. Nicht zum ersten Mal: 2020 hat er eine Bewohnerin von Nowy Burez umgebracht. Sie wird hier von allen nur Tante Tanja genannt, ohne Nachnamen.

    Um 17 Uhr ist die Straße in Nowy Burez menschenleer / Foto © Alina Ampelonskaja
    Um 17 Uhr ist die Straße in Nowy Burez menschenleer / Foto © Alina Ampelonskaja

    Da sehe ich auf der Straße einen Mann in Gummistiefeln. „Ich wohne hier nicht mehr, ich besuche nur übers Wochenende meine Oma“, antwortet er lustlos. Gleich nach dem Schulabschluss sei er in die Stadt gezogen, berichtet er. Das Gespräch ist vorbei, bevor es richtig angefangen hat. Über das Leben im Dorf wisse er nicht viel. „Da kann ich nicht helfen“, antwortet er knapp und verschwindet im Kulturzentrum.

    Später erfahre ich den Grund: In einem gemeinsamen Chat wurden die Dorfbewohner eindringlich davor gewarnt, mit der Presse zu sprechen. Während der drei Tage, die ich hier verbringe, wird man mich immer wieder bitten, das Diktiergerät auszuschalten und keine Namen zu nennen. Ich bin ratlos.

    Ich klopfe an ein Tor, unter dem eine Hundeschnauze hervorschaut. Es muss doch jemand hier sein, der diese Schnauze füttert? Nach ein paar Minuten höre ich im Hof Schritte und eine genervte Stimme: „Ist ja gut, jetzt gib schon Ruhe.“ Ein Mann in Camouflage-Overall und Gummistiefeln öffnet mir die Tür. „Ich wohne hier nicht, bin nur auf Besuch bei meiner Mutter. Hier gibt es nichts, nur den Laden und die Kolchose. Die Schule hat dichtgemacht, der Kindergarten auch.“

    „Die Kolchose“ ist der Agrarbetrieb Rus. Laut den Dorfbewohnern arbeitet dort der Großteil der hiesigen Bevölkerung. Die Popularität lässt sich leicht erklären: Erstens verdient man in der „Kolchose“ relativ gut – als Melkerin zum Beispiel rund 30.000 Rubel [etwa 340 Euro – dek]. Zweitens gibt es keine andere Arbeit. Die meisten Männer versuchen ihr Glück in der Stadt oder verdingen sich irgendwo als Tagelöhner.

    In der „Kolchose“ arbeitet der Großteil der Bevölkerung. Eine andere Arbeit gibt es nicht / Foto © Alina Ampelonskaja
    In der „Kolchose“ arbeitet der Großteil der Bevölkerung. Eine andere Arbeit gibt es nicht / Foto © Alina Ampelonskaja

    In einem der Nachbarhäuser geht ebenfalls eine Tür auf. Ein Mann gesellt sich zu uns, dann kommen noch weitere dazu – der eine wollte gerade etwas erledigen, ein anderer kommt gerade vom Angeln zurück. Auch die „Hundeschnauze“ rennt heraus – ein junger Rüde mit schwarzen Zotteln. „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“

    „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“ / Foto © Alina Ampelonskaja
    „Wie heißt er?“ „Hund.“ „Hat er keinen Namen?“ Sein Herrchen sieht ihn nachdenklich an. „Was weiß ich, Bello.“ / Foto © Alina Ampelonskaja

    Die Männer gehen in die Hocke und unterhalten sich da unten weiter. Ich bin unschlüssig: Soll ich mich auch so hinhocken? Ich bleibe lieber erst mal stehen.

    „Noch mehr Journalisten, oder was?“

    Vor dem Kulturzentrum hält ein Auto an, das keiner von den Männern kennt.
    „Noch mehr Journalisten, oder was?“

    „Wir sind ja jetzt berühmt. Ob Skabejewa wohl kommt?“ Er dreht sich zu mir: „Haben Sie gesehen, wie sie sich im Fernsehen aufgeregt haben über diese Brigade in der Ukraine? Weil die angeblich Edelweiß heißt, wie bei der Wehrmacht? Wissen Sie, wie der militär-patriotische Club hieß, in den Wanja [Rossomachin] gegangen ist? Edelweiß.“ Ich schaue später nach: Den Club gibt es immer noch. Eine staatliche Organisation, wohlgemerkt.

    „Wie viele Menschen leben hier im Dorf?“ „Das Haus hier steht leer, das da auch, die hier kommen nur im Sommer … Vielleicht zweihundert? Die Alten sterben weg. Das haben die Menschen ja so an sich. Wir haben vier wichtige Dokumente im Leben: Geburtsurkunde, Heiratsurkunde, Scheidungsurkunde und Sterbeurkunde. So sieht’s aus. Wir sind hier die Jüngsten, auch wenn wir selber nicht mehr ganz frisch sind.“

    Viele Häuser stehen leer, manche sind nur im Sommer bewohnt / Foto © Alina Ampelonskaja
    Viele Häuser stehen leer, manche sind nur im Sommer bewohnt / Foto © Alina Ampelonskaja

    Bei der Volkszählung 2010 hatte Nowy Burez knapp über 350 Einwohner. Die Charakterreferenz für Rossomachins Gerichtsverhandlung haben 150 Menschen unterschrieben – fast jeder im Dorf, wie mir die Bewohner erzählen.

    „Das Leben ist ein Mysterium!“, sagt einer meiner Gesprächspartner. „Sie sollten sich mal mit Vytas unterhalten. Aber der war heute so besoffen, dass ihm sein Gebiss rausgefallen ist.“

    Ein Taxi in die Stadt und zurück kostet 1500 Rubel – unbezahlbar

    Vytautas Antanowitsch ist 80 Jahre alt. Er hat seinerzeit im Bergwerk in Workuta gearbeitet. In der Rente zog er gemeinsam mit seiner Frau zurück in ihr Heimatdorf Nowy Burez. Das gelb-grüne Holzhaus hat er selbst gebaut. Es hat mehrere große Zimmer, aber Vytautas verbringt die meiste Zeit in der ehemaligen Sommerküche. Mehr braucht er nicht, sagt er. Seine Frau ist nach langer Krankheit gestorben, sein Sohn ist ertrunken.

    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas. Er sitzt auf dem Bett auf einer kratzigen Wolldecke. In der kleinen Küche ist alles in greifbarer Nähe: Vor ihm steht ein Tisch, direkt dahinter der Kühlschrank.

    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas / Foto © Alina Ampelonskaja
    „Schneid mal die Wurst auf, wir haben Gäste“, sagt Vytautas / Foto © Alina Ampelonskaja

    Links neben Vytautas liegt ein Haufen Medikamente. Er hat eine ganze Reihe von Krankheiten, eine davon ist Krebs. Mein gestriger Bekannter Slawa setzt dem alten Mann Spritzen. Anders geht es nicht: Die Spritzen braucht er täglich, aber die Feldscherin ist an Covid gestorben. Jeden Tag in die Stadt zu fahren, wäre unbezahlbar: Ein Taxi kostet hin und zurück fast 1500 Rubel [etwa 17 Euro – dek]. 

    Das gelb-grüne Holzhaus hat Vytautas selbst gebaut / Foto © Alina Ampelonskaja
    Das gelb-grüne Holzhaus hat Vytautas selbst gebaut / Foto © Alina Ampelonskaja

    Auf dem Staatssender Rossija 1 läuft eine Renovierungssendung. Die Moderatorin schwärmt, wie toll die Lounge-Ecke in der Moskauer Wohnung geworden ist.

    In der Küche sind außer uns noch zwei Männer. Nennen wir sie Petja und Jura. Jura holt die Wurst aus dem halbleeren Kühlschrank. „Wo hast du denn die *** [geklaut]? Die gibt’s hier doch gar nicht zu kaufen!“ „Mitgebracht.“ „[Lüg] *** doch nicht!“ Vytautas und Jura beschimpfen einander ständig, aber ihre Augen sind gutmütig.

    Petja ist jünger als ich. Er hält sich wie so viele mit Gelegenheitsjobs über Wasser: „In der Kolchose verdienst du zur Erntezeit als Traktorfahrer 20 bis 25 [Tausend; etwa 230 bis 285 Euro – dek]. Aber im Winter … Da kannst du nur Eier schaukeln, bekommst vielleicht grad mal die Hälfte rein.“

    Das Zimmer ist verqualmt. Der alte Mann raucht Gestopfte mit Bauerntabak. Neben der Packung liegt eine Schachtel normale Zigaretten einer mir unbekannten Marke. Ich hole zwei Schachteln Parlament aus meinem Rucksack, die ich „zum Tee“ mitgebracht habe. „Oho!“, lacht Jura. „Hast du gesehen? Der Tageslohn einer Melkerin. Eine Packung ist für mich!“

    Auf dem Tisch stehen eine Flasche Wodka und zwei staubige Pinnchen. Eins ist für mich, wie sich zeigt. Als Vytautas noch fit war, brannte er seinen Schnaps selbst. Das Geschäft lief gut: In elf Tagen stellte er 12,5 Liter her. Pro Flasche nahm er 200 Rubel ein. Dieser Satz hat sich in Nowy Burez in den letzten Jahren übrigens nicht geändert. Nur Verkaufsstellen gibt es jetzt nur noch zwei anstatt vier. Wegen der Krise.

    Wir bitten um Geldspenden für die Herstellung von Tarnnetzen

    „Jeder Mensch braucht doch irgendwas zu tun“, sagt Jura und schaut dabei rauchend aus dem Fenster. Viele von Vytautas‘ Nachbarn haben gesessen. Überhaupt kannst du in diesem Dorf mit einer Gefängnisstrafe niemanden groß beeindrucken.

    Wir kommen schnell auf das Thema Tod zu sprechen. Einer ist unter die Traktorräder geraten, ein anderer hat sich aufgehängt. Manchmal lauert das düstere Ende, wo man es am wenigsten erwartet: Zum Beispiel in den Geschichten von Kunden der „Verkaufsstelle“, die gern anschreiben ließen. „Eine hat über viertausend zusammenkommen lassen. Als sie ihre Rente bekam, sollte sie bezahlen, kam hier an mit zitternden Händen. Ich sag zu ihr: ‚Wenn du zu geizig bist, darfst halt nicht trinken.‘ Hab ihr nichts mehr gegeben. Jetzt ist sie schon tot.“

    Jura fällt Vytautas ins Wort. Er hat seine eigene Version der Geschichte: „Das hat doch nichts … Sie hat doch erzählt, dass ihre Neffen sie mit einer ganzen Horde *** [vergewaltigt] haben. Da war sie 80. Wir haben ihr gesagt, sie soll sie anzeigen, aber sie hatte Angst.“

    Von diesen Gesprächen wird mir übel. Offenbar merken sie das, ich höre: „Ja, *** [richtig krass]. Da gab es doch diesen Kafka, der hat über so was geschrieben. Wenn der heute noch leben würde, der würde *** [sich wundern]. Der hätte *** [ganz schön viel] Material. Da brauchst du weder Reporter noch eine Zeitung. Nur die Chroniken von Nowy Burez.“

    In der Dorfschule hat nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden im Nachbardorf unterrichtet / Foto © Alina Ampelonskaja
    In der Dorfschule hat nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden im Nachbardorf unterrichtet / Foto © Alina Ampelonskaja

    Von Vytautas‘ Haus bis zur ehemaligen Dorfschule ist es zu Fuß etwa eine Viertelstunde. Jetzt hat dort nur noch die Bibliothek offen, die Schüler werden in das [knapp 18 Kilometer entfernte] Dorf Srednjaja Toima gefahren. Seit ein paar Monaten funktioniert das [nach einer Unterbrechung] wieder: Man hat einen neuen Busfahrer gefunden. Der alte war in den ersten Tagen der Mobilmachung [im September 2022] einberufen worden. Die Kinder bekamen ihre Aufgaben per WhatsApp und mussten drei Mal die Woche mit dem Linienbus zur Schule fahren.

    Der 24-jährige Kirill (Name v. d. Red. geändert) hat noch die hiesige Dorfschule besucht. Die neunte Klasse schloss er mit drei anderen ab (eine zehnte und elfte Klasse gab es nicht). Zwei von ihnen sind zum Arbeiten weggegangen: Alexej nach Moskau, ein anderer irgendwo in den Norden. Der dritte starb bei der Armee und kehrte im Sarg vom Wehrdienst zurück. Iwan Rossomachin war nur ein paar Jahre älter.

    Meine nächste Station führt mich in den Laden, der gestern geschlossen war. Ich werde von Einheimischen begleitet. Verlaufen kann man sich zwar nicht, aber so ist es sicherer.

    Vom Shampoo bis zur Bettwäsche – im Geschäft von Nowy Burez kann man alles kaufen / Foto © Alina Ampelonskaja
    Vom Shampoo bis zur Bettwäsche – im Geschäft von Nowy Burez kann man alles kaufen / Foto © Alina Ampelonskaja

    In Nowy Burez gibt es nur ein Geschäft, deshalb kann man dort alles kaufen: Lebensmittel, Shampoo und Waschmittel, Schulhefte und Bettwäsche. Die Nudeln werden gleich in Großpackungen zu 1,5 Kilo verkauft. Mitten im Raum steht ein Tisch. Vermutlich zum Einpacken der Einkäufe. Auf dem Tisch liegen zwei ausgedruckte Zettel: „Sehr geehrte Dorfbewohner, wir bitten um Geldspenden für die Herstellung von Tarnnetzen. Annahme in der Verwaltung.“ „Interessenten für Beichte, Krankensalbung und Fürbitten melden sich bitte in der Verwaltung. Kosten: circa 500 Rubel plus eine Kerze. Bei mindestens zehn Interessenten kommt Vater Anatoli (in die Bibliothek).“

    Das Bekleidungssortiment hängt an einer Stange beim Fenster. Das meiste sieht nach Frauenkleidung aus. Ein T-Shirt – 500 Rubel [etwa sechs Euro – dek], ein Hauskleid – 900 [etwa 10 Euro – dek]. Während ich das Angebot studiere, betritt ein Kunde den Laden, ein hagerer Typ mit Mütze. „Zwei Flaschen Wodka.“ „Ich hab dir doch gleich gesagt, du sollst mehr nehmen!“, lacht die Verkäuferin. „Ja ja …“

    Es gab auch früher schon Mörder hier, aber niemand hatte Angst

    Ich sehe mir noch ein paar Minuten lang die Vitrinen an und gehe wieder raus. Meine neuen Bekannten streifen sich lachend Gummihandschuhe ab. Jeder hat nur einen an. „Hast du den Typen gesehen? Das ist Tolja (Name v. d. Red. geändert). Weißt du, warum wir Handschuhe anziehen? Er will einem immer die Hand geben, aber er bumst mit Schwangeren. Was guckst du so? Wirklich! Ist schon ein paar Mal vorgekommen in der Kolchose.“ „Warum denn Schwangere?“ „Na, sonst lässt ihn keine ran!“ Sie wiehern laut los.

    Auch der örtliche Kindergarten ist geschlossen / Foto © Alina Ampelonskaja
    Auch der örtliche Kindergarten ist geschlossen / Foto © Alina Ampelonskaja

    Das Gebäude der Dorfverwaltung befindet sich zwischen dem Einkaufsladen und dem Kulturzentrum. Im Vergleich zum Nachbargebäude, dem ehemaligen Kindergarten, wirkt es äußerst gepflegt. Vor dem Eingang sind weiße, dreieckige Steinplatten im Rasen verlegt.

    Die Bürgermeisterin von Nowy Burez zu treffen, entpuppt sich als die schwierigste Aufgabe. Weder geht Ljubow Wladimirowna ans Telefon, noch reagiert sie auf das Klopfen an der Tür. Zu Hilfe kommen mir ein paar Rentnerinnen, die zufällig da sind. Als ich mein Vorhaben erkläre, wählen sie gleich eine Nummer und überreichen mir das Handy – fast sofort geht jemand ran. „Ich kann Ihnen keine Auskunft geben“, wimmelt mich Ljubow Wladimirowna ab. Nichts zu machen. Ich sage: „Auf Wiederhören“ und gebe das Klapptelefon seiner Besitzerin zurück.

    Im Vergleich zum benachbarten Kindergarten wirkt das Gebäude der Dorfverwaltung äußerst gepflegt / Foto © Alina Ampelonskaja
    Im Vergleich zum benachbarten Kindergarten wirkt das Gebäude der Dorfverwaltung äußerst gepflegt / Foto © Alina Ampelonskaja

    „Ob er sie wohl umgebracht hat? Wir waren früher jeden Tag spazieren. Jetzt haben wir Angst. Es gab auch früher schon Mörder hier, aber niemand hatte Angst, wenn sie [aus dem Gefängnis] zurückkamen.“

    Das Nächste, was ich höre war, dass er schon tot ist

    Neue Informationen über den Mordfall gibt es nicht – nur die trockene Pressemitteilung der Mordkommission. Nach ihrer unerwarteten Auskunftsfreude vor Rossomachins Verhaftung schweigt die Polizei nun. Der Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoshin, hat sein Bedauern angesichts des Vorfalls geäußert und geraten, sich an seine Organisation zu wenden, sollten ehemalige Häftlinge durch aggressives Verhalten auffallen: „Wir schicken unseren Werbungstrupp, der hakt sich bei ihm unter und bringt ihn schnurstracks an die Front.“

    Gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor / Foto © Alina Ampelonskaja
    Gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor / Foto © Alina Ampelonskaja

    Vor meiner Reise hatte ich mir vorgenommen, die Leute über Iwan auszufragen. Jetzt sehe ich, dass es keinen Sinn hat: gespenstische Straßen, abgesicherte Fenster, Beschimpfungen hinter dem Zaun hervor und keiner bittet mich herein.

    Sweltlana und Jelena (Namen v. d. Red. geändert) stelle ich auch keine besonderen Fragen. Wir müssen in dieselbe Richtung, also laufen wir zusammen. Bereits nach wenigen Minuten klingelt Swetlanas Handy. Sie hebt ab und geht ein Stück weg. Als sie zurückkommt, will Jelena sofort wissen:
    „Hat sie dir gesagt, du sollst schön den Mund halten?“ Pause. „Ja.“

    Was wir besprochen hatten, war bestimmt streng geheim: Wie oft die beiden Freundinnen am Fluss spazieren gehen und welche Bücher sie zuletzt aus der Bücherei ausgeliehen haben.

    Die Bürgermeisterin von Nowy Burez treffe ich doch noch. Aber ein Gespräch wird daraus nicht: Ljubow Wladimirowna will als Erstes wissen, ob ich eine Genehmigung habe, mich hier aufzuhalten, und droht mir, mich der Kreisverwaltung zu melden.

    „Es läuft alles gut bei uns. Soziale Probleme sind unsere interne Angelegenheit. Hören Sie auf, hier herumzurennen und Sachen zu schreiben. Dörfer wie unseres gibt es hier noch und nöcher. Mit der gleichen Infrastruktur und sozialen Zusammensetzung, ohne Schule und Kindergarten. Sind wir etwa die Einzigen, die solche Probleme haben?“

    Vor meiner Abreise klopfe ich an die Tür eines Hauses, das ich bisher gemieden habe. Hier wohnt die Mutter des zweiten Wagner-Söldners, ebenfalls Iwan. Auch er hat sich im Gefängnis anwerben lassen, nur dass Rossomachin noch zehn Jahre abzusitzen gehabt hätte, und Iwan weniger als eins. Sie waren fast gleich alt.

    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass ihr Sohn für Wagner kämpfte / Foto © Alina Ampelonskaja
    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass ihr Sohn für Wagner kämpfte / Foto © Alina Ampelonskaja

    Die Tür macht eine müde aussehende Frau mit einer leisen Stimme auf. Sie bittet mich herein. Über dem Sofa hängt eine gerahmte Urkunde mit der Unterschrift von Leonid Passetschnik [dem Chef der selbsternannten LNRdek]: „Iwan Wladimirowitsch kämpfte für die Freiheit und Unabhängigkeit der Volksrepublik Luhansk. Er fiel nach mutigem und selbstlosem Kampf als Held auf dem Schlachtfeld.“

    Jelena sagt, sie habe nichts davon gewusst, dass Iwan einen Vertrag unterschrieben hatte. Sie habe es vom Enkelsohn ihrer Nachbarin erfahren, der ebenfalls eine Haftstrafe in der Strafkolonie in Rudnitschny absaß: „Er hat es mir gesagt, aber ich habe nicht kapiert, dass das wirklich wahr ist. Das Nächste, was ich hörte, war, dass er schon tot ist. Davor hat Iwan am Telefon zu ihm gesagt: ‚Mich braucht doch niemand, ich gehe.‘“

    Am Kreuz auf Iwans Grab liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner / Foto © Alina Ampelonskaja
    Am Kreuz auf Iwans Grab liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner / Foto © Alina Ampelonskaja

    Iwan liegt hier in Nowy Burez begraben. „In den Birken“, wie die Einheimischen sagen. Iwans Grab liegt ganz am Rand, beim Zaun. Aber an seinem Kreuz liegt der gelb-rote Gedenkkranz der Söldnergruppe Wagner.

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  • „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    „Wir sind in dem finsteren Märchen gelandet, von dem wir singen“

    Verbotene Musik?! In den letzten Wochen wurden zahlreiche Konzerte von russischen Rapmusikern und anderen Bands von den Behörden verboten oder abgebrochen. Das Thema beschäftigte inzwischen nicht nur die Duma, auch der prominente Moderator Dimitri Kisseljow griff es in seiner Sendung auf. 
    Vom Konzertverbot betroffen waren auch IC3PEAK. Ihr Konzert Anfang Dezember in Woronesh etwa wurde nach wenigen Minuten von den Behörden abgebrochen.

    Bereits mit einem ihrer ersten Videos Go With The Flow betrieben sie einen selbsterklärten „audiovisuellen Terrorismus“, der sich gegen die in Russland verbreitete Homophobie wandte. Zu den Zielen von Nastya und Nick gehört es, „die Hörer aus der Komfortzone herauszubekommen“.

    In einem Interview mit Fontanka äußert sich die Band aus Tula zu den Konzertverboten und erklärt, warum sie weiter gegen das System ansingt, und immer nur das macht, worauf sie Bock hat.

     

    Selbsterklärter „audiovisueller Terrorismus“ – „Go With The Flow“ von IC3PEAK

    Fontanka: Wie geht es euch denn, nachdem mehrere eurer Konzerte abgeblasen wurden?

    Nick: Surreal. Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen. Es ist eine völlig irreale Geschichte: Der FSB ist hinter uns her, sie filzen uns, sagen unsere Konzerte ab. Und alles nur, weil wir Musik machen und unsere Videos drehen. Die wirklichen Gründe kennen wir nicht. Niemand hat uns was gesagt. 

    Nastya: Das ist so eine Schizophrenie, im Grunde ganz typisch für Russland. Aber wenn du selbst im Mittelpunkt des Geschehens bist, ist es manchmal sogar ganz lustig. Wenn dich ständig ein Auto mit durchtrainierten Typen verfolgt, fühlst du dich wie der Held in einem bescheuerten russischen Film. 

     

    „Wir sind genau in dem finsteren, grimmigen Märchen gelandet, von dem wir singen.“ – FAIRYTALE von IC3PEAK

    Der Chef von AGORA, Pawel Tschikow, hat eine Schwarze Liste erwähnt, auf der Namen von Musikern stehen. Habt ihr die gesehen?

    Nick: Es gibt zwei Informationsstränge – wenn man sie verbindet, kann man daraus schließen, dass ein solches „Dokument“ tatsächlich existiert. 
    Einerseits hieß es von seiten der Veranstalter wiederholt, es gebe einen „Befehl vom FSB“. Das haben die Clubbesitzer erzählt. Andererseits haben nicht nur wir solche Probleme, sondern auch andere Musiker. Das Muster ist ziemlich ähnlich. Und alles begann wie eine Welle. Innerhalb einer Woche kamen alle diese Verbote.      

    Nastya: Man hat den Eindruck, einem von denen da oben wurde die aktuelle russische Szene gezeigt – unsere Clips, und das ist jetzt die Reaktion: Da hat nun irgendjemand entschieden, was für unsere Jugend gut ist und was schlecht.    

    Wenn in eurem Lied nicht ein „Bulle ein Kätzchen überfahren“ würde und ohne das Händeklatschspiel vor der Lubjanka, bei dem ihr auf den Schultern von OMON-Männern sitzt – hätten sie euch nicht belangt?

    Nastya: Das ist der Punkt! Wir glauben auch, dass sie uns in Ruhe gelassen hätten.

    Nick: Offenbar haben wir „den Ort besudelt“. Und dann haben sie beschlossen, dass das nicht geht, das „werden wir verbieten“.   

     

    „Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka.“ – „Smerti bolsche net“ von IC3PEAK

    Offenbar haben wir den Ort besudelt

    Das habt ihr doch aber mit Absicht gemacht. Ihr habt den Eisernen Felix doch absichtlich am Schnauzer gezupft?

    Nick: Wir haben das nicht wegen der Reaktionen gemacht. Wir wollten schlicht und ergreifend selbst dieses Bild sehen – ein Klatschspiel, während wir auf den Schultern von OMON-Männern sitzen, im Hintergrund die Lubjanka. Wir nehmen grundsätzlich nur das auf, was wir selbst sehen wollen. 

    Nastya: In erster Linie ist unser Video ein Statement. Wir finden, es ist ironisch, raffiniert und schön geworden. Mit Sinn für Humor.  

    Gibt es in Russland eine Politisierung der Jugend?

    Nastya: Wenn man bedenkt, dass es immer mehr politisierte Musikevents und Alben verschiedener, auch bekannter und beliebter Interpreten gibt, und dass Musiker einen großen Einfluss auf das Denken der Jugendlichen haben, dann vielleicht ja. Dann gibt es so eine Bewegung. 

    Wer gibt hier das Tempo vor? Wer treibt die Politisierung an? Die Staatsmacht oder die Musiker selbst, die ja oft schick sein wollen?

    Nastya: Die Zeit. Das ist kein konkreter Mensch, keine bestimmte Personengruppe. Die Zeit gibt das Tempo vor. Für die Politisierung der Jugend ist jetzt einfach die Zeit reif. 

    Nick: Das ist ein historischer Prozess. Die jungen Leute haben endgültig aufgehört, Fernsehen zu gucken. Sie sehen diese höllenhafte Propaganda und leben im Internet. Und dort gibt es mehr als eine Meinung. Unterschiedliche Meinungen legen nahe, dass man kritisch denken kann. Das ist alles ganz einfach.     

    Es gab ein spektakuläres Konzert für den verfolgten Husky, bei dem erfolgreiche Musiker wie Basta, Oxxxymiron und Noize MC auftraten. Hat’s euch gefallen?

    Nick: In unserem System gibt es leider keine andere Möglichkeit, mit dem Druck fertig zu werden. Per Gericht lässt sich das nicht lösen. Das geht nur über Schlagzeilen. Ihr Konzert hat Reaktionen ausgelöst. Eine Masse von Meinungen. 

    Nastya: Die Solidarität mit Husky war richtig. Er ist ein unabhängiger Künstler. 

    Im Kulturministerium heißt es, dass „Verbote keine Methode“ seien, man müsse jedoch „besonnener an die Texte herangehen“. Werdet ihr eure Songs jetzt „besonnener“ schreiben?

    Nastya: Ich glaube, ich gehe auch so besonnen genug an die Texte unserer Tracks heran. Ein Songtext ist vor allem ein Kunstwerk. Und es gibt Themen, über die man eigentlich nicht laut spricht, aber wenn man sie ausspricht, von mir aus auch metaphorisch oder bildhaft, fühlt man sich erleichtert. Daher der therapeutische Effekt der Musik: Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind, dass sie nicht einsam sind, denn Einsamkeit ist das Schlimmste, meiner Ansicht nach.     

    Propaganda für Selbstmord, Gewalt, Extremismus und dergleichen gibt es in unseren Songs absolut nicht, gab es auch nie und wird es nie geben. Wir verwenden nicht mal Mat. Wir reflektieren eine der Facetten der Wirklichkeit, in der unsere Generation lebt, ihre emotionale Seite.      

     

    „Menschen hören die Songs und spüren, dass sie mit ihrem Schmerz nicht allein sind“– „Sad Bitch“ von IC3PEAK

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  • „Die Menschen wollen Veränderung“

    „Die Menschen wollen Veränderung“

    Seine politischen Prognosen seien fast so genau wie Wetterberichte, lobte sich einst Waleri Solowei, einer der bekanntesten Politologen Russlands. In der Tat treffen seine Vorhersagen so oft zu, dass der MGIMO-Professor sogar den Spitznamen „politischer Nostradamus“ hat.

    In der Wissenschaft versucht Solowei, demokratische und liberale Positionen mit völkisch-nationalistischen Standpunkten zu vereinen. Über Schwächen und Widersprüche, die jedem Erstsemestler auffallen dürften, geht der Professor mit leichter Hand hinweg. Seine Stärke ist nun mal die politische Prognose – deren hohe Trefferquote vor allem Soloweis Draht zum Kreml zu verdanken sei, so die Einschätzung einiger Beobachter.

    Zum Beginn des Wahljahres resümiert der MGIMO-Professor für die Petersburger Online-Zeitung Fontanka das turbulente 2017 und schaut in seine Glaskugel. Braut sich da etwas zusammen?

    Sein Spitzname ist „politischer Nostradamus“ – Politologe Waleri Solowei / Foto © politdengi.com.ua
    Sein Spitzname ist „politischer Nostradamus“ – Politologe Waleri Solowei / Foto © politdengi.com.ua

    Irina Tumakowa: Waleri Dimitrijewitsch, vor einem Jahr haben Sie vorhergesagt, 2017 würde eine politische Krise ausbrechen, die drei Jahre anhält. Das Jahr ist um. Welche Anzeichen dieser Krise haben Sie beobachtet?

    Waleri Solowei: Vor einem Jahr habe ich gesagt, es würde Bewegung in die Politik kommen, und das ist tatsächlich passiert. Im Herbst war man noch etwas verschlafen, das lag vor allem daran, dass die Opposition nicht in der Lage war, der Gesellschaft ein proaktives Programm vorzulegen und sich politisch zu konsolidieren. Dennoch ist eine deutlich zunehmende Proteststimmung bemerkbar, vor allem auf lokaler Ebene. Sogar laut offizieller Statistik ist die Zahl der Proteste im Vergleich zum Vorjahr um zwei Drittel gestiegen. Sowohl die Regierung als auch regierungsfreundliche Experten sagen, sie würden nach den Präsidentschaftswahlen mit einem neuerlichen drastischen Anstieg rechnen.

    Das ist der erste Punkt, der zweite geht damit einher: Die Wirtschaftskrise in Russland ist nicht vorbei, allen offiziellen Erklärungen zum Trotz. Im November konnten wir regelrecht einen monströsen Einbruch in der industriellen Produktion beobachten, wie es ihn die gesamte Krise hindurch nicht gab.

    Die Wirtschaftskrise ist nicht vorbei

    Das Einkommen der Bevölkerung sinkt schon das vierte Jahr in Folge. Das hatten wir nicht einmal in den 1990er Jahren, mit denen man die derzeitige Stabilität so gern vergleicht. Es gibt auch keinerlei Grund anzunehmen, dass sich die Situation verbessern würde. Bei einem vertraulichen Treffen mit Vertretern der Wirtschaft hat Putin das tatsächlich genauso gesagt: Erwartet nicht, dass sich etwas verbessert, dafür gibt es keinen Grund.

    Bei seiner offiziellen Pressekonferenz hat er doch etwas ganz anderes gesagt. Warum sagt er so etwas bei einem vertraulichen Treffen zu den Wirtschaftsvertretern?

    Wahrscheinlich, weil es nicht besonders förderlich wäre, so etwas zum Auftakt einer Wahlkampagne öffentlich zu verkünden.

    Die Nachfrage nach Veränderung ist größer als die Nachfrage nach Stabilität

    Das dritte Anzeichen einer politischen Krise ist die gesellschaftliche Forderung nach Veränderung. Zum ersten Mal seit 25 oder 26 Jahren ist die Nachfrage nach Veränderung größer als die Nachfrage nach Stabilität. Und zwar in allen soziodemografischen Gruppen. Einschließlich der Jugend und der älteren Generation, darunter auch Menschen im Rentenalter. Zum letzten Mal gab es so etwas 1990/91.

    Offen gestanden sehe ich derzeit nicht die Stimmung von 1990.

    Ja, in dieser Nachfrage überwiegt der Wunsch nach sozioökonomischen Veränderungen. Politische Veränderungen stehen für eine Minderheit an erster Stelle. Aber hier geht es nicht um die spezifische Größe dieser Minderheit, sondern darum, dass sie ein offensives Programm vorlegen und die Gesellschaft dafür gewinnen könnte. So oder so, es gibt den Wunsch nach Veränderung. Und der war in den letzten 25 Jahren noch nie so ausgeprägt wie jetzt.

     


    Quelle: RAN

    Wenn die Soziologen das sehen, warum sieht die Regierung es nicht?

     

    Die Regierung sieht das glasklar. Sie hofft darauf, dass sich die Situation verbessert, sucht einen Weg dahin. Allerdings ohne politische Veränderungen. Das ist die grundsätzliche Einschränkung. Eine weitere besteht in Folgendem: Für Veränderungen müsste man mit dem Westen verhandeln und unsere Regierung will unter gar keinen Umständen Kompromisse eingehen. Aus Sicht des Kreml ist offenbar jeder Kompromiss ein Zeichen von Schwäche.

    Aus Sicht des Kreml ist jeder Kompromiss ein Zeichen von Schwäche

    Außerdem hofft man, dass sich die Situation von selbst verbessert. Und das Wichtigste ist: Im Kreml interpretiert man den Westen so, als sei es sein Ziel, Präsident Putin zu stürzen, sich in unsere Wahlen einzumischen und Unzufriedenheit zu schüren, die dann zu einer Revolution in Russland führt.

    Eine andere Ihrer Prognosen aus dem letzten Jahr war, dass der neue stellvertretende Leiter der Präsidialadministration Sergej Kirijenko ein gutes Verhältnis zu den Kulturschaffenden aufbauen würde. Und rausgekommen ist „der Fall Serebrennikow“.

    Das hängt aber nicht von Kirijenko ab. Es gibt „das Prinzip der zwei Schlüssel“. Der eine Schlüssel liegt in der Hand des politischen Blocks, der andere in der der Silowiki. Kirijenko hat wohl kaum etwas damit zu tun, was mit Serebrennikow passiert ist. Dem politischen Block gefällt es nicht, was in diesem Bereich passiert. Eine Politik der Einschüchterung der Kulturschaffenden halten sie für kontraproduktiv.

    Und wozu soll es für den Block der Silowiki gut sein, die Kulturschaffenden einzuschüchtern?

    Damit stellen Sie eine Frage, die für russische Intellektuelle typisch ist: „Wozu?“ Die richtige Frage lautet hier aber: „Warum?“ Weil sie nicht anders können. Es gibt eine Liste erklärter Ziele. Man nimmt an, dass die Neutralisierung gewisser Objekte zur Stabilität beiträgt, dass man ihnen eine Lehre erteilen muss. Zu diesen Zielen zählen auch Serebrennikow und die Europäische Universität in St. Petersburg.

    Die Europäische Universität fällt auch in dieses Raster?

    Ja, sie stehen auf ein und derselben Liste. Wie andere auch.

    Was ist mit dem Fall Uljukajew? Muss man hier „Warum fragen? Oder geht ein „Wozu“?

    Hier sind beide Fragen angemessen. Denn neben dem Instinkt, der die Vertreter dieser speziellen Gilde antreibt, gab es natürlich auch ein Ziel: Dimitri Medwedew und seinen Unterstützern einen herben Schlag zu versetzen. Und in dem Augenblick, als Uljukajew verhaftet wurde, war zweifellos die gesamte Regierungsspitze in Angst und Schrecken. Alle warteten darauf, nicht bloß gefeuert, sondern verhaftet zu werden.

    Als Uljukajew verhaftet wurde, war zweifellos die gesamte Regierungsspitze in Angst und Schrecken

    Sagt die Tatsache, dass jemand Medwedew einen Schlag versetzen wollte, etwas über dessen Chancen aus, den Posten des Premiers auch 2018 zu behalten?

    Nein, überhaupt nicht. Denn die Entscheidung darüber, wer den Posten des Premiers bekommt, liegt beim Präsidenten, und der Präsident hat keinerlei Interesse daran, die Silowiki noch weiter zu stärken. Ihm ist klar, dass man ihnen nicht die Kontrolle über die Wirtschaft anvertrauen darf.

    Wie konnte er dann die Sache mit Uljukajew zulassen?

    Aus meiner Sicht war das kein besonders produktiver Schritt. Es wäre vernünftiger gewesen, die Eliten kurz vor der Wahl nicht einzuschüchtern. Doch soweit ich weiß, gibt es ernsthafte Bedenken hinsichtlich ihrer Loyalität. Aber so wie ich mir das vorstelle, entbehren die jeder Grundlage, denn die Eliten halten dem Thron die Treue. Aber man hat sich dazu entschieden, ihnen eine Lektion zu erteilen, zu zeigen, dass man niemanden schont, nicht einmal die eigenen Leute: Fürchtet euch alle!

    Das politische Erwachen, von dem sie anfangs sprachen – wohin ist es gegen Ende des Jahres verschwunden? Was ist damit passiert?

    Im Großen und Ganzen ist es nicht gelungen, das Potenzial zu nutzen. Hätte jemand eine Idee für eine gute politische Kampagne gehabt, hätte man dieses Potenzial ausweiten und massenwirksam werden lassen können. Das war eine strategische Frage. Aber es ist nicht passiert. Eine solche Idee hätte von Nawalny kommen können. Nicht durchs Land gondeln und Korruptionsbeweise sammeln, sondern eine Protestkampagne starten. Aber er hat das nicht gemacht.

    Hat ihm die Kandidatur von Xenia Sobtschak geschadet?

    Selbstverständlich spricht sie einen gewissen Teil von Nawalnys Anhängern an. Das ist eines der Motive, warum sie aufgestellt wurde.

    Sie denken also, dass sie „aufgestellt wurde“ und sich nicht selbst aufgestellt hat?

    Das ist doch kein Geheimnis. Ja, man hat ihr vorgeschlagen, es zu tun. Es ihr empfohlen. Und sie hat diese Empfehlung sehr positiv aufgenommen. Wenn auch nicht sofort, sie hat darüber nachgedacht. Übrigens waren nicht alle in der Präsidialadministration davon begeistert. Es gab einige Leute, die dagegen waren, sie kandidieren zu lassen. Sobtschaks Hauptaufgabe besteht darin, die Wahlen aufregend zu machen. Denn die Wahlen sind so vorhersehbar langweilig, dass die geringe Wahlbeteiligung nun zu einem ernsthaften Problem zu werden droht.

    Sobtschaks Hauptaufgabe besteht darin, die Wahlen aufregend zu machen

    Der zweite Grund ist: Sie soll die Protestkampagne übernehmen. Und sehen Sie nur: Sie ist in diesem Wahlkampf die Figur mit der größten Medienpräsenz, sie hat einen Blankoscheck für die staatlichen Sender bekommen. Damit sie Nawalny aus der Medienlandschaft verdrängt. Obendrein kann man jetzt auch noch den westlichen Medien zeigen: Seht her, wie super und liberal es bei uns zugeht, es gibt vielleicht keinen Nawalny, dafür aber eine Kandidatin, die sogar über die Krim sagt, dass sie nach internationalem Recht zur Ukraine gehöre.

    Nawalny war allerdings auch vorher nicht in der „Medienlandschaft“ der staatlichen Sender vertreten, dafür spricht dort jetzt Sobtschak über Dinge, die die Zuschauer ansonsten nie zu hören bekommen. Außerdem hat sie Nawalny ins Programm „aufgenommen“ – sie spricht offen über ihn. Haben die Initiatoren ihrer Kandidatur bedacht, dass sie so weit gehen könnte?

    Natürlich haben sie das. Wobei es Markierungen gibt, die sie nicht übertreten wird. Das ist ihr sehr bewusst, auch das ist alles genau ausgehandelt worden. Und vergessen Sie nicht: Sie ist die Kandidatin „gegen alle“. Ein Kandidat mit einem negativen Programm ist nicht sonderlich gefährlich.

    Wodurch wird sich Putin ab März 2018 vom jetzigen Putin unterscheiden?

    Ich glaube nicht daran, dass ein Mensch 18 Jahre lang einen Typ verkörpern und sich dann plötzlich ändern kann. Sicher, die Apostelgeschichte beschreibt, wie der sture Saulus zu Paulus wurde. Aber so eine Metamorphose ist derart selten, dass sie es sogar in die Bibel geschafft hat.

    Dafür passieren Metamorphosen in die andere Richtung relativ häufig. Das beunruhigt mich viel mehr.

    Ich glaube nicht, dass uns plötzlich grenzenlose Freiheit geschenkt wird, aber ich glaube auch nicht an Gewalt, Verfolgung und Strafen. Ich denke, die Regierung wird zwischen diesen beiden Polen pendeln. Und so ein Gependel ist für die Regierungsstabilität das allerschlimmste. Es tritt meist ein, wenn die Regierbarkeit abnimmt. Und die Regierbarkeit in Russland nimmt gerade ab, das wissen alle, und einige sagen es sogar laut.

    Ich glaube nicht, dass uns plötzlich grenzenlose Freiheit geschenkt wird, aber ich glaube auch nicht an Gewalt, Verfolgung und Strafen

    Das Land lässt sich auf allen Ebenen schlechter regieren. Es liegt eine signifikante Regierungskrise vor. Sie wurde hervorgerufen durch einen naturgemäßen Verfall, der wiederum eine Folge des Abbaus von Ressourcen und der Krise des vorherigen Regierungsmodells ist. 

    Früher garantierten die Machthaber Loyalität und konnten im Gegenzug Korruption betreiben. Es war genug Geld da, um alle Schandtaten zu verdecken. Sowohl um Olympia auszurichten und um die Sozialleistungen zu erhöhen und um das Militär neu aufzurüsten. Heute ist kein Geld da. Man braucht es dringend, aber kann es nirgends hernehmen. Deswegen werden die fiskalpolitischen Maßnahmen zunehmen und der Steuerdruck auf die Bevölkerung wachsen.

    Und das vor dem Hintergrund der Proteste und der Forderung nach Erneuerung? Ist es nicht gefährlich, das zu tun?

    Was sollen sie sonst tun? Die Regierung braucht Geld. Wie früher Kredite beim Westen aufzunehmen ist nicht mehr möglich. Deswegen wird es eine nahezu Stalinsche Modernisierung geben, allerdings in einer vegetarischen Variante. Man setzt auf die eigenen Kräfte.

    Es wird eine nahezu Stalinsche Modernisierung geben, allerdings in einer vegetarischen Variante

    Die Preise für Benzin, Tabak und Alkohol werden steigen – alles wie immer. Aus Sicht der Regierung verfügt die Bevölkerung über kolossale Geldressourcen: Fast zwei Billionen Rubel [30 Milliarden Euro – dek] liegen unter Kopfkissen. Denn über zwei Drittel der Bevölkerung glauben nicht daran, dass die Krise überstanden ist und bleiben weiterhin auf Sparkurs. Sie geben ihre Groschen nicht aus. Und zumindest einen Teil davon will die Regierung einziehen.

    Und wenn die Menschen ihr Geld behalten wollen?

    Wird man sie zwingen. Sehen Sie nur, wie schnell die Verarmung in Moskau und Petersburg voranschreitet, von der Provinz ganz zu schweigen. Die Menschen bekommen nur mit Mühe das Geld für Lebensmittel zusammen, zu der Qualität der Lebensmittel will ich lieber gar nichts sagen.

    Und wie soll es weitergehen?

    Tja, da steht nur ein großes Fragezeichen. Hier wirkt ein Axiom aus der politischen Soziologie: Die Dynamik der Massen ist nicht vorhersehbar. Die Regierung hofft darauf, dass sie es aussitzen kann, das ist ihre klassische Strategie.

    Und wenn wir ganz weit nach vorn blicken: Wozu werden diese Tendenzen nach 2024 führen, wenn Putin geht?

    Wenn Putin verschwindet, verschwindet auch das „System Putin“. Das heißt ja nicht umsonst so. Es steht und fällt mit Putin. Wenn er verschwindet, wird eine Demontage des Systems einsetzen. Demontage ist noch gelinde ausgedrückt, es wird wohl eher ein Zerfall. Aber bitte keine Übertreibungen, eine Katastrophe wird es auch nicht, Russland bleibt. Aber es wird unweigerlich tiefschürfende Veränderungen geben.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

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  • Usmanow vs. Nawalny

    Usmanow vs. Nawalny

    Der Battle ist eröffnet: Seit dem heutigen Dienstag beschäftigt sich ein Moskauer Gericht mit der Verleumdungsklage von Alischer Usmanow gegen Alexej Nawalny. Usmanow hatte diese eingereicht, nachdem der Oppositionspolitiker ihn im Video Nennt ihn nicht Dimon der Bestechung beschuldigt hatte. Über ein undurchsichtiges Stiftungsnetzwerk soll Usmanow dem russischen Regierungschef Medwedew etwa ein Grundstück zugespielt haben.

    Doch Usmanow beließ es nicht bei rechtlichen Schritten: In zwei unterschiedlichen Videos hatte Usmanow Mitte Mai auf Nawalnys Anschuldigungen reagiert. Oligarch und Medienmogul Usmanow – er ist Eigentümer des Verlagshauses Kommersant – richtete extra einen YouTube-Kanal ein, um Nawalny zu kontern.

    Nawalny veröffentlichte beide Filme auch in seinem eigenen Kanal, dort wurden sie inzwischen fast drei beziehungsweise zwei Millionen Mal aufgerufen – auf Usmanows eigenem Kanal dagegen knapp 1 beziehungsweise 1,5 Millionen Mal. Daraufhin hat Nawalny wiederum per Video reagiert.

    Es ist das erste Mal, dass ein Oligarch und Mitglied der Moskauer Elite öffentlich auf derartige Anschuldigungen antwortet und dazu Stellung nimmt – noch dazu über ein Medium, in dem Nawalny viel mehr zuhause ist als Usmanow selbst. Einzelne Politiker, wie etwa Wladimir Milow, sehen hinter Usmanows Video-Botschaften gar einen „Befehl von oben“ , auch um von den Anschuldigungen gegen Medwedew abzulenken.

    Politologe Gleb Pawlowski erläutert im Interview mit fontanka.ru, inwiefern der Beef des Oligarchen und des Oppositionspolitikers auch Ausdruck eines neuen Politik-Verständnisses ist, warum ein Gerichtsurteil eh kaum jemanden interessieren werde – und weshalb Usmanow sicherlich nicht im Auftrag Putins gehandelt habe.

    Irina Tumakowa: Gleb Olegowitsch, hat der Kreml Usmanow wirklich „darum gebeten“ oder hatte Alischer Burchanowitsch selbst das Bedürfnis, sich zu äußern?

    Gleb Pawlowski: Welcher „Kreml“ genau? Auf welcher Ebene? Ich glaube nicht, dass man Alischer Usmanow in so einer Angelegenheit einfach „bitten“ kann. Das wäre unter seinem Niveau. Wenn er nicht hätte reagieren wollen, genauer – wenn er nicht vor Wut schäumen würde, hätte er, wie sonst übrigens auch, nicht einen einzigen Finger krumm gemacht. Aber das hier hat ihn offensichtlich getroffen. Das konnte man an seinem Verhalten sehen, an seiner ziemlich ungehaltenen Redeweise. Glauben Sie mir, der kann sich zusammenreißen, wenn er will. Ich habe gesehen, wie er mit anderen redet und sie siezt und nicht duzt, wie hier.

    Das Entscheidende an diesem Auftritt ist aber, dass unser Leben sich gerade verändert. Etwas, das noch vor ein, zwei Jahren außergewöhnlich war, das wir vergessen hatten, wird wieder normal. Denn das ganze oberste kremlnahe Establishment hat ja geschwiegen. Hat nicht reagiert. Es hat einen ignoriert. Langsam, aber sicher werden sie jetzt alle redseliger. So auch Usmanow. Und ich glaube, das ist gut so.

    Was ist gut daran?

    Man muss kapieren: Die Politik ist wieder da. Lange hieß es, es gebe keine Politik mehr, sie sei irgendwohin verschwunden und würde erst irgendwann dann zurückkommen, wenn Putin geht, und so weiter. Aber das heute – das ist bereits Politik. Alle fangen an, ihre Interessen zu verteidigen. Auch Usmanow tut das. So gut er kann.

    Er hat Klage eingereicht und könnte, sagen wir, drei Milliarden Schadensersatz verlangen, aber er denkt sich Videofilmchen aus.

    Vielleicht dachte Usmanow am Anfang, es würde reichen, diesen Flegel mit rechtlichen Mitteln in die Schranken zu weisen. Usmanow hat dank seines Geldes die unterschiedlichsten Möglichkeiten. Legale und andere.

    Lange hieß es, es gebe keine Politik mehr, sie sei irgendwohin verschwunden. Aber das heute – das ist bereits Politik

    Außerdem hat er die Möglichkeit, formal vor Gericht zu gewinnen, denn Nawalny wird vieles einfach nicht nachweisen können, rein formal ist die Sache wasserdicht. Dann hat Usmanow gesehen, dass seine Klage den Flegel kein bisschen beeindruckt. Dass im Gegenteil er, Usmanow, sich mit dieser Klage selbst ein Bein gestellt hat. Dass nämlich Nawalny sich über eine weitere Plattform für seinen Triumph nur freut. Die Entscheidung des Gerichts ist völlig nebensächlich, weil niemand sie ernstnehmen wird. Als ihm das klar wurde, hat Usmanow beschlossen nachzulegen.

    Usmanow empfindet sich selbst nicht nur als starke und wichtige Persönlichkeit, sondern gewissermaßen als eine Stütze des Staates. Also ist er mit seiner Position an die Öffentlichkeit getreten. Er hat seine Werte dargelegt. Die Argumente genannt, die für ihn sprechen. Etwas, das in unseren Machtstrukturen seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr üblich war. Es war verschwunden, wir hatten vergessen, wie man das macht. Jetzt wird das wieder zunehmen.

    Usmanow hat seine Werte dargelegt, Argumente genannt, die für ihn sprechen. So etwas war seit Beginn der 2000er Jahre nicht mehr üblich. Jetzt wird das wieder zunehmen

    Mit der Zeit werden auch irgendwelche Gouverneure anfangen zu reden. Jedenfalls die, die sich ausreichend sicher sind, dass man sie nicht einbuchtet.

    Es wird der Moment kommen, da auch Igor Iwanowitsch Setschin mit seinen Ansichten an die Öffentlichkeit tritt. Ich glaube, wir werden es sogar erleben, dass selbst Putin irgendwann nicht mehr nur durch den Mund Peskows spricht. Es wird bei uns lauter werden im staatlichen Bereich.

    Dann hat Usmanow diese Tradition begründet?

    Nein, nein. Ich erinnere mich noch gut, wer angefangen hat. Das war jemand, der jünger war als Usmanow, und in gewisser Weise schillernder. Es war Ramsan Kadyrow.

    Als Wendepunkt kann man den Mord an Boris Nemzow sehen. Diejenigen, die das getan haben, wollten das Thema einfach für immer totschweigen, aber das führte nur dazu, dass der Eisberg Risse bekam. Und als man dann Kadyrow beschuldigte, fing er an zu reden.

    Ich glaube also, dass wir uns längst im Zustand einer Politisierung befinden. Später haben sich andere Kadyrow angeschlossen. Die Staatsmacht begann zu sprechen.

    Usmanow mit seinem Auftritt zählen Sie also zur „Staatsmacht“?

    Zur „Staatsmacht“ im weitesten Sinn. Unsere „Staatsmacht“ – das ist quasi ein Rat von Führungskräften der Aktiengesellschaft Russische Föderation. Übrigens hat sich die Position von Präsident Putin in diesem Rat gewandelt. Früher war er der geschäftsführende Direktor, heute ist er eher der Ehrenvorsitzende des Vorstands.

    Das heißt, Putins Rolle ist mittlerweile mehr eine formelle und weniger eine maßgebliche?

    Ja, Ehrenvorsitzende von Gesellschaften treffen in der Regel keine Entscheidungen. Der Vorstandsvorsitzende ist jemand, der unterzeichnet, sanktioniert, die Einigkeit der Gesellschaft verkörpert. Das ist die Rolle, die Putin spielt.

    Wer hat Putin als „geschäftsführenden Direktor“ abgelöst?

    Da ist noch niemand, und ich glaube, genau das können wir tagtäglich beobachten. Genauer, die Funktion des geschäftsführenden Direktors hat sich aufgespalten und ist auf mehrere Gruppen verteilt worden.

    Putins Rolle hat sich gewandelt. Früher war er der geschäftsführende Direktor, heute ist er eher der Ehrenvorsitzende des Vorstands

    In solchen Fragen, wie der von Baschneft oder der Privatisierung von Rosneft, hätte Putin vor fünf Jahren zweifellos vom ersten bis zum letzten Punkt die bestimmende Rolle für sich beansprucht.

    Jetzt aber konnten wir beobachten, wie er unter dem Druck von Setschin seine Position um 180 Grad geändert hat. Natürlich werden die Entscheidungen trotzdem im Namen Putins getroffen.

    Und wer trifft sie gerade tatsächlich?

    Verschiedene Menschen, und sie bilden Koalitionen, die unterschiedlich starken Einfluss besitzen. Es existiert kein einheitliches System der Entscheidungsfindung mehr. Apolitische Bürokratien, die sich nicht beeinflussen lassen durch Minister- und Premierministerwechsel, sondern einfach ihre Arbeit machen, die gibt es bei uns nicht. Deshalb läuft heute alles über Einflussgruppen. Davon gibt es viele, und sie reichen alle hinauf bis zum engsten Kreis des Präsidenten.

    Zu welcher dieser Einflussgruppen gehört Usmanow? Oder steht er für sich allein?

    Nein, für sich allein steht er definitiv nicht. Zu welcher Koalition er gerade gehört, weiß ich nicht, aber sicher ist, dass er manchen näher steht und anderen ferner. Und es ist ja auch nicht ungefährlich, sich eindeutig zu positionieren. Man wird automatisch zur potentiellen Zielscheibe für andere Gruppen. Deswegen halten sich alle schön zurück.

    Sie sagen, Entscheidungen werden nicht mehr nur von einer Person für alle anderen getroffen; die Staatsmacht fängt an, sich zu erklären. Bewegen wir uns auf eine etwas normalere Gesellschaft zu?

    Wir bewegen uns auf eine normale Gesellschaft zu insofern, als gerade die Politisierung ein normaler Trend ist. Nicht normal dagegen war der jahrelange Trend zur Entpolitisierung. Das Streben, einen Konflikt oder öffentliche Debatten einfach auszumerzen – das war nicht normal.

    Es gibt kein einheitliches System der Entscheidungsfindung mehr. Heute läuft alles über Einflussgruppen. Davon gibt es viele, und sie reichen hinauf bis zum engsten Kreis des Präsidenten

    Nach und nach haben wir angefangen zu glauben, dass das schon immer so war und auch in den nächsten zehn, zwanzig Jahren so bleiben könnte. Doch jetzt hat eine Politisierung eingesetzt. Und natürlich wird sie bis zu einem gewissen Grad zu einer Öffnung führen.

    Es wird normal für uns werden, dass bestimmte Menschen bestimmte Ansichten vertreten, wir werden diese Ansichten kennen und diskutieren. Sie werden von anderen Menschen deswegen attackiert werden. Das alles ist normal.

    Usmanow hat Nawalny ohne große Show, dafür mit Argumenten geantwortet. Ist das gut oder schlecht für den Kreml?

    Nochmal, für welchen Kreml? Der Kreml ist nicht homogen. Was Putin angeht, so höre ich förmlich, wie er zu so einem Video sagt: „Was soll das nun schon wieder?“

    Er war schon immer gegen solche Formen der öffentlichen Verteidigung. Das geht also nicht von Putin aus.

    Nochmal, für welchen Kreml? Der Kreml ist nicht homogen

    Wenn jemand Usmanow um eine öffentliche Stellungnahme gebeten hat, könnte dieser jemand nun nicht mehr sagen, das sei irgendwie daneben gewesen. Dieser jemand muss behaupten, dass Usmanow großartig war. Ich glaube nicht, dass sich irgendwer mit Usmanow wegen dieses Filmchens streiten wird, sondern sie werden sagen: „Dem hast du‘s aber richtig gegeben.“

    Und die Hälfte von diesen Leuten wird das auch so meinen, da bin ich mir sicher. Weil sie sich selbst betrügen. Sie leben im Nebel der einstigen Überlegenheit des Kreml über allen anderen. Und jetzt löst sich diese Überlegenheit eben auf wie Nebel.

    Heute ist der Kreml nicht mehr die Avantgarde, sondern gewissermaßen der rückständige Bodensatz. Diese Dinge spüren viele aber nicht.

    Diese Leute, die im Nebel leben, die Usmanow vermutlich gebeten haben …

    Warum interessieren die Sie überhaupt so brennend?

    Mich interessiert, was sie in Zukunft unternehmen werden. Wohin sie ihr Erfindergeist im Kampf gegen Nawalny führen wird.

    Sie müssen einfach verstehen, dass diese Leute inkompetent sind. Das kann man auch ohne diese ganzen Geschichten sagen. Diese Inkompetenten werden uns noch eine Weile an der Macht erhalten bleiben. Aber die Inkompetenz äußert sich in ernsteren Dingen als in diesem Kinderkram. Wir müssen einfach einsehen, dass wir vorübergehend unter der Verwaltung einer Gruppe von Inkompetenten stehen.

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