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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Die weiße Emigration: Warum Ärzte Belarus verlassen

    Auch Ärzte, Pflegekräfte und anderes medizinisches Personal hatten sich 2020 massenhaft den Protesten in Belarus angeschlossen. Trotz des eklatanten Personalmangels im Land gingen die Machthaber danach massiv gegen Augenärzte, Chirurgen, Psychologen oder Krankenpfleger vor. Bis heute kommt es zu gezielten Repressionen und Strafverfahren gegen medizinisches Personal. Ärzte werden entlassen, kommen hinter Gitter, werden zu Extremisten oder Terroristen erklärt, viele der Fachkräfte haben Belarus verlassen. In der Oblast Witebsk ist die Anzahl der Ärzte innerhalb eines Jahres um 700 zurückgegangen

    Die Journalistin Jana Machowa berichtet, was im belarussischen Gesundheitswesen vor sich geht, wohin und wovor die dringend gebrauchten Fachkräfte fliehen und welche Folgen dies für Patienten und Kranke hat.

    Russisches Original

    Tausende medizinische Fachkräfte fehlen 

    2023 ist das Einsetzen von Gelenkprothesen in Belarus eine Operation, die für den Durchschnittsbürger fast utopisch ist. „Schön realistisch bleiben! Vom Orthopäden-Prozess haben Sie gehört?“ So beschreibt eine Patientin, die ein neues Kniegelenk braucht, die Reaktion von Ärzten auf ihre Anfrage. Im Frühjahr 2023 rollte eine Verhaftungswelle durch die Orthopädischen Abteilungen des Landes, dutzende erfahrene Fachärzte landeten hinter Gittern – so wie kurz davor Psychologen und Psychotherapeuten, die die Silowiki in der Hoffnung, an Informationen zu „problematischen“ Patienten zu kommen, ebenfalls zahlreich festnahmen. Das zu Jahresbeginn geänderte Gesetz Über psychotherapeutische Hilfeleistung erlaubt es nun den Geheimdiensten, ohne Angabe von Gründen die Bereitstellung von Informationen über Klienten zu verlangen. 

    Den Orthopäden werden offiziell Bestechlichkeit und illegale Absprachen vorgeworfen. Inoffiziell spricht man in Medizinerkreisen über eine mögliche Umgestaltung des Marktes sowie die Vermutung, alle diese „Prozesse“ könnten den Zweck haben, die Privatmedizin sowie Mediziner, die 2020 mitsamt ihrer ganzen Abteilung protestierten, dem Staat zu unterwerfen.

    Die Massenverhaftungen haben die Wartezeit für Gelenkimplantate, die ohnehin bereits Jahre betrug, noch zusätzlich verlängert. Sogar den Daten des Gesundheitsministeriums zufolge warten an die 14.000 Menschen auf ein künstliches Hüftgelenk. Die Empörungswelle ist bis zu Lukaschenko durchgedrungen, der ganz typisch reagierte: „Bis Jahresende macht ihr mir all diese Gelenke!“, forderte er vom Gesundheitsminister, ohne sich für Details zu interessieren. „Aber zackig! Einer steht, zwei nähen. Los, organisieren Sie das.“ Das Gebrüll in der Sitzung verkürzte die Wartezeit für Operationen natürlich nicht.

    Ein Ärztemangel aufgrund von niedrigen Gehältern und jenseitigen Anforderungen, was den Umfang der zu leistenden Arbeit betrifft, bestand in Belarus auch schon vor 2020. Mit dem Beginn der Massenrepressionen nach den Präsidentschaftswahlen verschärfte sich die Situation. Im Herbst 2022 meldete die polnische Gesundheitsministerin Katarzyna Sojka, dass im Laufe des letzten Jahres rund tausend belarussische Ärzte eingereist seien. 

    Die Belarusian Medical Solidarity Foundation ByMedSol führte eine Studie zur Zahl der medizinischen Fachkräfte in Belarus durch. Als Grundlage dienten offen zugängliche Quellen und offizielle Statistiken. Die Ergebnisse sind ernüchternd. „Wenn das Gesundheitsministerium Ende 2022 von 48.000 praktizierenden Medizinern spricht, dann ist das gelogen. In Wirklichkeit sind es mindestens 10.000 weniger“, erklärt der Gründer der Stiftung, Andrej Tkatschow, und fügt hinzu, dass seit 2020 die Lügen in den staatlichen Strukturen immer größere Dimensionen annehmen und man, statt Probleme zu lösen, lieber die Statistiken manipuliere. 

    Seinen Daten zufolge haben in den letzten drei Jahren tausend bis mehrere tausend medizinische Fachkräfte Belarus verlassen. Indirekt bestätigen das die Daten der landesweiten Jobbörse: Der Suchbegriff „Arzt“ bringt rund 6500 Stellenangebote, für Krankenschwestern gibt es über 4000 freie Arbeitsplätze. „Äußerst vorsichtig geschätzt sind auf jeden Fall mehr als 1000 Mediziner ausgewandert. Es können auch bis zu 5000 sein. Man kann sie nur indirekt zählen, weil viele medizinische Fachkräfte den Job gewechselt, aber keine Möglichkeit zur Emigration haben“, erklärt ein Vertreter von ByMedSol.

    Medizinisches Personal bei einer Protestkundgebung in Minsk im Jahr 2020 / Foto © Natalia Fedosenko/ITAR-TASS/imago-images 

    26 Mediziner sind als politische Häftlinge anerkannt

    Slawomir Gadomski, stellvertretender Gesundheitsminister, sieht den Ausweg aus der personellen Not in einem größeren Angebot an staatlich finanzierten Studienplätzen, als „Zuckerl“ verspricht er eine soziale Förderung in Form von Wohnungen. Lukaschenko hat den Ärztemangel kommentiert, indem er Polen, wohin seine wertvollen Fachkräfte verschwinden, mit der Faust drohte. Im November 2020 erklärte er: „Wir haben keine überschüssigen Ärzte. Wir brauchen sie selber, für unsere Leute. Zurückhalten werden wir aber keinen … Wer abhaut, braucht nicht mehr wiederzukommen.“ Wiederkommen, das haben die Ärzte allerdings ohnehin nicht vor. Die meisten, die seit 2020 abgewandert sind, sind vor Repressionen geflüchtet.

    Die Mediziner stachen während der Proteste sehr ins Auge. Sie demonstrierten mit Plakaten direkt vor den Krankenhäusern. Wie sonst niemand wussten sie über das Ausmaß der Gewalt Bescheid, immerhin waren sie es, die die Opfer medizinisch versorgen mussten.

    „Es war unmöglich zu schweigen. Jeden Tag [im August 2020 – dek] kamen Verprügelte und Verletzte herein. Blaugeschlagen, mit Platzwunden und Schussverletzungen. Ich arbeite schon lange im OP, habe schon vieles gesehen, aber sowas … Vor der Arbeit stellte sich unsere Belegschaft vor den Haupteingang der Klinik, manche hatten Plakate gemalt: Nein zur Gewalt. Was hätten wir denn sonst tun können?“, erzählt ein Chirurg aus einer Minsker Klinik, der anonym bleiben will. Manche Kollegen, fügt er hinzu, hätten nach kurzer Haft gekündigt und das Land verlassen, andere hätten den Beruf gewechselt, und manche säßen noch immer hinter Gittern. 

    Andrej Ljubezki, eine Koryphäe im Bereich Kinder-Kiefer- und Gesichts-Chirurgie, rief dazu auf, die Verfolgung und Misshandlung der Menschen einzustellen. Woraufhin er zu fünf Jahren Strafkolonie verurteilt und zum Terroristen erklärt wurde. „Jeder von uns hat einen oder auch mehrere Bekannte, Freunde oder Nachbarn, die festgenommen wurden, die erniedrigt und geprügelt wurden“, schrieb Ljubezki, der inzwischen als politischer Gefangener gilt, auf Facebook noch vor seiner Verhaftung.

    Wegen Kleidung in den „falschen“ weiß-rot-weißen Farben wurde eine 71-jährige Fachärztin für Onkologie und Mammalogie mit einer Geldstrafe von 3770 Rubel (damals rund 1100 Euro) belegt. Die 51-jährige Psychiaterin Natalja Nikitina wurde an ihrem Arbeitsplatz im Minsker Psychiatrie- und Psychotherapiezentrum für Kinder festgenommen. Ein paar Stunden zuvor hatte sie eine Mitteilung über ihre Entlassung erhalten. Wegen Kommentaren im Internet wurde die Ärztin zu einem Jahr und zehn Monaten Strafkolonie und einer Geldstrafe in Höhe von 6400 Rubel (damals rund 1900 Euro) verurteilt. Das sind nur einige Beispiele.

    Im Oktober 2023 betrug die Zahl der aus politischen Gründen inhaftierten Ärzte rund 26. Vertreter von ByMedSol gehen davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist. Aber Menschen, die einmal durch den Fleischwolf der Repressionen gedreht wurden, wollen oder trauen sich oft nicht, offen zu sprechen.

    Ich behandle meine belarussischen Klienten jetzt von Polen aus

    „Morgens um halb sieben kamen KGB-Bedienstete zu mir nach Hause, stemmten die Türen auf. Fünf Stunden Hausdurchsuchung, fünf Stunden Verhör. Ich wurde gegen Unterschrift entlassen, mit dem Zusatz: nicht für lange“, erzählt Jelena Gribanowa, Psychologin mit 20 Dienstjahren. 

    Nicht einmal nach diesem Vorfall wollte Jelena das Land verlassen, doch 2021 wurde ihr klar, dass man sie nicht in Ruhe lassen würde – und sie ergriff die Flucht: „Im Staatsfernsehen war ein Beitrag, in dem aufgrund meiner ehrenamtlichen Tätigkeit ein ‚psychologisches Zentrum der Protestbewegung‘ und eine ‚Koordinatorin des Litauer Puppenspielers‘ aus mir gemacht wurde. Und dann kam absoluter Nonsens von wegen, wir würden ‚von Europa finanziert‘.” 

    Die Psychologin lebt seit nunmehr zwei Jahren in Polen, hat belarussische und ukrainische Klienten, arbeitet als Psychologin und Supervisorin für eine Menschenrechtsorganisation in Charkiw. 

    Bevor sein Diplom in Polen anerkannt wurde, arbeitete ein ebenfalls lieber anonym bleibender Onkologe ein Jahr lang als Lieferant in Warschau. „Bis zur Anerkennung meines Abschlusses durfte ich arbeiten, was ich wollte, nur nicht als Arzt. Die medizinische Prüfung ist hier sehr schwer, beim letzten Mal haben von 800 Ärzten (großteils aus Belarus und der Ukraine) nur sechs sie geschafft. Daher kommt es oft vor, dass belarussische Ärzte bereits im Vorfeld, während sie noch in Belarus leben und arbeiten und ihre Migration planen, die Nostrifizierung in Polen beginnen. Die größte Herausforderung ist es, Wohnraum zu finden; ich hatte Glück, ich hatte schon zu Hause auf eine Wohnung gespart. Denn auch wenn das Diplom anerkannt wird, müssen alle im ersten Jahr ein Praktikum machen und verdienen nicht viel“, erzählte der Arzt.

    Private Ärztezentren wurden zur Entlassung von Ärzten gezwungen

    Die Repressionen betreffen medizinisches Personal auf allen Ebenen. Weil er nichts gegen Mitarbeiter unternahm, die Gewalt ablehnen, wurde einer der landesweit besten Herzchirurgen entlassen, Alexander Mrotschek, Direktor des RNPZ (Republikanisches Zentrum für Forschung und Praxis) für Kardiologie. Der Gründerin des RNPZ für pädiatrische Onkologie und Hämatologie, Olga Aleinikowa, sowie dem Direktor des RNPZ für Onkologie in Borowljany, Oleg Sukonko – das sind die beiden wichtigsten Onkologiezentren für Kinder und Erwachsene in Belarus – wurde erstmal die staatliche Prämie für 2020 gestrichen. Ihre Mitarbeiter wurden wegen Illoyalität und Kritik am Regime in Handschellen direkt aus ihren Dienstzimmern geführt. Bald musste auch die Leitung aus diversen Gründen ihren Platz räumen. Sogar private medizinische Einrichtungen wurden unter Druck gesetzt. 2022 wurde das beliebte Ärztezentrum Lode geschlossen. Nach umfassender Prüfung wurde der Verwaltung eine Liste zugestellt, anhand welcher umgehend eineinhalb Dutzend illoyale Ärzte gekündigt wurden. 

    Als Lode seinen Betrieb wieder aufnahm, gab der Gründer kurz darauf die Summe bekannt, die er an die Staatskasse berappen musste – 236.000 Rubel (damals rund 68.000 Euro). Hinter vorgehaltener Hand wurde diese Summe um ein Vielfaches vergrößert und vermutet, dass das wohl die Rache für 2020 sei, als die Verletzten, die aus der U-Haft in Okrestina kamen, im Lode kostenlos behandelt wurden. 

    Ebenfalls 2022 unterbrach das Gesundheitsministerium für sechs Wochen die Lizenz des Ärztezentrums Nordin, über zwei Monate standen auch Merci und Krawira still. Das Augenärztezentrum Nowoje srenije (dt. Neue Sehkraft) traf es am härtesten – ihm wurde die Lizenz entzogen. „Neugestaltung des Marktes? Oder feindliche Übernahme?“, fragten sich die Mediziner. Parallel dazu tauchten in Minsk Filialen einer neuen Privatklinik auf. In Medizinerkreisen wird gemunkelt, dass sie von „familiennahen“, also aus Lukaschenkos Umfeld stammenden, Personen betrieben werden. 

    „Betrachtet man die Situation als Versuch, die feudale Ordnung wiederherzustellen, dann passt alles zusammen. Es gibt einen Feudalherren und seine Vasallen. Diese verteilen die verfügbaren Ressourcen mithilfe von Zwang, Selbstbehauptung auf Kosten anderer und Sadismus. Alle anderen sind Bauern, sozusagen Verbrauchsmaterial. Wieso also nicht eine eigene Klinik bauen und den Gewinn untereinander aufteilen? So entstehen neue, regierungstreue Privatkliniken“, sagt Lidija Tarassenko, Koordinatorin von ByMedSol; als ausgebildete Gastroenterologin leitete sie die Endoskopie-Abteilung im Alexandrow-RNPZ für Onkologie und Radiologie (dem wichtigsten onkologischen Gesundheitszentrum in Belarus) und arbeitete in einer Privatklinik. „Die Ärzte werden eingesperrt, die Gesundheitszentren aus denselben Gründen ‚gemolken‘. Früher schrieben sie verschämt die Summe auf ein Zettelchen, heute sagen sie einem direkt ins Gesicht, wie viel man zahlen muss, um ‚einstweilen‘ seine Ruhe zu haben.“ 

    Absolventen werden an Arbeitsplätze verpflichtet

    „Die Fremdsprachenkurse sind voller Medizinstudenten, die nach dem Abschluss sofort auswandern wollen – der eine nach Polen, die andere nach Deutschland. Deswegen entscheiden sich viele für eine kostenpflichtige Ausbildung“, berichtet anonym ein Professor an einer medizinischen Universität.

    Doch auch die Behörden haben die ungünstige Tendenz bemerkt und versuchen, zukünftige Spezialisten zu verpflichten. Bildungsminister Andrej Iwanez hat bereits angekündigt, dass nun alle Studenten, egal ob sie auf eigene oder auf Staatskosten studiert haben, verpflichtet werden, eine gewisse Zeit an einer ihnen zugewiesenen Stelle zu arbeiten. Auch davon, dass diese Zeit fünf und nicht mehr wie bisher zwei Jahre betragen soll, war schon die Rede. Vor ein paar Jahren schlug Lukaschenko vor, die verpflichtende Arbeitszeit für Absolventen medizinischer Hochschulen auf zehn Jahre zu verlängern. Wer der Zuweisung nicht folgt, wird gerichtlich dazu gezwungen, eine Riesensumme zu bezahlen, die der Staat angeblich in seine Ausbildung investiert hat.

    Der Personalmangel besteht überall, vor allem bei hochspezialisierten Fachkräften; am drastischsten ist die Situation in den Regionen. „Die Ausbildung zum hochspezialisierten Facharzt dauerte früher Jahre. Heute genügt es, sich zu einem viermonatigen Kurs anzumelden und im Namen des Chefs einen Antrag zu stellen. So wird versucht, mit einer schnellen Umschulung die personellen Lücken zu stopfen“, erzählt eine anonyme Fachärztin aus einer Minsker Klinik. Bisher ist nur ein steigender Bedarf an Ärzten zu beobachten, während die Zahl der Einstellungen sinkt. Die Statistik wird manipuliert, indem unbesetzte freie Stellen aus den Personalplänen verschwinden. So wird die Kurve des steigenden Personalmangels optisch begradigt. 

    Gleichzeitig gibt es weiterhin immer mal wieder Nachrichten über einzigartige chirurgische Eingriffe, die in Belarus durchgeführt werden, zum Beispiel Herzoperationen an Kindern. Die finden auch tatsächlich statt. Nur sind solche Operationen punktuelle, einzelne Beispiele für die Arbeit hochqualifizierter Fachärzte, die noch im Land und nicht von Repressionen betroffen sind und an die der Durchschnittsbürger nur sehr schwer herankommt. 

    Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen

    Die abwandernden Ärzte stehen am Höhepunkt ihrer Karriere und hätten gerade ihr Wissen weitergeben und ihre Ablöse vorbereiten können. „Mit einer ordentlichen medizinischen Versorgung kann man in Belarus auch deswegen nicht rechnen, weil die Nachfolge fehlt. Die Ärzte verlassen ihre Posten, verlassen das Land. Und zwar im arbeitsfähigsten Alter von 30 bis 45 Jahren“, erklärt Lidija Tarassenko. 

    Für die verbleibenden Ärzte, sagt sie, wird es aufgrund der Überlastung immer schwieriger. Sie müssen alle Funktionen erfüllen: die Patienten untersuchen, die Instrumente bereitstellen und sterilisieren, die Dokumentation erstellen. „Noch dazu wird der Beruf gern heroisiert, und das ist ungünstig. Es führt zu überzogenen Erwartungen: ‚Ihr seid Ärzte, ihr müsst das machen!‘ Der menschliche Organismus ist aber nicht dafür gemacht, 24 Stunden am Stück zu arbeiten, und das für drei“, meint Tarassenko.

    „Ich sehe, wie die Kluft zwischen der zivilisierten Welt, der fortschrittlichen Technik und dem, wie unser Gesundheitssystem aufgebaut ist, immer größer wird. Die Situation von Krebspatienten ist ungeheuerlich. Zur Linderung brauchen sie opioide Schmerzmittel. Zu solchen Patienten kommt dreimal am Tag ein Krankenwagen, angeblich zur Beobachtung, als wären sie drogensüchtig.“ Aber das sei nur ein Beispiel für eine maßlose Herangehensweise, dafür, wie das Gesundheitssystem nicht aussehen soll, erklärt sie. 

    „Es fehlen ganze Fachgebiete. Wir haben und hatten nie ausgebildete Experten für Ernährung oder Schmerztherapie. Und kaum jemand versteht, dass wir sie brauchen würden – es war ja nie anders. Alles wird schlechter, aber das versuchen sie zu ignorieren. Solange die Junta an der Macht ist, kann man nicht viel machen. Denen ist egal, was mit den Menschen passiert. Wir haben ja gesehen, wie das bei Covid lief. Jetzt sind dieselben Leute an der Macht, und von ihren Fehlern haben sie sich eines gemerkt: Sie sind damit durchgekommen. Selbst wenn Leute ins Gesundheitswesen kommen, die etwas verändern wollen – die sind dem System fremd und werden hinausgedrängt. Den Patienten bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu helfen“, zieht Lidija Tarassenko ihre unerfreuliche Bilanz. 

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  • Bilder vom Krieg #20

    Bilder vom Krieg #20

    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Mykhaylo Palinchak

    Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet Donezk / Foto © Mykhaylo Palinchak
    Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet Donezk / Foto © Mykhaylo Palinchak

    dekoder: Herr Palinchak, ein Soldat schaukelt auf einer Kinderschaukel. Was war da los? 

    Mykhaylo Palinchak: Im Februar war ich zusammen mit einem Journalisten in einem Dorf nahe der Front im Donbas. Einige Soldaten haben uns eine zerstörte Schule gezeigt. Während mein Kollege Interviews führte und ich Bilder machte, wurde einem der Soldaten langweilig und er setzte sich auf die Schaukel. Als er merkte, dass ich ihn fotografiere, stand er sofort auf.  

    Beide Bilder strahlen etwas von dem kühnen Widerstandsgeist aus, mit dem die Ukrainer die Welt verblüffen. Manchmal wirkt es, als warteten ausgerechnet wir im Westen auf eine Aufmunterung durch die Ukrainer, um selbst nicht zu verzagen. 

    Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass ihr eine Wahl habt. Ihr habt die Wahl, hinzusehen, was in der Ukraine passiert, oder wegzuschauen. Die Nachrichten aus der Ukraine zu verfolgen oder nicht. Wir Ukrainer haben diese Wahl nicht. Wir können die Nachrichten nicht einfach abschalten, denn das passiert mitten unter uns. Wir können nicht davor weglaufen. Wir haben keine Wahl als zu kämpfen. Und wer kämpft, braucht Motivation und Hoffnung. Er muss an sich glauben, sonst kämpft er vergeblich.  

    Ein Hund pinkelt an einen Blindgänger eines russischen Grad-Raketenwerfers. Der Ort wurde im September 2022 befreit, die Spuren des Krieges sind immer noch allgegenwärtig / Foto © Mykhaylo Palinchak
    Ein Hund pinkelt an einen Blindgänger eines russischen Grad-Raketenwerfers. Der Ort wurde im September 2022 befreit, die Spuren des Krieges sind immer noch allgegenwärtig / Foto © Mykhaylo Palinchak

    Der Hund auf dem zweiten Bild hat offenbar die richtige Einstellung. Ist es am gleichen Ort entstanden? 

    Nein. Das war in einem anderen Dorf an der Grenze zwischen der Oblast Mykolajiw und Oblast Cherson. Anfang März habe ich einige freiwillige Helfer begleitet, die die Menschen in den befreiten Gebieten im Osten versorgen. Wir sind drei Stunden über Land gefahren, bis wir dort ankamen. Das Dorf war besetzt gewesen, bei heftigen Kämpfen wurden fast alle Gebäude zerstört. Heute leben dort noch 25 Menschen. Sie versuchen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Das Dorf liegt so weit entfernt von der nächsten größeren Stadt, dass nur selten Hilfe kommt. In Kyjiw und anderen Großstädten bemüht sich die Verwaltung, die Schäden nach jedem Angriff schnell zu beseitigen und Gebäude wieder aufzubauen. Aber obwohl dieses Dorf schon im September 2022 befreit wurde, sieht es immer noch so aus, als wäre die Front erst vor kurzem darüber hinweggegangen. Es stecken noch immer Granaten und Blindgänger in den Gärten. Man bekommt dort eine Ahnung davon, was es heißt, dass große Gebiete der Ukraine mit Minen und Artilleriegeschossen verseucht sind. Trotzdem ist die Moral dieser Menschen hoch. Sie wollen ihr Leben weiterleben, sie wollen ihre Häuser wieder aufbauen. Sie brauchen nur etwas Unterstützung. 

    Bringen die Helfer Lebensmittel? 

    Die Organisation, mit der ich unterwegs war, bringt vor allem Saatgut. Die Menschen dort leben von dem, was sie selbst anpflanzen. Früher haben sie Melonen und Tomaten angebaut. Jetzt sind die Gewächshäuser und die Traktoren zerstört und die Felder mit Munition verseucht. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird, das alles wieder aufzubauen.  

    Fühlen sich die Menschen allein gelassen? 

    Ich glaube, sie verstehen, dass die Regierung nicht überall zugleich sein kann. Gerade wurde die Stromversorgung wiederhergestellt, aber es geht eben sehr langsam voran. Ich finde, da gibt es auch eine Lücke in der Berichterstattung über den Krieg: Die konzentriert sich meistens auf die Raketenangriffe auf Kyjiw und andere große Städte oder auf die Frontbewegungen. Das Leben der Menschen in dem großen Raum dazwischen wird oft vergessen. Neulich habe ich mit einem Minenräumer gesprochen, der hat mir erzählt, dass sie in der Oblast Charkiw vor der russischen Vollinvasion jeden Monat Hunderte Alarme hatten, weil Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden. Dieser Krieg ist jetzt bald 80 Jahre her, und es wird immer noch Munition gefunden. Und jetzt kommt die Munition aus dem neuen Krieg noch dazu.

     

    Fotografie: Mykhaylo Palinchak
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 26.03.2024

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    Eine Karte der Verwüstung

  • Grenzen, Sprachen und das Schweigen: Eine Kartografie unserer Zukunft

    Grenzen, Sprachen und das Schweigen: Eine Kartografie unserer Zukunft

    Hanna Yankuta, 1984 geboren in der westbelarussischen Stadt Hrodna, hat sich als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin einen Namen gemacht. Zu ihren Werken gehören Essays, zahlreiche Kinderbücher sowie Romanübersetzungen von Jane Austen oder Sally Rooney ins Belarussische. 2023 hat sie ihren Debütroman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) im Verlag Januškevič veröffentlicht, der von der Kritik vielfach gelobt wurde.

    „Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden“, schreibt sie in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. Gerade die, die heute im Exil sind, können sich zwar vermeintlich frei über die Vorgänge in Belarus äußern. Allerdings muss ihnen dabei klar sein, dass sie keine Namen derjenigen nennen, die in Belarus geblieben sind, um sie so möglicherweise nicht zu gefährden. Die neue Mauer zwischen Belarus und den Belarussen, die ins Exil geflohen sind, ist das zentrale Thema dieses Textes. Wie können die Belarussen wieder zusammenfinden, wenn diejenigen, die draußen sind, nur noch das Belarus ihrer Vergangenheit erinnern und gleichzeitig nicht mehr am täglichen Leben in Belarus teilhaben können und damit an der Zukunft des Landes und seiner Gesellschaft? 

    беларуская версія

    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla
    „Knoten der Hoffnung“ / Illustration © Tosla

    Mich fasziniert schon seit langer Zeit, dass Karten nicht das wiedergeben, was ich um mich herum sehe. Nicht nur die auf Papier gedruckten, die einen bestimmten Moment festhalten und genau einen Moment später schon ungenau geworden sind, sondern auch Online-Apps, die sich ständig erneuern und der unsteten Realität anpassen. Karten, die eigentlich eine Art schematische Kopie der Welt sein müssten, bleiben in Wahrheit immer hinter ihr zurück. Auf ihnen abgebildete Objekte sind längst wieder verschwunden, und neue, bereits existierende, Objekte erscheinen noch nicht auf der Karte, obwohl wir sie auf unseren Streifzügen schon finden. Da ist ein Laden – auf der Karte gibt es ihn, in Wirklichkeit ist er schon weg. Ist er pleite? Oder umgezogen? Dort ein Gutshaus aus dem 19. Jahrhundert – wurde es abgerissen? Da eine ukrainische Stadt an der Frontlinie – dem Erdboden gleichgemacht? Klickt man Marjinka auf Google Maps an, sieht man Fotos von Häusern, Kirchen und Parks. Aber bereits im März 2023 war ein Video im Internet mit endlosen schwarzen Ruinenfeldern aufgetaucht, dem heutigen Antlitz von Marjinka. Karten sind ein Fenster in die Vergangenheit. Unsere Welt ist eine Welt der Karten, auf denen verschiedene Zeiten koexistieren. 
            Mit Voraussagen über die Zukunft ist es dasselbe.


           ***
           Bald wird es drei Jahre her sein, dass ich Belarus verlassen habe, und schon anderthalb Jahre, dass ich zum letzten Mal dort war. Aktuell lebe ich in Polen. Noch 2022 ist es mir gelungen, zwei Mal die polnisch-belarussische Grenze zu passieren, um Verwandte zu treffen, Dinge zu erledigen und zu sehen, wie es meinem Land geht. Damals gelangte ich über den Grenzübergang Bobrowniki – Berastawiza nach Belarus, den man leicht auf der Karte findet. Seit dem 10. Februar 2023 ist er geschlossen. Die Grenzübergänge werden immer weniger, Reisen nach Belarus immer riskanter, Menschen werden direkt an der Grenze festgenommen, oder zu Hause, einige Tage nach der Rückkehr ins Land. Und ich weiß nicht, wie lange es noch riskant sein wird, wie viel Zeit noch vergehen wird, bis ich wieder hinfahren kann. 
            Belarus stelle ich mir jetzt so vor, wie ich es vor anderthalb Jahren gesehen habe, auch wenn sich dort seit dieser Zeit sicher viel verändert hat. Das Land hat sich verändert, meine Sicht darauf – doch mein Bild von ihm nicht. Wenn ich mir eine Rückkehr vorstelle, dann sehe ich veraltete Bilder – wie ich früher in Minsk lebte. Belarus lebt schon in der Zukunft, ich lebe in seiner Vergangenheit. Ich meine nicht, was die Nachrichten melden, sondern was wirklich passiert. Wir können nicht mehr in derselben Zeit leben, zumindest für eine gewisse Dauer gehen unsere Zukünfte getrennte Wege. Ich gehe meinen, Belarus seinen. Eine Zukunft, die wir nicht miteinander teilen können – ich darf nicht in Belarus‘ Zukunft hinein, und Belarus interessiert sich nicht für meine. 
            Wir haben nur eine sehr kleine Auswahl an Mitteln, um auf die jeweils andere Zukunft Einfluss zu nehmen. 2023 wurde beispielsweise ein Gesetz erlassen, dass belarussische Pässe nicht mehr in den Auslandsvertretungen erneuert werden können, sondern nur noch persönlich im Land. Wenn die Gültigkeit meines Reisepasses abläuft, kann ich also keinen neuen mehr erhalten. So versucht der Staat, Einfluss auf mich zu nehmen, mir etwas zu beweisen. Es verkompliziert mein Leben, aber irgendwie werde ich damit zurechtkommen. Meine Art, mit Belarus zu interagieren, sind Bücher. Wenngleich sie derzeit, wenn überhaupt, dann nur noch als geheime Schmuggelware ins Land gelangen. Es ist viel leichter, Bücher aus Belarus herauszubringen, als welche hinein. Und ich kann nicht mehr Teil ihres Lebens sein, meine Teilhabe wird gefiltert, diejenigen, die an der Macht sind, nehmen meine Bücher als schädlich wahr. 
            Auch zu diesem Zweck existieren Grenzen.


           ***
           Vielleicht sind Landkarten aber auch ein Fenster in die Zukunft?
           Belarus grenzt an fünf Länder, die längste Grenze teilen wir mit Russland, darauf folgt, etwas kürzer, die zur Ukraine. Dann kommen Litauen, Polen und – mit der kürzesten gemeinsamen Grenze – Lettland. Diese Grenzen sind sehr aufschlussreich. Belarus – das sind 1283 Kilometer Russlands, 1084 Kilometer der Ukraine, etwa 679 Kilometer Litauens, etwas mehr als 398 Kilometer Polens und fast 173 Kilometer Lettlands (gemäß Informationen des Belarussischen Grenzschutzkomitees und Wikipedia). Wir haben also 1250 Kilometer Europäische Union, etwas weniger als Russland, aber sobald sich die Ukraine der EU anschließt, wird das Übergewicht offensichtlich sein. Die Grenze hat natürlich zwei Seiten. Polen verbinden etwas mehr als 398 Kilometer mit Belarus (etwa elf Prozent der Gesamtlänge der polnischen Staatsgrenze), Russland 1283 Kilometer. Prozentual gesehen ist die belarussische Grenze mit Russland länger als die russische Grenze mit Belarus. Geografie ist gnadenlos. 
            Die Funktionen von Grenzen: sich selbst abgrenzen und sich von anderen abgrenzen. Die eigenen Konturen genau umreißen, kein Eindringen und Durchdringen zulassen – von Menschen, Ideen, Einflüssen. Das Innere zum Monolithen machen, zu einer eigenen Angelegenheit. Zu einer Art Gefängnis. Belarus ist ein Ort mit sehr deutlich umrissenen Grenzen, nicht jede Person darf dort leben, selbst die Staatsbürgerschaft bietet keine Garantie. Viele finden sich jenseits der Grenzen wieder: die Grenzen betreffen nicht nur Staaten, sie zerteilen auch unsere Gemeinschaften. Die belarussische Welt ist jetzt in Teile zerlegt, und über die Grenzen hinweg den Kontakt zu halten – mit Familie, Freunden, Kollegen – ist aktuell unsere Aufgabe.
            Die Grenze zwischen Belarus und Russland ist, mit einigen Ausnahmen, offen und wird kaum kontrolliert. Die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine ist vermint. An der Grenze zwischen Belarus und Polen ist ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Litauen ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Lettland ein Zaun. Und doch sind wir noch nicht vollkommen isoliert, auch wenn alles in diese Richtung führt. Bis zur völligen Isolation braucht es viel mehr.

     
            ***
            Es gibt eine Zukunft, die wir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen können. Diese Zukunft ist jedoch sehr fern und wird von den exakten Wissenschaften prognostiziert. In 24.000 Jahren wird sich in der Zone um Tschernobyl die Anzahl des radioaktiven Elements Plutonium-239 um die Hälfte verringert haben. In 100.000 Jahren wird sich die Karte der Sternbilder am Himmel bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. In 250 Millionen Jahren wird sich alles Festland auf der Erde zu einem Superkontinent vereint haben, den wir heute, in seiner fernen Vergangenheit, Pangaea Proxima nennen. In etwa einer Milliarde Jahre wird die Sonne heller werden, die Ozeane auf unserem Planeten verdampfen, und noch einige Milliarden Jahre später bläst sie sich zu einem Roten Riesen auf, um dann zu einem Weißen Zwerg zusammenzuschrumpfen. Und wenn die Erde bis dahin noch nicht in den höllischen Sonnenstrahlen zu Asche zerfallen ist, beginnt sie schrittweise abzukühlen und wird schließlich zu einem kalten, von Finsternis umgebenen Stück Materie, auf dem niemals wieder Leben in einer uns bekannten Form entstehen können wird. 


            ***
            Die Sprache weiß auch etwas über die Zukunft. „Nie wieder soll Krieg sein“ ist eine in Belarus wohlbekannte Phrase. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je jemand auf Russisch gesagt hätte. Eine weitere: „Wollt ihr ukrainische Verhältnisse?“ Wenn über etwas viel gesprochen wird, dann geschieht das nicht grundlos, die Sprache ebnet der Zukunft den Weg. Man muss nur aufmerksam hinhören. 


            ***
            In letzter Zeit schreiben Soziologen und Politologen immer häufiger, die Zukunft der belarussischen Proteste sei bereits angebrochen, es existiere eine neue Norm. Die Welt habe sich verändert, sei schon eine andere. Aber wenn man Google Maps öffnet und eines der Minsker Stadtviertel anklickt, kann man noch ein Foto der in Belarus verbotenen weiß-rot-weißen Flagge finden, die über einem Gebäude weht, als hätte 2020 nie geendet. Damals schien es, man könne nun für immer solche Symbole aus dem Fenster hängen, wider jegliche Repression.
            Die Zukunft zerfällt in Fragmente, wie dieser Text. Sie schreibt sich wie ein Gedicht – denn manchmal kann nur die Poesie dieser Wirklichkeit beikommen. 
            Was ist Zukunft für politische Emigranten, für Geflüchtete? Entweder Kopf voran in den Strudel des neuen Lebens springen, oder mit aller Kraft, den Umständen zum Trotz, am Alten festhalten. Viele wählen immer wieder die zweite Variante, leben in der Vergangenheit, in Erwartung einer Möglichkeit zur Rückkehr. „Die Epoche hat uns im Griff“, sagen wir. Aber sie ist es nicht, die uns im Griff hat, sondern wir sind es, die sich an ihr festklammern. Wir wollen im Jahr 2020 bleiben, Realität und Zeitrechnung zum Trotz. Denn das, was wir um uns herum sehen, entspricht nicht dem, wie wir in unserem Inneren leben. Und dafür gibt es eine Erklärung – die Trägheit der Psyche, die nur schlecht mit Veränderung zurechtkommt. 
            Um nach Belarus zurückkehren zu können, dürfte ich diesen Text nicht schreiben. Immer wenn ich öffentlich etwas sage, bezahle ich dafür mit meinem Recht auf Heimkehr. Letztlich ist das aktuell kein allzu hoher Preis, die Einsätze steigen täglich. Ich muss jeden Tag die Entscheidung treffen: Lebe ich, als gäbe es Belarus nicht, und füge mich in den Alltag des neuen Landes ein, oder aber entsage ich einem normalen, privaten Leben. Und bislang entsage ich noch, denn ich will dieses normale, private Leben nicht, das die Realität mir anbietet. Und wenigstens bislang hat es mir seine spezifischen Verpflichtungen noch nicht auferlegt. 


            ***
            Selbst am Rande einer Diktatur (und so könnte ich das Leben politischer Emigranten beschreiben) erfordert das Leben Disziplin, selbst bei Kleinigkeiten. Ich treffe ständig auf sie. Ich kaufe Weihnachtspostkarten, um sie nach Belarus zu schicken, auf vielen sind weiße und rote Details, wie die weiß-rot-weiße Flagge. Ich schaue mir die Postkarten mit der Lupe an und überlege: ist das erlaubt oder nicht? Wenn ich jemandem in Belarus eine Nachricht schreibe, überlege ich mir jedes Wort, besonders, wenn es entferntere Bekannte sind, mit denen ich nicht regelmäßig in Kontakt bin. Ist es sicher oder nicht? Ich weiß nicht, wer in diesem Moment ihr Mobiltelefon in den Händen hält. „Kann ich dir gerade schreiben?“ In der Korrespondenz erinnere ich immer wieder daran: nach dem Lesen löschen. In den Sozialen Medien schreibe ich immer dazu: Wenn ihr in Belarus seid, liked das nicht. Bevor ich darüber nachdenke, was erlaubt ist, denke ich darüber nach, was verboten ist. Ich bin ein Mensch der Diktatur und auch meine Ängste (sowohl die eigenen, als auch die von den Vorfahren geerbten) sind in der Diktatur geboren. 


            ***
            Wenn ich jetzt Google Maps öffne, sehe ich alle Namen auf Polnisch, entsprechend meinem Standort. Es ist durchaus bedeutsam, in welcher Sprache die Ortsnamen auf einer Karte stehen. Sonst hätten die Russen in den besetzten ukrainischen Gebieten die Wegweiser und Ortsschilder nicht ausgetauscht – von ukrainischen in russische. In der Minsker Metro würden die Beschriftungen in belarussischer Lacinka nicht mit den russischen, kyrillischen Bezeichnungen überschrieben. Sogar das Alphabet hat eine Bedeutung. 


            ***
            Wir leben in einer Situation, in der wir aktiv kolonisiert werden. Unser Nachbarstaat Russland (1283 Kilometer Zukunft mit Russland) gibt Unmengen an Ressourcen dafür aus, dass wir unter seinem Einfluss bleiben. Diesem Prozess können wir uns nicht entziehen, denn unsere Ressourcen – egal welcher belarussischen Community oder gar des gesamten Staates Belarus – reichen dafür nicht aus. Die Möglichkeiten Russlands, des Russischen Imperiums, waren immer unvergleichlich größer als unsere. Und wenn jemand will, dass es dich – so, wie du dich selbst siehst – nicht geben soll, und viel Kraft und Ressourcen in dieses Ziel investiert, dann ist Widerstand sehr schwer.
            Russifizierung ist nicht nur Sprache und Kultur, es ist auch die Art zu Denken. In einer solchen Situation wächst die Sprache stets über sich hinaus. Es ist nicht nur die Sprache Belarussisch oder Russisch. Es ist auch die Sprache der Liebe, zum Eigenen und zum Fremden, oder die des Hasses, auch auf das Eigene und das Fremde. Am 13. Februar 2023 sprach der belarussische Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki bei seinem Gerichtsprozess über nationale Aussöhnung – auch dazu ist Sprache fähig. Er wurde zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Aber die Sprache kartografiert auch die Unmöglichkeit dieser Versöhnung, den Unwillen, wie die „andere Seite“ zu sein, das Verlangen, alles von sich abzuwaschen, was irgendwie mit dem anderen verbinden könnte. Da sind sie, da sind wir (Wos jany, a wos my) – so heißt ein Gedicht von Alhierd Bacharevič aus dem Jahr 2020. Dieses Gedicht ist auch heute noch aktuell. 
            Sprache legitimiert und spaltet, und diese Spaltung ist schwer zu überwinden.
            Wenn die Realität zerbricht, in tausend Scherben zersplittert, wie soll man diese dann benennen? Worte werden gleichzeitig bedeutungsvoll und bedeutungslos, Wörterbücher neu zusammengestellt. Ein Gefängniswörterbuch, ein Kriegswörterbuch. Manchmal denke ich, wenn man alles korrekt beschreibt, allem eine sinnhafte Bezeichnung gibt, hat unsere Sicht eine Chance, an Klarheit zu gewinnen. Vielleicht würden wir dann auch sehen, in welcher Welt wir leben und wo die Wege sind, die irgendwohin führen. Aber es ist unmöglich, alles zu beschreiben, immer wieder bleibt etwas nicht greifbar, bleibt blind voranzugehen eine unserer heutigen Herausforderungen. Wir wissen nicht einmal, welche Sprache(n) wir und unsere Kinder in zehn Jahren sprechen werden. Vielleicht werden viele schon die Sprachen der Länder sprechen, in die wir heute flüchten: polnisch, litauisch, deutsch und andere. Doch uns steht bevor, über uns zu sprechen, unter anderem, um uns und unsere Zukunft auf Worten aufzubauen.
            Wenn ich versuche, meine Welt zu beschreiben, dann feilsche ich scheinbar mit der Sprache, bitte sie darum, mir ein wenig mehr zu erlauben, als ich vermag.


            ***
            Es ist bereits unmöglich zu erinnern, was 2020 wirklich geschehen ist. Die Erinnerung verzerrt diese Zeit, wie auch Karten die Realität verfremden, und später wird uns nur noch übrigbleiben, dokumentarische Zeugenaussagen zu sammeln und den eigenen Erinnerungen die fremden gegenüberzustellen. Später – wann wird das sein? Die Zukunft der Proteste – wann werden wir uns erlauben, uns an sie zu erinnern? Wann wird man das ohne Leerzeichen tun können, ohne Namen auszulassen und ohne Fotos unkenntlich zu machen? Die Leerzeichen verfestigen sich im Gedächtnis, bleiben als weiße Flecken darin zurück, unbezwingbar. Im besten Fall kann man vielleicht die Karte dieser weißen Flecken etwas verändern. Das ist das Ergebnis zahlreicher Faktoren, darunter Propaganda und Lügen. Sie wachsen in unser Leben, als würden wir uns nicht widersetzen und uns nicht von ihnen abgrenzen. Und wir müssen auch das berücksichtigen: Wir verändern uns unter ihrem Einfluss, oft unbemerkt für uns selbst. Eine Korrektur daran sollte man überall vornehmen – in der Emigration, innerer wie äußerer, in Belarus und jenseits der Landesgrenzen. Denn für Lügen, wie auch für Gewalt, ist jeder Raum zu eng, sie streben nach draußen, wollen immer neue Territorien erobern. Sie sind fähig, sogar aus Entfernung Einfluss auszuüben. Doch dasselbe kann man auch über die Freiheit sagen, so, wie wir sie sehen. Und in diesem Sinne erleiden Grenzen – und die, die sie bauen, auf beiden Seiten – eine Niederlage. 


            ***
            Ich kann nichts über Belarus erzählen, nur über die Belarussen, die im Ausland leben. Über mich selbst. Denn über Belarus weiß ich nichts mehr, und wenn ich etwas weiß, muss ich die Zunge im Zaum halten. Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden. Oft überprüfe ich, bevor ich etwas ausspreche, und sei es nur ein unschuldiger Fakt, ob jemand diese Information schon einmal öffentlich geteilt hat. Bestenfalls in einem Bericht von Menschenrechtsorganisationen, denn ihnen traue ich: Wenn sie etwas veröffentlichen, heißt das, dass man darüber sprechen kann. Bei öffentlichen Auftritten wähle ich meine Formulierungen sorgfältig, aus Angst, etwas preiszugeben, unnötig Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken – Namen, Bücher, Ereignisse, oder irgendwelche Tricks und Kniffe, die im Land helfen. 
            Ich kann nur mit Pausen sprechen, wäge jeden Satz ab. Manchmal ist das Wichtigste die Pause selbst.
            Jedes ENTER in diesem Text ist eine Pause, drei Sternchen sind eine lange Pause.
            Ich muss langsam sprechen.
            Das Schweigen betrifft nicht nur jene, die in Belarus geblieben sind, es überschreitet auch die Grenzen und wird zum charakteristischen Zug der Zeit der Diktatur.
            Das Schweigen hat viele Gesichter.
            Es gibt das Schweigen von den einstigen Opfern der sowjetischen Repressionen und das Schweigen von den anderen Völkern, die auf unserem Gebiet lebten. Geschlossene Archive. Verborgene Statistiken. Durchgestrichene Erinnerungen an die ersten Tage nach den Wahlen 2020, als tausende Menschen Folter und Qualen durchlebten. Die Vernichtung der unabhängigen Medien und ihre Abstempelung als „extremistisch“ (einem unabhängigen Medium ein Interview zu geben, einfach nur etwas zu sagen – ist schon ein Verbrechen). Augenzeugen werden weggesperrt. Incommunicado – das gewaltsame Blockieren jeglicher Kontakte der politischen Gefangenen mit der Außenwelt und das Fernhalten jeglicher Nachrichten und Informationen.
            Wir wissen nichts: Nicht, wie viele Menschen an Covid gestorben sind, nicht, wie viele das Land verlassen haben, nicht, wie viele im Gefängnis sitzen. Wir haben keine genauen Zahlen, wir haben nur Dunkelziffern, die anhand von geschätzten Angaben gemessen werden, mathematisch oder intuitiv.
            Jemand in Belarus schweigt aus Sprachlosigkeit. Weil es ihm an Worten fehlt, das zu beschreiben, was vor sich geht, weil es nicht in Worte zu fassen ist.
            Jemand erlegt sich ein Tabu auf, über Gefängnisse und Repressionen zu sprechen, weil das eine direkte Erfahrung unendlichen Leids ist, über die zu theoretisieren wie Blasphemie erscheint.
            Jemand entscheidet sich zu schweigen, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat, um so den ukrainischen Stimmen mehr Raum zu geben.
            Schweigen ist aktives Handeln.


            ***
            Das Schweigen hat Zukunft.
            In dieser Zukunft kommen alle belarussischen politischen Häftlinge aus den Gefängnissen frei und erzählen, was man mit ihnen all diese Zeit über gemacht hat. Es gibt offene Gesprächsrunden über die Gewalt während und nach den Wahlen im Jahr 2020. Die Archive werden geöffnet, man kann sich ein vollständiges Bild von den Repressionen der Sowjetzeit machen, ebenso von allen anderen Zeiten, die bei uns Spuren hinterlassen haben. 
            Das Schweigen ist vielschichtig, früher oder später holt es jeden ein.
            Und wir müssen bereit sein für das Grauen, wenn wir erfahren, was das Schweigen vor uns verbirgt, wenn es endlich gebrochen wird. 


            ***
            Außerdem gibt es noch die Unsichtbarkeit, sie hat zwei Formen. Die erste besteht darin, wenn du dich versteckst, dich in ein Chamäleon verwandelst, dich unsichtbar machst, absichtlich unerreichbar für fremde Augen. Das ist eine Art Macht über die Welt, manchmal die einzige, die man sich erkämpfen kann. Die zweite Form ergibt sich daraus, dass man dich nicht sehen will, dich von den Karten und aus der Geschichte streicht. Wenn jemand sich weigert, dich zu sehen, dann gibt es dich scheinbar nicht. Auch das sind aktive Handlungen – sowohl das Unsichtbarsein, als auch das Nicht-sehen-Wollen. Das Nicht-sehen-Wollen ist der erste Schritt zur Isolation.
            Es ist sehr leicht, nicht zu sehen, was hinter der Mauer passiert. 


            ***
            Aber es ist unsere Zeit, es ist unsere Geschichte, und wir müssen sie durchleben, unsere Träume mit den Karten abgleichen. Bei uns wird es nicht wie in Warschau. Wir werden nicht wie die in Berlin. Wenn wir eine Chance kriegen und es schaffen sie zu nutzen, dann werden wir vielleicht nicht wie die im „Moskauer Umland“. Und wie wird es dann? Wie in Minsk, wie in Slonim, wie in Shabinka. Wenn nicht für mich, so doch für jemanden, der nach mir kommt. Das kann mir die Zukunft nicht wegnehmen. Denn das Wichtigste, was ich als Belarussin seit 2020 habe, ist das Vertrauen in die Menschen. Ich glaube wirklich an die Belarussen, an die drinnen wie draußen. Ich glaube, dass wir alles nur Mögliche tun, uns vorantasten auf der Suche nach unserem weiteren Weg. Wir gehen, wie wir es vermögen und wie wir es uns ausmalen, selbst wenn wir manchmal einander nicht verstehen oder unterschiedliche Routen wählen, auf unser Ziel zu. 

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  • Interview: Deutsche Alternativmedien und russische Propaganda

    Interview: Deutsche Alternativmedien und russische Propaganda

    Die Landschaft der sogenannten Alternativmedien in Deutschland floriert. Oft bedienen sie Narrative, die aus dem Kreml stammen: Der Westen habe Russland einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, die NATO betreibe in der Ukraine Geheimlabore zur Herstellung von Biowaffen … dekoder hat mit der Kommunikations­wissenschaftlerin Arista Beseler gesprochen. Sie beschäftigt sich damit, wie Alternativmedien funktionieren und inwieweit Russland darin involviert ist.

    In Kooperation mit dem Magazin Compact veranstaltet die AfD im Feburar 2023 in München eine Demonstration gegen die ihrer Meinung nach putinfeindliche deutsche Politik / Foto © Sachelle Babbar/IMAGO/ZUMA Wire

    dekoder Was sind alternative Medien?

    Arista Beseler: Ich richte mich da nach der derzeitigen Standarddefinition von Holt, Figenschou und Frischlich: Alternative Medien sind solche, die sich klar vom Mainstream abgrenzen. Das kann über Meinungen zu großen Themen passieren, aber auch über formale Aspekte wie Organisationsstruktur, Finanzierung oder Hierarchien. Im deutschsprachigen Raum gehören dazu zum Beispiel die NachDenkSeiten, Compact, reitschuster.de, Tichys Einblick oder der Anti-Spiegel.

    In Meinungsumfragen geben 53 Millionen Deutsche an, regelmäßig Nachrichten zu konsumieren. Wie groß ist das Publikum der alternativen Medien? 

    Das ist schwer zu sagen, weil die Anzahl der Seitenaufrufe auf den alternativen Plattformen jeden Monat extrem variiert. Es kann sein, dass ein Medium einen Hit-Artikel veröffentlicht, der viel geteilt wird und in der ganzen Alternativ-Landschaft zirkuliert. Dann gibt es in dem Monat eine Million Leser:innen, aber im nächsten kann es wieder auf wenige Zehntausende absacken. Im Unterschied zu den etablierten Medien akquirieren und informieren die Alternativen ihre Leser:innen auch viel über soziale Medien, manche haben nicht einmal eine Website, die wenigsten verfügen über Printausgaben. Sie werden eher ergänzend zu traditionellen Blättern gelesen, insbesondere zu Regionalzeitungen, nicht stattdessen. Dabei hilft auch, dass die meisten alternativen Plattformen keine Paywall haben. Sie finanzieren sich über Spenden oder Online-Shops. 
    In meiner Untersuchung zu der monatlichen Reichweite der Websites habe ich mich auf die Daten von Similarweb gestützt, bei Sozialen Netzwerken bietet die Follower- und Abonnentenzahl eine Orientierung hinsichtlich der Reichweite. 

    Daten vom 14. Juni 2022. Monatliche Reichweite der Websites laut Similarweb, Follower- und Abonnentenzahl auf Sozialen Netzwerken. Zusammenstellung: Beseler, Toepfl

    Und was zeichnet diese Plattformen aus?

    Oft scheint es sich dabei um die Privatprojekte einer Person zu handeln, dazu gibt es dann regelmäßige Gastbeiträge. In vielen Fällen – wie bei reitschuster.de oder bei Neues aus Russland von Alina Lipp – erwecken diese Seiten den Eindruck eines persönlichen Blogs oder Tagebuchs mit Meinungsbeiträgen. Das macht sie natürlich auch sehr nahbar, obwohl fraglich ist, ob hier wirklich der ganze Aufwand alleine geschultert wird. Die Aufnahmen von Lipp beispielsweise sind oft zu gut, als dass sie ohne professionelles Team entstanden sein könnten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass die Betreiber:innen sich zu Wahrheitssucher:innen stilisieren, deren Meinung nicht vom Staat kontrolliert wird. 

    Viele der Portale äußern sich sehr putinfreundlich und rechtfertigen den russischen Krieg gegen die Ukraine. Gibt es denn direkte Verbindungen nach Russland?

    Es gibt drei Arten von Verbindungen: organisatorisch, medial und persönlich. Die meisten davon sind medial, folgen also aus gegenseitigen Verlinkungen, Werbung und Gastbeiträgen und -auftritten. Die NachDenkSeiten etwa haben unter anderem einen Beitrag dazu verfasst, wie man mittels VPN die Sperre von RT Deutsch umgehen kann. Diese Art der sehr öffentlichen Unterstützung trifft auf 9 der 20 von mir analysierten Medien zu. Danach folgen organisatorische Strukturen, also Förderung eines Portals aus kremlnahen Quellen. Dazu zählt laut Medienberichten zum Beispiel Compact, das mit dem russischen Propagandaorgan Institute of Democracy and Cooperation kooperiert. Zudem tritt Compacts Chefredakteur Jürgen Elsässer häufig im russischen Fernsehen auf und hat auch schon mit RT zusammengearbeitet. Auch Ken Jebsen (bürgerlicher Name Kayvan Soufi-Siavash), der die Plattform Apolut betreibt, kooperierte etwa laut NDR-Podcast Cui bono: WTF happened to Ken Jebsen? mit dem russischen Propagandaorgan RT Deutsch. Ein anderes Beispiel ist Florian Warweg, der Ex-Online Chefredakteur von RT Deutsch, der nun Redakteur bei den NachDenkSeiten ist. Dieses Medium bezeichnen einige als das Hausblatt von Sahra Wagenknecht, der wiederum ebenfalls nicht selten vorgeworfen wird, Kreml-Narrative zu bedienen. Insgesamt sind auch die persönlichen Verquickungen zum Kreml in deutschsprachigen Alternativmedien sehr eng.

    Unterstützen die Alternativmedien uneingeschränkt alle russischen Positionen, sind sie also sozusagen ein erweiterter Propaganda-Arm, oder gibt es da auch Abweichungen?

    Insgesamt ist der Support sehr abhängig vom jeweiligen Thema. Beim Thema Gendern etwa springen die Alternativmedien gerne auf den Zug der „traditionellen Werte“ auf. Hier gibt es große inhaltliche Schnittmengen zwischen der Kreml-Propaganda und der Ausrichtung von Alternativmedien. Der Kreml setzt auf eine Ideologie der Ablehnung von progressiven Werten: Das „verfaulte Gayropa“ sei scheinheilig und verlogen und so weiter. Ähnliches lässt sich auch in den Alternativmedien finden mit ihrer Kritik am Umweltkonsens, Gleichstellung, oder mit ihren Abgesängen auf den Westen. Überschneidungen gibt es auch zwischen Anti-Establishment-Themen, Antiamerikanismus und Verschwörungserzählungen. In der Frage, ob man die Ukraine im Krieg unterstützen soll, gehen die Meinungen jedoch stark auseinander. Boris Reitschuster, die Junge Freiheit und Tichys Einblick verurteilen den Krieg und stehen auf der Seite der Ukraine. Reitschuster ist außerdem ein vehementer Kritiker von Putin und seinem System. Er hat sich damit bei seinen Leser:innen offenbar unbeliebt gemacht, seine Abonnent:innenzahlen auf Telegram sind laut Correctiv zurückgegangen, nachdem er den russischen Angriffskrieg verurteilt hat. Vielleicht hängt er sich auch deswegen immer noch an Corona auf, um das Thema Ukraine zu umschiffen.

    Warum kooperieren die Alternativmedien mit dem Kreml? Geht es da um ideologische Gemeinsamkeiten oder eher ums Geschäft?

    Es sind vermutlich eher pragmatische Entscheidungen, mit dem Kreml zu kooperieren. Da geht es dann vor allem ums Finanzielle, gar nicht unbedingt darum, dass man so ein großer Russlandfreund ist. Die Themen kommen gut beim Publikum an, generieren Klicks. Untereinander sind die Alternativmedien sehr gut vernetzt und beliefern sich gegenseitig mit Materialien. Sie bilden einen eigenen kleinen Kosmos. Im Gegenzug profitiert der Kreml davon, dass Compact und Co nicht direkt mit Russland assoziiert werden. Das gibt seiner Propaganda hier in Deutschland mehr Glaubwürdigkeit.

    Die Kreml-Nähe der Alternativmedien ist also mehr Opportunismus als Ideologie. Trifft das auch auf die Leser zu? 

    Es ist denkbar, dass beides zutrifft: Die Leser:innen der Alternativmedien denken vielleicht: Die machen alles falsch da oben, ich hätte lieber einen starken Anführer wie Putin, der würde uns niemals ein Tempolimit auferlegen oder uns zum Gendern zwingen. Wer eher traditionelle oder konservative Werte vertritt, bekommt den Eindruck, dass liberale Errungenschaften wie die gleichgeschlechtliche Ehe oder der Ausbau des Sozialstaats Deutschland schlechter machen. Solche Narrative werden zwar vor allem von rechtsorientierten Personen getragen. Aber auch Leute, die sich auf dem ganz linken Spektrum verorten, können Russland unterstützen – siehe Sahra Wagenknecht. Da greift dann nicht selten das Prinzip „der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Wer also kritisch gegenüber den USA oder Joe Biden eingestellt ist, findet in Russland eine Art Zweck-Verbündeten. In den traditionellen Medien finden diese Menschen ihre „kritischen“ Ansichten nicht wieder, also greifen sie zu vermeintlichen Alternativen. Dazu kommt nicht selten wohl auch das Gefühl der Müdigkeit, zu bestimmten Themen immer wieder dasselbe zu lesen.

    Der rechte und linke Rand scheinen in ihrem Russland-Bild Gemeinsamkeiten zu haben. Stimmt hier also die Hufeisentheorie?

    Die Personen, die solche Plattformen betreiben, wissen, dass sie an beiden Enden des Spektrums andocken können. Ken Jebsen zum Beispiel – als Aktivist der sogenannten Querfront – verbreitet sowohl sehr linke als auch sehr rechte Narrative. 2017 sollte er einen Literaturpreis erhalten, da waren auch viele Politiker:innen der Linken eingeladen – auch wenn die Partei dem Ereignis sehr gespalten gegenüberstand und die Preisverleihung letztendlich platzte. Gleichzeitig hetzt Jebsen gegen E-Autos und behauptet, die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus seien „von oben inszeniert“. Auch bei Wagenknecht finden sich sowohl linke als auch rechte Standpunkte. 

    Wagenknecht kommt offenbar auch in Teilen der gesellschaftlichen Mitte an. Stoßen die Alternativmedien in der Mitte auch auf Resonanz? 

    Ja, absolut. Da sind Otto Normalverbraucher:innen, die sich selbst oft politisch mittig verorten. Sie sind mit ihrem Alltag aktuell einfach unzufrieden: Alles wird teurer, komplizierter, man fühlt sich nicht mehr wahrgenommen oder einem gefällt nicht, in welche Richtung die Politik geht. Diese Unzufriedenheit können die Propagandamedien aufgreifen, um damit Hass zu schüren. Diese Mitte ist aber kein stabiler Ort: Ständig müssen neue Probleme mit den alten Ressentiments bedient werden, um die Dynamik am Laufen zu halten. Diese These, dass sich hauptsächlich Ungebildete von Verschwörungsrhetorik beeinflussen lassen, halte ich für falsch. Auch sehr gebildete Personen sind Teil dieses Publikums. In der Querdenkerszene, bei der AfD und so weiter sind auch Personen mit Doktortitel und sogar Professor:innen. Meine aktuelle Hypothese ist, dass die vielleicht denken, dass sie über den Dingen stehen und deshalb die Verschwörung als einzige „durchschauen“ können.

    Was könnte die Attraktivität der Plattformen senken?

    Aufklärungsarbeit ist das Wichtigste. Prebunking ist eines der erfolgreichsten Mittel, um Desinformation zu entschärfen. Das funktioniert so, dass man im Vorhinein bestimmte Propaganda-Narrative erklärt und sagt, warum das Propaganda ist und was diese Narrative auslösen sollen. Wenn die Personen dann „in freier Wildbahn“ diesen Narrativen ausgesetzt sind, sollen sie dazu in der Lage sein, diese zu erkennen und zu wissen: Aha, der Seite kann ich nicht vertrauen – zum Beispiel, weil Russland sie finanziert. Mehr Transparenz wäre auch wichtig. Man muss sehr lange buddeln, bis man versteht, wie diese ganze Landschaft von Alternativmedien überhaupt funktioniert, wie groß der russische Einfluss ist. Das gilt vor allem für die extreme Minderheit, die nur noch Alternativmedien konsumiert und gar nichts mehr aus den etablierten Massenmedien mitbekommt. Es wäre wichtig, diese Personen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Da hilft es nicht, zu sagen: „Diese Leute mit ihren Aluhüten sind verloren, da kann man nichts mehr machen“. Diese Menschen haben ernsthafte Ängste vor der Zukunft, Existenzsorgen, und sie fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie flüchten sich in diese Propaganda, weil sie ihnen Trost bietet.

    Interview: Alexandra Heidsiek

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  • „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    „Die politische Gefahr wiegt schwerer als das christliche Gewissen“

    Nach dem Tod von Alexej Nawalny in der Strafkolonie „Polarwolf“ haben die russischen Behörden alles unternommen, damit sich seine Beerdigung nicht in eine große Demonstration der nicht Einverstandenen verwandelt. Zunächst weigerten sich die Behörden, seiner Mutter den Leichnam zu übergeben, und drohten, ihn anonym zu bestatten, wenn sie nicht einer Beerdigung abseits der Öffentlichkeit zustimmt. Dann suchten die Familie und Nawalnys Unterstützer drei Tage lang vergeblich nach einer Kirche und einem Friedhof für die Beisetzung und erhielten nur Absagen. Bis schließlich eine kleine Gemeinde in einem Moskauer Außenbezirk einwilligte. Auch fand sich lange kein Bestattungsunternehmen, das bereit war, den Sarg mit dem Toten auf seinem letzten Weg zu transportieren.

    Die Theologin Regina Elsner von der Universität Münster erklärt, wie dieser Umgang mit einem Verstorbenen in der Russisch-Orthodoxen Kirche aufgenommen wird und was die Tradition eigentlich vorsieht. 

    Wer in den vergangenen Wochen in Russland des Toten Alexej Nawalny gedenken wollte, wie hier in Sankt Petersburg, musste mit Festnahmen rechnen. Keine Kirche war bereit, das orthodoxe Totengedenken für den Oppositionsführer abzuhalten / Foto © IMAGO / SOPA Images

    dekoder: Warum war es so schwer, eine Kirche für Nawalnys Beisetzung oder für einen Abschiedsritus zu finden? 

    Regina Elsner: Das ist so schwer, weil die offizielle Struktur der Russisch-Orthodoxen Kirche inzwischen vollständig Teil des politischen Systems ist und alles vermieden werden soll, was Menschen die Möglichkeit gibt, würdevoll von Alexej Nawalny Abschied zu nehmen. Es gibt mit Sicherheit Gemeinden oder auch Priester, die grundsätzlich dazu bereit wären. Es steht aber auch fest, dass es nicht nur für das Begräbnis, sondern auch schon für Trauerfeiern überhaupt, also für das Totengedenken und das Gebet, keine Erlaubnis gab, das offiziell in Kirchen zu machen. In der Orthodoxie gibt es festgelegte Riten, die nach dem Tod folgen: ein Totengedenken am Tag selbst, ein Totengedenken am dritten und am neunten Tag, und noch einmal eines am 40. Tag nach dem Tod. Es hat aber keine einzige offizielle Trauerfeier in einer Kirche in Russland stattgefunden. Das kann nur bedeuten, dass es ein Verbot gibt, das in den Kirchen abzuhalten. Priester und Gläubige laufen Gefahr, bestraft zu werden, wenn sie sich dabei zeigen.

    Ein Priester in Petersburg wollte gleich, nachdem die Nachricht von Nawalnys Tod bekannt wurde, einen Ritus für ihn abhalten. Wer war das? 

    Das war Grigori Michnow-Waitenko. Der ist nicht Priester der Russisch-Orthodoxen Kirche, sondern einer Abspaltung, der Apostolischen Orthodoxen Kirche, die es seit einigen Jahren gibt. Er ist dann selbst verhaftet worden. Auch Menschen, die sich mit ihm versammelt hatten, wurden Überprüfungen unterzogen, einigen wurde mit Haft gedroht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Kirchen oder wenn Priester sich bereit erklären, ein Ritual für einen Oppositionellen abzuhalten. 

    Welche Voraussetzungen gibt es denn für ein orthodoxes Begräbnis?

    Die einzige Voraussetzung, die es für ein kirchliches Begräbnis gibt, ist die Taufe. Andere Bedingungen gibt es nicht. Es muss niemand regelmäßig im Gottesdienst gewesen sein, regelmäßig gebeichtet haben oder sonst irgendetwas. Und jeder Priester wäre eigentlich in der Lage, das Ritual zu feiern. Aber inwieweit er verpflichtet ist, es zu tun, das ist natürlich noch einmal eine andere Frage. Das gebietet zunächst das Gewissen. Und eigentlich gebietet es auch der Glaube, dass jemand, der stirbt, in Würden beerdigt wird. Aber in einer totalitären Situation, wie wir sie in Russland zurzeit haben, heißt das eben nichts. Da wiegt die politische Gefahr schwerer als das christliche Gewissen. 

    Was ist es denn für eine Gemeinde, in der schließlich die Aussegnung stattfindet? 

    Die Gemeinde liegt weit außerhalb am Rand von Moskau. Der Gemeindepriester ist niemand, der für eine kritische Haltung bekannt wäre, sondern einer, der ganz klar den Krieg unterstützt. Und das gilt mit Sicherheit auch für die weiteren Priester, die es in der Gemeinde gibt. Ich bin mir derzeit noch nicht einmal sicher, ob dieses Begräbnis wirklich stattfinden wird. Denn ich weiß von Leuten, die Gemeindemitglieder kennen, dass nichts angekündigt ist und sie nicht davon ausgehen, dass dieser Priester dies unterstützen wird. Es gibt Berichte, dass Personen, die im Kirchenchor die Liturgie begleiten wollen, unter Druck gesetzt wurden, nicht zu kommen. Wenn man bedenkt, dass das eine Kirche ist, die fest an der Seite des Regimes steht, kann man davon ausgehen, dass es ein sehr unauffälliges, schnelles Begräbnis sein wird. Gleichzeitig muss man wohl damit rechnen, dass dennoch viele Menschen kommen werden und dass es deswegen auch Festnahmen und Provokationen geben wird, vor denen die Gemeinde keinen Schutz bieten wird. 

    Wurde die Gemeinde möglicherweise sogar vom Staat ausgewählt, weil sie weit außerhalb liegt und der Friedhof dann auch an einem Ort liegt, wo nicht täglich Menschen hinpilgern werden und Blumen niederlegen? 

    Man muss davon ausgehen, dass das definitiv mit Erlaubnis der Kirchenleitung passiert ist. Wir sehen ja, dass sich keine andere Gemeinde bereit erklärt hat. Wenn es ein Verbot gibt, dann ist diese Entscheidung bestimmt Chefsache des Patriarchats. Und die Lage spricht dafür, dass man das erst mal dafür aussucht, um die Leute möglichst nicht in Massen anzuziehen. Es könnte auch passieren, dass man die Leute da hinlockt und am Ende die Beerdigung am anderen Ende der Stadt stattfindet, wo eben keiner mehr so schnell hinkommt.

    … So wie bei der Landung Nawalnys auf dem Rückweg aus Berlin. Als die Maschine im letzten Moment an einen anderen Flughafen umgeleitet wurde? 

    Ja genau. 

    Wie ist denn die Stimmung in der Kirche? Da gibt es ja auch andere, progressivere Kräfte. Wie halten die das eigentlich aus? Denn das ist ja schon ein, muss man sagen, höchst unchristliches Verhalten. 

    Der Umgang mit dem toten – ermordeten – Nawalny hat tatsächlich nochmal gläubige Menschen mobilisiert. Als noch nicht klar war, ob der Körper des Verstorbenen herausgegeben wird und seine Mutter erpresst wurde, einem Begräbnis im engsten Familienkreis zuzustimmen, da gab es einen Aufschrei, der für die Verhältnisse der letzten zwei Jahre unter Kriegszensur bemerkenswert war. In einem öffentlichen Appell erinnerten die Unterzeichner an die christlichen Werte Russlands, und mahnten, dass es sich für ein christliches Land gehört, einen Verstorbenen christlich begraben zu können. 

    Wer hat den Aufruf gestartet?

    Den ersten Brief haben hauptsächlich Menschen unterschrieben, die in Russland leben, darunter auch orthodoxe Geistliche. Inzwischen sind es knapp 5000 öffentliche Unterschriften unter diesen Briefen, viele davon auch aus dem Ausland. Aber die erste Initiative haben russische Gläubige und russische Priester und Geistliche ergriffen. Es gab ein paar Varianten, dieses Unbehagen oder auch den Protest oder den Widerstand dezent auszudrücken: Es gab den Aufruf, Gebetsanliegen für den Verstorbenen oder für den ermordeten Alexej – also ohne Nachnamen – in Kirchen zu schicken. In orthodoxen Kirchen kann man ja Zettel für den Priester abgeben, damit dieser im Gottesdienst für diese Person betet. In den Tagen nach Nawalnys Tod gab es Massen solcher Bitten, für ihn zu beten. Und das, obwohl es Denunziationen gab und Personen überprüft wurden, nachdem sie solche Zettel abgegeben hatten. Es gab Schlangen vor großen Kirchen in Russland zum Gebet, die jeweils von der Polizei beobachtet wurden. Außerdem gab es im Ausland Totengedenken, die online übertragen wurden, an denen haben viele Zuschauer aus Russland teilgenommen. Man sieht also, dass das eine Form ist, Widerstand auszudrücken, ohne wirklich öffentlich gegen den Staat oder gegen diese Regierung aufzutreten. Da hat sich etwas Bahn gebrochen. 

    In Moskau gibt es die Gemeinde Kosmas und Damian. Die hat während der Proteste nach Nawalnys Rückkehr Leuten, die vor der Polizei geflüchtet sind, Schutz geboten. Wie ist die Situation dort? 

    Kosmas und Damian war lange Zeit eine der bekannten progressiven Gemeinden. Einer ihrer Priestermönche, Giovanni Guaita, ein gebürtiger Italiener, ist aber inzwischen abberufen und nach Spanien versetzt worden. Ein anderer Priester, der eigentlich für eine eher kritische Haltung bekannt war, ist inzwischen auf Linie еingeschwenkt. Ein weiterer Priester, der sehr bekannt war, auch für seine Unterstützung für Nawalny und für die Proteste, Alexej Uminski, ist vor einem Monat entlassen worden und ausgereist. Die großen Figuren, die innerkirchlich ein Gegengewicht hätten darstellen können, wurden in den letzten Monaten auffälligerweise alle aus dem Land getrieben.

    Was wissen wir eigentlich über die Bedeutung des Glaubens für Alexej Nawalny? 

    Nawalny hat früher von sich gesagt, er sei kein Christ, er hat sich eigentlich atheistisch positioniert. Das hat sich aber spätestens mit der Verhaftung geändert. In den Monaten der Haft hat er in seinen Auftritten vor Gericht immer wieder mit dem Christentum und der Bibel argumentiert. Das ist auch deswegen interessant, weil er dadurch zu so einer Identifikationsfigur für viele wurde, die glaubwürdige christliche Vertreter in Russland vermissen. Dass dann jemand wie er sozusagen das Ethos vertritt – nicht die Kirchlichkeit, mit der man eben nichts zu tun haben will, sondern das Ethos – das macht ihn zu einer Schlüsselfigur in diesen Debatten um die Kirche und um Orthodoxie unter den Bedingungen der Diktatur.

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