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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der letzte Nexikaner

    Der letzte Nexikaner

    Wenn es um Rohstoffe in Russland geht, kommt die Rede meist auf Öl und Gas. Dabei hat sich auch Gold zu einem Milliardengeschäft entwickelt. Weite Regionen wie Sibirien und der Hohe Norden liefern Tonnen über Tonnen des Edelmetalls. Das Land gehört weltweit zu den Spitzenproduzenten und ganze Siedlungen mit Arbeitern sind mancherorts um Goldminen herum entstanden. Im kleinen Nexikan in der Kolyma-Region war das anders herum: Das Dorf fiel dem Goldabbau zum Opfer. Ein einziger Einwohner ist geblieben. Das Medienprojekt dv.land hat sich gefragt, was den Mann dort noch hält und bietet Einblick in einen eigenwilligen Alltag in der Abgeschiedenheit der russischen Provinz.

    Nach Gold durchpflügte Landschaft rund um Nexikan / Fotos © Filippo Valoti-Alebardi
    Nach Gold durchpflügte Landschaft rund um Nexikan / Fotos © Filippo Valoti-Alebardi

    Wladimir Kuklin ist 65 Jahre alt. Jedes Jahr besteigt er am Tag des Geologen einen vierhundert Meter hohen Berg, um auf der Kuppe eine rote Fahne zu hissen. Früher brauchte er eine Stunde für den Aufstieg, aber nun ist er in die Jahre gekommen. Der Weg zum Gipfel dauert zwei Stunden, wenn nicht gar länger. Einst pflegten viele Einwohner der Siedlung Nexikan diese Tradition und alle drei Gipfel der umliegenden Gebirgskette waren mit roten Fahnen geschmückt. In den letzten Jahren flattert hier nur noch Wladimir Kuklins Fahne.   

    Nexikan liegt knapp 25 Kilometer von Sussuman entfernt, dem Kreisverwaltungszentrum. Nimmt man von dort die Kolyma-Trasse Richtung Jakutien, so kommt man an einigen verlassenen Dörfern und laufenden Förderanlagen vorbei zu einer Landmarke: eine schwarze Granitplatte, die an einem grob behauenen Stein angebracht ist. Auf der Platte steht die Inschrift: An diesem Ort befand sich 1938 bis 1998 die Siedlung städtischen Typs Nexikan.   

    Auf Höhe dieses Gedenksteins führt eine schmale Straße von der Trasse weg. Folgt man ihr, gelangt man wenige Minuten später zu einem alten eingeschossigen Haus, zu dem Stromleitungen führen. Bereits seit 17 Jahren arbeitet Wladimir Kuklin als Hüter des kleinen Umspannwerks, das die umliegenden Goldgräbergenossenschaften mit Strom versorgt. An seiner Haustür steht mit Kreide geschrieben: „Demolieren verboten“.

    Kuklin ist ein heiterer, gutherziger, stämmiger Mann mit grau meliertem Haar. Sofort bittet er mich zu sich herein, um nicht zu lange an der Türschwelle stehen zu bleiben, wo doch draußen minus 35 Grad sind. Seine Wohnstatt im Umspannwerk entpuppt sich als durchaus gemütlicher kleiner Raum. Ein Zimmer ist als Arbeitszimmer mit Schreibtisch und Funkgerät eingerichtet, der Rest ist Wohnraum, zugerümpelt mit einer Unmenge Kleinkram.

    Am Gedenkstein führt eine schmale Straße nach Nexikan
    Am Gedenkstein führt eine schmale Straße nach Nexikan

    „Etwa 80 Meter von diesem Umspannwerk entfernt stand mein Haus, aber von dem ist nichts übrig, alles wurde abgetragen, umgegraben, ausgewaschen. Unter uns liegt ja gutes Gold. Um es zu gewinnen, muss die freigelegte Erde von oben abgetragen und abgeschlämmt werden. Dann wird diese unnütze Erde in eine andere Grube geworfen. So hat man hier alles Stück für Stück beackert, und es ist diese Mondlandschaft entstanden“, sagt Wladimir und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: „Schade drum, aber unser Land braucht ja das Gold“.

    Glaubt man den Worten Kuklins, so hatte die Siedlung Nexikan in ihrer besten Zeit an die zwei- bis dreitausend Einwohner und eine gute Infrastruktur: Läden, einen Kindergarten, eine Schule für Kinder aus nah und fern. „Die meisten Häuser waren aus Holz und zweigeschossig. Ein einziges Steinhaus mit vier Stockwerken gab es, aber von denen sind kaum drei übrig, die Steine wurden für Garagen und Anbauten verwendet. Auch die Banja war in einem Steinhaus, und ein neues Schulgebäude sollte errichtet werden, ist aber nicht mehr fertig geworden. Da kamen all diese Störungen dazwischen“, erzählt Wladimir.

    Etwa 80 Meter entfernt stand mein Haus, aber von dem ist nichts übrig, alles wurde abgetragen, umgegraben, ausgewaschen

    Als Störungen bezeichnet der Elektriker die Zeit der Perestroika, als er aus der Mine Bolschewik entlassen wurde, und auch die 1990er, als sein Erspartes völlig an Wert verlor und entschieden wurde, die Siedlung aufgrund fehlender Perspektiven aufzulösen, in der er gelebt hatte, seit er fünf Jahre alt gewesen war.

    „Im Frühling 1998 wurde das Heizwerk geschlossen, und im Laufe des Sommers wurden dann die meisten Einwohner in nahegelegene Ortschaften umgesiedelt. Als die Hälfte der Bevölkerung weg war, trommelte man die Übriggebliebenen zusammen. Wir mussten in andere Häuser ziehen, damit in einem Gebäude mit 20 Wohnungen nicht bloß fünf Leute wohnten. Nach und nach wurden den Verbliebenen Wohnungen angeboten, sie zogen aus, ihre Häuser wurden niedergebrannt oder abgerissen, damit an deren Stelle Аbbauflächen entstehen konnten. Sofort wenn ein Straßenzug leerstand, fing das große Graben und Buddeln an“, erinnert sich der Einsiedler.

    Ein Teil der Einwohner blieb zunächst in Nexikan, obwohl es keine Infrastruktur mehr gab und das Städtchen sich allmählich in eine einzige Abbaufläche verwandelte. Allerdings kamen sie nur den Sommer über, um zu „wildern“, wie Kuklin es nennt, sprich, um dort Gold auszuschwämmen, wo die Genossenschaften gerade nicht am Werk waren. Darauf angesprochen, ob Kuklin sich nicht auch selbst als freier Goldwäscher versucht hätte, erwidert er, für Gold nie besonders viel übrig gehabt zu haben. Als Kind sei er aber schon zusammen mit den anderen seine drei bis fünf Gramm waschen gegangen, um sich dafür Bonbons und Schokolade zu kaufen. In dem Goldgräberstädtchen konnte jeder Schüler mit Kratzer und Waschrinne umgehen und wusste, wo das Edelmetall zu finden ist.

    Der letzte Einwohner von Nexikan – Wladimir Kuklin
    Der letzte Einwohner von Nexikan – Wladimir Kuklin

    Vielleicht ist das auch die Erklärung für die friedliche Koexistenz zwischen Kuklin und den Genossenschaften – jenen Goldgräbern, die für die planmäßige Auslöschung seines Heimatortes verantwortlich sind. Kuklin hat sich nie mit ihnen angelegt, im Gegenteil: Sie kamen gut miteinander aus und unterstützen einander zuweilen. So teilen die Goldgräber mit dem Einsiedler ihr Wasser und nehmen ihn mit in die Stadt, damit er seine Einkäufe erledigen kann. Denn das hat sich im Alltag als die größte Schwierigkeit erwiesen: Strom gibt es, die Heizung im Dienstraum ist kostenlos, für den Betrieb verwendet er Regenwasser oder geschmolzenen Schnee; Lebensmittel aber kann er nicht so einfach besorgen, dafür braucht man ein Transportmittel – und das hat er nicht. Normalerweise helfen die Straßenarbeiter und Goldgräber mit ihren Mannschaftswagen aus. Die ersten Jahre war es schwer, früher gab es wenige Autos auf der Fernstraße von Kolyma, sie hielten nur ungern. Aber nach einer Weile „hat sich die Straße daran gewöhnt“, und fast alle Fahrer aus der Umgebung kennen Wladimir Kuklin mittlerweile. Sie nehmen ihn gerne bis zur nächsten Ortschaft mit und erkundigen sich, wann er sich denn wieder aufmachen würde, um seine rote Fahne auf dem Berg zu hissen.     

    Kuklins Leben der letzten 17 Jahre hat etwas von dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier: Seine dienstlichen Pflichten bestehen darin, die Strom- und Spannungsmesser abzulesen und die Werte über Funk durchzugeben – und das fünf Mal am Tag. Im Winter gestaltet sich sein Arbeitstag abwechslungsreicher: Da kommt das Schneeräumen dazu. „Das ist keine richtige körperliche Arbeit, sondern eine Art Bereitschaftsdienst am Schreibtisch, deswegen habe ich eine Menge Freizeit. Natürlich ist es etwas langweilig, aber ich habe mich daran gewöhnt.“

    Vor der Einsamkeit rettet er sich vor allem durch Filme. Fernsehsender kann er nicht empfangen, sie „kommen nicht durch“, wie er es nennt, aber in Sussuman und Magadan gibt es Menschen, die dem letzten Nexikaner Filme herunterladen und sie auf Festplatten und USB-Sticks kopieren.

    Manchmal ruft auch jemand an. Unweit ist die Ortschaft Cholodny, das Netz vom Mobilfunkturm reicht bis zum Umspannwerk. Ab und an telefoniert Wladimir mit Verwandten, Schwestern oder Neffen, Freunden oder Bekannten von früher. Eine eigene Familie hat Wladimir nicht. Er selbst meint dazu: „Ich habe es mit dieser ausprobiert, und mit jener. Aber wer will schon hier leben?“

    Es stellt sich heraus, dass der letzte Bewohner Nexikans einst Frau und Sohn hatte. Doch als Wladimir aus der Armee zurückkam, reichte seine Frau die Scheidung ein und zog mit dem Sohn in die Gegend von Rjasan. Zu dem Sohn hat er keinen Kontakt. Dieser hat eine eigene Familie und Kinder, die ihren Opa nie gesehen haben.

    „Ich habe sie einige Male besucht, als mein Sohn noch zur Schule ging. Wir haben einander Briefe geschrieben und irgendwann bekam ich ein Telegramm, in dem stand: ‚Papa, komm, ich heirate‘. Aber das ging nicht, damals war Inflation und ich wäre mit dem Geld nicht weiter als bis Magadan gekommen. Dann kam die Geburt seiner Tochter, auch da wollte er, dass ich komme. Aber es ging wieder nicht. Sechs Monate lang stand ich damals schon ohne Lohn da, hatte nie genug Geld. Danach haben wir irgendwann auch aufgehört, uns zu schreiben“, erklärt der Einsiedler.

    Ich bin 65. Ich könnte natürlich aufs Geratewohl irgendwohin ziehen, in irgendein Lipezk oder Woronesh. Aber wer wartet da schon auf mich?

    Sein Tonfall ändert sich nicht, nur das Gutmütige weicht ein wenig aus seinem Gesicht. Mit denselben Regungen hatte er mir zuvor schon erzählt, wie schwer es war, mit ansehen zu müssen, wie die Häuser dem Erdboden gleichgemacht wurden, etwa die Schule, die er besucht hatte, oder der Laden, in dem er als Kind das Geld ausgab, das er fürs Goldwaschen bekommen hatte.

    Ich will wissen, ob er etwas bereut, was für Gedanken sich ihm sicherlich aufdrängen, ob er sich nach einem anderen Leben sehnt, entweder hier im Hohen Norden oder weiter landeinwärts. „Der Mensch ist so: Die ganze Zeit macht er sich irgendwelche Gedanken. Selbst wenn man ein Buch liest, gehen einem ständig irgendwelche Gedanken durch den Kopf: Ob es richtig war zu bleiben oder falsch, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich diesen Job aufgegeben und einen anderen gefunden hätte. Man versucht, es zu drehen und zu wenden, überlegt hin und her. Aber ich bereue nichts. Ich habe nicht das Gefühl, ich hätte alles hinschmeißen sollen. Ich bin hier aufgewachsen, war hier an der Schule, habe hier geheiratet, mein Sohn ist hier geboren, und meine Eltern liegen hier begraben. Ich habe hier Wurzeln geschlagen“, antwortet er, fügt jedoch nach einiger Zeit hinzu: „Manchmal werde ich gefragt, warum ich nicht weggehe. Aber wozu bitteschön? Ich bin 65. Ich könnte natürlich aufs Geratewohl irgendwohin ziehen, in irgendein Lipezk oder Woronesh. Aber wer wartet da schon auf mich?“

    Nexikan liegt etwa 650 Kilometer nördlich von Magadan
    Nexikan liegt etwa 650 Kilometer nördlich von Magadan

    In den 17 Jahren im Umspannwerk inmitten dieser Mondlandschaft, wo einst das Leben pulsierte, hat sich der nexikanische Einsiedler in seiner kleinen Welt eingerichtet. Nicht weit von hier, in den nach wie vor belebten Ortschaften sind ihm Bekannte und Verwandte geblieben. Zum Totengedenktag kommen die zehn, zwanzig ehemaligen Nexikaner hier zusammen, die es nicht allzu weit in ihre alte Heimat haben. Die meisten schauen bei dem Einsiedler vorbei, um gemeinsam zum Friedhof zu fahren, die verstorbenen Angehörigen zu besuchen und zum Gedenken an die Toten dort ihre 100 Gramm zu trinken, wie es der Brauch ist.

    Zusammen mit Kuklin laufen sie auf der für die Goldgräber wertlosen Erde herum. Da wo einmal ihr Wohnort war, versuchen sie die Stellen zu finden, wo ihre Häuser standen, der Laden oder die Schule. Wladimir träumt davon, irgendwann genau zu wissen, wo sich was befand: „Ich hatte sogar den Gedanken, den Ort abzulaufen und überall Pflöcke mit Schildern aufzustellen. Wenn man herauskriegt, wo genau der Kindergarten war, kommt da ein Pflock mit Aufschrift hin. Wenn man die Stelle findet, wo die Schule stand, kommt da auch ein Pflock hin. Und wenn man weiß, dass hier eine Straße war, sagen wir mal die Offizerskaja, dann kommt da ebenfalls so ein Pflock hin, mit Schild.“ 

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  • Journalisten in der Provinzfalle

    Journalisten in der Provinzfalle

    Es war ziemlich aufsehenerregend für einen Sender aus der Provinz. Als der für seine ungewohnt kritische Berichterstattung bekannte Fernsehkanal TV2 in Tomsk vor zwei Jahren noch ums Überleben kämpfte, gab es Solidaritätsproteste mit vielen Hundert Teilnehmern. Aber es half nichts: Plötzlich verlor er seine Lizenz, lebt inzwischen nur noch im Internet fort.

    Der Fall TV2 warf damals ein seltenes Schlaglicht auf den Zustand der Medien jenseits der russischen Hauptstadt. Unter welchen Bedingungen arbeiten sie? Das Medienprojekt dv.land lässt vier Macher von Zeitung und Radio zu Wort kommen, die kaum weiter von Moskau entfernt sein könnten: aus der Armur-Region im Fernen Osten direkt an der chinesischen Grenze.

    Blagoweschtschensk – größte Stadt und Verwaltungssitz der Oblast Amur / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0
    Blagoweschtschensk – größte Stadt und Verwaltungssitz der Oblast Amur / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 4.0

    Jelena Pawlowa, Chefredakteurin der Zeitung Amurskaya Pravda:

    Eines der Hauptprobleme des Regionaljournalismus ist, dass es im Medienbereich an Gründern fehlt, die wirklich an einer Weiterentwicklung der Medien interessiert sind. Alle nutzen Fernsehsender oder Zeitungen vor allem zur Durchsetzung eigener politischer oder wirtschaftlicher Interessen, was zwar nachvollziehbar ist, sich aber unweigerlich auf die Qualität des Content auswirkt.

    Zweitens gibt es mindestens drei Formen der Zensur: durch die Gründer, aus Gefälligkeit Freunden gegenüber und Selbstzensur.

    Aus diesen ersten beiden Punkten folgen ein dritter und vierter: der Mangel an brisanten politischen und wirtschaftlichen Materialien, Themen und Sendungen, ebenso wie fehlende  Ambitionen bei den Chefredakteuren und folglich auch in den Redaktionsteams.

    Ignoriert werden dürfen auch nicht die niedrigen Einnahmen der Medien sowie die geringe Vergütung journalistischer Arbeit.

    Die Arbeit des Chefredakteurs einer Regionalzeitung ist ein ewiger Balanceakt zwischen den Interessen des Gründers, den Meinungen und der Loyalität der Journalisten und dem eigenen Gewissen. Er gelingt nicht immer. Aber in solchen Situationen versuche ich immer, dem Gründer meine Position und die der Redaktion klarzumachen. Und den Journalisten sage ich immer ganz ehrlich, wenn ich etwas nicht durchbringen konnte oder kann.

    Fairerweise muss gesagt werden: Es gibt nicht nur bei den Regierungsmedien Interessenskonflikte mit den Gründern

    Unter diesen Bedingungen haben die Regionalmedien nur eine einzige Aufgabe: die schwierige Krisenzeit zu überleben und dabei die Contentqualität sowie das professionelle Team und die Leserschaft zu halten.

    Sicher, wer bei regierungsnahen Zeitungen beschäftigt ist, weiß, dass über eine Reihe unerwünschter Themen nicht berichtet werden soll. Mit der Zeit bildet sich sogar eine Selbstzensur heraus. Doch wie die stellvertretende Chefredakteurin der Rossiskaja Gaseta, die legendäre Journalistin Jadwiga Bronislawowna Juferowa, völlig zu Recht sagt: „Bei einer Regierungszeitung zu arbeiten bedeutet nicht, ein Herz und eine Seele mit den Machthabern zu sein.“ Wir arbeiten, diskutieren, kommen dann überein oder auch nicht, aber wir bemühen uns immer, einander zuzuhören.

    Die Selbstzensur ist für mich überhaupt einer der größten Feinde des Journalismus, besonders im Regionalen. Aber wenn du professionell arbeitest, erledigen sich Fragen und Ängste. Ich versuche, hohen Beamten immer klarzumachen, dass Problemthemen aufgegriffen werden müssen – aber das muss professionell geschehen und beide Seiten dürfen nicht hysterisch werden.

    Fairerweise muss auch gesagt werden, dass es nicht nur bei den Regierungsmedien Interessenskonflikte mit den Gründern gibt.

    Ich beobachte regelmäßig, dass Kollegen aus privaten Zeitungen oder Agenturen einseitig über brisante Themen berichten, dass sie Nachrichten, die für den Gründer unbequem sind, rasch von der Website entfernen und negative Kommentare  löschen.


    Tatjana Udalowa, Dozentin für Journalismus an der Staatlichen Amur-Universität, Moderatorin der Radiosendung Echo Moskwy w Blagoweschtschenske:

    Das größte Problem der regionalen Medien ist die Verflechtung von Journalismus und Regierung. Journalisten und Medienmanager mischen sich oft in die Regierungskreise und arbeiten mit ihnen zusammen; das Gleiche gilt auch für Medien, die Teil der Regierung sind und zu irgendeiner Abteilung einer staatlichen oder kommunalen Behörde gehören. Also gliedern sich Medien oder Medienmanager ins System ein.

    An zweiter Stelle steht das Problem, dass den Machthabern und sehr oft auch den Journalisten selbst die Funktion des Journalismus nicht klar ist. Die Machthaber begreifen nicht, dass Journalisten nicht deswegen kritisieren müssen, weil sie am klügsten sind oder am besten wissen, wie man einen Staat, eine Stadt, einen Rajon oder eine Oblast regiert, wie man unterrichtet und heilt, sondern deswegen, weil das ihre Funktion, ihre Aufgabe ist. Weil die Gesellschaft ob dieser Kritik auf eigene Fehler und Versäumnisse der Regierung aufmerksam wird und etwas dagegen unternehmen möge.

    Der Fluss Amur – natürliche Grenze zu China / Foto © yourgeography.info
    Der Fluss Amur – natürliche Grenze zu China / Foto © yourgeography.info

    Nur verschweigt man bei uns Fehler lieber, als dass man sie behebt. Wo kein Kläger, da kein Problem. Auf höchster Ebene merkt niemand was, also behelligen die von oben einen auch nicht wegen irgendwelcher Probleme vor Ort.

    Es fehlt das Verständnis dafür, dass jemand regieren und jemand anderes von der Seite draufschauen muss, mit den Leuten spricht, sich erkundigt, wie es bei ihnen läuft, mit Experten redet, das alles zusammenführt und schließlich etwas Kritisches schreibt. Dann nimmt die Regierung es – zumindest der Theorie nach – zur Kenntnis und behebt den Fehler. Aber die Regierenden verstehen diese Prinzip einfach nicht. Sollte es dereinst mal funktionieren, wird alles wunderbar.

    Alle weiteren Probleme kann man auf diese beiden Punkte zurückführen: Die Journalisten hören auf, tief in notwendige Themen einzusteigen und qualitativ anspruchsvolle Analysen zu schreiben, weil die Themen nicht offen behandelt werden dürfen. Deswegen ist das allgemeine Medienniveau niedriger, als es sein könnte. Es gibt Journalisten, die gut analysieren können, aber sie können sich nicht immer erlauben das umzusetzen, entweder weil sie begonnen haben, sich der Regierung anzudienen oder weil sie einfach für die Medien arbeiten, in denen Umfang und Schnelligkeit für das Erscheinen des Materials wichtiger sind als das tiefe Eindringen in ein Thema.

    An vierter Stelle steht ein Problem des allgemeinen Niveaus, gar nicht mal so sehr der schreiberischen Fähigkeiten der Journalisten,  sondern eher des Horizonts. Es wäre wünschenswert, er wäre breiter – denn mit ihm steht und fällt natürlich auch das Schreiben. Meine Einschätzung der journalistischen Ausbildung hier in der Region ist vermutlich nicht ganz korrekt, aber es ist doch bedauerlich, dass sie so kärglich ist.

    Ich habe den Eindruck, dass das Hauptproblem der Amurer Medien ihre Abhängigkeit von den lokalen Eliten ist

    Es gibt keine Lehrgänge, keine Wettbewerbe, und wenn es welche gibt, stehen die Regierung oder große Firmen dahinter. Es gibt keine professionellen Analysen, keine gegenseitige Prüfung der journalistischen Arbeiten , etwa von Mitarbeitern landesweiter  Medien, wie früher, als es Wettbewerbe gab – beim Fernsehen zum Beispiel mit dem TEFI-Preis –, und die Schule Internews, die Journalisten aus den Regionen einlud.

    Bei  solchen Wettbewerben finden Workshops statt, man analysiert die Arbeiten mit Hilfe von Profis. Natürlich sind auch sie Journalisten, die manchmal Fehler machen, Dinge übersehen und so weiter, aber immerhin war es ein Blick von außen, von Leuten, die die vielen „Aber“ deiner Region nicht kennen, die nüchtern auf deine Arbeit blicken und sagen: Schau mal, das da ist nicht ganz gelungen, und bei jenem gibt es folgende Fehler, aber insgesamt hat deine Arbeit das und das Niveau. Bei uns gibt es nur den Lehrstuhl für Journalismus der Staatlichen Amur-Universität, andere Möglichkeiten – Weiterbildungen, begleitende Lehrgänge – fehlen.


    Marius Schimkus, Chefredakteur von ASN24:

    Wenn man an die ruhmreichen alten Zeiten denkt, ist es nicht weit bis zu dem Schluss, das Gras sei früher grüner gewesen. Meiner Einschätzung nach stehen dem Journalismus in der Oblast Amur in den letzten Jahren immer weniger Geld und immer weniger Freiräume zur Verfügung. Der Anzeigenverkauf wird immer schwieriger. Die Situation der Zeitungen ist überhaupt betrüblich. Sich technologisch weiterzuentwickeln, ist bei den lokalen elektronischen Medien einfach ausgeblieben – vielleicht hat man gerade mal angefangen, Push-Nachrichten zu versenden.

    Ich habe den Eindruck, das Hauptproblem der Amurer Medien ist ihre Abhängigkeit von den lokalen Eliten. Bei einem so strengen Zensurfilter ist es  Journalisten nicht möglich, ein objektives Bild der Welt an die Leser heranzutragen, sie können nicht über Probleme berichten, um die Rechtsschutzorgane oder entsprechende staatliche Stellen auf sie aufmerksam zu machen. Stattdessen gibt es in den lokalen Nachrichten massenhaft Berichte darüber, dass irgendein hohes Tier irgendwohin gereist ist, jemanden getroffen oder irgendwelche Anweisungen gegeben hat. So entsteht ein schönes Bild für Moskau.

    Das zweite Problem ist das geringe Prestige des Berufs. Nicht weil das verletzend wäre, sondern weil man den Journalisten durchaus begründet vorwirft, sie würden die Beamten bedienen, und sie verächtlich als Journalistenpack oder sogar Nuttenjournalisten bezeichnet.

    Das dritte Problem ist der Braindrain. Sobald sich die hoffnungsvollen Jungtalente die ersten Beulen geholt haben, kratzen sie sich am Kopf, packen ihren Koffer und gehen ins westliche Ausland. Oder wechseln den Beruf. Es bleiben diejenigen, die ein gemütliches Plätzchen zu schätzen wissen oder die in drei Jahren ohnehin in Rente gehen, oder vielleicht Heimatliebende der Gegend hier. Letztlich ändern sich die Medien über die Jahre  nicht, sie setzen auf die ewiggleichen Formate mit den ewiggleichen Protagonisten.

    Das vierte Problem ist, so scheint mir, dass die meisten Amurer Medien kaum neue Formate für die Informationsvermittlung einsetzen. Das hängt größtenteils mit den knappen Budgets zusammen – an Longreads oder Infografiken ist nicht zu denken, wenn nicht mal Geld für die Gehälter da ist. Aber zum Teil liegt es meiner Meinung nach auch daran, dass weder die Redaktionen noch die Leser wirklich an einer Entwicklung interessiert sind. Unsere Versuche beispielsweise, Partner für Native Advertising zu finden, scheiterten in den meisten Fällen an tiefem Unverständnis. Die Kunden sind nicht bereit, für solche Texte zu zahlen. Aber ein Interview „Iwan Iwanowitsch, was ist das Erfolgsgeheimnis Ihrer Betonblöcke?“, das läuft.

    Das fünfte Problem ist, dass ein Praktikum bei einem seriösen landesweiten Medium für junge Journalisten fast unerreichbar ist. Dafür braucht man direkte Kanäle zu Kollegen und Geld für teure Flugtickets. Das Problem mit den Kontakten wird mit dem Weiterbildungsprogramm der Volksfront für Russland zwar etwas entschärft, aber die finanzielle Seite bleibt eine fast unüberwindbare Hürde. In vielen Medien hängen Redaktionspolitik und tägliche Berichterstattung von Vereinbarungen zwischen dem Gründer, Regierungsvertretern und der Geschäftswelt ab. In der Praxis läuft das darauf hinaus, dass bestimmte Themen gezwungenermaßen übergangen werden und gewisse Personen nicht kritisiert werden dürfen. Das kann man schwerlich als Kompromiss  bezeichnen: Die Redaktionen verlieren Themen und das Vertrauen ihrer Leser, doch bekommen nichts dafür – vom Gehalt einmal abgesehen.

    Die Oblast Amur liegt im russischen Fernen Osten an der chinesischen Grenze
    Die Oblast Amur liegt im russischen Fernen Osten an der chinesischen Grenze

    Es ist kein Geheimnis: Das Massenpublikum reagiert am stärksten auf negative Nachrichten. Unfälle, Mord, Entführungen. Im Fall regionaler Medien kommt meiner Einschätzung nach noch hinzu, dass die Menschen Informationen ablehnen, die aus offiziellen, von Staatspfründen lebenden Medien stammen. Und dann greift eine einfache Regel: Wenn die Medien Informationen nicht liefern, dann suchen die Menschen in Sozialen Netzwerken, Chatdiensten und Foren danach. Die Gruppen Verkehrsstreifen-Kontrolle und Verkehrsstreifen-Aufsicht beispielsweise sind wohl deswegen entstanden, weil die Verkehrspolizei keine hilfreichen Informationen bereitstellte. Dieser, nennen wir sie, Protestwelle schließen sich dann auch oppositionelle Bewegungen an.

    Ehrlich gesagt bin ich ziemlich pessimistisch – jedenfalls wenn es um  Journalismus in der Oblast Amur geht. Man müsste eine kleine, aber stolze, unabhängige Redaktion von  zwei bis drei Leuten zusammenstellen und dann qualitativ ordentlichen Content machen, aber hier in der Region solche Mitarbeiter zu finden, ist fast unmöglich.


    Maxim Jermakow, Korrespondent, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung BAM, Vorstandsmitglied der Sektion Amur des russischen Journalistenverbands:

    Die Arbeit des Chefredakteurs eines regionalen Massenmediums geht damit einher, dass es bei heiklen Themen immer einen Kommentar braucht, in dem die Regierungsposition zu lesen ist. Außerdem gehört es auch zur Politik eines Staatsmediums, die Regierungstätigkeiten, ihre Entscheidungen, Programme und Projekte zu erläutern.

    Provinzialität kommt bei den Medien hier im Fernen Osten immer seltener vor. Die regionalen Medien (sowohl die gedruckten als auch die elektronischen) suchen stets neue Modelle und schicken ihre Mitarbeiter auf Seminare außerhalb der Region. Inzwischen werden auch neue Richtungen weiterentwickelt – Grafiken, Kolumnen, eine enge Verbindung zwischen der Zeitung und ihren Auftritten in den Sozialen Netzwerken.

    Die Stadt Tyndra ist Sitz der Wochenzeitung BAM / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0
    Die Stadt Tyndra ist Sitz der Wochenzeitung BAM / Foto © Wikipedia unter CC BY-SA 3.0

    Natürlich gibt es auch Probleme: Personalmangel, hohe Druckkosten, die schlechte Erreichbarkeit mancher Ortschaften und die große Distanz zwischen ihnen, was die Organisation eines eigenen Abo-Diensts und den Vertrieb erschwert, dann gibt es noch die Verspätungen der russischen Post und schlechte Internetverbindungen.

    Das Niveau der Journalistenausbildung ist ziemlich schlecht, weil es in der Abteilung für Journalismus der regionalen Hochschule an Dozenten mit erstklassigem Know-How mangelt. Ich will nicht ausschließen, dass man zum Erhalt der städtischen und regionalen Zeitungen irgendwann eine einzige Medienholding gründet.

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