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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Löst Syrien die Ukraine-Krise?

    Löst Syrien die Ukraine-Krise?

    Ein möglicher Schulterschluss zwischen Russland und dem Westen nach den jüngsten Terroranschlägen könnte auch Auswirkungen auf die Ukraine-Krise haben. Was hieße das für den Status der Krim, die Sanktionen gegen Russland, den Kurs der NATO? Kann es gar zu einer raschen Entspannung der Lage in der Ostukraine kommen? Arkadi Mosches dekliniert in EJ die Szenarien durch und bleibt skeptisch.

    (Der Originaltext wurde vor dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei am 24.11.2015 veröffentlicht.)

    Die weitaus meisten Beobachter sind sich einig, dass die schrecklichen Anschläge der letzten Tage den Kontext der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wesentlich verändert haben. Objektiv betrachtet ist das der Fall, weil eine gemeinsame Bedrohung zur Einigkeit zwingt. In dieser Hinsicht sind die Worte Wladimir Putins, der die Franzosen als Verbündete bezeichnete, von großer Bedeutung. Aber auch auf subjektiver Ebene stimmt es, denn jene Politiker und professionelle Lobbyisten im Westen, die auch schon zuvor dazu aufgerufen hatten, die durch die Ukraine-Krise entstandenen „Missverständnisse“ in den Beziehungen zu überwinden und zu „Dialog und Zusammenarbeit“ zurückzukehren, erhalten damit ein schlagkräftiges Argument. Im übertragenen Sinne haben Nicolas Sarkozy und der derzeitige deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel, die diesen Standpunkt vertreten und im Oktober Moskau besucht hatten, in ihrer Auseinandersetzung mit den französischen und deutschen Staatsoberhäuptern François Hollande und Angela Merkel die Initiative übernommen.

    Daher sollte man bereits in allernächster Zukunft erwarten, dass Bewegung in diese Diskussion kommt, und wahrscheinlich auch, dass praktische Schritte um den sogenannten Abtausch von der Ukraine und Syrien erfolgen. Es ist allerdings alles andere als selbstverständlich, dass ein solcher Abtausch tatsächlich Ergebnisse bringen wird.

    Erstens ist nicht wirklich klar, worin er bestehen könnte. Soll es um eine Änderung der Positionen des Westens zur Krim gehen? Diese Frage steht derzeit faktisch nicht auf der Tagesordnung. Formhalber abgegebene Verlautbarungen zählen nicht, und eine juristisch verbindliche Anerkennung der Zugehörigkeit der Halbinsel zur Russischen Föderation ist für den Westen unmöglich, was allen Beteiligten, auch dem Kreml, klar sein sollte. Geht es um eine Abkehr von der Osterweiterung der NATO und der EU? Wiederum: Da ohnehin weder Washington noch die europäischen Hauptstädte einen besonders starken Wunsch nach einer Erweiterung verspüren, könnten inoffiziell bestimmte Zusicherungen gegeben werden. Aber zum einen ist fraglich, ob Moskau ihnen Glauben schenken würde, zum anderen: Was soll mit dem Programm der schrittweisen Integration der Ukraine, Moldawiens und Georgiens in die EU geschehen, um das es sich ja beim Assoziierungs- und Freihandelsabkommen handelt? Soll sich Europa die russische Sichtweise mit einer Zukunft des Donbass' als Teil der Ukraine zu eigen machen? Berlin und Paris üben ohnehin schon maximal möglichen Druck auf Kiew aus, um von der Ukraine eine einseitige und vorgreifende Umsetzung des Minsker Abkommens in einer Auslegung zu erreichen, die für die DNR und LNR vorteilhaft ist. Weiterer Druck und Einmischungen in den konstitutionellen Prozess könnten dazu führen, dass das politische System der Ukraine destabilisiert wird und dass an die Stelle Petro Poroschenkos ein radikalerer Führer tritt, womit sich der Konflikt nur verstärken würde.

    Zweitens muss innerhalb der EU in einer ganz bestimmten Richtung gearbeitet werden. Es geht hier nicht um die berüchtigte „wertebasierte Politik“: Dass vor Kurzem die Sanktionen gegen Minsk ausgesetzt wurden beweist, dass Geopolitik und Pragmatismus Brüssel ganz und gar nicht fremd sind; nein, es geht um Prozeduren, auf denen die Union basiert. Im März 2015 hat der Europarat nämlich einen Beschluss gefasst (Paragraph 10 für jene, die es ganz genau wissen wollen), der unmissverständlich besagt, dass die gegen Russland gerichteten Sanktionen von der vollständigen Umsetzung des Minsker Abkommens abhängen, sprich, von der Rückgabe der Kontrolle über die Grenze an die Ukraine. Selbstverständlich ist dieses Dokument nicht in Stein gemeißelt, es kann durch ein anderes ersetzt werden. Doch dies kann nicht schnell geschehen. Zunächst wird eine öffentliche Diskussion entbrennen, dann schaltet sich das Europaparlament ein, und irgendwann werden sich die europäischen Führer überlegen, dass ihnen persönlich der politische Preis für die Aufhebung der Sanktionen zu hoch sein könnte.

    Drittens ist der Westen nicht mit der EU gleichzusetzen. Selbst wenn man für eine Sekunde die USA, Kanada und Australien außer Acht lässt, kann man doch eine andere überaus machtvolle politisch-bürokratische Maschinerie nicht ignorieren: die NATO. In den letzten anderthalb Jahren ist die transatlantische Allianz, wie man sagt, „zu ihren Wurzeln zurückgekehrt“ und orientiert sich nun gründlich in Richtung Abwehr von Sicherheitsrisiken ihrer Mitgliedsländer, die deren Ansicht nach vom Osten ausgehen. In einem Klima des gegenseitigen Misstrauens wird es sehr schwierig sein, die in Fahrt gekommene Allianz aufzuhalten. Moskau seinerseits wird wie gewohnt Gegenmaßnahmen ergreifen. Damit hätte eine Einigung in einzelnen Fragen der nahöstlichen Agenda keinerlei signifikante Bedeutung.

    Zuletzt das Wichtigste: Der russisch-ukrainische Konflikt an sich wird nicht einfach verschwinden. Selbst wenn eine weitere Eskalation im Osten der Ukraine vermieden werden kann, bekommt es der Westen, allen voran die EU, mit russischen Sanktionen gegen Kiew zu tun, die im Januar eingeführt werden, wenn die bereits erwähnte Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU in Kraft tritt. Hinzu kommt die Umschuldung, der Gastransport durch die Ukraine und der Ankauf von russischem Gas für den innerukrainischen Bedarf, Fragen von europäischen Bürgern und Unternehmen zur Krim, gegen die die Sanktionen ganz sicher nicht aufgehoben werden etc. Sollte dann jemand die Nerven verlieren und der Osten wieder in Flammen aufgehen, so kann man sämtliche Entwürfe einer möglichen Aussöhnung sofort zu Grabe tragen.

    Leider hat der Konflikt zwischen Russland und dem Westen für den heutigen Tag systemischen Charakter und geht weit über die Grenzen der Meinungsverschiedenheiten zur Ukraine und zu Syrien hinaus. Dieser Konflikt schwelte schon lange und er wird nicht schnell überwunden werden können, schon gar nicht durch irgendeinen „Abtausch“.

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  • Neue Tomographen genügen nicht

    Neue Tomographen genügen nicht

    Russische Mediziner haben einst großes Ansehen genossen. Heute ächzt das Gesundheitsystem unter vielen Lasten: Die Pharmaindustrie kauft Ärzte für zweifelhafte Studien, die Ausbildung ist praxisfern und veraltet, und für gute Mediziner gibt es kaum Karriereperspektiven. Der Autor des Artikels, selbst Kardiologe und in leitender Management-Position in einer großen Krankenhausgruppe tätig, nennt die Missstände beim Namen und fordert einen tiefgreifenden Wandel im Medizinsektor.

    Wollte man das russische Gesundheitssystem in seiner derzeitigen Form durch höhere Geldinvestitionen verbessern, könnte man auch gleich versuchen, Feuer mit Benzin zu löschen. Selbst in dem hypothetischen Fall, dass alle russischen Kliniken von einem Moment auf den anderen auf dem neuesten Stand der Technik wären, über die modernsten Medikamente verfügten und die dort arbeitenden Ärzte genauso viel verdienten wie ihre amerikanischen Kollegen, hätte dies, wie ich vermute, auf die Qualität der Behandlung der meisten Patienten wenig Auswirkungen.

    Zwar würde sich die Behandlung einiger klar umrissener Patientengruppen, die vor allem auf bestimmte Arzneimittel angewiesen sind, spürbar verbessern. Das sind z. B. Kinder mit sogenannten seltenen Krankheiten, Patienten mit Hämoblastosen (Blutkrebs) oder mit Infektionen, die eine moderne intravenöse Antibiotikatherapie erfordern, aber auch einige zehntausend Patienten mit vergleichsweise seltenen schweren Erkrankungen, bei denen die herkömmlichen Behandlungsmethoden nicht angeschlagen haben und die nun auf die Verschreibung extrem kostspieliger Arzneimittel hoffen, z. B. Targetproteine, Biologika. Doch bei Millionen Patienten, die an weit verbreiteten Krankheiten leiden, an koronarer Herzkrankheit, an Bluthochdruck, Magengeschwüren, Asthma, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Harnsteinen oder operierbaren Krebsformen, um nur einige zu nennen, würde sich wohl selbst dann kaum eine rasche Besserung einstellen, wenn das Gesundheitssystem über unbegrenzte Mittel verfügte.

    Ohne gute Ärzte können Apparate nicht heilen

    Der Krebs, der nicht entdeckt wird, weil der Arzt den Patienten nicht zur Diagnostik schickt, wird weiterhin nicht diagnostiziert werden. Eine Struktur, die bei einem gewöhnlichen Ultraschall oder CT nicht gefunden wird, wird auch dann nicht erkannt werden, wenn man dem untersuchenden Arzt ein Gerät der Extraklasse hinstellt. Ein Notarzt, der heute bei einem Infarkt keine Lyse einleitet (in der Hauptstadtregion gehören die hierfür nötigen Präparate zur Ausstattung), wird dies auch nach einer Gehaltserhöhung nicht tun. Neurologen werden ihre Patienten weiterhin mit den ihnen vertrauten, gänzlich ineffektiven Nootropika und Gefäßpräparaten behandeln, und der Allgemeinmediziner verschreibt bei einer einfachen Erkältung Immunmodulatoren und virenhemmende Mittel, die nicht nur unwirksam, sondern auch nicht ungefährlich sind. Auch wenn Bauchchirurgen bei einer Operation an der Bauchhöhle die besten Endoskop-Modelle verwenden, macht sie das nicht effektiver oder sicherer. Und so weiter und so fort.

    Ich versichere Ihnen, es wird nach wie vor Millionen nicht diagnostizierter Krankheiten und Falschbehandlungen geben, denn der Erfolg einer Behandlung hängt nicht davon ab, ob die Ausstattung und Labors topmodern und die Medikamente die allerneuesten sind; in erster Linie kommt es darauf an, dass der Arzt sein Fach beherrscht, im klinischen Denken erfahren und mit neuen Heilverfahren vertraut ist. Die Anwendung hochwirksamer biologischer Präparate durch einen schlecht ausgebildeten Arzt kann mehr zerstören als die eigentliche Krankheit. Der kritische Zustand der russischen Medizin ist vor allen Dingen bedingt durch die tiefgreifende Krise der medizinischen Ausbildung. Die medizinische Ausbildung in der Sowjetunion galt zu Recht als eine der besten der Welt. In den neunziger Jahren und zu Beginn der 2000er jedoch erlebte dieses System einen Niedergang. Nur wenige blieben in der Medizin, höchstens ein Drittel aus glühender Leidenschaft für den Beruf – für die meisten wurde es ein Tribut ans Überleben zu lernen, irgendwie Geld lockerzumachen.

    Mediziner haben sich von der Pharmaindustrie kaufen lassen

    Zahlreiche Professoren der Medizin, die heute von oben herab auf Kollegen und Patienten blicken, waren jahrelang gezwungen, vor der Regierung und der Pharmaindustrie zu Kreuze zu kriechen. Man kann sie dafür schwerlich verurteilen, konnten mit den Geldern doch Institute und Fakultäten am Leben erhalten werden. Der Nebeneffekt jedoch war furchtbar: Russische Fachzeitschriften quollen über vor tendenziösen, von der Pharmaindustrie bezahlten Artikeln, Vorträge „führender Wissenschaftler“ bei großen Kongressen enthielten unverhüllt Werbung für pharmazeutische Produkte, und zwar keineswegs für die besten. Die angewandte medizinische Wissenschaft, ganz zu schweigen von der Grundlagenforschung, geriet in eine starke Abhängigkeit von der Industrie.

    In den darauffolgenden fetten Jahren vergaßen etliche Professoren, die inzwischen Karriere gemacht hatten, wofür sie unter solch großen Mühen Mittel beschafft hatten, und steckten die Gelder, die mittlerweile flossen, nicht länger in die Forschung und den Unterhalt des Personals. Anstatt junge Ärzte auszubilden und wissenschaftliche Studien durchzuführen, zogen sie es vor, im ganzen Land umherzureisen, um durch Sponsorengelder finanzierte Vorträge zu halten und wissenschaftlich gänzlich wertlose Auftragsstudien über Pharmazeutika durchzuführen. Sie wurden benutzt, um die Medikamente auf dem russischen Markt zu promoten und sie im Register der lebensnotwendigen und wichtigsten Medikamente zu platzieren. Um sich vom Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu überzeugen, können Sie jede beliebige große russische Fachzeitschrift aufschlagen und die Artikelüberschriften und Lobhudelei in den Ergebnissen lesen.

    abgeschnitten vom internationalen know-how, oft mit gefälschten Diplomen

    Die letzten zwanzig Jahre waren die Ärzte dauerhaft mit einem überaus heiklen ethischen Dilemma konfrontiert: Entweder du verkaufst dich, oder du führst ein Leben in Armut. Die Lebensbedingungen der Fakultätsangehörigen und Lehrer der medizinischen Hochschulen, die ihren moralischen Prinzipien treu geblieben sind, haben sich katastrophal verschlechtert. Hier kommt erschwerend hinzu, dass eine qualitativ hochwertige ärztliche Ausbildung sehr teuer ist. Die heutigen Ärzte und Mediziner waren vom Zugang zu akademischem Wissen abgeschnitten: Bibliotheken schafften keine westliche Literatur an, das Abonnement einer Fachzeitschrift (ca. 100–500 $ pro Jahr) oder der Ankauf von wissenschaftlichen Artikeln (5–30 $ pro Stück) galten als Luxus. Die Lektüre neuerer russischer Bücher oder Artikel hatte im Allgemeinen entweder aufgrund der schlechten Qualität oder aufgrund des tendenziösen Inhalts praktisch keinen Sinn.

    Parallel dazu mehrte sich das Phänomen der Pseudowissenschaftler mit gefälschten Dissertationen. Manche von ihnen waren in wissenschaftlichen Kreisen und Medien ausgesprochen aktiv und verbreiteten komplett falsche Informationen unter den Medizinern, die aus Sowjetzeiten noch gewohnt waren, den „Doktoren aus der Hauptstadt“ zu vertrauen. Zudem wurde das System der akademischen Grade und Titel in den Augen der Wissenschaftsgemeinde durch gehäuft auftretende dreiste Titelbetrüger faktisch entwertet. Wobei der Doktortitel oder die Habilitation als unabdingbare Voraussetzung dient für den Erhalt von Fördergeldern, für eine Publikation in einer renommierten Zeitschrift oder für die Möglichkeit, Vorträge vor einem Ärztepublikum zu halten.

    Die Ausbildung junger Ärzte an den medizinischen Hochschulen und Fakultäten stützte sich in vielem noch auf die Lehrer der alten Garde, die auch unter Krisenbedingungen in der Lage gewesen waren, dem Nachwuchs medizinische Kenntnisse zu vermitteln. Doch die medizinische Wissenschaft entwickelt sich in rasantem Tempo (Innovationen erreichen Russland mit einer Verzögerung von 10 bis 20 Jahren), so dass die Kenntnisse der Lehrer der alten Schule schnell veralteten. Und das betrifft nicht nur die Spitzentechnologien, sondern auch das ganz gewöhnliche ärztliche Tagesgeschäft.

    fast keine Praxis mehr in der Ausbildung

    Gegenwärtig wird die Situation noch dadurch verschärft, dass man den Kurs verfolgt, Lehre und Behandlungspraxis stark voneinander zu trennen. Der Kontakt der Studenten mit Patienten ist sehr beschränkt, die Ausbildung erfolgt anhand von Modellen und Lehrbüchern in großen Gruppen. Die Fakultätsangehörigen mit der größten Erfahrung, die jahrzehntelang Krankenhausabteilungen betreut haben, werden massenhaft von der praktischen Behandlung der Patienten und der wissenschaftlichen Forschung abgezogen. All das wird mit juristischen Feinheiten begründet und kommt selbstverständlich den Chefärzten der Kliniken zupass, die so an ihren eigenen kleinen Hierarchien basteln können.

    Die meisten meiner Kollegen, die an staatlichen medizinischen Einrichtungen geblieben sind, müssen ärztliche Praxis, Forschung sowie Organisation unter einen Hut bringen und dazu noch an der Uni lehren. Die Versorgung der Patienten hat Priorität, da bleibt wegen des Zeitdrucks oft der Unterricht auf der Strecke: Für gewöhnlich überträgt man die Ausbildung Assistenzärzten und Doktoranden, so bekommen auch die schwächsten Studenten ihre Testate. Darum sind die Hochschulabsolventen und glücklichen Besitzer eines Arztdiploms – sofern sie für den Erwerb von Kenntnissen nicht außerordentliche Willenskraft aufgewendet haben – überhaupt nicht in der Lage, selbst die einfachsten Fälle zu behandeln.

    Der Mangel an Erfahrung führt bei den Ärzten zu Angst vor neuen Behandlungsmethoden, die man nicht überwinden kann, wenn man keinen Lehrer hat, der einem die Nebenwirkungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung erklärt. In manchen medizinischen Fachgebieten sind Ärzte, die über Expertenwissen zu modernen Technologien verfügen, gänzlich verschwunden. Auch bildet niemand mehr Lehrer aus, geschweige denn die praktischen Ärzte. Die Fortbildungen, die wir alle fünf Jahre besuchen müssen, um unsere Zulassung zu verlängern, sind reine Scheinveranstaltungen. Das Wissen, das man dort vermittelt bekommt, erinnert an das Licht ferner Sterne, das die Erde erst erreicht, nachdem sie längst erloschen sind.

    Telemedizin, writing centers und ein neues Akkreditierungssystem könnten helfen

    Immerhin: Das russische Gesundheitsministerium scheint den Ernst der Lage durchaus zu erkennen. Der Weg vom Abschluss des Medizinstudiums bis zur Facharztprüfung ist wesentlich länger geworden. Um der Verteidigung minderwertiger Dissertationen vorzubeugen, wurden in den letzten Jahren die Anforderungen durch die Höhere Attestierungskommission stark verschärft. Dies betrifft allerdings im Wesentlichen die Einholung aller möglicher Gutachten und Dokumente, was eine Menge bürokratischer Verzögerungen mit sich bringt, jedoch nicht immer effektiv ist.

    Ab 2016 wird statt der bisherigen Abschlüsse für Ärzte ein dem europäischen ähnliches Akkreditierungssystem eingeführt. Es sieht vor, dass sich Ärzte kontinuierlich weiterbilden und durch den Besuch von Lehrgängen und Kongressen sowie durch Publikationen Punkte sammeln können, wodurch sie zu ständiger Wissenserneuerung angeregt werden sollen. Um die Situation grundlegend zu verändern, ist es jedoch notwendig, die medizinische Ausbildung vollkommen umzugestalten. In sie muss investiert werden und nicht in die Anschaffung irgendwelcher Tomographen. Die Gehälter der medizinischen Hochschullehrer sollten mit dem Einkommen eines erfolgreichen Arztes vergleichbar sein. Die Betreuung von Krankenhausstationen und jungen Ärzten in Ausbildung sollte wieder zu einer breiten Praxis werden und zusätzlich entlohnt. 

    Russische Studenten müssten an den besten medizinischen Hochschulen der Welt studieren (mit der vertraglichen Garantie einer anschließenden Anstellung in Russland). Leitende Oberärzte und Professoren sollten zu Fortbildungszwecken in den besten Kliniken der Welt praktizieren, um hinterher diese Kenntnisse an die Ärzte vor Ort weiterzugeben. Zur Unterstützung russischer Mediziner, die ihre Artikel nicht in westlichen Zeitschriften publizieren können, sollten Schreib- und Übersetzungszentren geschaffen werden (nach dem Vorbild der writing centers an US-amerikanischen Universitäten). Forschern, die es geschafft haben, in einschlägigen westlichen Zeitschriften einen Artikel zu veröffentlichen oder für einen Vortrag bei einer internationalen Konferenz eingeladen werden, sollte der gleiche Respekt entgegengebracht werden wie international erfolgreichen Sportlern. Zumindest sollten sie Förderungen erhalten, die die Reisekosten decken. (Geisteswissenschaftler und Techniker staunen nicht schlecht, dass man als Arzt sämtliche Konferenzreisen aus eigener Tasche zahlt).

    An den russischen Universitäten und den großen Kliniken sollten medizinische Fachzeitschriften verfügbar sein, die kostenpflichtige Artikel publizieren. Aktuelle medizinische Kenntnisse an Ärzte, selbst in der entlegensten Provinz, zu „befördern“ ist mittels Telemedizin möglich. Ebenso könnte man auf diese Weise in komplizierten klinischen Situationen schnell und kostengünstig Expertenmeinungen einholen.

    Leider wird infolge der allgegenwärtigen Kommerzialisierung des Gesundheitswesens die Arbeitsleistung der praktischen Ärzte zunehmend nicht nach Qualität bewertet, sondern nach der Höhe der für die Abteilung verdienten Geldbeträge und nach Erfüllung rein formaler Kriterien. Deswegen kann es keine wirksamen Maßnahmen zur Verbesserung geben, solange für die Ärzte kein Anreiz zur Erhöhung der eigenen Qualifikation besteht.

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  • Stalins Follower

    Stalins Follower

    Angeblich „immer mehr Russen befürworten die stalinistischen Repressionen“, so lautete die erstaunliche Botschaft im Kommentarverlauf zur jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Allerdings war das, offen gestanden, gar nicht direkt gefragt worden. Es würde ja wohl auch kaum einem Menschen klaren Verstandes und mit nur einem Fünkchen Gewissen in den Sinn kommen, sich mit jemand wie Pol Pot auf freundschaftlichen Fuß zu stellen, in Anbetracht der Zahl seiner Opfer. Dennoch ist und bleibt es eine Tatsache, dass immer mehr Russen dem geschichtsträchtigen Generalsekretär gegenüber positiv eingestellt sind.

    Sie sind bereit, ihm Denkmäler zu errichten, nach ihm benannte Museen zu gründen und seine strategischen Leistungen im Krieg zu preisen. Bisher sind diese seine Neu-Anhänger oder „Follower“ (das Wort fiel mir ein, nachdem ich den blutrünstigen Thriller The Following gesehen hatte, den ich nicht empfehle, der aber daran erinnert) Gott sei Dank noch nicht die Mehrheit. Sondern die Minderheit. Sie treten jedoch als eine gut organisierte und äußerst aktive, um nicht zu sagen erboste Gruppe auf. Was zumindest an der enormen Anzahl von Kommentaren zu sehen ist, die sie unter jedem Themen-Artikel hinterlassen.

    Mal schlagen sie dem Autor vor, er soll sich seine „Bürne anne Wand einhaun“, weil er sich gegen jegliche Diktatur ausspricht. Mal soll er sich in ohnmächtigem Zorn lieber gleich aufhängen, denn, so heißt es da, „bald benennen wir Wolgograd wieder in Stalingrad um“. Und dem mythischen Drachen namens Stalin raten sie, endlich aufzuräumen mit all den Betrügern und Bürokraten. Mit der Fünften Kolonne. Mit der Ukraine. Und auch gleich noch mit der jüdischen Mafia, das ist ja bei uns schon Tradition. Das darf nicht fehlen.

    Aber machen wir uns nichts vor: Gewiss hätte keiner der Follower seine eigenen Töchter und Söhne den treuen Mitstreitern Stalins – Jagoda, Jeshow und Berija – zum Fraß vorgeworfen. Ebenso unvorstellbar wäre für sie, dass die oben erwähnten Genossen, wenn sie sich, wie von den Followern unmissverständlichen erwünscht, materialisierten, nachts bei ihnen in der Wohnung auftauchen und klären würden, was da so läuft, wie es in den unvergesslichen 1930ern geschah. Nicht den realen Stalin beten sie an – den kleingewachsenen, nicht akzentfrei russischsprechenden Georgier mit der verkümmerten Hand –, sondern den anderen, den aus dem Kino, den klugen, im weißen Dienstrock, der wortgewandt jeden beliebigen Intelligenzling am Telefon zu Tode erschrecken konnte: „Auf der Sssscchhtelle wird Genosse Stalin mit Ihnen sprechen.“ Ich gebe zu, auch ich liebe dieses Motiv, von dem sich unsere Generation garantiert niemals befreien können wird.

    Nehmen wir zum Beispiel den berühmten antisowjetischen englischsprachigen Film Der rote Monarch (Red Monarch, 1983). Ach, was war das für ein toller Stalin, ein rechter Schelm in einer echten Schelmenposse. Wie er da ärgerlich die Porträtbüste Lenins anschaut, der ihm selbst nach dem Tod noch die Liebe des Volkes wegfrisst.

    Sieht ihm das ähnlich? Klar. Ist das lustig? Klar.

    Oder der Stalin in Wassili Aksjonows Roman Moskwa-kwa-kwa, seinem besten, wie ich finde. Folgende Szene: Winter, Schneegestöber, der protzige Schriftsteller Smeltschakow, der in dem berühmten Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Uferstraße in Moskau wohnt, trinkt armenischen Kognak der Marke Ararat und stößt übers Telefon mit Genossen Stalin persönlich an. „Ararat ist Scheiße“, sagt ihm sein nächtlicher Trinkgenosse Stalin. „In einer halben Stunde bekommst du eine Kiste Gremi. Trink meinetwegen solange noch deinen scheiß Ararat, dann machst du weiter mit Gremi.“ Und dann plaudern sie über den „Bluthund Tito“.

    Auch hier naive Malerei: der Traum der sowjetischen Elite vom intimen Verhältnis zur Macht. Und Aksjonow kann man nun wahrlich nicht als Stalinisten bezeichnen, sein Vater und seine Mutter wurden 1937 verhaftet, er verbrachte seine Kindheit im Heim. Nach 18 Jahren Lagerhaft (!) schreibt seine Mutter, Jewgenija Ginsburg, ihre Memoiren Krutoj marschrut (deutsch: Marschroute eines Lebens und Gratwanderung). Doch Stalin hatte sich ins Hirn eingebrannt, einerseits als Alptraum, andererseits als Märchenfigur. Und falls es einen gegeben hätte, so hätte er sehr gut einen wunderbaren Prototyp für Voland abgeben.

    Ja, diese Sichtweise gibt es. Ich unterstütze sie selbstverständlich nicht, denn ich empfinde diese Deutung als sehr platt. Aber wenn man sich Stalin als das personifizierte Schicksal der russischen Geschichte vorstellt, das das Gute nicht kennt, aber manchmal gerechten Einfluss ausübt (mit der Erschießung der großen Mehrheit von Dämonen der Revolution, der Mitläufer und Speichellecker), dann passt das Bild von Voland!

    Mit anderen Worten, Stalin ist mit uns. Er ist unser ein und alles. Und soll auch gefälligst mit uns verschwinden. Aber ihn in die Zukunft mitzuziehen, zu unseren Kindern, in Form von Denkmälern und einer Zurschaustellung irrationaler Liebe zur Gewalt – was könnte sinnloser und schlimmer sein? Was wollen sie denn damit sagen? Dass sie ihm furchtbar dankbar sind? Wofür? Wer durch die Hölle gegangen ist, der ist nicht dankbar. Die Opfer des Holodomor sind nicht dankbar. Nicht dankbar sind auch die „Millionen Opfer der Willkür des totalitären Staates“ – das ist nicht meine Formulierung, sondern ein Zitat aus dem Gesetz Nr. 1761 der Russischen Föderation vom 18. Oktober 1991. Die verbannten Kulaken (heute würden wir sie Landwirte nennen) sind nicht dankbar. Auch nicht die Bauern, die ihr gesamtes Leben in äußerster Armut und ohne Pässe verbrachten. Und wer nicht durch die Hölle gegangen ist, der wird wohl kaum was verstehen. Für ihn ist es ein historischer Holzschnitt.

    Oder gefällt ihnen die Gegenwart so sehr, dass sie bereit sind, sich vor den längst verwesenen Führern zu verbeugen, die sie hierher gebracht haben? Das kann ich nicht glauben. Denn sonst würden sie dem Autor nicht vorschlagen, sich seine „Bürne anne Wand einzuhaun“. Nicht gegen die Ukraine kämpfen, einen der wichtigsten Teile der UdSSR. Und würden nicht das Beil gegen die Oligarchen schwingen. Unsere Gegenwart ist auch für Stalins Follower kein Zuckerschlecken.

    Wesentlich ist etwas anderes. Worin genau sind sie sich einig, wenn sie über Stalin diskutieren? Darin, dass es Ideen gibt, für die es sich lohnt, Millionen umzubringen, damit andere Millionen überleben und sich freuen? Oder darin, dass es eine „Gerechtigkeit“ eines Herrschers gibt, die höher steht als die Wahrheit, höher als die Humanität, höher als Gesetze und höher als jedes Gericht? Dass das Bespitzeln von Mitmenschen bis hin zur Denunziation und zum Abtransport in die Folterkammer normale Praxis ist und eine normale Moral?

    Ich weiß es nicht. Da setzt sich dieser durchgeknallte Enkel Jewgeni Dschugaschwili hin und schreibt Klagen. Auf formaler Grundlage: Schau mal, in Nürnberg wurde die Erschießung von Zehntausenden polnischer Offiziere in Katyn nicht [als sowjetisches Verbrechen] verurteilt. Folglich sind alle, die dies als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachten und als persönliches Verbrechen Stalins, ohne dessen Sanktionen so etwas nicht möglich gewesen wäre, selbst Verbrecher laut Artikel 354.1 (Rehabilitierung des Nazifaschismus), Strafgesetzbuch der Russischen Föderation. Und haben so zwei, drei Jährchen verdient …

    Er schwärzte den Historiker Feldman an. Dann den Historiker Zharkow. Er tippt und tippt. Die Verbrecher sind seiner Meinung nach nicht diejenigen, die Zehntausende ohne Gerichtsverhandlung und ohne Untersuchung erschossen. Auch nicht unsere Zeitgenossen, die dies für richtig halten, für gerechtfertigt oder als nie dagewesen, nie passiert abtun usw. Sondern die Historiker, die Publizisten, die gelegentlich daran erinnern … Erstaunlich!

    Obwohl, eigentlich sollten wir Dschugaschwili dem Jüngeren dankbar sein. Dafür, dass er, selbst ein Follower, ja geradezu die Quintessenz der Followerschaft, den anderen Followern eine klare Perspektive für ihren Neostalinismus aufgezeigt hat. Und sie auch uns anderen gezeigt hat. Ohne eine deutliche juristische und moralische Bewertung („Jetzt entscheidet euch doch endlich, habt euch nicht so, dann seid ihr mich auch wieder los!“) unserer politischen Vergangenheit haben wir keine Chance, in die Zukunft zu gehen.

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