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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 7

    Presseschau № 7

    Nach dem Terroranschlag auf die russische Passagiermaschine im Sinai verstärkt Russland seine Luftangriffe auf Ziele in Syrien – hochrangige Politiker verlesen Listen mit Angriffszielen in den Abendnachrichten und die Anschläge in Paris werden als Teil einer globalen Terror-Serie eingeordnet. Außerdem diese Woche: Der russische Leichtathletikverband sucht nach kreativen Auswegen aus seiner Suspendierung von internationalen Wettkämpfen und die Umgestaltung der russischen Medienlandschaft geht voran.

    Terroranschlag. 18 Tage nach dem Absturz der russischen Passagiermaschine über dem Sinai erklärt der Kreml die Spekulationen über die Absturzursache als beendet: „Es war eindeutig ein Terroranschlag“, konstatierte Alexander Bortnikow, Direktor des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Der russische Präsident Wladimir Putin drohte den Verantwortlichen umgehend Vergeltung an. An jedem Punkt der Erde würden die Terroristen gefunden und bestraft.

    Ausführlich berichteten die Abendnachrichten über Moskaus Reaktion: Russland verstärke seine Luftschläge gegen die Terroristen in Syrien, setze neu auch Langstreckenbomber ein. Fast harmlos klang es, wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow vor einer riesigen Leinwand in der Kommandozentrale im Moskauer Verteidigungsministerium minutenlang Listen mit Zahlen getätigter Flüge und zerstörter Ziele verlasen. Putin gratulierte den Militärs: Sie garantierten die Sicherheit Russlands und seiner Bürger.

    Kaum ein Wort verwendeten die Kommentatoren jedoch auf die politische Tragweite des Ereignisses. Bemerkenswert erschien einigen Medien einzig der Zeitpunkt der Verlautbarung: Der Flugstopp am 6. November sei eigentlich schon ein ziemlich sicheres Indiz für einen Anschlag gewesen. Mindestens zehn Tage wusste der russische Präsident also offenbar bereits, dass der Absturz auf einen Anschlag zurückzuführen sei, er habe es aber nicht für nötig gehalten, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, schreibt Slon. Innenpolitisch wird der Anschlag auf die Passagiermaschine dem russischen Präsidenten kaum gefährlich, meint der Politologe Kirill Rogow. Nach den Ereignissen in Paris sehen die Menschen in Russland nun nicht den Militäreinsatz in Syrien als Grund für den Anschlag, sondern verstehen die Katastrophe als Teil einer globalen Terror-Serie, so Rogow weiter.

    Die Veränderungen im Verhältnis zwischen Moskau und dem Westen interessieren die Medien hierzulande derzeit sowieso eher als ein drohender Terroranschlag. Nach dem G20-Gipfel in der Türkei sei Moskau nun wieder zurück auf der Weltbühne, die Staats- und Regierungschefs hätten sich auf dem Gipfel förmlich um ein Gespräch mit Putin gerissen. Etwas vorsichtiger formuliert der Kommersant: Die vom französischen Präsidenten Hollande vorgeschlagene Anti-Terrorkoalition könne zum Katalysator werden, welcher eine Annäherung der beiden Seiten nun wieder möglich macht. Die demokratische Opposition sieht für Russland momentan eine wichtige Chance. Nach Paris sei nun allen klar, wo der Feind sei, meint Jabloko-Parteichef Grigori Jawlinski. Russland müsse sich nun vorbehaltlos einer internationalen Anti-Terrorkoalition anschließen und zwar nicht zu den russischen, sondern zu den westlichen Bedingungen, schreibt Jawlinski in einem Kommentar für Vedomosti.

    Die russische Reaktion auf die Anschläge von Paris ist jedoch nicht frei von Seitenhieben: Zwischen guten und schlechten Terroristen unterscheiden zu wollen und bewaffnete Anti-Assad-Kräfte zu unterstützen, sei eine Illusion, war oft zu lesen. Der Westen flirte gar mit Terroristen, sagte die Dumaabgeordnete Swetlana Shurowa. Noch weiter gingen Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche, die forderten, Europa müsse sich von seinen unsittlichen Werten verabschieden, nur so könne man den IS bekämpfen.

    Der Tenor vieler Berichte war, dass im Kampf gegen den Terror Europa nun auf einen Teil seiner politischen Freiheiten verzichten müsse. Der Journalist Andrej Archangelski erinnert in diesem Zusammenhang an den Anschlag von Beslan 2004 . Damals verabschiedete Russland strengere Anti-Terrorgesetze und schaffte die Wahl der Gouverneure ab.

    Doping. Sieht sich Russland nach dem G20-Gipfel in der Politik nun wieder mitten im Kreise der Weltmächte, ist russischen Sportlern der Zutritt auf die internationale Bühne des Sports vorläufig versagt, zumindest teilweise. Die Internationale Leichtathletik Föderation hat nach dem Dopingskandal entschieden, den russischen Leichtathletikverband für eine unbestimmte Frist zu disqualifizieren. Suspendiert wurde auch die russische Anti-Dopingagentur (RUSADA), diese habe nicht gemäß dem Verhaltenskodex gehandelt. Nun wird verzweifelt nach Alternativen gesucht: Ein Vorschlag lautet, russische Leichtathleten könnten bei den Spielen in Brasilien 2016 unter der olympischen und nicht unter der russischen Flagge antreten.

    Medien. Das neue Mediengesetz, das 2016 in Kraft tritt und ausländischen Konzernen verbietet, mehr als 20 Prozent Anteile an russischen Medien zu halten, führt zu weiteren Veränderungen in der Branche. Noch unklar war das Schicksal der liberalen Wirtschaftszeitung Vedomosti, die jeweils zu einem Drittel dem Wall Street Journal und der Financial Times gehört. Medienberichten zufolge, soll nun Demjan Kudrjawtsew, welcher bereits die Moscow Times gekauft hat, auch Interesse an der Wirtschaftszeitung zeigen. Mit Jahresende stellt der neue Besitzer von Axel Springer Russland das Erscheinen des Magazins Geo ein. Die Medienbranche reagiert konsterniert: Hätte ihm jemand noch vor zwei Jahren gesagt, dass zwischen Moskau und Kiew keine Flugzeuge mehr verkehren, russische Zöllner bei der Einreise nach geschmuggeltem Käse suchen und Geo geschlossen wird, er hätte bloß gelacht und mit den Fingern an die Schläfe getippt, so Wladimir Jesipow, Chefredakteur des Magazins.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Presseschau № 6

    Presseschau № 6

    Der für seine radikalen Aktionen bekannte Künstler Pjotr Pawlenski sorgt in Russland wieder für Aufruhr. Diesmal hat er die Eingangstür des Inlandsgeheimdienstes FSB in Brand gesetzt. Nun wird diskutiert: Galerie oder Gefängnis? Medienbeherrschende Themen diese Woche sind außerdem der Dopingskandal im Sport sowie die Frage, wie die Urlauber nach dem A321-Absturz auf dem Sinai mit dem Flugstopp nach Ägypten umgehen sollen. 

    Kunst oder Vandalismus? Die Bilder zeigen den brennenden Eingang eines Gebäudes. Im Schein der Flammen ein hagerer Mann. Sekunden später wird er von einem Verkehrspolizisten abgeführt. In der Nacht auf den 9. November hat der für seine kompromisslosen Aktionen bekannte Künstler Pjotr Pawlenski die Tür des Inlandsgeheimdienstes FSB an der Moskauer Lubjanka in Brand gesetzt. Die Aktion mit dem Titel Bedrohung sei eine Anklage dagegen, dass der FSB 146 Millionen Menschen unter seiner Terrorherrschaft halte, sagte Pawlenski vor Beginn seiner Anhörung im Saal des Tagansker-Bezirksgerichts. Ihm droht nun ein Prozess wegen Vandalismus, das Moskauer Gericht hat die Untersuchungshaft um 30 Tage verlängert. Pawlenski selbst verlangte ein strengeres Vorgehen. Er fordere, wegen Terrorismus angeklagt zu werden, sagte der Künstler unter Verweis auf die „Krim-Terroristen“ um den ukrainischen Filmregisseur Oleg Senzow, welche wegen eines Brandanschlags zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.

    Mit seinen radikalen Aktionen provoziert Pawlenski: 2012 stand er mit zugenähtem Mund in St. Petersburg auf der Straße, um gegen die Verurteilung von Pussy Riot zu protestieren. 2013 nagelte er sein Skrotum auf dem Roten Platz fest. Im vergangenen Jahr schnitt er sich auf dem Dach der berüchtigten Serbsky-Klinik in Moskau ein Stück seines Ohrläppchens ab, um gegen den politischen Missbrauch in der Psychiatrie in Russland zu protestieren.

    Der Staat reagiert. Diverse psychiatrische Gutachten der Behörden zielen darauf ab, dem Aktionskünstler seine Schuldfähigkeit abzuerkennen, um ihn damit in eine Klinik einweisen zu lassen. Auch nach der brennenden FSB-Tür wurden Rufe laut, Pawlenski „von der Gesellschaft zu isolieren“. Ein Abgeordneter des Moskauer Stadtparlaments verlangt zudem, dass die Ermittlungsbehörde wegen Extremismus gegen Journalisten und Blogger ermitteln soll, welche die Aktion fotografierten und Bilder davon verbreiten. Nutzer sozialer Netzwerke ließen sich davon jedoch nicht abschrecken. Ein Online-Reiseportal nutze die brennende Türe gar, um für Urlaub in Afrika zu werben.

    Die brennende FSB-Tür wurde auch unter Oppositionellen und Gegnern des Putin-Regimes hitzig diskutiert. Die Meinung, ob es sich bei der Aktion um Kunst handelt oder ob Pawlenski vor Gericht gehört, gehen auseinander. So kontrovers die Aktionen sind, eines scheint festzustehen: Je strenger die Strafe, desto stärker entfaltet sich das aktionistische Szenario, erklärt der Galerist Marat Gelman in Slon das Funktionieren von Pawlenskis Kunst. Wer sich für die Arbeit des polarisierenden Künstlers interessiert, kann sich übrigens auch außerhalb Russlands mit seinen Arbeiten auseinandersetzen. Im November wird in Hamburg die erste Pawlenski-Retrospektive eröffnet.

    Dopingskandal. Die einen würden ihre Konkurrenz direkt besiegen, die anderen würden es vorziehen, das Image eines Landes zu ruinieren. Mit derart markigen Worten kommentierte der russische Sportminister Wladimir Mutko den massiven Dopingskandal, mit dem sich Moskau seit Anfang der Woche konfrontiert sieht. Hochrangige Politiker und staatsnahe Medien sprachen von haltlosen Beschuldigungen, von einer politisch motivierten Schmutzkampagne gegen Russland. Die Vorwürfe der Anti-Dopingagentur WADA wiegen allerdings schwer: In Russland werde staatlich gesponsertes Doping betrieben, heißt es in dem am Montag vorgestellten Bericht. Die Korruption im Sport hat für die WADA Systemcharakter. Berichten von Athleten zufolge musste man sich bloß mit der Nummer seiner abgegebenen Dopingprobe und 30.000 Rubel (450 Euro) an bestimmte Trainer wenden, welche alles Nötige veranlassen würden. Kurz: Keine Proben – kein Problem, beschrieben russische Medien den Ablauf.

    Den Untersuchungen der WADA liegt eine ARD-Dokumentation zu Grunde. Das russische Sportministerium fordert die Agentur dazu auf, richtige Beweise vorzulegen und sich nicht auf die Arbeit von Journalisten zu berufen. Dem beanstandeten Moskauer Labor, in welchem angeblich mehr als 1400 Proben zerstört wurden, hat die Wada bereits die Akkreditierung entzogen. Dopingproben russischer Athleten werden nun vorerst außerhalb des Landes getestet.

    Die Anschuldigungen wiegen schwer für die erfolgsverwöhnte Sportnation, welche an den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 vor eigenem Publikum die meisten Medaillen erringen konnte. Nun droht der gesamten russischen Leichtathletikmannschaft eine Sperre für die Olympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien. Einen kollektiven Rückzug lehnt Moskau jedoch ab. Nur diejenigen Athleten sollen gesperrt werden, die auch des Dopings überführt wurden. Präsident Wladimir Putin ordnete erst einmal eine interne Untersuchung an.

    A321. Fast scheint es, als wäre in den russischen Medien die Suche nach den Ursachen der Flugzeugkatastrophe über dem Sinai, der 224 Menschen zum Opfer fielen, in den Hintergrund gerutscht. Viel mehr zu interessieren scheint, wie nach dem durch den FSB initiierten Flugstopp vom vergangenen Freitag die Rückreise der in Ägypten gestrandeten 80.000 russischen Touristen mitsamt ihrem Gepäck verläuft. Auch müssen russische Touristen nun umdisponieren, war Ägypten doch ihr beliebtestes Reiseziel. Zwar bieten die Behörden der annektierten Krim das Schwarze Meer nun als Ersatz für das Rote Meer an. Bereits gebuchte Ferienreisen könnten aber nicht einfach umgetauscht werden, heisst es.

    Behörden rechnen mit einem Flugstopp von mehreren Monaten, die Verluste für die Reisebüros werden auf 1,5 Milliarden Rubel geschätzt (etwa 21 Millionen Euro), schreibt Vedomosti. Das alles sei der russischen Regierung jedoch herzlich egal, schreibt der regierungskritische Journalist Oleg Kaschin. Der Kreml könne sich das erlauben, unangenehme Fragen würden wohl auch kaum gestellt, falls ein Terroranschlag zweifelsfrei als Ursache des Absturzes etabliert würde. Peinlich wäre für den Kreml laut Kaschin wohl einzig das Eingeständnis, dass sich Russland im vergangenen Jahrzehnt bei der Terrorbekämpfung im Kreis gedreht hat und keinerlei Fortschritte erzielt wurden.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Presseschau № 5

    Presseschau № 5

    Die Trauer um die Opfer des Flugzeugabsturzes im Sinai dominiert die russischen Medien. Außerdem Thema in den russischen Zeitungen in dieser Woche: Die mangelnde Korruptionsbekämpfung und die wichtigsten politischen Entscheider neben Putin. Zudem hat ein kurioser Twittertrend das russische Internet erfasst. 

    Russland trauert um die 224 Opfer der Flugzeugkatastrophe im Sinai. Die Betroffenheit, die am Wochenende herrschte, macht in den Medien jedoch zunehmend Spekulationen Platz. Die Absturzursache des Fluges 7K9268 der russischen Fluglinie Kogalymavia auf der Route zwischen Scharm-el-Sheik und St. Petersburg ist zwar immer noch unklar, trotzdem dringen immer weitere Details an die Öffentlichkeit – ob verifiziert oder nicht: Die Rede ist von einem ungewöhnlichen Geräusch, das in der Kabine unmittelbar vor dem Absturz zu hören gewesen sei, erste Transskripte von Gesprächen aus dem Cockpit sind zu lesen. Auch das Staatsfernsehen hält sich nicht zurück. Der Korrespondent steht mitten in der Absturzstelle, fasst Wrackteile an, weist die Zuschauer auf immer noch herumliegende persönliche Gegenstände der Passagiere hin. Kogalymavia selbst hat einen technischen Fehler als Ursache kategorisch zurückgewiesen, wohl auch um Forderungen nach finanzieller Entschädigung von sich abzuwenden. Laut der Fluglinie war die Unfallmaschine in einem guten Zustand, die Crew erfahren.

    Die Politik ihrerseits versuchte den Eindruck zu vermitteln, die Katastrophe möglichst rasch aufklären zu wollen. Eine Regierungskommission wurde gegründet, den Hinterbliebenen eine finanzielle Entschädigung versprochen. Transportminister Maxim Sokolow und Alexander Bastrykin, Leiter des Ermittlungskomitees, reisten nach Ägypten. Das Katastrophenmanagement des Kremls wurde jedoch kontrovers diskutiert. Kritisiert wurde etwa, dass Präsident Wladimir Putin erst drei Tage nach dem Unfall den Angehörigen im TV sein Beileid aussprach. Zuvor hatte Putins Sprecher verlauten lassen, der Präsident plane aufgrund des Flugzeugabsturzes keinen öffentlichen Auftritt. Mit Kritik wurden auch die Medien bedacht. Etwa ob es ethisch sei, überhaupt Bilder der Verstorbenen zu zeigen. Der kremlkritische Sender Dozhd widmete dem Thema eine ganze Sendung. In Russland wird anders öffentlich getrauert als in Westeuropa: Bereits unmittelbar nachdem am Samstag das Verschwinden der Maschine vom Radar bekannt wurde, zeigten TV-Sender Urlaubsbilder, welche die Verstorbenen noch kurz vor dem Abflug auf die sozialen Netzwerke hochgeladen hatten und beleuchteten die persönlichen Geschichten der Besatzung.

    Große Aufmerksamkeit in den russischen Medien und dem Runet, wie das russischsprachige Internet in Russland selbst genannt wird, erfährt die Frage, ob es sich um einen Terroranschlag gehandelt hat. Auch für westliche Medien scheinen sich die Indizien zu erhärten. CNN berichtet von einer Bombe, die Terroristen an Bord gebracht haben können. Wedomosti beruft sich auf die Analyse der amerikanischen Denkfabrik Stratfor, wonach an Bord eine Bombe explodiert sein könnte. Offizielle Stellen in Ägypten und Russland weisen die Anschlagstheorie bislang zurück. Putins Sprecher Dimitri Peskow warnte davor, den Absturz mit der russischen Militäroperation in Syrien in Verbindung zu bringen. Sollte sich die Anschlagstheorie jedoch bewahrheiten, wäre dies ein großer Schlag für den russischen Staat, für seine Fähigkeit, Sicherheit und Leben seiner Bürger zu garantieren, meint Slon. Für viele Russen vertrauter, plausibler und direkt aus der russischen Realität gegriffen sei allerdings „die russische Nachlässigkeit“, schreibt das Magazin weiter. Kogalymavia gehe es einzig um Profitmaximierung, bei möglichst geringen Investitionen, ihre Flotte habe ein relativ hohes Durschnittsalter. Nach dem Absturz erzählten etwa Familienmitglieder der Besatzung im TV, ihre Angehörigen hätten sich über den Zustand des 18-jährigen Flugzeuges beschwert. Hinter dem Absturz könnte also ebensogut ein kaputtes Flugzeug, eine laxe Sicherheitskultur oder Korruption stehen.

    Die Ernsthaftigkeit der russischen Anstrengungen zur Bekämpfung der Korruption ist fraglich. Internationale Standards zu etablieren, zu denen einzelne Staaten nicht bereit seien, sei unzulässig, bekräftigte Sergej Iwanow, der Chef der Präsidialadministration, in seiner Rede auf der UN-Konferenz zur Korruptionsbekämpfung in St. Petersburg. Mit solchen Auftritten will der Kreml einzig von den eigenen Versäumnissen bei der Korruptionsbekämpfung ablenken, kritisiert Transparency International Russland und macht darauf aufmerksam, dass Russland den Artikel 20 der UNO-Antikorruptionskonvention, der illegale Bereicherung unter Stafe stellt, immer noch nicht ratifiziert hat. Offiziellen Angaben zufolge ist zudem die durchschnittliche Bestechungssumme gestiegen. Als erfolgreiches Beispiel zur Korruptionsbekämpfung verweist Moskau gerne auf die Verhaftung des Gouverneurs von Komi, Wjatscheslaw Gajser. Das Ermittlungskomitee eröffnete im September gegen Gajser und 19 weitere hochrangige Beamte ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bei Hausdurchsuchungen seien mehr als 60 Kilogramm Schmuck gefunden worden.

    Dass sich die Behörden bezüglich Korruption nicht gerne reinreden lassen, zeigte sich auch am Rande der Konferenz. Als Aktivisten des Fonds für den Kampf gegen Korruption den Konferenzteilnehmern in St. Petersburg eine Broschüre über die illegale Bereicherung russischer Politiker verteilen wollten, wurden sie von der Polizei festgehalten. Regelmäßig veröffentlicht der von Alexej Nawalny gegründete Anti-Korruptionsfonds Berichte über das angebliche Luxusleben hochrangiger Politiker, unter anderem zur teuren Luxusuhr, die Putins Sprecher Dimitri Peskow bei seiner Hochzeit trug. Zuletzt stand Verteidigungsminister Sergej Schoigu im Zentrum der Aufmerksamkeit – die angeblich 18 Millionen Dollar teure „Datscha“ schaffte es sogar bis in die Bildzeitung. In Russland selbst sind die Reaktionen auf den Palast des Verteidigungsminister gemischt. Einige zeigen sich wütend, für andere hat Schoigu seiner Verdienste um die Armee wegen einen solchen Palast mehr als verdient. Auch wenn das offizielle Moskau die Veröffentlichungen des Anti-Korruptionsfonds jedesmal geflissentlich nicht zur Kenntnis nimmt, ein Dorn im Auge scheint die Arbeit von Nawalny den Behörden doch zu sein. Anfang Oktober brachte der Inlandsgeheimdienst FSB ein Gesetzesprojekt ein, nach dem Informationen über die Besitzer von Villen, Jachten und Flugzeugen nicht mehr an zivilgesellschaftliche Akteure erteilt werden dürfen. Ein Schutz vor Alexej Nawalny, kommentierte RBC Daily.

    Von Interesse ist die Moskauer Elite nicht nur für Korruptionsbekämpfer, sondern auch für Kreml-Astrologen: Jewgeni Mintschenko hat dieser Tage eine neue Version seiner alljährlichen Präsentation Politbüro 2.0 veröffentlicht. So bezeichnet Mintschenko das informelle Netz rund um Präsident Putin, welchen nachgesagt wird, die Entscheidungen im Land zu treffen. Besonders einflussreich: Sergej Iwanow aufgrund der Militäroperation in Syrien, da er dem Präsidenten zu dem Schritt geraten haben soll. Auch Premierminister Dimitri Medwedew ist wieder näher an Putin herangerückt. Grund dafür sind die Dumawahlen von 2016, für die Medwedew als Parteivorsitzender der Kreml-Partei Einiges Russland antritt. Vor einem Jahr belegte er gemeinsam mit dem Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin noch den letzten Rang innerhalb des „Politbüros“, nun ist es der vierte Rang. Ebenfalls an Einfluss gewonnen hat der Oligarch Arkadi Rotenberg. An Einfluss verloren haben laut Mintschenko dagegen Igor Setschin, der Präsident des Ölkonzerns Rosneft, und der Oligarch Gennadi Timtschenko.

    Zum Abschluss nun noch ein aktueller russischer Twitter-Trend: Rechtzeitig zum Tag der Einheit des Volkes am 4. November rief die staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti dazu auf, unter dem Hashtag #здесьхорошо (#hieristesschön) Fotos ihrer Lieblingsecke in Russland hochzuladen. Doch anstatt pflichtbewusst sibirische Wälder, goldene Kirchtürme oder einen Sonnenuntergang über dem Schwarzen Meer zu posten, drehten viele Nutzer den Spieß einfach um. Unter #hieristesschön finden sich nun fast ebensoviele Bilder kaputter russischer Straßen, einer fallenden Ölpreiskurve, oder wiederum die prächtigen und luxuriösen Paläste der Oligarchen und Beamten.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • November: Arnold Veber

    November: Arnold Veber

    Wenn Moskaus junge Szene feiert, ist der Fotograf Arnold Veber mit der Kamera dabei. Er selbst sieht in den nächtlichen Exzessen eine Reaktion auf Leere und Perspektivlosigkeit der russischen Gesellschaft – aber unterscheiden sie sich wirklich so sehr von dem, was nachts auf den Straßen von Neukölln oder Shoreditch geschieht? Aus Vebers Serie „Wtschera ja wsjo“ (ungefähr: Gestern hab ich’s mir gegeben) von 2015 stammt auch unser Titelbild für den November.

    „Schon ungefähr sechs Jahre fotografiere ich die Szene jetzt, aber früher sind die Leute nicht in diesem Maße ausgetickt“, sagt der junge Fotograf Arnold Veber (geb. 1991), der sich trotz seines deutsch klingenden Namens keiner deutschen Vorfahren bewusst ist, in einem Interview. „Einerseits ist diesen Leuten eigentlich alles völlig egal, aber andererseits bemühen sie sich, up-to-date zu sein, modisch, und bei allen gibt es so eine, sagen wir, Verlorenheit.“ 

    In manchem erinnern Vebers Fotos an die Arbeiten des russischen Großmeisters der Dokumentarfotografie Igor Mukhin, der auch sein Lehrer an der renommierten Rodtschenko-Schule für Fotografie und Multimedia in Moskau war. Mukhin wurde bereits in den 90ern durch seine Arbeit mit Rockmusikern zu einem Chronisten des Moskauer Nachtlebens. Was hat sich seitdem verändert? Bei einigen Aufnahmen Vebers fragt man sich für einen Augenblick, in welchem Jahrzehnt, ja in welchem Jahrtausend man sich überhaupt befindet. Feiert die Jugend nicht immer und überall irgendwie gleich? 

    Zumindest in fotografischer Hinsicht springt dann aber der Generationenunterschied zwischen den beiden Künstlern deutlich ins Auge. Veber fotografiert viel unmittelbarer, viel dreckiger, in seinen Arbeiten lässt sich deutlich der Einfluss von Autoren wie Wolfgang Tillmans entdecken, die ihre Sujets nicht nur von außen untersuchen, sondern selbst Teil der von ihnen eingefangenen Kultur sind.

    Veber hat zunächst viel mit Video gearbeitet und sich auf diesem Weg erst nach und nach an das stillstehende Bild herangetastet. Dieses ist bei ihm oft so großartig komponiert, dass die Banalität der Szenerie vollkommen hinter der Macht von Grafik und Erzählung zurücktritt. So scheinen bei ihm drei einander nackt umarmende Mädchen unter ihrer Bettdecke wie in einer Wolke zu schweben, der Arm eines Pelzmantels schiebt sich molluskenhaft ins Bild, um am anderen Bildrand eine Flasche aus einer Manteltasche zu ziehen, eine skurrille Tanzbewegung von Beinen in reflektierenden Leggings gibt dem Einschenken eines Tequilashots eine unfreiwillige Komik, und vor der Kulisse eines winterlichen Stalin-Hochhauses wirken beiläufig gehaltene Zigaretten wie in die Oberfläche des Fotos eingeschnittene Riefen – bildbestimmend. Alles ist dabei durchtränkt von heftigem Gefühl, von Träumerei, von Sexualität (soll man es hier Begehren nennen?), und auch von Rohheit und  – unterschwelliger – Brutalität. Zärtlichkeit jedenfalls begegnet einem auf diesem Bildern nur in Momenten der Erschöpfung  – oder, vielleicht, der Trance.

    Nur selten kann man in dieser Unmittelbarkeit und dieser künstlerischen Qualität Blicke in ein Leben werfen, das für den Rest der Menschen weitgehend im Verborgenen stattfindet. Dies müssen auch die Kuratoren des alljährlichen Künstleraustauschs zwischen Moskau und Düsseldorf bemerkt haben, als sie Veber gemeinsam mit der Foto-Künstlerin Vivian del Rio für einen zweimonatigen Arbeitsaufenthalt an den Rhein einluden, wo im Atelier am Eck bis zum 25. Oktober dieses Jahres ihre Doppelausstellung gezeigt wurde. 

     

    Fotos: Arnold Veber
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, einführender Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 03.11.2015

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    Oktober: Denis Sinjakow

    September: Olga Ludvig

  • Presseschau № 4

    Presseschau № 4

    Den roten Faden für die Presseschau in dieser Woche bilden die Medien selbst: Von den russischen Staatsmedien wird der Militäreinsatz in Syrien mit allen ästhetischen Mitteln in Szene gesetzt, außerdem verlieren viele unabhängige Medien aufgrund eines neuen Gesetzes weiter an Handlungsspielraum. Zwei Schlüsselfiguren der russischen Medienszene sind bereits von ihren Ämtern zurückgetreten.

    Die Kamera fliegt über eine zerstörte Stadt. Panzer feuern, Geschosse schlagen in Gebäude ein. Menschen versuchen sich vor den Gefechten in Sicherheit zu bringen. Unterlegt ist die Szene mit harten Elektroklängen. Die postapokalyptisch anmutenden Bilder aus der Vogelperspektive erinnern an ein Videospiel, an einen Hollywood-Blockbuster. Doch der knapp vier Minuten lange Film zeigt keine Fiktion, sondern soll eine Offensive der syrischen Armee in Jobar, einem Vorort von Damaskus, zeigen. Auf YouTube ist der Clip wegen Verletzungen des Copyrights inzwischen gesperrt. Vorher wurde er aber mehr als 2 Millionen mal angeklickt.

    Gefilmt wurden die Bilder von russischen Kriegskorrespondenten mit einer Drohnen-Kamera. Die russische Propaganda zeigt die Luftschläge als präzise und technisch bestens organisiert, als sauberen und einfachen Krieg, wie Andrej Perzew von der Denkfabrik Carnegie in Moskau schreibt. Eigene Crews der Staatsmedien begleiten die russische und syrische Armee. Berichtet wird von militärischen Erfolgen, Korrespondent und Kamera scheinen stets hautnah mit dabei zu sein. Gezeigt werden die Bilder unter anderem in der TV-Sendung Wojna (Krieg) im staatlichen Nachrichtenkanal Rossija 24. Hier berichtet Kriegskorrespondent Ewgeni Podduby regelmäßig von Kriegsschauplätzen. Untermalt von dramatisch klingender Musik beschränkt sich die Sendung meist auf das Zeigen angeblich militärischer Erfolge und den Einsatz modernen Kriegsgeräts, Kritik am russischen Vorgehen kommt nicht vor. Gefilmt wird gerne direkt im Schützengraben, in kugelsicherer Weste, mit Helm oder in Nachtsichtoptik für mehr Authentizität – vor einigen Monaten noch aus der Ostukraine, nun aus Syrien.

    Ob die Beiträge dem TV-Publikum ein deutlicheres Bild von der Militäroperation und der Lage in Syrien vermitteln, ist fraglich. Von einer PR-Kampagne eigens für die Generation Putin schreibt Slon. Die Pressearbeit des russischen Verteidigungsministeriums ist Militärexperten zufolge in der Tat neu. Man gibt sich transparent, wohl auch, um von Berichten diverser Menschenrechtsorganisationen abzulenken, die von zivilen Opfern russischer Luftschläge berichten. Kritische Experten werden wiederum in den Abendnachrichten diskreditiert. Die Militärs veröffentlichen hochauflösende Bilder und Videos von anscheinend hochpräzisen Bombenabwürfen und verbreiten diese in sozialen Netzwerken. Deren Videospiel-Ästhetik führte wohl auch dazu, dass ein TV-Moderator in Ägypten gleich Bilder zeigte, die aus einem Videospiel stammen, um den Erfolg russischer Angriffe zu zeigen.

    Unabhängige Berichterstattung dürfte in Russland künftig noch schwieriger werden, nicht nur in Bezug auf bewaffnete Konflikte. Der Kreml hat in den vergangenen Monaten die Kontrolle der Medienbranche verstärkt. Anfang 2016 tritt ein Gesetz in Kraft, welches ausländischen Unternehmen verbietet, mehr als 20 Prozent an russischen Medien zu halten. Bereits haben erste Medienunternehmen ihre Anteile verkauft und sich aus Russland zurückgezogen, darunter Edipresse aus der Schweiz und Axel Springer aus Deutschland. Zu Diskussionen Anlass gab insbesondere die Zukunft der Zeitschrift Forbes, die Axel Springer Russland als Lizenzausgabe der amerikanischen Forbes herausgab. Mit ihrer Liste der reichsten Oligarchen und Beamten erregte die Zeitschrift immer wieder Aufsehen, der mächtige Rosneft-Chef Igor Setschin gewann wegen der geschätzten Höhe seiner angeblichen Einkünfte, die das Magazin veröffentlichte, gar einen Prozess gegen Forbes. Übernommen wurde das Tochterunternehmen des deutschen Verlagshauses nun von Alexander Fedotow, Besitzer von Artcom Media. Bereits in seinem ersten Interview versprach der neue Besitzer zwar, sich nicht in die redaktionellen Belange einmischen zu wollen, machte jedoch klar, was er ändern will. Forbes sei in Russland zu politisch. Politik und Gehälter von Beamten seien aber nicht Themen, die die Leser in erster Linie interessieren würden, wie er auch in einem Interview mit der Moderatorin Xenija Sobtschak bekräftigte. Als Folge scheiterte der geplante Verkauf von 20 Prozent an Regina von Flemming. Die bisherige Vorstandsvorsitzende von Axel Springer Russland trat daraufhin zurück. Fedotow kündigte zudem an, Geo, Gala-Biographie und die Kinderversion von Geo einstellen zu wollen.

    Bereits im Mai verkaufte die finnische Mediengruppe Sanoma ihren Anteil an der Moscow Times, der einzigen englischsprachigen Zeitung in der russischen Kapitale, an Demian Kudrjawzew, bis 2012 CEO des Verlagshauses Kommersant. Kudrjawzew verneinte einen Einfluss des Kremls auf den Kauf und kündigte an, Geld für die Modernisierung der notorisch unterfinanzierten Zeitung in die Hand zu nehmen. Wohl nicht genug, wie sich nun zeigt. Kommenden Monat stellt das Blatt auf wöchentliche Erscheinungsweise um. Nun hat auch Chefredakteur Nabi Abdullaew seinen Rücktritt angekündigt. In einem Interview nannte er Unstimmigkeiten mit dem neuen Besitzer bezüglich der künftigen Aufteilung der Zuständigkeiten über die Redaktion als Grund.

    Unklar ist bislang, wie sich die Situation um die renommierte Wirtschaftszeitung Wedomosti weiter entwickelt. Sanomoa, verkaufte seinen 33-prozentigen Anteil ebenfalls an Kudrjawtsew. Die Besitzer der Financial Times und des Wall Street Journals, welche die restlichen Anteile halten, müssen nun bis Jahresende jeweils ebenfalls auf höchstens 20 Prozent reduzieren. Der stärkere Griff der Politik nach der Medienbranche hatte sich angekündigt: Bereits bei der Parlamentsdebatte im vergangenen Jahr war die Rede vom Kampf gegen eine Fünfte Kolonne. Das Ausland habe einen Informationskrieg angezettelt, dem es zu begegnen gelte. Der Schutz der nationalen Souveränität, von der der Vorsitzende der Staatsduma Sergej Naryschkin damals sprach, geht gewissen Politikern allerdings noch nicht weit genug. Diskutiert wird zurzeit ein Gesetzesvorschlag, laut dem Medien jegliche Art von ausländischer Unterstützung melden müssen, ähnlich dem Gesetz, laut welchem NGOs mit ausländischer Finanzierung unter das Register ausländischer Agent fallen.

    A propos NGOs: Diese Woche wurde die Liste mit den russischen NGOs veröffentlicht, die finanzielle Unterstützung vom Kreml erhalten. Am meisten Geld erhalten patriotische Projekte und Organisationen, etwa die Biker von den Nachtwölfen oder die Bewegung Antimaidan. Unterstützt werden aber auch ausländische Agenten, darunter etwa Memorial oder die St. Petersburger Soldatenmütter. Gerade für viele kleinere NGOs kompensieren die Kreml-Gelder den Wegfall der ausländischen Finanzierung jedoch nicht. Das Beispiel einer Hotline in Moskau, die Opfern sexueller Gewalt hilft, zeigt, dass die Zivilgesellschaft immer stärker auch unter finanziellem Druck steht.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Presseschau № 3

    Presseschau № 3

    Schwerpunkt diese Woche: der Zustand der russischen Wirtschaft. Welche Diagnosen werden in Russland selbst erstellt, wie verlässlich sind sie, und wie wirkt sich die ökonomische Lage auf das alltägliche Leben der Bürger aus? Außerdem: Assad in Moskau, syrische Flüchtlinge am Moskauer Flughafen Scheremetjewo, die Intransparenz der Entscheidungsfindung im Kreml und eine Bemerkung zu westlichen Experten, die von russischen Quellen zitiert werden.

    Krise, was für eine Krise? Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew spricht lieber von hohen Preisen, unter denen die Menschen in Russland im Moment zu leiden haben oder davon, dass den Produzenten derzeit halt schlicht ein Vertrieb für ihre Produkte fehlt. Aber noch immer stöhnt Russland unter der Wirtschaftskrise und den Sanktionen. Mit seiner Wortwahl ist der Minister aber nicht allein, wie die Zeitung „Vedomosti“ feststellt. Zeitweise sei gar das Wort Krise in den Staatsmedien verpönt gewesen. Auch Präsident Wladimir Putin verbreitet regelmäßig optimistische Nachrichten: Der Höhepunkt der Krise sei erreicht, die Wirtschaft passe sich den neuen Umständen an, behauptete er zuletzt vergangene Woche beim Wirtschaftsforum „Russia calling“ in Moskau. Nun wächst die Hoffnung, die Talsohle könnte bereits durchschritten sein. Im September gab es bereits wieder ein Wachstum von 0,3 Prozent. Auch die Zentralbank spricht von einer Stabilisierung der Wirtschaft. Ende 2015 soll die Inflation bei 12 bis 13 Prozent liegen, bis 2017 möchte die Bank die Teuerung auf vier Prozent begrenzen. Russische Experten, wie etwa der renommierte Wirtschaftsexperte Jewgeni Gontmacher sehen solche Prognosen allerdings kritisch. Trotzdem rief das Wirtschaftsministerium diese Woche bereits das Ende der Krise aus. Nach einem Wirtschaftsrückgang von 3,9 Prozent in diesem Jahr wird für 2016 schon wieder ein geringes Wachstum von 0,7 Prozent erwartet, schenkt man den jüngsten Prognosen des Ministeriums Glauben.

    Der verbreitete Optimismus könnte aber verfrüht sein. Auch in den nächsten Jahren stellen die außenpolitische Lage und der tiefe Ölpreis für die Erholung der russischen Wirtschaft noch Risiken dar, wie gazeta.ru schreibt. Auch halten sich die Folgen der Krise im Alltag hartnäckig. Die Preise für Lebensmittel sind im vergangenen Jahr gestiegen, bei Früchten zwischen 30 und 50 Prozent, wie RBK Daily schreibt. Die Teuerung ist zum Teil auch den Sanktionen geschuldet. Da man plötzlich keine Lebensmittel mehr aus den EU-Ländern importieren konnte, hat sich das Angebot verringert und die Preise dafür sind gestiegen. Auch sind die Reallöhne in diesem Jahr um neun Prozent gesunken. 21,7 Millionen Menschen (15,1 Prozent) lebten im ersten Halbjahr 2015 in Russland in Armut. Das heißt unter dem Existenzminimum von monatlich 10.017 Rubel [140 Euro]. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 18,9 Millionen Menschen.

    Belastet wird das russische Budget auch durch die Militärintervention in Syrien. Vier Millionen Dollar pro Tag soll der Einsatz laut der Moscow Times kosten. Seit Beginn des Einsatzes am 30. September belaufen sich die Kosten auf schon insgesamt 80 bis 115 Millionen US-Dollar. Doch davon berichten die staatlichen Medien kaum. Mehr Platz bekam da schon der Überraschungsbesuch des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad am Dienstagabend bei Wladimir Putin im Moskauer Kreml, inklusive einem Bericht über das servierte Menu. Höflich bedankte sich der russische Präsident dafür, dass al-Assad trotz der dramatischen Situation in seinem Land auf seine Einladung reagiert habe. Ohne russische Hilfe hätte sich der Terror bereits überall in Syrien ausgebreitet, revanchierte sich Assad. Das wichtigste sei allerdings, dass der Einsatz im Rahmen der internationalen Gesetze erfolge, so Assad weiter. Angesichts der Kollateralschäden unter der zivilen Bevölkerung durch die russischen Luftschläge eine zumindest fragwürdige Argumentation. Schutz und Unterstützung für syrische Flüchtlinge ist in Russland kein Thema, der Flüchtlingsstatus wird nur ganz selten erteilt. Wer ohne Visum einreist und nach Europa weiter will, muss damit rechnen, deportiert zu werden. Moskau sieht Flüchtlinge aus Syrien als Sicherheitsrisiko. Und die Novaya Gazeta hat diese Woche eine syrische Familie besucht, die bereits einen ganzen Monat im Terminal E am Flughafen Scheremetjewo lebt, nachdem ihnen die Einreise verwehrt wurde.

    Der Chef der Präsidialadministration suchte derweil diese Woche die Bedenken über die Operation in Syrien zu zerstreuen. In einem großen Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur Tass erzählte Sergej Iwanow von einem wohlüberlegten, nicht hastigen Entscheid zur Militärintervention. Mit dem Interview will der Kreml im Inland auch Stimmen entgegenwirken, welche ihm eine chaotische und einzig nach kurzfristigen Überlegungen ausgerichtete Entscheidungsfindung unterstellen, meint die Politologin Ekaterina Schulmann. Unklar ist jedoch auch nach dem Iwanow-Interview, wer denn am Ursprung der Entscheidung für den Syrien-Einsatz steht. Berichte und Gerüchte westlicher Medien, ein Trio bestehend aus Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dem Sekretär des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew und ihm selbst habe Putin von der Militäroperation überzeugt, wehrt der Chef der Präsidialabteilung ab. Der Journalist Oleg Kaschin kritisiert die Aussagen Iwanows: Man habe überhaupt keine Möglichkeit herauszufinden, wie denn die Entscheidungen innerhalb der russischen Regierung getroffen würden.

    Noch ein Nachtrag zu einem der Themen von vergangener Woche: Die russischen Staatsmedien warfen dem niederländischen Bericht zur MH-17 Katastrophe durchweg mangelnde Objektivität vor. Einige westliche Medien hätten nun aber damit begonnen, auf die russische Position umzuschwenken. Illustriert wurde diese Behauptung mit einem Artikel der Seite globalresearch.ca. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Zeitung oder ein etabliertes Internetportal, wie der Journalist und Medienexperte Alexej Kowaljow auf seinem Blog schreibt, sondern um eine Sammelseite für Verschwörungstheorien aller Art. Dass russische Medien sich auf westliche Experten berufen, die man schwerlich als solche bezeichnen kann, kommt häufiger vor: Etwa auch im Fall Lorenz Haag. Der deutsche Professor war lange Zeit ein begehrter Gesprächspartner für viele russische Medien. Die Geschichte hatte nur einen Schönheitsfehler: Titel und angebliches Institut waren frei erfunden.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 1

    Presseschau № 2

  • Presseschau № 2

    Presseschau № 2

    Die russische Medienwelt war diese Woche von militärischen Themen bestimmt. Hauptgegenstand war die Untersuchung zum Abschuss der niederländischen Linienmaschine MH-17 über der Ukraine. Berichte werden mit Gegenberichten gekontert, eine Suche nach Objektivität ist nicht zu erkennen. Auch die Medienunterstützung für die Syrien-Kampagne hat an Intensität zugelegt. Sogar in der Diskussion um den Literaturnobelpreis für Swetlana Alexijewitsch wird der militärische Faktor geltend gemacht. 

    Politisches Taktieren, Ungereimtheiten, Verschwörungstheorien bis hin zu schlichten Lügen begleiten seit dem Absturz des Fluges MH-17 in der Ostukraine im Juli 2014 die Aufklärung der Katastrophe mit 298 Todesopfern. Besonders russische Medien und Behörden setzen Theorien in die Welt, die sich schon mehrmals als plumpe Fälschung erwiesen haben.

    Und auch die in dieser Woche vom russischen Rüstungskonzern Almaz-Antey präsentierten Berichte stifteten eher noch mehr Verwirrung, als dass sie zur Klärung des Unglücks beitrügen. Auf meduza.io findet sich eine Auflistung der bisherigen Berichte. Der Konzern veröffentlichte seinen Bericht quasi zeitgleich mit den Ermittlungen der niederländischen Untersuchungskommission. Nach aufwändigen Experimenten kommt Almaz-Antey in einigen Punkten zwar zu einer Übereinstimmung mit den Niederländern, etwa dass die Passagiermaschine wohl von einer Buk-Rakete zum Absturz gebracht wurde. Beim vermuteten Abschussort der Rakete und dem verwendeten Gefechtskopf gehen die Ergebnisse aber auseinander. Damit widerspricht der Staatskonzern allerdings eigenen Untersuchungen, war man doch noch im Juni beim Typ des Gefechtskopf zum gleichen Schluss gekommen wie nun die Niederländer. Jetzt sollen jedoch die charakteristischen Einschusslöcher am Wrack wieder fehlen. Für die Staatsmedien war das Verdikt klar: Russland werde durch die neuen Berichte entlastet, auch weil der laut Almaz-Antey verwendete Raketentyp längst von der russischen Armee ausgemustert worden sei. Zudem habe Kiew fahrlässig gehandelt, da der Luftraum nicht gesperrt wurde. Überhaupt wüsste doch wohl Almaz-Antey als BUK-Hersteller am besten über die Eigenschaften der Rakete Bescheid, höhnte etwa die Komsomolskaja Prawda. Kein gutes Haar ließ auch die russische Luftfahrtagentur Rosaviatsia am niederländischen Bericht: Die Niederländer hätten schlampig gearbeitet und Ermittlungen voller himmelschreiender Unlogik publiziert. Auch der Kreml spricht dem Team Objektivität ab.

    Vedomosti plädierte dagegen für internationale Kooperation. Um seine Unschuld zu beweisen, müsste Moskau eigentlich mehr als jeder andere Akteur daran interessiert sein, die Katastrophe aufzuklären, schrieb die Zeitung. Kritisch analysiert wurde der neue Bericht jedoch fast nur im Runet. Slon listete die unterschiedlichen Abschussorte der Rakete auf, die bisher genannt wurden. Die Behauptung Moskaus, die Rakete sei aus einem Gebiet abgeschossen worden, welches damals von ukrainischen Regierungstruppen gehalten wurde sei falsch, folgert Slon. Der Ort hätte unter Kontrolle der prorussischen Separatisten gestanden. Der Journalist Sergej Parchomenko machte darauf aufmerksam, dass Almaz-Antey  zu ganz unterschiedlichen Ermittlungsergebnissen kommt, je nachdem ob diese für die russische Propaganda oder für den internationalen Gebrauch gedacht sei.

    Die Auslandsberichterstattung wird nach wie vor von Syrien dominiert. Täglich erläutern in den TV-Nachrichten Militärs in Hightech-Kommandozentralen vor riesigen Bildschirmen die Einsätze und loben erfolgreiche Zerstörungen ausgewählter Ziele. Der Kampf gegen den Terrorismus gilt als wichtig und richtig, wie der Kreml nicht müde wird zu betonen. Dazu passend hat das Verteidigungsministerium bereits neue T-Shirts herausgebracht: „Unterstützung für Assad“, ist darauf zu lesen. Internationale Kritik am Einsatz wird mit der neuen TV-Sendung Propaganda auf dem für seine Schmutzkampagnen berüchtigten Sender NTW gekontert. Zu Eilmeldungen von CNN und Fox News, russische Raketen seien fälschlicherweise im Iran eingeschlagen, heißt es nur: Moskau und Teheran hätten dies dementiert. Alles, was die Zuschauer über diese TV-Stationen wissen müssten, ist, dass sie sehr viele Lügen verbreiten.

    Gefeiert wurde diese Woche der Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch. Die weißrussische Autorin habe das schwierige Kunststück vollbracht, den postsowjetischen Menschen für sich selbst sprechen zu lassen, heißt es im Magazin Snob. Aus nationalistischen Kreisen wurde die Auszeichnung allerdings kritisiert: Der TV-Sender Dozhd fasst einige der Reaktionen zusammen und zitiert den Chefredakteur der Literaturnaja Gaseta, der behauptet, ohne die russische Miliärkampagne in Syrien hätte Alexijewitsch den Nobelpreis nie erhalten. In einer weiteren Meldung wird ihr gar Russlandhass unterstellt. Richtig ist, dass Alexijewitsch immer wieder politisch klar Stellung zugunsten der einfachen Leute bezieht und sich Kritik an Präsident Putin, am autoritären System in Weißrussland und zuletzt auch an der russischen Aggression in der Ukraine und der Intervention Moskaus in Syrien nicht verbieten lässt. Zu einer neuen Diskussion der eigenen Vergangenheit im postsowjetischen Raum wird der Preis wohl aber nicht führen. In Russland etwa genießen nach wie vor die Geschichtsbücher von Kulturminister Wladimir Medinski große Popularität, der mit angeblichen Mythen der russischen Geschichte aufräumen will. Dies bedeutet wohl in erster Linie eine staatsgetreue Historiografie denn eine wissenschaftlichen Kriterien genügende Darstellung. Anfang Oktober verlieh sein Verlag dem Minister gar eine Auszeichnung für eine Million gedruckter Exemplare. Nun stellt Medinski seine Bücher auch auf der Frankfurter Buchmesse vor. Der Titel der Diskussion: „Russland und Europa. Gemeinsame Geschichte. Unterschiedliche Aufarbeitung“.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Russland als globaler Dissident

    Albrights Un-Worte

    Presseschau № 1

    Kontakt der Zivilisationen

    Banja, Jagd und Angeln …

  • Presseschau № 1

    Presseschau № 1

    Militärisches und Außenpolitik standen diese Woche in den russischen Medien im Mittelpunkt. Das beherrschende Thema war Syrien, zahlreiche Beiträge verbreiten Kriegsbegeisterung, sogar die Kirche trägt ihren Teil dazu bei. Die Berichterstattung über die Ukraine, in der die Waffen derzeit weitgehend schweigen, ist stark in den Hintergrund getreten. Aufmerksamkeit haben noch zwei weitere Themen erregt: der offene Brief des liberalen Journalisten Oleg Kaschin, der die Brutalität des Regimes anprangert, der er selbst beinahe zum Opfer gefallen wäre. Außerdem: der Geburtstag des Kreml-Chefs. 

    „Die Syrer schauen mit Hoffnung in den Himmel“, titelte die Komsomolskaja Prawda, eine der auflagenstärksten Boulevardzeitungen zum Auftakt der russischen Luftschläge am 30. September in Syrien. Für die Kommentatoren steht fest, Russland agiert in Übereinstimmung mit internationalem Recht. Ein Hilfsgesuch des syrischen Präsidenten al-Assad liege vor. Im Gegensatz dazu würde die von den USA angeführte Koalition rechtswidrig handeln, da weder ein Hilfsbegehren an Washington, noch ein UNO-Mandat existiere. Ein Erfolg der Militärintervention scheint außer Frage, zumindest für den staatlichen Mediensektor: Mehr als 3000 Terroristen seien bereits nach Jordanien geflohen.

    Der Kampf gegen den islamischen Terrorismus ist der neue Blockbuster. Nüchterne Berichterstattung und Propaganda gehen fließend ineinander über. Die Rede ist von „höflichen Piloten“, in Anlehnung an die russischen Soldaten, die ohne Hoheitszeichen im Februar 2014 auf der Krim auftauchten. Russische Journalisten inszenieren sich mit nacktem Oberkörper und umgehängtem orthodoxen Kreuz vor den Kampfjets, loben das Kriegsgerät und die Reichweite der Bomben. Eine Wetteransagerin im staatlichen TV prognostiziert den russischen Bomberpiloten ideale Bedingungen, wenig Wind und gute Sicht. Bereits bei Offensiven der prorussischen Separatisten in der Ostukraine orakelten russische Meteorologen über atmosphärische Einflüsse auf das Kampfgeschehen.

    Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche erteilt der Militärkampagne ihren Segen. Laut Patriarch Kirill habe die politische Konfliktlösung der Zivilbevölkerung zu wenig geholfen, nun brauche es militärischen Schutz: Gar ein „heiliges Land“ und „unsere Erde“ nannte der Dumaabgeordnete Semen Bagdasarow Syrien. Ohne Syrien gäbe es keine orthodoxe Kirche und kein Russland. Bagdasarow versucht damit, die Militärintervention in die gleiche Argumentationslinie zu stellen wie die Angliederung der Krim. Präsident Wladimir Putin schreibt der ukrainischen Halbinsel große zivilisatorische und sakrale Bedeutung für Russland zu.

    Gemäßigte Stimmen, wie der Journalist Alexander Baunow, sehen im syrischen Militäreinsatz Russlands auch den Versuche des Kremls, die internationale Isolation zu durchbrechen und wieder in einen Dialog mit dem Westen zu treten. Offene Kritik wird nur vereinzelt laut. Vor einem langen und sinnlosen Krieg warnt der Analyst Alexander Golts in der Moscow Times. Die Zeitung Vedomosti glaubt den offiziellen Verlautbarungen nicht und sieht neben dem Verlust des Prestiges Moskaus in der muslimischen Welt eine Vorbereitung der öffentlichen Meinung für den Einsatz russischer Bodentruppen voraus. Vor allem Aussagen von Admiral Wladimir Komojedow, Chef des Verteidigungskomittees in der Staatsduma, der zu verstehen gab, dass Freiwillige aus der Ukraine schon bald in Syrien kämpfen könnten, lassen Vedomosti solches vermuten.

    In der Ukraine hält die Waffenruhe noch immer weitgehend an. Im Zeichen einer Normalisierung bewerteten die Medien auch den Gipfel in Paris, wo sich die Staatschefs des Normandie-Formats trafen, um über die Ukraine zu beraten. Der Ukraine-Krieg sei beendet, ließen gar die prorussischen Separatisten verlauten, die ihre angekündigten Lokalwahlen auf Anfang 2016 verschoben. Die mediale Aufmerksamkeit sinkt. Noch 250 Nachrichtenbeiträge gab es im September zur Ukraine, im Februar 2015 waren es laut der Medienbeobachtungsstelle Medialogia mehr als 1250.

    Innenpolitisch gab der offene Brief von Oleg Kaschin zu reden – hier in der englischen Übersetzung. Der prominente Journalist berief sich dabei explizit auf den Offenen Brief an die Sowjetführung Alexander Solschenizyns (1973), in dem dieser die herrschende Sowjetideologie denunzierte. Kaschin, der 2010 nach einem Angriff unbekannter Täter ins Koma fiel und kürzlich nach eigenen Ermittlungen deren Namen veröffentlichte, kritisiert die russische Führung aufs Heftigste. Seine Anklage gegen deren Untätigkeit bei der Aufklärung der Attacke auf ihn weitet er zu einer polemischen Kritik der vergangenen 15 Jahre aus. Putin und Medwedew seien durch den Aufbau eines durch und durch korrupten Systems persönlich für die „moralische Katastrophe“ einer ganzen Generation verantwortlich. Während kremltreue Medien einzig die Frage interessierte, ob Putin auch auf den Brief reagiert, diskutieren kremlkritische Medien vor allem, ob sich Kaschin mit der Veröffentlichung den Vorwurf der Naivität gefallen lassen muss oder ob der Brief tatsächlich etwas bewegen kann. So sieht der Chefredakteur des Radiosenders Echo Moskau, Alexej Wenediktow, den Text als wichtiges Manifest eines Politikers, der Internetpionier und Blogger Anton Nossik hingegen bewertet den Brief als naiv. Putin wie Medwedew und Kaschin seien in einem System aufgewachsen, in dem Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit immer Worthülsen gewesen seien. Maximal amüsieren würde sich die politische Elite über einen solchen Brief. Beantwortet hat Putin den Brief übrigens nicht. Der Autor habe es wohl nicht wirklich auf eine Antwort angelegt, wird Putins Sprecher Dimitri Peskow zitiert.

    Der Kreml-Chef selbst feierte am 7. Oktober seinen 63. Geburtstag. Für seine Anhänger stets ein willkommener Anlass, um Putin mit Geschenken zu huldigen. Über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten, aber die Ausstellung Putin Universe vereinigt doch einige eher skurrile Gemälde. Zu sehen ist Putin etwa als Mahatma Gandhi, Che Guevara oder der deutsche Kanzler Bismarck.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    „Propaganda wirkt, wenn sie auf vorbereiteten Boden fällt“

    Die Vertikale der Gewalten

    „Beide Seiten konstruieren in Syrien ihre Realität“

  • Oktober: Denis Sinjakow

    Oktober: Denis Sinjakow

    Unser Titelbild für den Monat Oktober stammt aus der Serie „Zivilisation der Flüsse” von Denis Sinjakow. Der Fotograf hat unter anderem für AFP und Reuters gearbeitet, viele Auftritte von Pussy Riot im Bild festgehalten sowie die Aktion von Greenpeace auf der Bohrplattform Priraslomnaja im September 2013 dokumentiert, die mit dem Arrest aller Teilnehmer endete, den Fotografen eingeschlossen.

    Im Netz der russischen Transportwege nehmen die Flüsse von jeher eine besondere Stellung ein. Im Mittelalter erlaubten sie, Ladungen von wertvollen Fellen aus dem Norden und Osten des Landes zu den Handelsplätzen zu bringen, an denen sie unter anderem an die Kaufleute der Hanse verkauft wurden. Auch in der Zaren- und später der Sowjetzeit herrschte auf den Flüssen ein reger Lastschiffverkehr. Heute spiegeln sich in ihrem Wasser oft nur noch die verfallenden Holzhäuser verlassener Dörfer wider.

    Die Fotografie zeigt die Figur eines ländlichen Geistlichen, wie er am hohen Ufer des Flusses Wytschegda steht und den Blick über die Wiesen und Wälder im Flusstal schweifen lässt. Sinjakow hat in den Frühsommern 2014 und 2015 gemeinsam mit dem Schriftsteller Sergej Fissenko in einem hölzernen Ruderboot die Routen der mittelalterlichen Pelzhändler vom Onegasee bis in den nördlichen Ural befahren. Die beiden Reisenden haben dabei fotografisch sowie in einem Dokumentarfilm festgehalten, was vom Leben in den Dörfern längs der Flüsse heute übriggeblieben ist.

    Foto © Denis Sinjakow
    Foto © Denis Sinjakow

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    November: Arnold Veber

    September: Olga Ludvig

  • September: Olga Ludvig

    September: Olga Ludvig

    Unser Titelbild für diesen Monat stammt von der Moskauer Fotografin Olga Ludvig. Es zeigt die Metrostation Nowojassenewskaja, die Endstation der Metrolinie 6 im Süden Moskaus. Der auf der Fotografie abgebildete neue Pavillon des nördlichen Eingangsbereichs, eine Konstruktion aus Edelstahl und Glas, wurde 2014 eröffnet.

    Die Moskauer Metro ist als Verkehrsmittel für die Stadt von lebenswichtiger Bedeutung, sie befördert pro Tag 6,7 Millionen Passagiere (zum Vergleich die Berliner U-Bahn: 1,4 Millionen). Zugleich ist sie ein prägendes architektonisches und urbanes Kulturgut. Die stille Atmosphäre einer Winternacht, wie hier von der Fotografin eingefangen, erlebt der Metro-Reisende nur selten, zur Zeit der ersten und der allerletzten Züge. Die Metro verbindet Menschen, indem sie sie in einem Tunnel in Bewegung versetzt, der dekoder, indem er ihre Worte und Gedanken durch Sprachbarrieren hindurchtunnelt.

    Foto © Olga Ludvig
    Foto © Olga Ludvig

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    November: Arnold Veber

    Oktober: Denis Sinjakow