Es ist Tag sechs im russischen Krieg gegen die Ukraine. Nach Angaben der Vereinten Nationen gibt es seit Donnerstag mehr als 100 getötete Zivilisten und mehr als 300 Verletzte in der Ukraine; mehr als 660.000 Menschen sind auf der Flucht. Die ukrainische Regierung geht von mehreren hundert Toten aus.
Von russischen Medien angesprochen auf die UN-Angaben zu Opfern unter der Zivilbevölkerung, hält Kreml-Sprecher Dmitri Peskow weiter an der Darstellung fest, wonach lediglich militärische Anlagen das Ziel seien. Statt von einem Krieg spricht er, wie es das offizielle Russland seit Beginn der Angriffe insgesamt tut, von einer „militärischen Spezialoperation“, von so genannter „Demilitarisierung“ und „Entnazifizerung“ der Ukraine. Die verbliebenen unabhängigen Medien innerhalb Russlands haben den Krieg dagegen von Beginn an Krieg genannt – und berichten außerdem von ersten Opfern auf der russischen Seite, die am Sonntag auch erstmals das russische Verteidigungsministerium bekannt gab (ohne allerdings Zahlen zu nennen). Bei der The New Timeswurde ein solcher Artikel nach Anordnung durch den russischen Generalstaatsanwalt blockiert, den Medienberichten zufolge außerdem zahlreiche ukrainische Medien und diese gleich vollständig. Verschiedene Medien, darunter die renommierte Novaya Gazeta, der Telekanal Doshd und das Portal Mediazona, berichten, Anordnungen der Medienaufsicht erhalten zu haben. Ihnen wurde mitgeteilt, angeblich „unzuverlässige Information“ zu verbreiten. Welche Begriffe die Behörde darunter versteht, ließ sie ebenfalls offiziell wissen: „Angriff“, „Invasion“ und „Kriegserklärung“. Auch die Nutzer sozialer Netzwerke berichten gegenüber russischen Journalisten von Problemen: Demnach laufen Twitter, Facebook und Instagram langsamer.
Der Druck, im Internet blockiert zu werden, wird einigen Redaktionen mittlerweile zu groß: Die Novaya Gazeta etwa schrieb am Dienstag (heute, 1. März) in einer Hausmitteilung, nach Aufforderung durch die Generalstaatsanwalt drohten „gigantische Strafen“ bis hin zu „der Aussicht einer Liquidierung der Medien“. Deshalb habe man nach Abstimmung im Redaktionsausschuss mehrheitlich entschieden, „unter den Bedingungen der Kriegszensur“ weiterzuarbeiten. In den Artikeln, die online zu sehen sind, wird nun getitelt: „Russland greift die Ukraine an“. Nutzer reagierten überwiegend mit Verständnis: „Besser irgendwie arbeiten als gar nicht.“ – „Uns ist allen völlig klar, dass Krieg ist. Sie brauchen ihn gar nicht direkt Krieg zu nennen.“ Auch bei Echo Moskwy werden Hörer und Nutzer von Chefredakteur Alexej Wenediktow in einem Interview darauf hingewiesen, dass der Sender aus diesen Gründen – anders als in ersten Meldungen – von „Spezialoperation“ spreche.
Update 1. März, 19.30 Uhr:Echo Moskwy hat auf seinem Telegram-Kanal mitgeteilt, dass die Radiostation abgeschaltet worden sei. Außerdem hat die Medienaufsicht angeordnet, Echo sowie Doshd im Internet zu sperren; laut Medienberichten setzen die Provider das bereits um.
Update, 2. März: Doshd-Chefredakteur Tichon Dsjadko auf Telegram mit, dass er sowie weitere Mitarbeiter das Land verlassen. Ihre „persönliche Sicherheit ist bedroht”.
Lew Rubinstein, russischer Lyriker, Schriftsteller, Essayist und früherer Dissident, schreibt kurz nach dem Angriff über den Kampf der Begriffe und einen Krieg der Sprache – der für ihn lange Zeit vor diesem echten Krieg begonnen hat.
Wörter der Nachkriegszeit wie „Nazismus“ und „Faschismus“ haben im sowjetischen und postsowjetischen Propaganda-Diskurs allmählich ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Sie entbehren heute jeglichen semantischen Inhalts. Sie, diese Wörter, werden als reine Instrumente verwendet, als vermeintlich starke und überzeugende rhetorische Figuren.
In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden. Der russische Präsident sagt, die „Aufgabe, die mit der militärischen Operation verfolgt“ werde, sei die „Entnazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine“. Wenn man das in irgendeine Sprache übersetzt, deren Sprecher nicht den Kontakt zur Realität verloren haben, führt das bei einem normalen modernen und zivilisierten Menschen unmittelbar zu dem, was in der Psychologie kognitive Dissonanz genannt wird: Er zweifelt sofort entweder an der psychischen Gesundheit der Person, die das sagt, oder an seiner eigenen.
In den vergangenen Jahren gehörte es in der Rhetorik des politischen Establishments in Russland zum guten Ton, diese bereits völlig sinnentleerten Wörter in Bezug auf den ukrainischen Staat zu verwenden.
Wie soll man aus Sicht der klassischen Logik verstehen, dass „das friedliebende Russland die faschistische Ukraine“ angegriffen hat, zwecks ihrer „Demilitarisierung“ und „zum Schutz der eigenen Sicherheit“? Das lässt sich gar nicht verstehen, wenn man nicht bedenkt, dass im politischen Wörterbuch des modernen Russland Wörter überhaupt nicht das bedeuten, was sie in akademischen Wörterbüchern bedeuten. Oft haben sie sogar eine komplett gegensätzliche Bedeutung.
Unsere Geschichte unterscheidet sich von den anderen dadurch, dass sich die wichtigsten Ereignisse im Raum der Sprache abspielen – der beinahe einzigen Realität im irgendwie sonst nicht so realen Leben Russlands.
Und immer wiederholt sich alles. Das heißt, nein, es wiederholt sich nicht, es reimt sich. Reim ist ja keine Wiederholung, Reim ist Zusammenklang. Deswegen wiederholt sich nie etwas wortwörtlich.
So haben wir zum Beispiel vor Kurzem noch Angst davor gehabt, das Wort „Krieg“ in den Mund zunehmen.
Das heißt, es wurde natürlich in den Mund genommen. Aber es gab nur den einen „Krieg“, den Zweiten Weltkrieg. Andere Kriege gab es nicht. Bis vor ein paar Tagen.
Es gab im Übrigen noch einen Krieg, der nie erklärt worden war und immer währte: Das russische Volk war immer geteilt in zwei ungleiche Teile. Der eine – der kleinere – bezeichnete hartnäckig Gemeinheiten als Gemeinheiten, Feigheit als Feigheit, Dummheit als Dummheit und Faschismus als Faschismus. Der andere, der größere, war anfällig für die offizielle Rhetorik und bezeichnete Gemeinheiten als Patriotismus, Feigheit als die Notwendigkeit, den Umständen Rechnung zu tragen, eine offene Aggression als Schutz der eigenen Sicherheit, und das Streben von Völkern und Gesellschaften nach Freiheit und Offenheit als Nazismus.
Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden.
Dieser Krieg, dieser Krieg der Sprache, dieser Krieg um die Bedeutung von Wörtern und Begriffen, war und bleibt der zentrale und endlose Bürgerkrieg.
Und auch der Krieg, der schon den zweiten Tag [der Text erschien am 25. Februar 2022 – dek] vor den Augen der ganzen Welt in der Ukraine entbrennt, wird ebenfalls nicht Krieg genannt. Er heißt „Militäroperation“.
Aber es ist ein richtig echter Krieg. Und er muss unbedingt gestoppt werden. Wie? Irgendwie, aber unbedingt. Und darüber müssen wir uns unbedingt Gedanken machen, wir alle gemeinsam und jeder für sich.
„Hallo, hier ist Nawalny“, so hatte der russische Oppositionspolitiker seine Instagram-Follower vergangene Woche begrüßt – mit Familienfoto aus dem Krankenbett. Inzwischen ist er aus der Charité entlassen, ist vorerst aber noch in Deutschland. „Er ist weiterhin in Behandlung“, teilte seine Pressesprecherin Kira Jarmysch mit.
Die Nowitschok-VergiftungNawalnys hatte zu scharfen Worten zwischen Deutschland und Russland geführt. Die russische Regierung sprach von „Hysterie“, im russischen Staatsfernsehen hatte unter anderem Leonid Rink, der an der Entwicklung von Nowitschok beteiligt war, mehrfach behauptet, dass es unwahrscheinlich sei, dass Nawalny mit dem Nervenkampfstoff vergiftet worden sei.
Manche Beobachter, wie etwa Dimitri Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums, sprechen gar von einem Wendepunkt in den Beziehungen. Nun berichtet die französische Zeitung Le Monde von einem Telefonat zwischen Putin und Frankreichs Präsident Macron: In diesem habe Putin mehrere Versionen ins Spiel gebracht, wie Nawalny hätte vergiftet werden können, auch die einer „Selbstvergiftung“.
Dmitri Muratow, Chefredakteur der Novaya Gazeta, hat auf Echo Moskwy ein Interview gegeben. Darin berichtet er von den Recherchen der Novaya Gazeta zu Leonid Rink – der Nowitschok in Ampullen verkauft und in Umlauf gebrachte habe. Und er spricht über zahlreiche Hinweise dafür, dass vermutlich auch Anna Politkowskaja und Dimitri Bykow, prominente Novaya-Gazeta-Journalisten, mit Nowitschok vergiftet wurden. Muratow betont in dem Interview: „Ich liefere nur Fakten.“ „Die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen“, entgegnet die Moderatorin.
Irina Worobjowa: Hallo, willkommen bei Ossoboje Mnenije (dt. Die besondere Meinung). Heute ist Dmitri Muratow bei uns, der Chefredakteur der Zeitung Novaya Gazeta. Guten Abend, Dmitri!
Dmitri Muratow: Guten Abend!
Die Novaya Gazeta hatte auf der Titelseite ein Foto von Nawalny und die Bildunterschrift: „Willkommen zurück!“ Sind Sie sich sicher, dass Alexej wieder vollkommen gesund wird?
Wir wissen nichts über die Folgeschäden, genauso wenig wie alle anderen, auch die Ärzte. Als die Ausgabe bereits in Druck war, kam uns der Gedanke, dass wir es halb in Farbe und halb in Schwarz-Weiß hätten drucken sollen. Denn er war von den Attentätern und Mördern schon mit einem Bein ins Grab befördert worden, hat sich jedoch an [seiner Frau] Julia, den Ärzten und seinen Freunden festgeklammert und konnte mit dem zweiten Bein in dieser Welt bleiben.
Nawalny war ja schon mit einem Bein ins Grab befördert worden
Sie sprechen von „Attentätern“ und „Mördern“. Sie glauben also die Version der Deutschen, dass es sich um einen Giftanschlag handelt, dass ein Stoff aus der Nowitschok-Gruppe zum Einsatz kam und so weiter?
Lassen Sie es mich von einer anderen Seite her aufziehen. In unserem Land lassen sich Beteiligungen und die verdeckten Interessen von jemandem ganz gut nachvollziehen anhand der Experten, die man uns im Staatsfernsehen präsentiert. Der wichtigste Experte im Zusammenhang mit diesem Mordanschlag ist ein gewisser Leonid Igorewitsch Rink. Der Mann, der Nowitschok eigenhändig in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat. Er hat nicht nur die Formel für Nowitschok erfunden, sondern es auch eigenhändig hergestellt. Dieser Rink steht also vor dem Logo von Ria Nowosti (ich glaube, er steht da seit dem Giftanschlag auf Skripal immer wieder) und verkündet uns in der Fernsehsendung Wremja, auf NTW, in der Wirtschaftszeitung Wsgljad und in unzähligen anderen regierungsfreundlichen Medien: „Wen interessiert dieser Nawalny? Wenn man gewollt hätte, hätte man ihn getötet.“ Aber spezielles Nowitschok sei da sicher nicht im Spiel, sagt Rink.
Jetzt mache ich einen Sprung in die Vergangenheit und erinnere Sie daran, wie 1995 Iwan Kiwelidi ermordet wurde. Der Vorsitzende der Assoziation russischer Banken starb unter schweren Qualen im Krankenhaus. Davor hatte er mehrmals telefoniert. Am Telefonhörer wurde eine Substanz entdeckt, die der Nowitschok-Gruppe zugeordnet werden konnte. Offenbar war der Hörer aufgeschraubt und ein Wattebausch mit der Substanz hineingelegt worden. Mit diesem Hörer in der Hand hatte er mehrmals telefoniert.
Der wichtigste Experte im Fernsehen ist der Mann, der Nowitschok in einer Spezialeinrichtung in Schichany entwickelt hat
Wie ist die Substanz dort hingekommen? Die Mörder hatten sie von [Rink] bekommen – dem Kommentator, den wir heute im Staatsfernsehen sehen, dem Chefpropagandisten und Verfechter der Version, dass Nawalny keinesfalls mit Nowitschok vergiftet worden sei.
Das ist ein schwerer Vorwurf.
Das ist es. Deswegen antworte ich auch mit seinen Worten. Aus dem Verhörprotokoll vom 16. Februar 2000: „Als ich in Schichany gearbeitet habe, in eben diesem Labor, hatte ich einen Konflikt mit Rjabow.“ Rjabow war irgendein hohes Tier im kriminellen Milieu. „Er fragte mich nach Gift, um einen Hund zu vergiften. Ich gab ihm Diphacinon, ein Rattengift. Aber er kam wieder und sagte, das passe nicht, er brauche etwas für Menschen. Er hat mich bedroht. Ich bekam Angst und sicherte ihm zu, ein entsprechendes Gift zu besorgen.“
Wie hat er dieses Gift besorgt? Er ging in das Labor, in dem er viele Jahre gearbeitet hatte. Bei dem Labor handelte es sich um das Staatliche Institut für Technologien organischer Synthese in Schichany. Das war eine geschlossene, streng geheime Einrichtung.
Er bat seine ehemalige Angestellte, Nowitschok zu synthetisieren, das sogenannte VX – das ist ein Nervengift, das als chemische Waffe eingesetzt wird, und füllte sich Ampullen mit je etwa 0,25 Gramm ab. Drei davon verstaute er in seiner Garage.
Wurde der Mensch, der das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?
Der Mensch schleppt hunderte tödlicher Dosen aus einem vom FSB bewachten Labor in seine Garage in einer Stadt, die, wie wir wissen, auch heute noch bewacht wird, lange nachdem die chemischen Waffen vernichtet wurden – so zumindest die offiziellen Angaben.
Im Gerichtssaal bekommt Rink folgende Frage gestellt: „War Ihnen zu dem Zeitpunkt, als Sie die von Ihnen hergestellten Substanzen weitergaben, bewusst, dass sie gegen Menschen eingesetzt würden?“ Der Staatsanwalt wollte sich vergewissern. „Ja, mir war bewusst, dass diese Leute vorhatten, sie gegen Menschen einzusetzen.“
Entschuldigen Sie, welches Gerichtsprotokoll meinen Sie? Gab es einen Prozess gegen Rink?
Vor zwei Jahren hat Roman Schleinow für die Novaya Gazeta recherchiert und jetzt haben wir weitergemacht. Wir haben die Materialien im Zusammenhang mit den Skripals untersucht. Und da sind wir auf dieses Strafverfahren gestoßen.
Was glauben Sie: Wurde dieser Mensch, der hunderte Menschenleben gefährdet und das Gift an Mörder verkauft hat, zur Rechenschaft gezogen?
Es war also ein Verfahren gegen Rink?
Es war der Prozess im Fall Kiwelidi. Rink war da als Zeuge! Das ist eine Zeugenaussage. Und er blieb auch Zeuge, denn ich denke mal, er ist äußerst nützlich. Dieser Kerl kann alles herstellen. Wer weiß, was er noch in seiner Garage unter der Werkbank hat. Das alles lässt sich wunderbar am Gesetz vorbei einsetzen. Wissen Sie, für wie viel er eine Ampulle, deren Inhalt hunderte Menschen umbringen könnte, an Mörder verkauft? Für 1500 US-Dollar.
Da kann man sich in etwa ausrechnen, was ihm ein Menschenleben wert ist, diesem großen Fernsehexperten in staatlichen und staatsnahen Sendern und propagandistischen Talkshows.
Als ihn die Kollegin, die auf seine Bitte hin Nowitschok synthetisierte, fragte: „Ist das nicht gefährlich?“, erwiderte er: „Nein, nein, ich mache das fürs Militär.“ Sie hakte nach: „Warum denn fürs Militär, wir sind doch eine zivile Einrichtung?“ Und er: „Naja, das haben Militärs schwarz bestellt.“ Niemand hat sich gewundert.
Ich würde gern über Folgendes sprechen: Die Vergiftung von Alexej Nawalny – wäre es die erste Geschichte dieser Art, würde man vermutlich nicht so viel darüber sprechen, aber wir haben das schon so oft mitangesehen …
Genau, und irgendwie steckt Rink da mit drin. Jemand muss ihm den Befehl erteilt haben. Bei uns kommt ja keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung, Einladung und Vorbesprechung des Themas.
Bei uns kommt keiner einfach so ins Staatsfernsehen, ohne Genehmigung oder Einladung
Außerdem stellen sich mir noch weitere Fragen. Erinnern Sie sich daran, wie im April vergangenen Jahres unser Kollege Dimitri Bykow, unser Rezensent und Ihr Moderator, aus Jekaterinburg nach Ufa geflogen ist, wo er eine Veranstaltung hatte? Bei der Landung lag er im Koma. Ich flog mit einem herausragenden Neurochirurgen und Intensivarzt aus einer der besten Kliniken hin. Als wir ankamen war Bykow völlig ruhig – er lag tatsächlich im Koma. Es wurde entschieden, dass er in eine andere Intensivklinik verlegt werden musste, mit anderen Versorgungsmöglichkeiten, anderer Ausstattung.
Damals habe ich mir nichts dabei gedacht. Das bereue ich heute. Ich dachte: Bykow eben, vielleicht hat er was Falsches gegessen. Vielleicht gesundheitliche Probleme. Wer weiß. Kann ja alles sein. Außerdem ist er ein absoluter Workaholic. Er schuftet Tag und Nacht. Vielleicht war er einfach überarbeitet. Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige. Der Zug ist offenbar schon abgefahren.
Heute tut es mir Leid, dass ich nicht zu Verschwörungstheorien neige
Uns war klar, dass wir ein Krankentransportflugzeug brauchten. Unsere Zeitung – wir haben eine Krankenversicherung – kam für die Kosten auf. Die Maschine mit zwei Intensivmedizinern an Bord war bereits unterwegs, als der Pilot uns plötzlich mitteilte, er hätte vom Gesundheitsministerium den Befehl erhalten, umzukehren und nicht nach Ufa zu fliegen. Wir waren schockiert. Das Flugzeug war bezahlt, sollte eigentlich bald landen. Dann versuchte man auch noch, den Arzt zurückzurufen, mit dem ich gekommen war. Später hieß es dann, das Gesundheitsministerium sehe keine Notwendigkeit einer Verlegung, er solle bleiben, wo er ist.
Das kommt einem bekannt vor.
Genau das meine ich auch. Als das mit Nawalny passierte, habe ich eins und eins zusammengezählt: den Flughafen, das, was vor dem Flug geschah, damit dann auf dem Flug alles passiert. Nach dem Flug liegt der Mensch im Koma. Dann muss er verlegt werden in eine geeignete Intensivklinik – wie auch immer man das nennt –, damit andere Maßnahmen ergriffen werden können. Doch dieser Vorgang wird durch sonderbare Anordnungen verzögert, so wie man bei Bykow versucht hatte, das Flugzeug umkehren zu lassen.
Aber es ist nicht umgekehrt.
Der Pilot sagte damals: „In zehn Minuten werde ich dem Befehl folgen müssen und umkehren, den Kurs ändern.“ Ich sage es offen: Ich habe also jemanden angerufen, einen der wenigen Kontakte, den ich von Treffen mit Chefredakteuren und hohen Politikern hatte. Er war damals und ist auch heute noch auf einem der höchsten Posten. Acht Minuten später teilte der Pilot uns mit, es sei eine Erlaubnis vom Himmel gefallen, er könne seinen Flug doch fortsetzen. Die Erlaubnis kam vom Kreml.
Als das alles mit Nawalny passiert ist und wir uns gefragt haben, was wohl dahintersteckt … Ob die Ärzte in Omsk vielleicht etwas sehen, was wir nicht sehen …
Ob etwas durcheinandergeraten ist? Durchaus möglich. Aber wenn ich jetzt sehe, dass bei Bykow derselbe Algorithmus am Werk war: Hotel, Flughafen, Flugzeug, Koma, Notfallklinik, Verzögerungen beim Transport …
Ich möchte keine Schlüsse ziehen. Neulich habe ich einen sehr treffenden Satz gehört: „Die Wahrheit genügt uns nicht, wir brauchen Fakten.“ Ich liefere Ihnen also nur Fakten. Sie stehen für sich. Das sind die Fakten über Rink, unseren gegenwärtigen Experten und Propagandisten. Das sind die Fakten über die Evakuierung von Bykow. Die Fakten über Politkowskaja – ich habe ja schon oft erzählt, wie das damals [als Politkowskaja 2004 nach Beslan flog, um über die dortige Geiselnahme zu berichten – dek] vonstatten ging: Flugzeug, Koma, zerstörte Proben, Krankenhaus. Die Proben gingen im Flughafen kaputt, Blut und Erbrochenes gingen verloren. [Politkowskaja überlebte – 2006 wurde sie vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Die Hintermänner der Tat sind bis heute nicht bekannt – dek.]
Und auf der anderen Seite ist da ein Rink, der eine unbekannte Menge Ampullen an jemanden weitergegeben hat. Da fügen sich in meinem Kopf die Puzzleteile zusammen. Ich will diese Gedanken verjagen, will das alles nicht glauben.
Ja, lassen Sie uns bei den Fakten bleiben, die Schlüsse kann ja jeder selbst ziehen.
Bitte, gern. Schlussfolgerungen sind ja kein Gift.
„Alexej Nawalny ist Opfer eines Verbrechens“, nachdem die Nowitschok-Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers nachgewiesen war, fand Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrem öffentlichen Statement ungewöhnlich deutliche Worte. Und fügte hinzu: Die Bundesregierung verurteile dies aufs Allerschärfste und erwarte, dass die russische Regierung sich erklärt. Die reagierte Mitte September, indem sie den deutschen Botschafter in Moskau einbestellte. Sie sprach von „unbegründeten Anschuldigungen und Ultimaten an die Adresse Russlands“, was eine „Diskreditierung unseres Landes in der internationalen Arena“ bedeute. Es wurde gefordert, dass Deutschland diese „Hysterie“ unverzüglich einstelle.
Der Dialog mit Russland geriet in letzter Zeit, etwa nach dem Abschuss der Boeing MH17, der Angliederung der Krim, dem Krieg in Syrien, immer wieder auf den Prüfstand – liegt er nun endgültig auf Eis? Ja – und das ist gut so, meint Maxim Mironow, Wirtschaftswissenschaftler an der privaten IE Business School in Madrid. In seinem Blogbeitrag, den auch Echo Moskwy veröffentlichte, vergleicht er Putin mit einem Gopnik: Mit einem solchen „Hinterhof-Intellektuellen“ könne man keinen Dialog führen – denn er wird jeden in einen Endlosmonolog hineinziehen, aus dem nur er selbst als Sieger hervorgehen kann.
Ich bin in einem ziemlich proletarischen Stadtteil von Nowosibirsk aufgewachsen, mit Gopniki bekam ich es schon als Kind zu tun. „Zu tun bekommen“ ist nicht ganz das richtige Wort, eher waren die Gopniki die dortige Elite und gaben im Kiez den Ton an. Wenn dich eine Gruppe von Gopniki anquatschte, dann endete die Sache meist damit, dass sie dir Geld abknöpften. Das konnte ganz unterschiedlich ablaufen. Eine klassische Szene sah so aus:
„Hast du Geld?“
Was erwidert man auf so eine Frage? Wenn man nein sagt, kommt sofort:
„Und wenn wir welches finden?“
Diese Frage ist schon heikler. Wenn man nämlich sagt, „dann sucht halt“, und sie finden welches, muss man das Geld abdrücken, denn man hat ja dreist gelogen und muss für seine Dreistigkeit büßen. Verweigert man die Durchsuchung aber, dann ist das noch schlimmer, weil man damit ja quasi zugibt, dass man gelogen hat (sonst hätte man ja kein Problem damit, sich durchsuchen zu lassen). Also sagt man vielleicht lieber gleich die Wahrheit und antwortet auf die Frage nach dem Geld ehrlich „ja, hab ich“. Dann folgt die Aufforderung:
„Leih mir bis morgen x Rubel, ich brauch Zigaretten.“
Ablehnen geht nicht, sonst beleidigst du den guten Kerl. Und klar ist, dass „leihen“ in dem Fall nicht heißt, dass jemand vorhat, dir das Geld zurückzugeben. Kurz, egal, was man auf diese Frage antwortet – das Geld ist man los.
Ein paarmal wurde ich ordentlich verdroschen
Viele meiner Bekannten dachten, man müsse nur lernen, mit den Gopniki po ponjatijam zu sprechen – dann könne man negative Konsequenzen vermeiden, wenn sie dich zum Dialog auffordern. Aber diese Hoffnung war vergebens: Da halfen keine Fertigkeiten. Denn wenn sie dich erst am Wickel hatten, dann konnten sie dir auch erfolgreich erklären, warum du ihnen dein Geld geben musst. Das Ziel war ja nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das Ziel dieser Dialoge war ausschließlich, dir zu erklären, dass du ihnen Geld geben musst.
So hattest du schon verloren, wenn du dich überhaupt auf ein Gespräch eingelassen hast. Das hatte ich relativ bald kapiert und versuchte, ihnen auszuweichen. Möglichst ruhig und neutral, etwa: „Keine Zeit, Mann, muss zur Schule“, und dann schnell weg, bevor ihnen darauf eine Antwort einfällt. Wenn ich nicht schnell wegkam, dann war es am besten, gleich auf Konfrontation zu gehen, zum Beispiel: „Was interessiert dich das?“ Ich kam natürlich nicht drumherum und wurde ein paarmal ordentlich verdroschen. Dafür hörten sie danach aber auch auf, mir Geld abzuknöpfen (obwohl ich immer welches dabeihatte).
Jede Schlägerei ruiniert das Image der „Edelmänner“
Was ich auch schon als Kind verstand: Gopniki wollen keine offenen Konflikte. Sie vermöbeln dich vielleicht ein Mal, zur Abschreckung. Aber wenn das nicht wirkt, lassen sie dich wahrscheinlich in Ruhe und widmen sich anderen, mit denen sie es leichter haben. Warum aber wollen Gopniki keine offenen Konflikte? Das hat zwei Gründe: Erstens kann durch offene Konflikte ein für sie unangenehmer Tumult entstehen. Einmal, als sie mit meinem Kopf in der Schule eine Fensterscheibe zertrümmert haben, wurden der Notarzt und die Polizei gerufen, und diese „Schulelite“ und ihre Eltern über mehrere Tage verhört. Jede Gewaltanwendung kann außer Kontrolle geraten und die unerwünschte Aufmerksamkeit Dritter erregen. Im Fall einer freiwilligen Spende sinkt dieses Risiko gegen Null.
Zweitens – und das ist entscheidender – ruiniert jede Schlägerei das Image der „Edelmänner“. Ihr ganzes Geldbeschaffungskonzept beruht darauf, dass sie höflich sind und leise und ruhig mit dir reden. Jedes Mal, wenn sie sich das Geld mit Gewalt nehmen, stellt sie das auf eine Stufe mit ganz banalen Räubern. Aber die Gopniki sind sehr bedacht auf ihr Image als Hinterhof-Intellektuelle.
Meine Erlebnisse vor 30 Jahren haben viel mit dem zu tun, was Putin mit Merkel veranstaltet
Warum fällt mir das jetzt ein, und warum erzähle ich das so lang und breit? Weil das, was ich da vor 30 Jahren erlebt habe, viel zu tun hat mit dem, wie Putin Merkel an der Nase herumführt. Putin versucht, sie in einen endlosen Dialog zu verwickeln, in dem, egal, wie man es dreht und wendet, Putin als Sieger hervorgeht. Dieser Dialog sieht derzeit so aus:
20. August. Peskow erklärt, in Russland werde es Ermittlungen geben, falls sich der Verdacht auf eine Vergiftung Nawalnys erhärtet.
24. August. Die deutsche Klinik Charité erklärt, Nawalny sei vergiftet worden. Man sollte meinen, die Bedingung, die Peskow am 20. August gestellt hat, sei nun erfüllt. Die Ermittlungen müssten beginnen. Doch am nächsten Tag stellt der Kreml eine neue Bedingung:
25. August. Peskow zufolge gibt es bisher keinen Anlass zu Ermittlungen, da nicht bekannt sei, welcher Substanz Nawalny ausgesetzt war. Welchen Schluss zieht daraus wohl ein normaler Mensch? Aus irgendeinem Grund muss vor Beginn der Ermittlungen die Substanz identifiziert werden. Sobald klar ist, womit Nawalny vergiftet wurde, wird mit den Ermittlungen begonnen.
2. September. Die deutschen Behörden erklären, Nawalny sei mit Nowitschok vergiftet worden, wobei dies auf höchster Ebene verkündet wurde – von der Bundeskanzlerin persönlich. Beginnt nun der Kreml seine Untersuchungen, wie Peskow am 25. August versprochen hat? Fehlanzeige. Es folgen lauter neue Forderungen und Ausreden: Ein gemeinsames Gremium mit russischen Ärzten soll her, Deutschland habe Russland die Daten nicht weitergeleitet, wenn Nawalny vergiftet wurde, dann in Deutschland und nicht in Russland, die Ermittler des Innenministeriums sollen Zugang zu Nawalny bekommen.
Sobald eine Bedingung erfüllt ist, werden neue gestellt
Wir sehen: Die Forderungen des Kreml wachsen wie die Häupter der Hydra. Sobald eine Bedingung erfüllt ist, werden neue gestellt. Das ist ein Endlosspiel, das Merkel nicht gewinnen kann, wenn sie sich an Putins Regeln hält. Angenommen, Deutschland lässt zu, dass sich russische Spezialisten selbst davon überzeugen, dass es Nowitschok war. Zeigt man ihnen einfach die Befunde, dann werden sie wahrscheinlich sagen: „Wir glauben euch das nicht, zeigt uns, wie ihr es gefunden habt.“ Wenn Deutschland das macht (womit unsere Chemiewaffenentwickler an die wertvolle Information kommen würden, an welcher Stelle sie versagt haben), können sie immer noch sagen: „Ja, Nowitschok ist nachweisbar. Aber wer sagt, dass es bei uns produziert wurde, das Rezept haben ja auch die Länder der NATO.“ Wie kann man beweisen, dass das Nowitschok aus Russland kommt? Rein theoretisch könnten deutsche Experten nach Russland fahren und alle Orte untersuchen, an denen Nawalny an jenem Morgen gewesen ist. Und da gibt es dann zwei Szenarien.
Der Gopnik Putin zieht Merkel in einen Endlosmonolog, aus dem nur er als Sieger hervorgehen kann
Wenn sie nichts finden (der Geheimdienst hatte ja drei Wochen Zeit, die Spuren zu beseitigen), dann heißt es im Kreml: „Aha, seht ihr, bei uns wurde nichts gefunden, also habt ihr ihn vergiftet.“ Und wenn die deutschen Experten doch etwas finden, dann kommt wieder die alte Leier: „Und wer garantiert, dass ihr das nicht mitgebracht habt, es wissen doch alle, dass Nowitschok in den NATO-Ländern hergestellt wird.“ Wenn die Deutschen aber gar nicht nach Russland fahren (etwa aus Sorge um die eigene Sicherheit), dann sagen sie im Kreml: „Aha, seht ihr, sie wollen nicht kommen, obwohl wir sie einladen. Das beweist, dass sie es waren.“ Wenn Deutschland unsere Experten nicht hereinlässt: „Seht ihr, sie lassen unsere Experten nicht rein, wollen keine Kontrolle – also haben sie was zu verbergen.“ Und wenn Deutschland auf die sinnlosen Forderungen nicht reagiert: „Seht ihr, sie antworten nicht mal auf unsere Fragen, wie sollen wir da ein Verfahren einleiten?“
Der Gopnik Putin versucht, Merkel in einen Endlosmonolog hineinzuziehen, aus dem nur er als Sieger hervorgehen kann. Je weiter er in diesem Dialog kommt, desto mehr Asse hat er im Ärmel. Zu jeder Antwort aus Deutschland kann man zehn neue Fragen stellen (zum Thema und am Thema vorbei), zu jeder Tatsache zehn alternative Erklärungen vorbringen und zu jeder Schlussfolgerung zehn Zweifel säen. Einen Gopnik kann man weder von irgendetwas überzeugen noch kann man ihm etwas beweisen. Er ist Kläger und Richter in einer Person. Den Überzeugungsgrad Ihres Arguments wird der Gopnik beurteilen, nicht Sie, so überzeugend Ihnen das Argument auch vorkommen mag. Dabei ist sein Ziel nicht, die Wahrheit zu finden, denn die kennt er bereits.
Einen Gopnik kann man nicht überzeugen: Er ist Kläger und Richter in einer Person
Putin fährt diese Taktik – den Partner in einen Endlosmonolog zu verstricken und lauter Zweifel zu säen – nicht zum ersten Mal. So war es im Fall der malaysischen Boeing, bei der Vergiftung der Skripals und bei Litwinenko. Aber es ist das erste Mal, dass Merkel sich nicht auf diese Gopnik-Spielchen einlässt. Nach zwei Runden Schlagabtausch („beweisen Sie, dass er vergiftet wurde“ und „dann sagen Sie, womit“), hat Deutschland einfach beschlossen, Putin zu ignorieren und alle Untersuchungsergebnisse an die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) sowie seine G-7-Partner weiterzugeben. Offenbar hat niemand mehr Lust, seine Zeit mit endlosen Gesprächen zu vergeuden, bei denen man am Ende auch noch selbst schuld ist.
Warum windet Putin sich wie ein Aal?
Zu guter Letzt noch die wichtigste Frage: Warum windet Putin sich wie ein Aal, anstatt dem Beispiel der Saudis zu folgen, die nach der misslungenen Beseitigung eines unliebsamen Journalisten acht Schuldige gefunden und verurteilt haben?
Dafür gibt es zwei Erklärungen: Erstens, Putin „verrät seine Leute nicht“. Es ist klar, dass das Attentat auf Befehl Putins verübt wurde. Liefert er die Täter aus, würde das seine Autorität innerhalb der mafiösen Sicherheitsstrukturen untergraben. Zweitens mögen die Gopniki, wie ich bereits erwähnte, keinen Aufruhr und erledigen ihre Arbeit lieber still und in Ruhe. Daher auch die Taktik mit den „höflichen Menschen“ bei der Krim-Annexion, ohne einen einzigen Schuss – nach dem Motto, die haben uns die Krim doch freiwillig gegeben. Daher der langjährige Prozess der Machtmonopolisierung, der im Großen und Ganzen ruhig und ohne offene Konflikte abgelaufen ist. Daher auch der langjährige Druck auf Nawalny. Alles im Rahmen des „Gesetzes“. Und wenn es kein passendes Gesetz gibt, erfindet man eben eins.
Wenn Putin zugibt, dass einer von seinen Silowiki versucht hat, Nawalny zu ermorden, dann würde er de facto eingestehen, dass er mit seinen „intellektuellen Gopnik-Gesprächen“ nichts bei ihm ausrichten konnte und anfangen muss, wie ein Hinterhof-Gangster zu handeln – mit roher Gewalt. Aber Putin schätzt sein eigenes Image als Hinterhof-Intellektueller sehr, der „seit Mahatma Gandhis Tod keinen ordentlichen Gesprächspartner mehr hat“.
Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 kursierte in Russland eine Anekdote: Der langjährige Diktator, so hieß es, hatte einige Monate vor seinem gewaltsamen Tod 89 Prozent Zustimmung in Meinungsumfragen.
Dass Meinungsumfragen in autoritären Systemen nur unter bestimmten Vorzeichen abbilden, was eine Gesellschaft tatsächlich denkt, ist in der Wissenschaft hinlänglich bekannt. Wie stabil sind aus wissenschaftlicher Sicht aber autoritäre Regime überhaupt? An dieser Frage sind schon viele Politologen gescheitert: Weder konnten sie etwa den Zerfall der Sowjetunion voraussehen noch Anhaltspunkte für den Ausbruch des Arabischen Frühlings liefern.
Wie stabil ist das System Putin? Zu dieser Frage gibt es seit einigen Jahren zahlreiche journalistische und wissenschaftliche Beiträge. Laut der Politologin Lilija Schewzowa gibt es nun einen möglichen Auslöser, der das System ins Wanken bringen könnte: Es ist eine Fledermaus aus Wuhan.
Doch 2020 wurde für Präsident Putin ein Waterloo. Sämtliche Pläne für die persönliche Zukunft sind in den Mülleimer geflogen. Die Säulen, die den Staat stützen, sind ins Wanken gekommen. Das wie ein Schlachtschiff gebaute System, das den Feind abhalten und den Raum siegreich erobern sollte, ist erstarrt und mit einer neuen, für das System unsichtbaren Gefahr konfrontiert: Das Coronavirus, dieses Miststück, ist jener unerwartete Todbringer geworden, nicht nur für den Menschen, sondern auch für dieses Systemkonstrukt, das für eine andere Zeit geschaffen war. Die autoritäre Führung hat ihre Unfähigkeit bewiesen, mit autoritären Methoden auf die Bedrohung zu reagieren!
Der russische Staat, der durch Militarisierung, Expansion und die atomare Faust auf Großmachtstreben aus ist, wirkt hilflos, wenn es um den Schutz menschlichen Lebens geht – sogar, wenn es das Leben der herrschenden Klasse betrifft.
Das Coronavirus ist ein unerwarteter Todbringer geworden, nicht nur für den Menschen, sondern auch für dieses Systemkonstrukt
In der Machtvertikale fängt es an ordentlich zu krachen, wenn von oben chaotische Anweisungen kommen. Der Leader selbst haut sie kaputt: Das Zentrum hat sich aus der Verantwortung gestohlen, und die unteren Kräfte können sie nicht übernehmen, ihnen fehlen die Mittel und der Willen. Die Weigerung des Kreml, Direktiven zu geben – das ist die Unterwanderung eines Staates, der aufgebaut ist wie eine Pyramide. Derzeit ist von dieser Bedrohung nichts zu spüren, da die regionale Elite nicht mutig genug ist, um die Stimme zu erheben. Doch was geschieht, falls sie mit einem Mal die Schuld für das Versagen des Zentrums nicht auf sich nehmen will, wenn sie es mit der verzweifelten Bevölkerung zu tun kriegt?
Autokratie setzt die Einsamkeit des Leaders voraus, der über das Volk erhaben ist. Doch ein Leader muss in vorderster Reihe präsent sein, die Nation mit Mut stabilisieren und ihr mit seiner Erscheinung Vertrauen einflößen. Der Leader verliert seine Anziehungskraft, wenn er sich hinter den Kulissen versteckt, was wie eine Flucht wirkt. Allmacht wird zu Ohnmacht.
Der Leader verliert seine Anziehungskraft
Das vom Kreml für den Kontakt zum Volk gewählte Format – eine Videoansprache inmitten einer Galerie brummelnder Köpfe – wirkt wie eine Karikatur. Der Kreml hat keinerlei Gespür dafür, wie er im Moment einer existentiellen Krise die Bevölkerung am besten erreicht. Ein einsamer alter Mann, der die Parade am 9. Mai im leeren Hof des Kreml abnimmt – dieses Bild kann sich nur jemand ausgedacht haben, der die Umfragewerte Putins in den Keller bringen wollte.
Im Kampf gegen die Epidemie hat der Kreml sein Verständnis von Russland als Sozialstaat aufgegeben, der Gleichheit und Gerechtigkeit bei der Verteilung der Wirtschaftsgüter gewährleisten soll (Artikel 7 der Russischen Verfassung). Die Regierung hat den neuen Vertrag zwischen Putin und der Gesellschaft zerstört: Ich gebe euch soziale Garantien, und ihr gebt mir die lebenslange Herrschaft. Die vom Präsidenten am 11. Mai versprochenen Almosen können nichts am Offensichtlichen ändern: Die Rettung der Ertrinkenden ist die Aufgabe der Ertrinkenden.
Die Staatsmacht braucht den Sieg
Der Rückgang des Ölpreises war ein weiterer Schlag, der den Prozess des Niedergangs von Russland als Energiesupermacht einleitete. Zerstört wird nicht nur das imperiale Rückgrat des Landes, sondern auch die Finanzierungsquelle des Systems.
Die Staatsmacht braucht den Sieg über das Coronavirus. Unverzüglich! Die Staatsmacht weiß, dass eine Politik nach dem Motto „keine Arbeit – kein Geld“ sowohl den Zusammenbruch als auch eine Explosion provoziert. Daher rührt die Entscheidung, die Epidemie für beendet zu erklären, noch lange bevor sie den Höhepunkt erreicht hat. Doch der Kreml muss sauber bleiben: Die Verantwortung für die Beendigung (und die Folgen!) der Epidemie werden die Regionen übernehmen. Und wenn es nicht gelingt, das Spiel siegreich zu beenden, was dann?
Es ist völlig klar, warum sie es so eilig haben: Man muss schnellstens – während das Land gelähmt ist – die lebenslange Herrschaft durch eine Abstimmung legitimieren. Doch das ist die Falle: Auf dieses Ziel zu verzichten bedeutet politischen Selbstmord, die Fortsetzung des hilflosen Regierens kann das Ende beschleunigen …
Und wenn es nicht gelingt, das Spiel siegreich zu beenden, was dann?
Die weltpolitische Lage sorgt für weiteres Kopfzerbrechen. Irgendwie ist es erfreulich, dass Amerika sich in sein Schneckenhaus verkriecht. Das bedeutet aber, dass es keinen Grund mehr geben kann, über die amerikanische Hegemonie zu jammern. Doch woher einen neuen Feind nehmen, den wir unbedingt brauchen? Die Polen und Ukrainer taugen kaum für diese Rolle – das wäre zu kränkend für den Großmacht-Stolz.
Das Vakuum provoziert die Chinesen, mit den Muskeln zu spielen. Doch China ist nicht Amerika. China spürt die Notwendigkeit, auf Jahrhunderte währende Erniedrigungen zu antworten. Die Nachbarschaft des verjüngten Drachen mit dem alternden Bären wird früher oder später die Unvereinbarkeit der beiden sichtbar werden lassen.
Bis vor kurzem freute sich Russland noch darüber, dass die Welt dem russischen Weg gefolgt war und das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten wertzuschätzen lernte. Doch werden die Länder weltweit ihre inneren Angelegenheiten nun auch Russland gegenüber zu schützen wissen.
Der russische Traum von einer multipolaren Welt, in der jeder sich wertschätzende Staat seine eigene Galaxie hat, wirkt wie dräuende Kopfschmerzen. Wie stehen unsere Chancen, ein solcher Pol zu werden, wenn man bedenkt, wie verschwindend gering unser Potenzial im Vergleich zum Westen und zu China ist? Wo ist die Garantie, dass die, die in unserer Galaxie die Kandidaten für Satelliten-Rollen sind, bereit sind, nach unserer Pfeife zu tanzen? Sie sehen doch, wie Minsk ganz aus der Reihe tanzt.
Es gibt allerdings wirklich eine Chance, ein Pol in der zweiten Garde von Staaten zu werden. Aber wie steht es dann um das Ego der Supermacht? Wer hätte sich vorstellen können, dass eine Fledermaus im fernen Wuhan solche Erschütterungen und Zusammenbrüche ehrgeiziger Pläne verursachen würde. Unser Kriegsschiff ist weiterhin auf Fahrt. Der Kapitän hat die Brücke verlassen. Die Mannschaft wirkt nicht gerade vertrauenserweckend. Der Kurs ist unklar. Aber es ist klar, dass es in die nicht lang zurückliegende wohlgefällige Vergangenheit kein Zurück mehr gibt.
Die Philologin und Publizistin Irina Prochorowa ist eine der wichtigsten russischen Intellektuellen. Im Radiosender Echo Moskwyspricht sie über das Russland jenseits von Putin und über das Russland jenseits glänzender WM-Fassaden.
Olga Shurawljowa: Haben Sie den Eindruck, dass sich die Stadt verändert hat, wenn Sie jetzt durch die Straßen gehen? Ist irgendetwas passiert, weil das große Fußballfest bei uns stattfindet?
Irina Prochorowa: Es gibt viele ausländische Fans. Die Stimmung ist gut, wie beim Karneval, die Leute sind ausgelassen und ziemlich freundlich.
Gibt es mehr Freiheit?
Ich habe zumindest keine harten Einschränkungen bemerkt. Mir ist etwas anderes aufgefallen: Wie sauber Moskau plötzlich ist. Denn ich laufe ja viel durch die Innenstadt – eigentlich ist es immer ziemlich dreckig: überall Staub, Smog, Schmutz und so. Aber jetzt ist alles blitzblank. Da denke ich mir, interessant, sie können’s ja, wenn sie wollen. Es wäre schön, wenn das einfach auch nach der WM so bliebe.
Das ist natürlich unwahrscheinlich. Während solcher internationalen Großereignisse wird ja auch gern diskutiert, dass sie ein wichtiger Sieg für Putin seien – eine schicke, großartige WM mit bemerkenswert schönen Bildern und einer Riesenmenge Fans. Das könnte doch Putins Image tatsächlich korrigieren, was meinen Sie?
Vielleicht. Vielleicht. Ich weiß es nicht. Letzten Endes wird es auch etwas Gutes haben … Die Menschen freuen sich, die Fans freuen sich … Und schauen sich um …
Wir denken die ganze Zeit nur an einen Menschen und reden auch immer nur über diesen einen Menschen. Was machen wir uns die ganze Zeit Gedanken um den Präsidenten? Der Präsident kommt ganz gut ohne uns zurecht.
Was machen wir uns die ganze Zeit Gedanken um den Präsidenten? Wichtiger wäre, dass wir uns über unsere eigenen Aufgaben klar werden
Wichtiger wäre es, dass wir uns erstmal über unsere eigenen Aufgaben klar werden. Und Ziele benennen, die für uns wichtig sind, damit wir ein würdiges Leben führen. Bisher gelingt uns das nicht besonders. Wir sind nicht gut darin, uns zu organisieren und haben bislang keine Mittel gefunden, um unsere Anliegen durchzubringen.
Dann stelle ich die Frage anders: Ist die WM eine Möglichkeit, Putins Image oder das Image Russlands und der Russen zu verbessern?
Wenn alles gut läuft und es zu keinen Exzessen kommt, und das nicht zuletzt, weil für die Ausländer besondere Bedingungen geschaffen wurden, werden die Menschen wahrscheinlich in ihre Länder zurückkehren und sagen: „Mensch, war das toll!“
Und da ist noch etwas, das mich beschleicht. Plötzlich laufe ich durch Moskau, sehe die Stadt mit den Augen eines Zugereisten und denke mir: Wirklich eine schöne Stadt, verdammt nochmal!
Im Endeffekt werden die Menschen nicht nur die Putinregierung sehen, sondern auch, dass es hier ganz normale Menschen gibt …
Ganz genau. Gewissermaßen geht es nicht um das Image der Regierung, manchmal funktioniert das völlig anders. Es geht darum, dass es ein anderes Leben gibt, jenseits von Putin, jenseits aller politischen Skandale …
Die Leute sehen nicht nur die Putinregierung, sondern auch, dass es hier ganz normale Menschen gibt
Ich erzähle gern eine erstaunliche Geschichte, die ich einfach nicht vergessen kann. Als ich Anfang der 1990er nach Österreich reiste, gestand mir ein beeindruckender Österreicher, er sei völlig verblüfft gewesen, als er Ende der 1980er eine Liveaufnahme von den Straßen Moskaus gesehen habe. Warum? Er sah eine europäische Stadt, europäische, gutaussehende Menschen, die sogar ganz schick gekleidet waren. Ich sagte: „Mein Gott! Was haben Sie denn erwartet?“ Und er erwiderte: „Ich weiß es nicht. Aber die Propaganda war so mächtig, dass ich nicht damit gerechnet habe, normale Menschen zu sehen.“
Deswegen denke ich: Es kann nicht schaden, wenn sie sehen, dass hier ganz normale Menschen leben.
Aber irgendwie stellen Sie nur traurige Fragen.
Die WM scheint sogar noch das fröhlichste unserer Themen zu sein. Leider geschehen parallel dazu viele Dinge, die derzeit nicht viel Beachtung finden. Doch es gibt Menschen, die jeden Tag von SenzowsHungerstreik mitzählen.
Man kann immer etwas tun. Wenn die Gesellschaft nicht reagiert, hat ein Mensch keine Chance. Wenn wir uns neben Senzow, über den viel gesprochen und geschrieben wird …
Dmitrijew zum Beispiel, sein Fall wird neu aufgerollt.
Ganz richtig. Nehmen wir Juri Dmitrijew, für dessen Freiheit wurde lange gekämpft, und das Gericht hatte ihn praktisch schon freigesprochen. Und plötzlich hebt das Oberste Gericht von Karelien den Freispruch wieder auf …
Der Prozess wird neu aufgerollt. Es wurde nicht nur der Freispruch, sondern auch die Verurteilung annulliert. [Update: Am 28. Juni 2018 ordnete das Gericht in Petrosawodsk an, dass Dmitrijew in zweimonatige Untersuchungshaft muss – dek] Es geht also wieder von vorn los. Ich war ehrlich gesagt nicht sehr überrascht, ich kenne ja unser Rechtssystem. Zu dessen Aufgaben gehört der Schutz von Menschen leider nur selten …
Die Gesellschaft muss einen langen, schweren Kampf gegen diesen Repressionsapparat führen
Was ich sagen will, ist: Die Gesellschaft wird offenbar einen langen, schweren Kampf gegen diesen Repressionsapparat führen müssen, der einen unschuldigen Menschen einfach fertigmachen will … ihn im Gefängnis einfach umbringen will. Denn Dmitrijew ist ein alter Mann, wenn er verurteilt wird, wird er seine Freilassung wohl kaum noch erleben.
Und trotz all dem, wenn die Gesellschaft nicht nachgibt und weiterkämpft, kommen Gespräche zwischen den Menschenrechtsbeauftragten in Gang, die internationale Gemeinschaft entrüstet sich. Und wenn die da oben noch so oft behaupten, es sei uns schnurz – es ist uns nicht schnurz.
Ja, wir sehen am Fall von Serebrennikow sehr gut, wie die internationale Gemeinschaft handelt: Kein Festival, keine Veranstaltung vergeht, ohne dass jemand Serebrennikow erwähnt.
Genau. Und das ist sehr wichtig. Es geht hier nicht nur darum, dass es sich um einen herausragenden Regisseur handelt. Auch dieser Fall ist allem Anschein nach – ich war bei zwei Gerichtssitzungen dabei – von vorn bis hinten mit heißen Nadeln gestrickt. Es liegt nicht die Spur eines Diebstahls vor. Die Sache wurde aus dem Nichts aufgeblasen.
Ich denke, darauf muss man die Aufmerksamkeit lenken und bis zum Letzten kämpfen. Das ist weitaus wichtiger als über das Image vom Präsidenten, Premierminister oder sonstwem nachzudenken.
Aber wir hoffen doch, dass denen ein Prestigeverlust nicht völlig egal ist.
Einen Prestigeverlust wird es nur geben, wenn genügend Menschen geschlossen verkünden: „Wir lassen das nicht zu.“ Das heißt nicht, dass wir dann sofort gewinnen. Dennoch ist es wichtig.
Wenn wir daran denken, dass in unserem Land ein Menschenleben und die Menschenwürde überhaupt nichts wert sind: Ein Lebensabend nach der Pensionierung – das hättet ihr wohl gern! Das Soll erfüllt und ab ins Grab; medizinische Versorgung gibt es für euch auch keine, versorgt euch selbst …
In unserem Land sind Menschenleben und die Menschenwürde überhaupt nichts wert
Von der Rechtsprechung ganz zu schweigen. Das ganze Justizsystem, das den Bürger vor staatlicher Willkür schützen sollte, tut bei uns seit Sowjetzeiten das exakte Gegenteil.
Sicher, wir haben noch keine ausgeprägte Rechtskultur, sie ist noch sehr jung. Ich finde, es scheint nur so, als würden wir uns mit Kleinigkeiten befassen – was sind schon eine Handvoll Menschen, die für irgendeine Person eintreten. Aber das ist falsch. Denn es wird trotzdem wahrgenommen und beeinflusst die öffentliche Meinung.
Keine Regierung, und sei sie noch so hart, kann das ignorieren. Deswegen denke ich, dass es großartig ist und wir mit großer Beharrlichkeit weitermachen sollten.
Wir haben Ojub Titijew noch nicht erwähnt.
Richtig. Ein ganz einfacher Mensch – und Fälle wie seiner häufen sich – kann einfach so, völlig nichtsahnend in diesen Fleischwolf geraten.
Auch dieser arme Junge, der, an sich völlig loyal, nach Deutschland gefahren ist und dort irgendetwas im Bundestag gesagt hat, von wegen nicht alle Deutschen wollten kämpfen. Womit er ja völlig Recht hat! Denn wissen Sie, wenn ein Krieg ausbricht, wird niemand gefragt, ob er kämpfen will oder nicht. Gewehr in die Hand und Abmarsch. Und was ist passiert? Man hat eine Riesenhysterie wegen nichts losgetreten.
Das arme Kind versteht wahrscheinlich bis heute nicht, wo das Problem lag – es gibt ja auch keins. Es ist einfach plötzlich der Mechanismus der Hexenjagd angesprungen. Man hatte ihnen schon lange niemanden zum Fraß vorgeworfen, wie man so sagt.
Allerdings ist hier ein Mechanismus quasi von unten angesprungen. Bei uns beginnen unzählige Prozesse damit, dass es irgendeinem Bürger in den Fingern juckt.
Damals hat sich, glaube ich, irgendein Abgeordneter empört, es kam also nicht ganz von unten. Wissen Sie, wenn man es provoziert – es wird ja sogar dazu aufgerufen, zu denunzieren – dann entsteht natürlich ein System, dass die Leute anregt, so etwas zu tun. Dann tauchen all diese Hetzer auf. Kein Wunder! Die gibt es immer und überall, in jeder Gesellschaft. Die Frage ist allerdings, was dann aus diesen Vorfällen wird.
Und da wird das Problem mit unserem Rechtssystem offensichtlich. Die schrecklichste Situation ist die absolute Hilflosigkeit eines Menschen, der sich nirgends hinwenden kann. Die Rechtsprechung funktioniert nicht.
Wir haben einen Direkten Draht zum Präsidenten.
Ich würde sagen, selbst wenn unser Präsident ein Engel wäre, könnte er als Einzelperson nicht jedem helfen, nicht mal ein bisschen. Er hat einigen wenigen geholfen. Das sind tatsächlich Glückspilze.
Aber wir wissen doch, dass ein Staat als System funktionieren muss, dass es Mechanismen geben muss, die es ermöglichen, Gerechtigkeit und Wahrheit zu erlangen. Wenn diese Mechanismen nicht funktionieren, kann auch der mächtigste Präsident der Welt nichts ausrichten.
Ich fürchte, dass wir in diesem Stadium immer noch auf irgendeine Einzelperson hoffen, die alles regelt. Offen gesagt: Ich kenne die Antwort nicht. Aber ich stelle zumindest Fragen.
Vielen Dank! Das war Irina Prochorowa, die Chefredakteurin von Nowoje Literaturnoje Obosrenije. Mein Name ist Olga Shurawljowa. Ich danke allen, auf Wiedersehen!
Es waren gleich mehrere Nachrichten in den vergangenen Wochen, die (nicht nur) in Russlands Zivilgesellschaft für Aufruhr sorgten: Etwa die vorzeitige Haftentlassung des Aktivisten Ildar Dadin, eine Wohnungsdurchsuchung bei der unabhängigen Journalistin Soja Swetowa und schließlich der neueste Bericht des Oppositionspolitikers Nawalny. Dessen Fonds für Korruptionsbekämpfung publizierte belastendes Material über Russlands Premier Medwedew: Demnach verfügt der über ein Eigentum im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar – Vermögen, das offiziell gut versteckt dubiosen „Stiftungen“ gehört.
Der Radiosender Echo Moskwy lud nun die renommierte Politologin Ekaterina Schulmann ins Studio, zur Sendung Ossoboje Mnenije (dt. Besondere Meinung). Schulmann gilt als eine der wichtigsten Stimmen der russischen Politikwissenschaft. Neben ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit an der Moskauer Hochschule RANCHiGS schreibt sie häufig Analysen für verschiedene unabhängige Medien. Schulmann hält auch Vorlesungen an der Online-Universität openuni – ein Projekt von Offenes Russland, das von Michail Chodorkowski gegründet wurde.
Besondere Meinung wiederum ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Besondere Meinung ist interaktiv, die Zuhörer werden eingebunden und bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, per Videostream wird die Sendung über Internet live aus dem Studio übertragen.
Ekaterina Schulmann übt in ihren vielbeachteten Artikeln zum politischen System Russlands oft Kritik an der derzeitigen Situation des Landes – kein Wunder, dass auch die Hörer von Ossoboje Mnenije sie zu den neuesten Ereignissen kritisch befragten.
Irina Worobjowa:Alle Welt spricht über den Anti-Korruptions-Bericht des FBK und über mögliches Eigentum von Premierminister Dimitri Medwedew. Die Untersuchung umfasst viele verschiedene Einzelgeschichten. Was ist denn nun das eigentlich Relevante?
Ekaterina Schulmann: Um ehrlich zu sein – in allen Einzelheiten habe ich mir diese Arbeit bislang weder in der Video- noch in der Textversion angeschaut. Das Wichtigste ist wohl die Tatsache, dass sie überhaupt veröffentlicht wurde. So wie ich das verstehe, wird dort folgender Mechanismus beschrieben: Oligarchen, Großindustrielle und irgendwelche wirtschaftlichen Interessengruppen überweisen Geld auf die Konten von Stiftungen, die aussehen wie Wohltätigkeitsverbände oder anderweitig dem Gemeinwohl dienende Organisationen. Tatsächlich aber hat am Ende nur einer Zugriff auf das Geld und die Güter: der Premierminister.
Allein die Tatsache der Veröffentlichung halte ich für wichtig – warum? Wie die Sprecherin des Premierministers Natalja Timakowa so schön gesagt hat: Wir befinden uns im Wahlkampf, und das ist eine Wahlkampfaktion.
Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt. Schauen wir uns mal die früheren Wahlkampfperioden an: Da sehen wir, dass es vor und nach den Wahlen, ob nun zu den Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen, immer zu solchen Turbulenzen kam.
Das heißt also grundlegend ändert sich nichts, aber auf dieser mittleren Ebene gibt es doch gewisse Veränderungen?
Wie soll ich sagen … also, grundlegend wird sich nichts ändern, solange das Regime so bleibt, wie es ist. Aber es befindet sich ständig in Transformation. Und für die Leute, die diesem Regime angehören, sind diese Transformationen durchaus spürbar. Auch wenn es von außen nicht wie eine Revolution aussieht – für Insider können das revolutionäre Umbrüche sein. Der eine hat seinen Posten behalten, ein anderer ist rausgeflogen, und einem dritten haben sie ein Strafverfahren angehängt.
Solche Informationsbomben werden von zwei Teilen der Öffentlichkeit ganz unterschiedlich aufgenommen: Da ist einmal das äußere Publikum, also wir Bürger, die Gesellschaft, das Sozium. Die breite Masse mag das einerseits nach dem Motto beurteilen: „Na und, wir haben doch schon immer gewusst, dass alle korrupt sind.“ Doch es ist ja eine Sache, das ganz allgemein zu wissen, und eine andere Sache, etwas ganz konkret zu sehen, etwas, das selbst bei ganz oberflächlicher Betrachtung jegliche Vorstellung übersteigt.
Der Wahlkampf ist der Zeitraum, in dem das politische System nervös wird. Macht, Ressourcen und Einfluss werden neu verteilt. Posten werden neu besetzt
Dann gibt es natürlich auch noch das ganz äußere Publikum, also das Ausland. Für diese Menschen ist das alles noch viel verwunderlicher als für uns.
Schließlich kommen wir zum inneren Publikum, zu den Insidern, also den Leuten, die zum Machtzirkel gehören. Deren Bewusstsein ist auf eine ganz spezifische Art verzerrt. Sie glauben weder an unabhängige Untersuchungen noch an Korruptionsbekämpfung. Den Medien glauben sie auch nicht. Sie glauben überhaupt niemandem so recht.
In ihrer Welt sind sozusagen alle Vorkommnisse Signale einer Gruppe an eine andere, völlig unabhängig von den realen Gegebenheiten. In ihrer herrlich paranoiden Welt hat das etwas zu bedeuten. Sie fragen sich: Warum jetzt? Warum Medwedew? Wer gibt hier wem Signale? Daraus werden sie ihre grundlegenden und wertvollen Schlüsse ziehen.
Natürlich können uns diese Details auch ziemlich egal sein. Nur Folgendes ist wichtig: Das alles ist Wahlkampf, wie er bei uns geführt wird. Das ist kein Wahlkampf eines gesunden Menschen, bei dem man um den Wähler kämpft. Das ist der Wahlkampf eines kranken Rauchers, bei dem gerade in der Zeit vor den Wahlen das Gleichgewicht innerhalb des Regierungssystems justiert wird.
Ist es denn vorstellbar, dass sie jetzt kurzerhand Medwedew opfern? Um den Menschen zu zeigen: Eigentlich geht es hier bei uns doch ehrlich zu und wenn einer so schamlos mithilfe von Stiftungen …, also entschuldigen Sie bitte, Dimitri Anatoljewitsch, auf Wiedersehen. Oder ist das ausgeschlossen?
Das, was Sie als „opfern“ bezeichnen, also die extremste Maßnahme, ihn vor den Präsidentschaftswahlen zu entlassen, ist äußerst unwahrscheinlich. Aber es gibt viele Arten, den einen oder anderen politischen Akteur, sagen wir, unter Druck zu setzen, ohne ihn zu entlassen. Für Sie gibt es wohl nur sowas wie, zack, gleich Erschießung oder Freispruch, was?
Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden
Aber jeder dieser Staatsbediensteten aus der obersten Etage vertritt ja eine ganze Gruppe, und das gilt ganz besonders für den Premierminister. Das heißt: Diese Gruppe kann Verluste erleiden oder Erfolge erzielen. Wenn sie Verluste erleidet, kann das auch völlig unter der Hand geschehen, wir werden das nicht sonderlich bemerken. Obwohl – wir kriegen es wohl doch mit, denn momentan ist die mediale Transparenz, Gott sei Dank, gegeben.
Der Krieg hört bei denen da oben nie auf. Sie leben in einer herrlichen Welt. Man sollte sie nicht beneiden. Denn zu diesem Krieg gehören entsprechende Positionsverluste und auch entsprechende Siege.
Unsere Hörer wollen wissen, ob es nicht müßig ist, sich darüber Gedanken zu machen, wer denn Medwedew attackiert hat, wenn das ohnehin nur den inneren Kreis der Elite betrifft. Es gibt ja ganz unterschiedliche Möglichkeiten, wer dahinter stehen könnte … Ist es sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen? Oder geht uns das nichts an?
Das ist wie beim Mord im Orient-Express. Der Kreis der Verdächtigen ist einigermaßen begrenzt, aber doch relativ groß. Es könnte jeder gewesen sein. Und stellen Sie sich vor, vielleicht war es keine Einzelperson, sondern vielleicht waren es irgendwelche ständigen oder temporären Koalitionen. Das ist ein weites Feld zum Rätseln. Wobei Herumrätseln da meines Erachtens nicht sinnvoll ist. Lassen Sie uns lieber über Folgendes nachdenken: Die Zeit des Wahlkampfs hat also begonnen, eine nervöse Zeit, alle sind zerstritten. Was kann der einfache Bürger daraus machen? Wie kann er das für sich nutzen?
In diesem Zeitraum ist das System durchaus verletzlich, unter anderem dadurch, dass etwas öffentlich werden könnte, ja schon allein durch eine solche Bedrohung. Allе eingebildeten oder nicht ganz eingebildeten, in manchen Fällen sogar wesentlichen Liberalisierungen finden gerade dann statt. Wenn jemand also irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür.
Wenn jemand irgendwelche Bürgerinteressen durchsetzen möchte, dann ist jetzt die richtige Zeit dafür
Da wird bei uns durchaus das Strafrecht abgemildert, oder die Führung ersetzt einen ganz hoffnungslosen Gouverneur durch einen jüngeren und etwas ruhigeren, oder es passiert sonst irgendetwas Positives für die Gesellschaft … Auch Inhaftierte werden zum Beispiel entlassen.
Denn die Maschine so richtig zum Laufen zu bringen, wie es sich gehört, also zum Beispiel Verbrecher einzubuchten, das ist schwer. Aber die Praxis hat gezeigt, einen Unschuldigen zu befreien, das geht. Zumindest ist es leichter. Es gibt auch noch weitere Mechanismen, um, sagen wir mal, die Kiefer zu lockern und Happen rauszuholen.
Aber wenn es darum geht, den Staat zu zwingen, seine direkten Funktionen auszuüben, also etwa gegen die Kriminalität zu kämpfen oder für Wirtschaftswachstum zu sorgen, dann wird es schon schwieriger. Aber man tut, was man kann.
Die Hörer fragen nach der Hausdurchsuchung bei Soja Swetowa. Das ist doch eine dumme, völlig unnötige Aktion. Es ist gar nicht mal klar, was da eigentlich los war.
Sie finden die Aktion dumm, aber die Ausführenden finden sie gar nicht dumm. Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, neue Dienstgrade, Beförderungen, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch. Wenn das schon 13 (sogar mehr) Jahre funktioniert, warum sollte das nicht auch jetzt funktionieren? Das zum einen.
Zum anderen ist da rund um den Föderalen Strafvollzugsdienst einiges im Gange. Schon seit einigen Monaten geschehen da viele seltsame, ja erstaunliche Dinge. Der FSIN steht in diesem Jahr im Zentrum der Öffentlichkeit, falls es jemand noch nicht gemerkt haben sollte.
Da läuft ein großes Strafverfahren, das seit 2003 vielen Leuten neue Sterne auf die Schulterstücke gebracht hat, lauter Bonbons und Schleifchen. Und jetzt sind andere dran und wollen das auch
Auch wissen wir, dass der FSIN noch einen weiteren großen Happen aus dem Staatsbudget haben will: Für eine großangelegte Renovierung der Gebäude und Gelände und den Bau neuer Straflager.
Gleichzeitig haben wir noch den Dadin-Skandal, der sich zugespitzt hat: Erst die Folter im Straflager, dann die unerwartete (oder auch nicht sonderlich unerwartete) aber durchaus erfreuliche Entlassung.
Gleichzeitig weist der Präsident die Staatsanwaltschaft an, den FSIN zu überprüfen. Woraufhin die Staatsanwaltschaft die vorherige Aufhebung einer Untersuchung der Foltervorwürfe in den Straflagern von Karelien wieder aufhebt.
Der FSIN beansprucht für sich also viel Geld aus dem Haushalt, und gleichzeitig gibt es andere Gruppen, die mit dem Amt offensichtlich anderes vorhaben. Vielleicht dessen Führung auswechseln, oder es zum Teil auflösen, irgendwie umgestalten, vielleicht einer anderen Behörde unterstellen. Irgendwie gibt es da Gerüchte.
Ja, und dann zwei Hausdurchsuchungen an einem Tag: bei Soja Swetowa und bei Jelena Abdullajewa. Wobei Soja Swetowa nach der Durchsuchung erklärte, es sei nicht um Chodorkowski, sondern um ihre Bürgerrechtsaktivitäten gegangen. Worin besteht diese Tätigkeit? Sie besteht einzig und allein darin, dass sie Untersuchungsgefängnisse, Haftanstalten und Straflager besucht. Ihre Bürgerrechtsaktivitäten haben mit dem zu tun, was der FSIN tut.
Das sind also alles Turbulenzen im Umfeld des Gefängnissystems, der Wirtschaft der Gefängnisse, der darin involvierten Gelder und Leute.
Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht. Niemand hat sich dafür interessiert, was mit den Knastis lief. Und nun plötzlich interessieren sich alle dafür. Eine gewisse hemmende Wirkung hat dieser ganze Medienrummel also durchaus.
Gut ist, dass das, was in den Gefängnissen passiert, zum Gegenstand des öffentlichen Interesses geworden ist. Das gab es früher nicht
Ich wiederhole, man kann den Eindruck haben, dass nichts passiert sei – da ist einfach jemand früher aus der Haft entlassen worden, einige Monate bevor die Strafe ohnehin um gewesen wäre. Für alle aber, die sich innerhalb des Systems befinden, die daran gewöhnt sind, dass alles straffrei abläuft und im Dunkeln bleibt, ist dieser Lichtstrahl schon ein ziemlicher Stressfaktor. Auch dass der Direktor des Straflagers sich verstecken, in Urlaub gehen musste, das war für sie … Und wieder: In unseren Augen ist das keine besonders repressive Maßnahme, oder? Wir würden uns wünschen, dass dort alle entlassen und verurteilt werden. Aber für diese Leute ist das, als wäre ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen, weil es so etwas früher nicht gab.
Man hatte ohnehin schon den internen Konsens gefunden, dass politische Gefangene nicht angerührt werden dürfen (also körperlich), weil man den Rummel fürchtete. Bei Dadin hat dieser Mechanismus aus irgendeinem Grund nicht funktioniert, und das hat dann einen umso größeren, umso wuchtigeren Skandal hervorgerufen, der sich angesichts der offensichtlichen Schwächung des FSIN auf alle möglichen Arten finanziell und strukturell auswirken kann.
Offen gestanden, lösen Ihre Worte bei unseren Zuhörern eine Gegenreaktion aus, sie sind ein bisschen erstaunt, beziehungsweise verärgert: „Soll etwa der öffentliche Druck im Fall Dadin nichts bewirkt haben, und geht es bei der ganzen Sache nur darum, was im Dunstkreis des FSIN passiert, und so weiter und so fort?“ Oder wurden Sie einfach falsch verstanden?
Was sind wir Russen doch für Maximalisten. Das ist wirklich erstaunlich.
Es gibt doch zwei Ansätze: Entweder es heißt, man habe jemanden ausschließlich dank zivilgesellschaftlichem Engagement befreit, ja, buchstäblich dem Verlies entrissen. Oder es heißt: „Was seid ihr doch naiv! Eure ganze Bürgerrechtskampagne ist bedeutungslos. Das Ganze ist nur ein interner Kampf.“ Dann gibt es noch: „Das ist nur ein kümmerlicher Bissen, man hat euch damit abgefrühstückt, und ihr freut euch brav darüber.“
Man muss die Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität betrachten. Wenn die Zivilgesellschaft, also irgendeine organisierte Gruppe, beginnt, für ihre Interessen zu kämpfen, etwa für die Freilassung eines unschuldig Verurteilten, benutzt sie diverse Instrumente. Es gibt da ganz naheliegende Instrumente, oder? Öffentlichkeit, Medienpräsenz, Petitionen oder Beschwerden an die Obrigkeit. Auch die internationale Öffentlichkeit funktioniert – entgegen der verbreiteten Meinung, dass man damit alle nur verärgere – hervorragend.
Startet man eine solche Kampagne, finden sich innerhalb des Machtsystems sofort Verbündete, denn keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein „die da“ – „Die tun da das und das“ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne.
Keine Regierung handelt als einheitlicher politischer Akteur. Es gibt kein ‘die da‘ – ‘Die tun da das und das‘ – verstehen Sie? Dort herrscht ein Krieg aller gegen alle, ganz im klassischen Hobbesschen Sinne
Bei jeder Kampagne wird es unter Ihren Mitstreitern höchst unsympathische Akteure aus Regierungskreisen geben, die ihre eigenen Ziele verfolgen.
Sollten Sie deswegen beleidigt sein, erschrecken oder sich von Ihren Aktivitäten abhalten lassen? Natürlich nicht. Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zum zivilgesellschaftlichen Erfolg ist diese idiotische Angst davor, für die Ziele anderer benutzt zu werden.
Wenn Sie Ihr Ziel immer im Auge behalten, immer an Ihre Interessen denken, wird Sie niemand benutzen, Sie hingegen benutzen, wen Sie wollen. Das ist übrigens auch genau das, was der Antikorruptionsfonds und Alexej Nawalny tun. So heißt es oft. Irgendjemand muss ihnen die ganzen Informationen ja zuspielen. Die haben dann das Gefühl, ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Und die zivilgesellschaftlichen Aktivisten dürfen ihre Ziele nicht aus dem Blick verlieren.
Sprechen wir über eine andere Angelegenheit, die sich schon lange hinzieht und in der es regelmäßig zu Verhaftungen kommt: der Bolotnaja-Fall. Einer der Beschuldigten, Dimitri Butschenkow, wurde plötzlich in Hausarrest überführt, was selbst für seine Verteidiger überraschend kam. Dieser Bolotnaja-Fall, so scheint es, wird noch ewig weitergehen. Oder werden sie irgendwann einfach aufhören?
Nun, wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen. Solange man sich mit der Verfolgung unschuldiger Leute, die sich nicht widersetzen, einfach und bequem eine Beförderung, eine positive Statistik und gute Aufklärungsquoten verdienen kann, wird man das tun.
Wie man am Fall Yukos sieht, können solche Fälle fast ewig dauern – solange, wie sie den Untersuchungsbehörden nützen
Im Fall Butschenkow möchte ich die wirklich wichtige Rolle seiner Verteidigung hervorheben, Pawel Tschikow von der Gruppe 29. Das sind absolut heroische Leute, die politisch verfolgte Menschen verteidigen, und zwar mit Erfolg. Überhaupt ist Rechtshilfe, rechtliche Unterstützung bei jeder Bürgerrechtskampagne ein wichtiges Element, generell bei allen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Womit auch immer Sie sich beschäftigen, am Gericht führt kein Weg vorbei, und deshalb ist es sinnvoll, sich rechtzeitig damit zu befassen.
Im vorliegenden Fall ist alles ziemlich offensichtlich, da man ja, den verfügbaren Videoaufzeichnungen und Fotos nach zu schließen, eindeutig nicht den Richtigen gefasst hat. Er sieht einfach nicht aus wie der Mann, der auf dem Bolotnaja-Platz war.
Wir müssen uns nunmal mit dieser Art von Siegen begnügen (Überführung in Hausarrest, hurra!), obwohl ja klar ist, dass man das Verfahren einstellen sollte, weil der Mann nichts mit der Geschichte zu tun hat.
Es kam die Frage auf, ob es einen Wandel gegeben habe: Früher führte man Hausdurchsuchungen bei Aktivisten, Politikern, Gouverneuren, Beamten und Silowiki durch, und nun kommt es auch bei Menschenrechtlern und Journalisten vor. Soja Swetowa ist ja auch Journalistin. Handelt es sich wirklich um einen Wandel, dem man Beachtung schenken sollte? Oder hat die Tatsache, dass Soja Swetowa Journalistin ist, keinerlei Bedeutung?
Ehrlich gesagt sehe ich hier keinen qualitativen Wandel. Die Hausdurchsuchung ist in unserer Rechtspraxis ein altbewährtes Einschüchterungsinstrument. Ihr Zweck ist, zu demoralisieren.
Wobei unklar ist, inwiefern das bei den Ermittlungen hilft. Aber man muss irgendwie Angst einjagen, Eindruck machen.
Diese Leute leben in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken
Ich glaube nicht, dass die sich wahnsinnig viele Gedanken über die öffentliche Reaktion machen. Sie wollen gewöhnlich einfach den unmittelbaren Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit terrorisieren. Dass sich das dann in der ganzen Welt verbreitet, ist für sie aus irgendeinem Grund jedes Mal wieder eine echte Überraschung. Warum das? Weil es, wie im Fall Dadin, Folgen hat – dann muss man jemanden halbzerkaut wieder ausspucken, und aus irgendeinem Grund sind sie darüber jedes Mal wieder erstaunt.
Diese Leute leben informationsmäßig in einer komplett anderen Wirklichkeit, deshalb erfassen sie vielleicht tatsächlich nicht ganz, wie ihre Taten und sie selbst nach außen wirken, und auch nicht, wen sie da genau aufsuchen.
Vielen Dank. Ekaterina Schulmann heute in der Sendung Ossoboje Mnenije.
Yevgenia Markovna Albats gilt als eine der Grandes Dames des russischen Journalismus. Wohl auch deswegen ist die Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times regelmäßig beim Radiosender Echo Moskwy in der Sendung Ossoboje Mnenije (dt. „Besondere Meinung“) zu Gast.
Bei diesem interaktiven Format bekommen die Zuhörer Gelegenheit, eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Video-Livestream aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht.
Im Gespräch mit Moderatorin Tatjana Felgengauer, der stellvertretenden Chefredakteurin von Echo Moskwy, spricht Albats über die bevorstehende Dumawahl und darüber, ob es sich überhaupt lohnt, wählen zu gehen.
Tatjana Felgengauer: Willkommen zu unserer Sendung Besondere Meinung. Mein Name ist Tatjana Felgengauer, und ich freue mich, die Chefredakteurin der Wochenzeitung The New Timesim Studio zu begrüßen: Guten Tag, Yevgenia Markovna.
Yevgenia Albats: Hallo allerseits.
Die WGTRKsendetdie ersten Wahlkampfdebatten, sechs Parteien, darunter PARNAS, Jabloko und die neue Partei des Wachstums, nehmen teil. Interessiert das überhaupt irgendjemanden?
Nun ja, ich werde das gucken, aber ich bin ja ein klassischer Politikjunkie. Ich finde Politik spannend. Sogar in der Form, in der sie derzeit gemacht wird, interessiert sie mich immer noch.
Irgendwelche Erwartungen, Vorlieben?
Nein, gar nicht. Ich erwarte mir nichts. Dass die Partei Jabloko in ihrem Programm von der Annexion der Krim schreibt, macht mich neugierig. Eigentlich ist das die einzige politische Partei, die damit in die Wahlen geht. Das ist etwas Besonderes. Dass nämlich dieser Standpunkt, den eine bestimmte Anzahl der Einwohner Russlands vertritt, immerhin von einer Partei formuliert wird.
Und abgesehen von Ihnen, was denken Sie, wie weit kann das überhaupt den Wähler interessieren?
Ich glaube, dass das den Wähler durchaus interessieren kann, in geringem Ausmaß. Es wird ja eigentlich alles dafür getan, dass man möglichst wenig darüber spricht.
Für mich ist ganz offensichtlich, dass sich die staatlichen Sender, die staatlichen Medien um eine Senkung der Wahlbeteiligung bemühen.
Die Regierung will die Wahlbeteiligung möglichst niedrig halten, das ist nämlich gerade für ihre Partei sehr günstig, wenn man so sagen will.
Na, und weiter werden wir schon sehen. Wozu jetzt herumrаten?
Wir sehen aber, wie die Zentrale Wahlkommission(ZIK) unter ihrer neuen Leiterin Ella Pamfilowa agiert: In einer der Regionen hat sie sich für Jablokoeingesetzt. Macht das ein bisschen Hoffnung?
Das ist nur ein Zeichen dafür, dass die Regierung aus den Ereignissen vom Herbst/Winter 2011 ein paar Lehren gezogen hat. Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt. Wenn man bedenkt, dass die Leute im Sommer entweder auf der Datscha sind oder irgendwo im Urlaub, weit weg von Moskau, dann bleiben vom ganzen Wahlkampf im September keine vier Wochen. Wenn ich mich richtig erinnere, waren die Wahlen davor Anfang Dezember.
In diesem Sinne tut die Regierung alles dafür, dass sich die Leute bloß nicht aufregen. Deswegen Pamfilowa. Hauptsache, nicht Tschurow, nicht wahr?
Man tut alles dafür, um Proteste gegen das Wahlergebnis zu verhindern. Genau deswegen ist der Wahlkampf extrem eingeschränkt
Sie ist kein Tschurow, ohne Frage. Und Ella ist eine, die in der Politik nicht neu ist, und sie nimmt ihren eigenen Ruf ernst. Daher setzt sie natürlich alles daran, dass es möglichst wenig Skandale gibt.
Wie weit sie es dann schafft, mit den territorialen Wahlkommissionen (TIK) zurechtzukommen … Wir wissen ja, wie das läuft, nicht? Die Leute wählen, dann wird das alles in den TIK zusammengeführt, und dort fangen sie an, mit den Zahlen zu tricksen. Aber ich glaube, die ganz exotischen Dinge wird die Regierung zu vermeiden versuchen. Vor allem in den Großstädten, wo es die meisten Protestwähler gibt, wird die Regierung alles tun, um große Skandale zu verhindern.
Dass die sogenannte Liste Chodorkowskizugelassen wurde, 18 von 19 Personen, praktisch alle – war das auch, damit es möglichst ruhig bleibt?
Die Losung einer namhaften amerikanischen Revolution war „no taxation without representation“. Die Leute wollen wenigstens von irgendwem repräsentiert werden. Wohl wissend, dass in den Städten ein erheblicher Prozentsatz von Protestwählern lebt (Demokraten, Liberale), lässt die Regierung deswegen jene, die bis zu einem gewissen Grad die Ansichten dieser Leute vertreten, immerhin kandidieren. Ich glaube, genau deswegen wurden die registriert, die für Offenes Russlandantreten.
Bemerkenswert ist der Fall von Mascha Baronowa, die Unterschriften sammeln musste, bei denen eine Fehlerquote von nur 2,5 Prozent festgestellt wurde. Das ist wirklich wenig. Aber wir wissen ja noch, wie das bei den letzten Regionalwahlen in Kostromawar, als Ilja Jaschin aufgestellt wurde, nicht? Die Aufgabenstellung war ja klar. Es ging ganz einfach darum, zu zeigen: Bitteschön, sie sind angetreten, und geschafft haben sie mickrige zwei Prozent.
Ist die Aufgabe jetzt eine andere?
Ich glaube, es ist ungefähr dieselbe. Vergessen Sie außerdem nicht, dass in Zentralrussland, in Moskau, eben ein Kandidat von PARNAS, der Historiker Andrej Subow, gegen Maria Baronowa antritt, die für Michail Chodorkowskikandidiert.
Die Demokraten haben immer noch eine komplett feudale Vorstellung von Politik
Wir haben sie übrigens bei uns in der Redaktion, bei den Debatten, schon gefragt, ob sie sich nicht zusammentun wollen. Und ich war absolut verblüfft, dass, obwohl es auch so schon keine Plattform zum Ankurbeln einer Kampagne und dergleichen gibt, einer der Kandidaten (ich sage nicht, wer) abgelehnt hat: „Nein, sicher nicht“.
Ja, was soll denn das?! Das zeigt doch, dass die Demokraten immer noch komplett feudale Vorstellungen von Politik haben.
Genau, merkwürdigerweise lernt die Regierung dazu, denkt sich irgendwelche neuen Tricks aus. Während das demokratische Lager immer dasselbe macht, immer wieder dasselbe. So wie immer alle gestritten haben, so streiten sie auch weiterhin, unverändert.
Nun, wahrscheinlich ist das eine Frage der politischen Kultur. Wahrscheinlich hängt das auch noch mit dieser starken Zerrissenheit der demokratischen Kräfte zusammen. Mit dem gegenseitigen Misstrauen. Wobei, sehen Sie mal, Dimitri Gudkow führt genau dieselbe Kampagne wie 2013 Alexej Nawalny. Er versucht, Leute zu treffen und mit ihnen zu reden.
Ich nehme an, Dimitri hat von ihm gelernt und weiß, dass man auf jeden Fall, worum auch immer es geht, vor allem das Vertrauen der Wähler gewinnen muss. Das versucht er zu tun. Schauen wir mal, wie sich die übrigen Kandidaten des demokratischen Lagers verhalten werden.
Also, „no taxation without representation“, das ist ganz wichtig. Dieses Problem mit der Vertretung gab es ja schon in den Staatsdumas der Zarenzeit. Und einer der Gründe, warum die Revolution von 1917stattfand, hing genau damit zusammen, dass die Staatsdumaals Repräsentationsform die größte Klasse des Landes, die Bauern, und die zweitgrößte, die Arbeiterklasse, sehr schlecht vertrat.
Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist
Das ist wichtig! Mir scheint, die Staatsmacht hat 2011 kapiert, dass sie das Feuer nicht entfachen darf. Obwohl bei uns im Land die Protestaktivität so niedrig ist. Das liegt daran, dass bei uns in der Sowjetzeit die Politik hyperinstitutionalisiert war: Alles floss in einer gelenkten Bahn, die KPdSU hieß. KPdSU – das war eine Staatsform, aber es war auch eine Bahn, innerhalb derer verschiedene Interessengruppen erlaubt waren. Und außerhalb dieser Bahn gab es nichts. Deswegen hatten die Dissidenten eigentlich keinerlei Einfluss im Land.
Nun, damit antworten Sie schon auf die Frage unseres Hörers Ilja, der wissen möchte: „Was meinen Sie, falls die Opposition den Einzug in die Duma schafft, kann sie dann etwas ausrichten? Und warum sind Straßendemos als Form der Meinungsäußerung endgültig in Vergessenheit geraten?“
Also erstens, ja, kann sie. Ich erinnere Sie nochmal daran, dass zum Beispiel Dimitri Gudkow der einzige Abgeordnete der Duma war, der immer wieder gegen diese Neandertaler-Gesetze protestierte, die von der Duma beschlossen wurden. Er war allein. Gudkow hat uns gezeigt, was einer allein alles erreichen kann. Insofern hat das tatsächlich Gewicht. Denken Sie nur an den berühmten Italienischen Streik, den die zwei Gudkowsund Ilja Ponomarjow angеzettelt hatten.
Den Menschen ist klar: auf die Straße heißt ins Gefängnis
Die Erfahrungdes Widerstands ist eine sehr wichtige Erfahrung. Und gerade in unserem Land, das viele Jahrhunderte hindurch unter strengen Regimen lebte (egal, ob im absolutistischen Zarenreich oder unter dem totalitären Sowjetregime), ist es sehr wichtig, sich dieses Erlebnis des Widerstands zu erarbeiten, bis der Widerstand zur Institution wird, zu einer Lebensregel, nicht? Bis es absolut normal wird, sich unredlichen Gesetzen, unredlicher Macht, unredlichen Entscheidungen und dergleichen zu widersetzen.
Was die Straßendemos betrifft, sehen wir doch der Realität ins Auge. Die Regierung hat seit den Ereignissen vom Mai 2012wirklich alles daran gesetzt, dass den Menschen klar ist: Auf die Straße heißt ins Gefängnis. Deswegen wurde ja auch Dadin inhaftiert, für seine Ein-Mann-Demos. Zweifellos ist die repressive Komponente des Regimes äußerst bedenklich angewachsen. Die Regierung verfügt über die repressivste Einrichtung der Sowjetunion, den KGB. Ältere Leute wie ich, wir wissen einfach ganz genau, was das ist. Und der Nachwuchs hat während der Bolotnaja-Prozesse eine gründliche Lektion erteilt bekommen.
Man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen
Soll man wählen gehen?
Wissen Sie, meine Meinung ist, man soll nicht nach den Regeln der Regierung spielen. Man soll nach den eigenen Regeln spielen. Deswegen finde ich, man soll seine Steuern zahlen. Und man soll wählen gehen.
In unserem Fall, auch wenn die Parteien oder Kandidaten, die Ihre Interessen vertreten, nicht auf dem Stimmzettel stehen, sollte die Regel in Kraft treten „Für jede beliebige Partei außer …“. Dieses Motto, das von Alexej Nawalny stammt, und das Verfahren, das 2011 erfunden wurde, das hat recht gut funktioniert. Allerdings finde ich, also zumindest in Zentralrussland gibt es gewisse Auswahlmöglichkeiten, nicht? Und vor allem muss einem klar sein, dass sich die Regierung, dass sich Einiges Russland, eine niedrige Wahlbeteiligung wünscht. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen.
Die Regierung wünscht sich eine niedrige Wahlbeteiligung. Weil dann nur die Omas und Opas kommen, die die Kommunisten und Einiges Russland ankreuzen
Wissen Sie, die Hauptsache ist … Also, die Griechen haben ja nicht zufällig jene, die außerhalb der Gesellschaft standen, idiotos genannt, nicht wahr? Idioten. Um aber von der Regierung etwas fordern zu können, muss man leider trotz allem mit ihr in Verhandlungen treten, sonst bleibt einem nur der Revolver. Wahlen sind so etwas wie Verhandlungen, sind gewaltfreie Gespräche mit dieser Regierung, die bei mir keinerlei positive Emotionen hervorruft. Und deswegen glaube ich, ja, man soll wählen gehen.
Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats.
Danke.
Diese Übersetzung wurde gefördert von der Robert Bosch Stiftung.
Die Besondere Meinung (Ossoboje Mnenije) ist ein festes Format auf dem Radiosender Echo Moskwy. Zweimal täglich äußern hier Medienschaffende, Politiker und Experten ihre Meinung zu aktuellen Ereignissen. Yevgenia Albats, Chefredakteurin des unabhängigen Nachrichtenmagazins The New Times, ist regelmäßig in der Sendung zu Gast. Geleitet wird Besondere Meinung von wechselnden Moderatoren, unter anderem von Tatjana Felgengauer. Die bekannte Radiomoderatorin ist stellvertretende Chefredakteurin des Senders.
Besondere Meinung ist interaktiv, Zuhörer bekommen Gelegenheit eigene Fragen zu schicken, im Internet wird ein Videostream live aus dem Studio übertragen. Außerdem gibt eine Art Stimmungsbarometer online Auskunft darüber, wie sehr die Zuhörer mit der eben geäußerten Meinung übereinstimmen oder nicht. Das Format bietet allerdings weniger tiefschürfende Analysen, sondern zumeist eine adhoc-Reaktion zu aktuellen Ereignissen.
Das betrifft auch Yevgenia Albats’ unten stehende Aussagen zu Poroschenko unmittelbar nach Veröffentlichung der Panama Papers. Dies geschah noch, ehe sich der Hromadske.tv-Redaktionsbeirat von den Anschuldigungen distanziert hatte und ehe es eine weitere Einordnung und Differenzierung der umstrittenen Vorwürfe gegen den ukrainischen Präsidenten gab1.
Bei Besondere Meinung werden nicht nur unabhängige Stimmen eingeladen, sondern auch regierungstreue. Echo Moskwy gilt als unabhängiger Sender mit langer Tradition (gegründet 1991), ist aber seit 2001 mehrheitlich im Besitz derGazprom-Medienholding, die sich ihrerseits mehrheitlich in Staatsbesitz befindet. Zwischen der Redaktion und Gazprom-Media gab es in den vergangenen Jahren mehrfach Konflikte, auch tauchten Hinweise auf, dass in Einzelfällen heikle Inhalte vor ihrer Veröffentlichung mit staatlichen Stellen abgestimmt wurden.2So lassen sich an dem Sender und seinen Formaten auch die Ambivalenzen der russischen Medienlandschaft ablesen, wo eine schnelle Einordnung in Schwarz oder Weiß nicht immer so einfach möglich ist. Auch das sollte man berücksichtigen, wenn man zuhört, wie sich bei Besondere Meinung zwei Grandes Dames des russischen Journalismus über tagesaktuelle Themen austauschen.
Tatjana Felgengauer:Wir setzen die Sendung Besondere Meinung fort, ich heiße Tatjana Felgengauer und ich begrüße im Studio die Chefredakteurin des Wochenmagazins The New Times, Yevgenia Albats. Guten Tag.
Yevgenia Albats: Hallo, Tatjana. Ich muss mich entschuldigen, der Boulevardring war gesperrt wegen einer Eskorte.
Ich stelle Ihnen dieselbe Frage wie vorhin den anderen, weil mich Ihre Meinung dazu interessiert: Weshalb braucht Wladimir Putin eine Nationalgarde?
Deshalb, weil Wladimir Putin am allermeisten auf der Welt sein Umfeld fürchtet. Er braucht Leute, die ihn garantiert beschützen.
Solotow, General Solotow, glaube ich, ist einer von denen, die Putin absolut treu ergeben sind und ihn bis zum Letzten verteidigen würden. Bei Weitem nicht alle in Putins Umfeld würden das tun.
Die größten Terroristen sind für unsere Regierung die Bürger
Eine mögliche Aufgabe ist außerdem der Kampf gegen den Terror (wie Putin gesagt hat), aber da haben natürlich alle Experten gesagt, dass es „außerdem ja auch Massenausschreitungen und Ähnliches“ gebe.
Natürlich – die größten Terroristen sind für unsere Regierung die Staatsbürger der Russischen Föderation. Tanja, ich habe gehört, was Golts dazu gesagt hat, den ich sehr liebe und schätze. Aber trotzdem, mir scheint, dass die derzeit wichtigste Frage die nach dem Schutz Putins ist. Wenn man die Rhetorik hier in der vergangenen Zeit betrachtet, so ist sie komplett, wie soll ich sagen, putinozentrisch: Alles, was in der Welt passiert – alles ist gegen Putin Wladimir Wladimirowitsch gerichtet.
Putinophobie – sie ist die Hauptsache im derzeitigen Weltgeschehen. Die Welt hat überhaupt nichts anderes im Sinn als die psychische und sonstige Gesundheit von Putin Wladimir Wladimirowitsch, sein Vermögen, sein Geld, seine Freunde und so weiter.
Wenn man die Rhetorik der vergangenen Zeit betrachtet, so ist sie komplett putinozentrisch
In Wirklichkeit hat die Welt aber sehr viel anderes zu tun. Und Putin Wladimir Wladimirowitsch steht irgendwo auf Platz 125. Na, vielleicht 127 oder 115.
Sowas kennt man ja. Diktatoren geraten immer wieder in ein Informationsvakuum, das sie selber erschaffen und dem sie selber zum Opfer fallen.
Daher ist die Vorstellung von der Welt da draußen, grob gesagt, beschränkt auf das, was Rossija 24 oder Rossija 1 senden, oder MIA Nowosti und dergleichen, und auf die roten Akten, in denen es ebenfalls um Gefahren für Wladimir Wladimirowitsch Putin geht.
Ganz generell zu den Reaktionen auf die Panama Papers, auf diese gigantischen Ermittlungen: Die Reaktionen anderer Länder und Russlands – inwieweit waren die für Sie vorhersehbar?
Also, absolut klar war, dass man darauf in allen Ländern ablehnend reagieren würde. Weil die Regierungen aller Länder gern etwas verbergen, und Leute mit Geld verbergen gern ihr Geld.
Am meisten interessiert mich natürlich, was hier in Russland passieren wird. Es hat nun endlich geheißen, dass die Generalstaatsanwaltschaft das prüfen wird. Außerdem haben wir gehört, dass Dimitri Peskow keine Anklage erhebt, weil er keine Zeit hat.
Und natürlich bin ich sehr neugierig auf die Reaktionen in der Ukraine. Bei den Offshore-Geschäften dort geht es ja nicht um große Summen, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Poroschenko mit dem Versprechen an die Macht kam, dass er alles absolut transparent machen wird. Und jetzt kommt raus, er hat eine Offshore-Firma, auf die, soweit ich das verstehe, sein Konditorei-Business übertragen wurde oder übertragen werden sollte. Das ist alles jenseits von Gut und Böse. Poroschenko wurde von Menschen zum Präsidenten gewählt, die bereit waren, für die Freiheit ihr Leben zu opfern. Und manche haben es auch geopfert. Da ist das natürlich völlig unmöglich.
Lassen Sie uns nochmal auf Russland zurückkommen und auf die Russen, die von den Ermittlungen betroffen sind. Wer interessiert Sie da am meisten?
Vor allem interessiert mich natürlich dieses ganze Offshore-Netz, das, wie sich herausstellte, dem Cellisten Sergej Roldugin gehörte. Einfach weil das unheimlich viel Geld ist.
Wie viel weiß Putin wohl von der unglaublich erfolgreichen Geschäftstätigkeit Roldugins, von dem er wahrscheinlich bisher annahm, dass er nur Cello spielt?
Da tauchen enorm viele Fragen auf. Soweit ich weiß, wurden diese Offshore-Firmen auf den Virgin Islands und in Panama im Sommer 2015 geschlossen, wurden dann aber auf Offshore-Firmen in Belize übertragen. Ich möchte daran erinnern, dass zu dieser Zeit, genau im Jahr 2015, ein Gesetz erlassen wurde, für das Wladimir Putin selbst lobbyierte: Unternehmen und russische Staatsbürger, die Offshore-Firmen betreiben, waren nun verpflichtet, die Steuerbehörden darüber in Kenntnis zu setzen.
Also möchte ich schon sehr gerne wissen, ob Herr Roldugin oder seine Gehilfen die Steuerbehörden wohl in Kenntnis gesetzt haben oder nicht? Und wie viel Ahnung Putin Wladimir Wladimirowitsch davon hat, was für eine unglaublich erfolgreiche Geschäftstätigkeit dieser Mensch ausgeübt hat, von dem er wahrscheinlich annahm, dass er nur Cello spielt.
Unsere Hörer kommen jetzt wieder auf das Thema der vergangenen Stunden zurück, auf die Nationalgarde. Erstens kam mehrmals die Frage: Der Wunsch, die persönliche Sicherheit zu verstärken, womit hat der zu tun? Und steht er in einem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation im Land?
Ich glaube, wichtig ist hier vor allem zu verstehen, dass Putin – abgesehen davon, dass er ein Mensch aus Fleisch und Blut ist – vor allem eine Funktion ausfüllt.
Seine Funktion besteht für Unternehmen, für seine nächste Umgebung und so weiter darin, dass er im Land für eine Stabilität gesorgt hat, die es möglich macht, normale Business-Pläne zu erstellen und Einnahmen und Ausgaben zu kalkulieren. Dass er den Zugang zum westlichen Markt geöffnet und die Möglichkeit geschaffen hat, dass man ein Unternehmen in Russland führen und gleichzeitig in den leckeren Ländern Europas leben kann.
Und auf einmal ist das alles vorbei. Und das billige Geld ist auch alle.
Plus die Sanktionen. Da wollten sie die Eurobonds platzieren – daraus wurde nichts. Plus die Nullinvestitionen. Die Geschäfte stagnieren.
Putin hat uns mit seinen unüberlegten Aktionen unserer Zukunft beraubt. Es gibt sie nicht! Aus, vorbei!
Das Wichtigste – darüber schreibe ich gerade jetzt in der aktuellen Ausgabe von The New Times – ist, dass unser Horizont praktisch nur bis zum Jahr 2018 reicht. Wir wissen nicht, wie es dann weitergeht. Das ist furchtbar. So können die Menschen nicht leben, man kann weder ein Familienbudget planen noch ein Firmenbudget. Überhaupt nichts kann man planen, weil der Horizont so begrenzt ist. Putin hat uns mit seinen unüberlegten Aktionen unserer Zukunft beraubt. Es gibt sie nicht! Aus, vorbei!
Das Problem betrifft nicht nur Sie und mich. Wir wissen, dass das Bruttosozialprodukt mindestens noch weitere drei Jahre fallen wird, allen Prognosen zufolge. Und das heißt, wir wissen genau, dass wir Jahr für Jahr ärmer werden, immer ärmer und ärmer, und unser Leben ziemlich schwierig werden wird.
Die Bedrohung für Putin geht von seinem engsten Umfeld aus. Dem engsten! Das sind nicht die Liberalen und die Demokraten.
Aber nicht nur wir wissen nicht, wie es weitergeht, das wissen auch die engsten Vertrauten Putins nicht. Sie haben sich nicht darüber beraten. Sie haben, als sie Putin an die Macht brachten und dann selber aufgestiegen sind, in ihn investiert und Unterschriften geleistet und so weiter. Und überwiesen haben sie diese ganzen … Was war das? Die Kerimow-Strukturen, vier Milliarden Rubel, und dann wurde das Recht, vier Milliarden zu fordern, für einen Dollar an Roldugins Vertraute verscherbelt, ja? Also die, die dafür zahlten und so weiter, die verstehen ja auch nicht: wofür eigentlich?
Früher war klar: Er wurde reicher und sie wurden reicher. Aber jetzt werden alle ärmer. Daher geht die Bedrohung für Putin natürlich von seinem engsten Umfeld aus. Dem engsten! Das sind nicht die Liberalen und die Demokraten. Nein, das sind die im nächsten Umfeld, die plötzlich kapiert haben, dass auch sie nach 2018 keine Zukunft haben. Das ist ein großes Problem.
Kurz zur Situation in Nagorny Karabach, weil auch dort viel passiert – es gibt noch keinen richtigen Krieg, aber die Situation spitzt sich zu. Was denken Sie, wird man den Konflikt wieder auf Eis legen können? Unser Hörer Dimitri fragt, von wem oder was jetzt eine Beruhigung in Nagorny Karabach abhängt.
Die hängt weitgehend von Russland ab, weil Armenien eigentlich eine große Militärbasis für Russland darstellt. Dort befinden sich, glaube ich, drei russische Stützpunkte. Und Armenien ist komplett von der Russischen Föderation abhängig, sowohl was die Grenzüberwachung betrifft als auch die Finanzen. Im Grunde ist das ein absolut abhängiges Protektorat Russlands. Deswegen können Russland und Putin, oder wer auch immer, die Führung Armeniens durchaus zur Vernunft bringen. Sie können dementsprechend auch auf ihre Leute in Nagorny Karabach einwirken.
Andererseits, Aserbaidschan … Die Nachricht, dass auf Seiten Aserbaidschans türkische Söldner kämpfen, gefiel mir gar nicht. Sie gefiel mir deswegen ganz und gar nicht, weil wir wissen, dass Putin natürlich gegenüber Erdogan auf Rache sinnt. Wenn nur diese Situation nicht genau dafür genutzt wird, den Türken irgendwie einen Schlag zu versetzen. Doch ich denke auf jeden Fall, dass der Schlüssel zu Karabach, zur Lösung des dortigen Konflikts, in Moskau liegt.
Man müsste Michail Gorbatschow fragen. Würde mich sehr interessieren, was er zu Nagorny Karabach sagt
Außerdem, Tanja, es ist ein Wahnsinn, diese Nachrichten versetzen mich ständig zurück in meine Jugend. Wie ich für die Zeitung Moskowskije nowosti arbeitete und wir über Stepanakert schrieben, und Primakow nach Baku fuhr, und alle diskutierten die Lage in Nagorny Karabach und studierten die Karten und versuchten zu verstehen, was denn dort los ist. Ich hoffe inständig, dass der Albtraum, der damals in Aserbaidschan stattfand, sich nicht wiederholt für die Minderheiten, die in Aserbaidschan lebten und leben.
Nein, nein, ich will da auf keinen Fall etwas zusammenreimen, aber es ist schon verblüffend, wie … Das erinnert mich sehr an 1989/90.
Man müsste Michail Gorbatschow fragen. Der hört wahrscheinlich unsere Sendung. Würde mich sehr interessieren, was er dazu sagt.
Vielen Dank. Das war die Besondere Meinung von Yevgenia Albats. Danke.