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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 14

    Presseschau № 14

    Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow ist mit seinen Äußerungen zur russischen Opposition derzeit in aller Munde. Oppositionelle wehren sich nicht nur in den sozialen Netzwerken, während in Tschetschenien „Pro-Kadyrow“-Flashmobs organisiert werden. Außerdem wird in den Medien kontrovers über die Ereignisse in Köln diskutiert und Deutschland eine düstere Zukunft prognostiziert, während Kulturminister Wladimir Medinski sich gegen Zensurvorwürfe wehrt.

    Kadyrow.  Russland im Januar 2016: Der Krieg in Syrien und die Terrorgefahr durch den Islamischen Staat haben in den Medien der Sorge um den Verfall des Rubels  und einem neuen Skandal um Ramsan Kadyrow Platz gemacht. Der tschetschenische Republikchef attestierte der russischen Opposition in der kremlnahen Zeitung Izvestia unlängst eine „massive Psychose“. Er könnte ihnen bei der Bewältigung ihrer medizinischen Probleme helfen. Im tschetschenischen Dorf Braguny existiere eine exzellente psychiatrische Klinik, heißt es weiter in dem Text, welcher unter Kadyrows Namen veröffentlicht wurde (hier die englische Übersetzung). Oppositionelle seien „Schakale“. Man müsse sich ihnen gegenüber verhalten, wie gegenüber Volksfeinden und Verrätern, so Kadyrow zuvor während einer Pressekonferenz in Grozny.

    Die Provokation aus Grozny wäre wohl ungehört verhallt, wenn nicht Konstantin Sentschenko, Abgeordneter im Stadtparlament der sibirischen Stadt Krasnojarsk, am 14. Januar auf seiner Facebook-Seite Kadyrow seinerseits als Schande für Russland bezeichnet hätte, nur um sich knappe 24 Stunden später für seine Aussage zu entschuldigen. Die Geschichte ist verworren, wirft allerdings ein Schlaglicht auf das Regime von Angst und Unterdrückung, welches der seit 2007 amtierende Kadyrow und seine Getreuen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien in den vergangenen Jahren errichtet haben. Und so schrieb dann auch der Abgeordnete Sentschenko, dass ihn ein längeres Gespräch mit einer in ganz Russland bekannten Person von Kadyrows Autorität überzeugt habe. Auf der Instagram-Seite des tschetschenischen Machthabers tauchte daraufhin ein Video auf, in welchem sich Sentschenko für sein Unrecht entschuldigte. Kadyrow kommentierte mit: „Ich nehme an)))))“.

    Ihre Fortsetzung fand die Affäre im Internet, wo sich Oppositionelle den Drohungen aus Grozny entgegenstemmten. Während die Journalisten Xenija Sobtschak und Pawel Lobkow in ihrer Sendung auf dem kremlkritischen Sender TV Dozhd ironische Entschuldigungen an Kadyrow richteten, drohte Magomed Daudow, tschetschenischer Parlamentschef und loyaler Wegbegleiter Kadyrows, auf seiner Instagramseite der Opposition mit Tarzan, dem Hund des Republikchefs und dessen „juckenden Zähnen“. Als Antwort darauf veröffentlichten Vertreter der Opposition wiederum Bilder ihrer Haustiere: der Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow etwa ein Bild seines riesigen tibetanischen Mastiffs. In Grozny wurden derweil Demonstrationen zur Unterstützung von Kadyrow organisiert und tschetschenische Medien berichteten von Pro-Kadyrow-Flashmobs. Hier noch eine ausführliche Chronologie der Ereignisse.

    Mit politischen Konsequenzen werden Kadyrow und seine Entourage wohl auch nach dieser Provokation nicht zu rechnen haben. Nach längerem Schweigen aus dem Kreml erteilte Putins Sprecher Dimitri Peskow Kadyrow gar noch Rückendeckung. Dessen Äußerungen würden sich auf die „nicht-systemische Opposition“ beziehen, welche außerhalb der legitimen politischen Arena agiert. Vertreter der außerparlamentarischen Opposition dürften Peskows Worte nicht sonderlich beruhigen. Die Moscow Times weist darauf hin, dass mit dem Begriff „systemische Opposition“  üblicherweise diejenigen Parteien bezeichnet werden, welche im Parlament sitzen und als loyal zum Kreml gelten. Kadyrow selbst will nach Ansicht der russischen Medien rechtzeitig zum Jahrestag der Ermordung von Boris Nemzow, deren Spuren nach Grozny führen, Stärke zeigen, so unter anderem die Novaya Gazeta. Die Moskauer sind in ihrer Meinung über den tschetschenischen Machthaber gespalten, wie Straßeninterviews von TV Dozhd und Radio Svoboda zeigen. Während die einen in ihm jemanden sehen, welcher Demokratie und Verfassung missachtet und eine dunkle Persönlichkeit hat, halten ihn andere für einen prima Politiker, welcher nach den blutigen Kriegen Frieden und Stabilität nach Tschetschenien gebracht habe. Die Russen dürften jedoch nicht den Fehler machen und Kadyrow mit allen Tschetschenen gleichsetzen, schreibt Oleg Kaschin.

    Flüchtlingskrise in der EU. Die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof sind auch diese Woche nach wie vor Thema in Russland. Zur besten Sendezeit am Wochenende zeigte der Erste Kanal diese Woche nun eine Reportage über Lisa. Das minderjährige Mädchen sei in Berlin von Migranten aus dem Nahen Osten verschleppt und vergewaltigt worden. Die Polizei mache nichts und stelle sich schützend vor die Täter, so die angeblichen Verwandten des Mädchens vor den Kameras des Staatsfernsehens. Die Geschichte schlug in sozialen Netzwerken derart hohe Wellen, dass sich sogar die Berliner Polizei dazu äußerte: Das Mädchen sei zwar kurzzeitig als vermisst gemeldet worden, eine Entführung oder eine Vergewaltigung habe aber nicht stattgefunden. Ein Verfahren wurde kurz darauf eingestellt. Vor diesem Hintergrund wirkt der TV-Beitrag äußerst zweifelhaft, wie auch TV Dozhd berichtete. Für seine Propagandazwecke nimmt es das russische Staatsfernsehen mit der Wahrheit jedoch nicht immer allzu genau. Das zeigt auch das Beispiel, welches der russische Journalist  Alexej Kowaljow auf seinem Blog schildert.

    Diese Kritik hindert den russischen Boulevard jedoch nicht daran, Deutschland eine düstere Zukunft zu prognostizieren. In ihrem Bericht aus Nürnberg schildert die Korrespondentin der Komsomolskaja Prawda die ihrer Meinung nach absurde Willkommenskultur, wenn in Geschäften Flüchtlinge dazu aufgefordert werden, gleich noch ihre Familie mitzubringen. Man wisse ja, wie groß Flüchtlingsfamilien normalerweise seien. Ändere sich nichts, bleibe Deutschland nur die Wahl zwischen Faschismus und Islamismus, lautet das Fazit des Artikels. Rossija 24, einer der staatlichen Nachrichtensender, hat auf seiner Homepage gar eine eigene Themenrubrik eingerichtet. Unter dem Titel Angriffe in Deutschland berichtet der Sender über angeblich durch Flüchtlinge verübte Verbrechen. Laut dem Sender befinde sich Europa am Rande eines Bürgerkrieges.

    Zensur. Zum Abschluss der heutigen Presseschau noch ein Nachtrag zu vergangener Woche. Die Bücherverbrennungen in der Republik Komi, der Bücher zum Opfer fielen, welche mit Unterstützung des Fonds George Soros herausgegeben worden waren, sorgten für heftige Kritik. Grund für die Aktion war, dass der Fonds 2015 auf die Liste der in Russland unerwünschten Оrganisationen gelandet war. Das Kulturministerium nannte die Verbrennung zwar unzulässig, sieht aber keinen Grund zum Kurswechsel. In einem Interview mit der Nesavisimaja Gazeta stellte Kulturminister Wladimir Medinski dieser Tage klar, es gäbe keine Zensur in Russland. Niemand beschäftige sich in seinem Ministerium damit.

    PS. Aktuell widmen sich fast alle Medien den Ergebnissen des britischen Untersuchungsberichts über die Ermordung des ehemaligen russischen Spions Alexander Litwinenko 2006, hier der Bericht der BBC. In dem Bericht wird die These bekräftigt, dass der ehemalige KGB-Agent Andrej Lugowoi und der Geschäftsmann Dimitri Kowtun den Mord ausgeführt haben, außerdem geht der Bericht von einer Billigung durch den damaligen Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB Nikolaj Patruschew und Präsident Wladimir Putin aus. In einer ersten Reaktion nannte das Außenministerium in Moskau die Untersuchungen politisch motiviert. Doch da die Artikel erst im Erscheinen begriffen sind, davon mehr in der nächsten Presseschau.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 12: Justiz 2015

    Presseschau № 13: der Ölpreis

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  • Presseschau № 13: der Ölpreis

    Presseschau № 13: der Ölpreis

    Diese Woche: Der Ölpreis erreicht ein Rekordtief und animiert die Wirtschaftspresse zu immer düstereren Prognosen. Der sinkende Rubelkurs lässt die Bevölkerung unter weiter steigenden Preisen ächzen. Und ein Verkehrspolizist im Südural wird bei einem Schneesturm zum Volkshelden.

    Ölpreis. Zum Jahresanfang bekam Russland den Horror in Form einer einfachen Zahl: 30. So wenige Dollar bringt gegenwärtig ein Barrel Rohöl ein – und die russische Sorte Urals noch weniger: Als es am Dienstag nur noch 27,4 Dollar waren, betitelte das wirtschaftsliberale Leitmedium Vedomosti Russlands Wirtschaftslage bereits mit „Zwischen Stress und Schock“. Schließlich liegt der Ölpreis inzwischen nochmals 20 Prozent niedriger als vor einem Monat – und somit deutlich unter jenen Werten, die vor kurzem nur in Stresstests von Ökonomen vorkamen. Inzwischen unterbieten sich Börsianer und Großbanken mit pessimistischen Prognosen, wie tief der Preis fürs Schwarze Gold noch sinken könnte: 25 Dollar, 20 Dollar, 10 Dollar…? Parallel schwindet der Wert des Rubels weiter – mit einem Dollarkurs von 77 Rubel und dem Euro knapp unter 84 Rubel wurden Kurse erreicht, die es bisher nur einmal gab: Am 16. Dezember 2014, jenem Tag, als am russischen Finanzmarkt vorübergehend totale Panik ausbrach.

    Der Preis des Dollars könnte 2016 durchaus auf 90 bis 100 Rubel steigen, so das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg in seiner Ölschock-Analyse. Das ist allenfalls für Russland-Fans, die eine Reise dorthin planen, eine gute Nachricht: Von der Kaufkraft her ist der Rubel jetzt schon 69 Prozent unterbewertet, so jedenfalls die jüngste Ausgabe des berühmt-berüchtigten BicMac-Index von  The Economist. Oder, wie es RBC.ru anschaulich formuliert: Zum Preis einer Doppelstock-Bulette in den USA gibt es in Russland drei Stück.

    Nicht nur Russlands wirtschaftliches Wohlergehen, auch der Staatshaushalt ist von den Öleinnahmen abhängig. Das Budget für 2016 ist aber auf einen Durchschnittswert von 50 Dollar je Barrel ausgelegt. Als erste Konsequenz hat die Regierung für alle Ressorts eine 10-prozentige Haushaltskürzung verkündet. Wenn diese und weitere Sparmaßnahmen nicht greifen, befürchtet selbst Finanzminister Anton Siluanow eine heftige Abwertung des Rubels „wie in der Krise 1998“. Doch radikales Sparen ohne grundlegende Reformen hält das ans üppige Ölgeld gewöhnte System nicht aus. „Das ist, als wenn man einem übergewichtigen Menschen ein Bein abschneidet, anstatt ihn auf Diät zu setzen“, warnt Vedomosti.

    Inflation. Diät halten müssen zwangsweise bereits viele russische Bürger: Die Inflation war im letzten Jahr mit 15,5 Prozent doppelt so hoch wie im Vorjahr. Berücksichtigt man nur die Lebensmittelpreise, betrug die Teuerung nach amtlichen Daten sogar 20,8 Prozent. Ein kinderreicher Preis-Scout der Novaja Gazeta beteuert hingegen, dass seine Kassenbons zum Jahresende um 50 Prozent höher lagen als im Jahr zuvor – „und parallel zur Inflation gibt es Lohnkürzungen in allen Branchen“. Anders als in der Krise 2008 wachse jetzt die Armut im Lande, auch wenn der Staat verspreche, die Sozialleistungen zu garantieren, kritisiert Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – dem viele russische Medien um den Jahreswechsel eine anstehende Rückkehr in ein Regierungsamt nachsagten. Vorerst dementiert er das.     

    Angesichts der dramatischen Entwicklung hat Russlands Staatsmacht aber schon ihre Kommunikationsstrategie geändert – und schwört nun ihr Volk auf schwere Zeiten ein. Noch in einem Anfang der Woche veröffentlichten großen Interview mit dem deutschen Blatt Bild hatte Wladimir Putin die heilsame Wirkung des Wegbrechens der Öleinnahmen betont und Optimismus verbreitet. Inzwischen hat er seine Regierung darauf eingeschworen, angesichts der abstürzenden Rohstoffmärkte und Börsen „auf jede beliebige Entwicklung vorbereitet“ zu sein. Das klingt nach erhöhter Alarmstufe. Auf der Webseite des Kreml ist das Gespräch der Springer-Leute mit dem Präsidenten übrigens nicht nur ausführlicher dokumentiert (eine deutsche Übersetzung gibt es bei russland.ru), sondern partiell auch mit weichgespülten Journalistenfragen garniert, stellte gazeta.ru bei einem Vergleich der Texte fest.

    Schneesturm. Was hilft am besten durch harte Zeiten? Aufopferung und Nächstenliebe. Prompt rührt ein Beispiel dafür die russischen Medien momentan ganz besonders: Anfang Januar tobte über dem Südural ein Schneesturm. Auf der Straße von Orenburg nach Orsk wurden 50 Autos von den Schneemassen verschluckt. Die Rettungsaktion verlief zäh und dauerte sträflich lange. Ein Mensch erfror, deshalb läuft ein Ermittlungsverfahren.  Doch unter den Helfern vor Ort war auch der Verkehrspolizist Danila Maksudow. Einem elend frierenden Mädchen gab er seine Jacke, einem jungen Mann überließ er seine Handschuhe – und ging wieder in den Sturm hinaus, Leute retten. Nun liegt er mit Erfrierungen an den Händen im Krankenhaus. Patriarch Kirill lobte den 25-Jährigen Helden als Vorbild – und forderte auf, für dessen Genesung zu beten.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

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    Presseschau № 12: Justiz 2015

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  • Presseschau № 12: Justiz 2015

    Presseschau № 12: Justiz 2015

    Diese Woche stehen in Russland die Räder noch weitgehend still. Nach den Neujahrsfeierlichkeiten  gönnt sich das Land traditionell eine Auszeit. Gedruckte Zeitungen erscheinen erst nächste Woche wieder, online beschränken sich viele Medien auf Rezept-Tipps und Ratschläge, wie man Streit mit der Familie und Freunden während der Feiertage vermeidet.
    Die Pause im Nachrichtenstrom bietet eine gute Gelegenheit, sich auf ein Thema zu konzentrieren, welches vor lauter Ukraine,  Syrien, Sanktionen und Gegensanktionen in der ausländischen Wahrnehmung oft zu kurz kommt: dasjenige der Rechtsprechung. Dass diese in Russland oft ihren eigenen, für den Außenstehenden wenig transparenten Regeln folgt, ist bekannt. Schuldsprüche sind in mehr als 90 Prozent aller Prozesse an der Tagesordnung. Die offensichtlich politisch motivierten Urteile gegen die Brüder Alexej und Oleg Nawalny sind ja auch im Westen ausführlich diskutiert worden.

    Auch das vergangene Jahr war nicht arm an kontroversen Gerichtsurteilen. Medial den ganzen Sommer über breitgetreten wurde der Fall Jewgenija Wasiljewa. Er bot einigen Sprengstoff: Die hochgestellte Mitarbeiterin des Verteidigungsministeriums hatte durch manipulierte Verkäufe staatlicher Immobilien Gelder in Millionenhöhe veruntreut. 2012 wurde der Skandal aufgedeckt und kostete nicht nur sie selbst, sondern auch Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow, mit dem sie gerüchteweise mehr als nur eine Geschäftsbeziehung verband, den Job. Bereits die Untersuchungshaft verbrachte Wasiljewa recht kommod in ihrem Moskauer Luxusappartement unter Hausarrest, betätigte sich kreativ und veröffentlichte sogar einen Song über die Pantoffeln des Herrn Verteidigungsministers. Offensichtlich war der Arrest aber nur Formsache, denn tatsächlich wurde sie regelmäßig auf Shoppingausflügen angetroffen. Im Mai 2015 erging dann unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit das Urteil, Wasiljewa wurde zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Ob sie überhaupt je einen Tag hinter Gittern verbrachte, ist allerdings unklar, denn auch weiterhin wurde sie in Freiheit gesehen, angeblich in einer Moskauer Bankfiliale. Gerüchteweise ließ sie sich im Straflager durch ein Double vertreten. Bereits im August wurde ihr dann die restliche Gefängnisstrafe auf Bewährung erlassen – ihrer positiven Charaktereigenschaften wegen, so das Gericht.

    Die Öffentlichkeit reagierte mit Unverständnis. Vor drei Jahren berichteten Medien noch von 1500 Stück Schmuck, welche Ermittler in Wasiljewas 13-Zimmer-Wohnung beschlagnahmt hatten. Von einer Durchsetzung der staatlich propagierten Antikorruptionskampagne konnte offenbar nicht die Rede sein. Privilegien und Beziehungen erlaubten es der Beamtin, sich ihrer Strafe zu entziehen. Übrigens: Ex-Verteidigungsminister Serdjukow ging gar völlig straffrei aus. Sogar mit seiner Karriere geht es nun wieder steil nach oben. Im Oktober 2015 wurde er auf einen Direktionsposten bei der Staatskorporation Rostechnologii berufen.

    Ein gänzlich anderes Gesicht zeigt das System jedoch in anderen, oft minderschweren Fällen. Etwa bei Oleg Senzow. Der ukrainische Filmregisseur und sein Mitangeklagter Oleksandr Koltschenko wurden in einem harten Urteil Ende August zu 20, respektive zehn Jahren Haft verurteilt. Die beiden wurden beschuldigt, 2014 auf der frisch durch Moskau annektierten Krim Terroranschläge auf Infrastrukturobjekte geplant und ausgeführt zu haben. Senzow, welcher international bereits mit seinem Film Gaamer in Erscheinung trat, streitet die Vorwürfe ab. Er habe als Aktivist der pro-ukrainischen Automaidan-Bewegung nur ukrainische Truppen mit Gütern des täglichen Bedarfs versorgen wollen, als diese im Februar 2014 durch die plötzlich auftauchenden Grünen Männchen am Verlassen ihrer Stützpunkte gehindert wurden. Beobachter kritisierten den Prozess als politisch motiviert. Koltschenko gibt an, einzig an einem Brandanschlag auf das Büro der Kremlpartei Einiges Russland in Simferopol teilgenommen zu haben. Vor Gericht widerrief einer der Zeugen der Anklage sein Geständnis, es sei unter Folter zustandegekommen. „Ein Gericht von Besatzern kann per Definition nie gerecht sein“, gab sich Senzow bei seinen letzten Worten im Gerichtssaal kämpferisch. 

    Die beiden Ukrainer sind nur ein Beispiel für die selektive Anwendung der Rechtsprechung 2015. Zunehmend machten russische Gerichte im vergangenen Jahr von repressiven Gesetzen Gebrauch, schreibt Vedomosti. Unabhängigen Informationszentren wie OVD-Info zufolge sei die Zahl politisch motivierter Strafverfolgungen von 184 im Jahr 2014 auf 230 in diesem Jahr gestiegen, so Vedomosti weiter. Das bislang letzte umstrittene Urteil erging Anfang Dezember: Der Aktivist Ildar Dadin wurde wegen der Teilnahme an vier nicht genehmigten Demonstrationen zu drei Jahren Straflager verurteilt. Zum ersten Mal kam dabei ein Artikel zur Anwendung, der wiederholte Verletzungen des Demonstrationsrechts unter Strafe stellt. Wie bereits berichtet, sind noch weitere Personen aufgrund dieses Artikels angeklagt, etwa Wladimir Ionow. Der 75-jährige Aktivist entzog sich jedoch der russischen Justiz und floh kurz vor der Verkündung seines Urteils ins ukrainische Charkiw.

    In Russland wird das Strafgesetzbuch immer stärker zum einzigen Instrument des Dialogs zwischen Staatsmacht und Gesellschaft, fasst die Novaya Gazeta die Entwicklung der vergangenen Monate zusammen. Die hier geschilderten Fälle bilden dabei nur einen kleinen Ausschnitt ab. Zu den prominentesten Häftlingen, welche derzeit noch auf ihre Urteile warten, gehört etwa die ukrainische Militärpilotin Nadja Sawtschenko. Ihr wird vorgeworfen, während des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine Informationen an Artillerieeinheiten weitergegeben zu haben, die dann zum Tode zweier russischer Journalisten führten. Zudem wird sie beschuldigt, illegal die russische Grenze überquert zu haben. Dem hält Sawtschenko entgegen, dass sie durch prorussische Separatisten im Juli 2014 gefangen genommen und gegen ihren Willen nach Russland gebracht worden sei. Zuletzt wurde ihre Untersuchungshaft bis zum 16. April 2016 verlängert, im Falle eines Schuldspruches drohen ihr bis zu 25 Jahre Haft.

    Ebenfalls noch in Untersuchungshaft befindet sich Pjotr Pawlenski, welcher im November die Eingangstür der FSB-Zentrale an der Lubjanka in Brand gesteckt hatte. Der Performancekünstler hatte bei seiner Anhörung explizit auch für sich eine Anklage wegen Terrorismus gefordert und auf Senzow und Koltschenko und die Taten verwiesen, die ihnen zu Last gelegt werden.

    Die Eigenheiten des russischen Rechtssystems zeigen sich auch an dem nach wie vor nicht aufgeklärten Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Die Bilder aus der Mordnacht und vom Gedenkmarsch, auf dem eine Woche später Zehntausende des Oppositionspolitikers, ehemaligen Vizeministerpräsidenten und Abgeordneten des Regionalparlaments von Jaroslawl gedachten, gehören zu den eindrücklichsten und verstörendsten des gesamten Jahres.

    Bereits kurz nach der Bluttat am 27. Februar wurden fünf Verdächtige den Medien vorgeführt, Ende Dezember Anklage erhoben. Die Spuren des Mordes führen in Kreise tschetschenischer Sicherheitskräfte. Laut dem Ermittlungskomitee hat der Fahrer des ranghohen tschetschenischen Polizeioffiziers Ruslan Geremejew, Ruslan Muchudinow, das Verbrechen organisiert und in Auftrag gegeben. Geremejew selbst zu befragen, schafften die Behörden nicht, auch mögliche Verstrickungen von Republikchef Ramsan Kadyrow wurden nicht untersucht. Die Anklage geht davon aus, der Mord sei aus Rache erfolgt, wegen der öffentlichen Unterstützung Nemzows für das französische Satiremagazin Charlie Hebdo, schreibt der Kommersant. Die politische Tätigkeit des Kremlkritikers scheidet laut den Ermittlern als Motiv aus. Muchudinow ist zurzeit international zur Fahndung ausgeschrieben.

    Die offizielle Version trifft bei politischen Weggefährten und Angehörigen des ermordeten Kremlkritikers auf Unverständnis und Empörung. Wadim Prochorow, der Anwalt der Hinterbliebenen, kritisiert in einem Interview mit der New Times, dass die Behörden den Vorgesetzen Muchudinows aus ihren Untersuchungen aussparten, sämtliche Angeklagten hätten nicht aus eigener Initiative gehandelt. Ein persönliches Motiv hätten auch die anderen Beschuldigten nicht, nur ihre Hintermänner. Er sei überzeugt, dass die Auftraggeber durch den Mord Russland von einer angeblichen Fünften Kolonne säubern wollten,  so der Anwalt weiter. Von einem politischen Motiv geht auch Tochter Shanna Nemzowa, welche Russland nach dem Mord verlassen hat, aus. Die Journalistin, welche nun für die Deutsche Welle arbeitet, macht sich erst für die Zeit nach Putin Hoffnung auf eine restlose Aufklärung des Verbrechens.

    Beobachtern zufolge sollen die harten und oft selektiv anmuntenden Gerichtsurteile des vergangenen Jahres in erster Linie potentielle Kritiker davon abhalten, öffentlich ihren Unmut zu äußern, sind im September 2016 doch Dumawahlen geplant. Politische Proteste seien für den Einzelnen vor dem Hintergrund einer sozialen Krise gefährlich, kommentiert Vedomosti. Dies stimmt wenig hoffnungsvoll für den Start ins neue Jahr.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Januar: Backstage im Bolschoi

    Januar: Backstage im Bolschoi

    Kaum eine andere kulturelle Institution wird im Ausland so sehr als Symbol Russlands wahrgenommen wie das Bolschoi-Theater, wörtlich das „Große Theater“. Gegründet 1776 zur Zeit Katharinas der Großen, wird es vor allem mit klassischem Ballett verbunden, mit über 200 Tänzern beherbergt es die größte Ballett-Compagnie der Welt.

    Das Bolschoi-Theater ist aber nicht nur ein Ort der Kunst, sondern auch ein Ort der Skandale, Affären und Intrigen. Die Renovierung des Hauses von 2005 bis 2011 hat mehr als eine Milliarde Euro verschlungen, viel davon soll in privaten Taschen gelandet sein. Eintrittskarten werden von Spekulanten vor Beginn der Vorstellungen auf der Straße zu astronomischen Preisen weiterverkauft, Konkurrenz und Spannungen unter den Künstlern sind legendär. Im Januar 2013 wurde der damalige Intendant Sergej Filin Opfer eines Säureanschlags, bei dem er fast vollständig sein Augenlicht verlor, verantwortlich war vermutlich einer der Tänzer der Theaters.

    Der Fotograf Misha Friedman hat die Stimmung hinter den Kulissen des Bolschoi-Theaters eingefangen und zeigt das Menschliche ebenso wie das Professionelle, das Poetische wie das Kuriose. Seine Arbeit ist oft Themen gewidmet, die sich erst auf den zweiten oder dritten Blick erschließen. Er hat die Petersburger LGBT-Community ebenso mit der Kamera begleitet wie die Polizeieinheiten in Kiew während ihrer Reform; in einem ästhetisch wie konzeptionell ungewöhnlichen Fotoessay beleuchtet er das Problem der Korruption in Russland. Seine Arbeiten erscheinen weltweit, so bei der New York Times, Politico oder Le Monde.

    Fotos: Misha Friedman / Salt Images
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 04.01.2016

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    November: Arnold Veber

    Oktober: Denis Sinjakow

    September: Olga Ludvig

    Dezember: Norilsk

  • Gnosmos

    Gnosmos

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  • Presseschau № 11

    Presseschau № 11

    Die Einschränkung der Menschenrechte in Russland geht weiter: Ein neues Gesetz hebelt die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus. Auf seiner alljährlichen Pressekonferenz vermeidet Putin Aussagen zu den innenpolitischen Skandalen des Jahres und beschwört Stabilität und internationalen Einfluss Russlands, während türkische Staatsbürger mit Anfeindungen der Behörden zu kämpfen haben. Außerdem: Hype um den neuen Star Wars-Film.

    Menschenrechte. Es sind keine guten Nachrichten zum Thema Menschenrechte,die in der vergangenen Woche in Russland für Schlagzeilen sorgten. Nachdem der Aktivist Ildar Dadin wegen der Teilnahme an vier nicht genehmigten Protestaktionen zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, unterschrieb Präsident Wladimir Putin am Dienstag ein Gesetz, laut welchem Urteile des Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) für Russland nicht mehr bindend sind. Moskau hat nun neu die Möglichkeit, dessen Urteile durch den Verfassungsgerichtshof zu prüfen. Stellt der fest, dass diese gegen das Grundgesetz verstoßen, müssen die Urteile des EGMR nicht mehr umgesetzt werden.

    Die Staatsmedien begrüßen den Schritt. Nun habe die russische Justiz eine Möglichkeit erhalten, Entscheidungen des EGMR zu korrigieren, schreibt die regierungseigene Zeitung Russkaja Gazeta. Moskau müsse sich vor weiteren anti-russischen Entscheidungen des EGMR schützen, behauptet Ria Novosti. Nach dem politisch motivierten Entscheid in der Yukos-Affäre, bei der das Straßburger Gericht Moskau zu einer Zahlung von 1,9 Milliarden Euro an die ehemaligen Aktionäre des 2007 aufgelösten Ölkonzerns verurteilte, müsse in Zukunft mit allem gerechnet werden, gab sich die Nachrichtenagentur überzeugt.

    Russland hat sich jedoch mit dem Beitritt zum Europarat 1996 und der zwei Jahre später erfolgten Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention dazu verpflichtet, die Urteile des EGMR umzusetzen. Der Menschenrechtsaktivist Lew Ponomarjow kritisiert, dass Russland sich darauf beschränkt, Entschädigungssummen zu bezahlen, Aufforderungen zu systematischen Reformen würden hingegen nicht umgesetzt. Für viele russische Bürger ist das Gericht in Straßburg eine wichtige Instanz: Nach der Ukraine und Italien stammten 2014 die meisten anhängigen Fälle aus Russland. Die ehemaligen Yukos-Aktionäre haben den EGMR ebenso angerufen, wie etwa die Hinterbliebenen der Geiselnahme in Beslan, Opfer des Atomunfalls in Majak und auch die Anwälte von Ildar Dadin.

    Jahrespressekonferenz des Kremls. Bereits zum elften Mal lud der Kreml zur Pressekonferenz von Präsident Putin, neben dem Direkten Draht der zweite mehrstündige Live-Auftritt pro Jahr des russischen Präsidenten. Und so versuchten mehr als 1000 akkreditierte Journalisten aus dem In- und Ausland mit lautem Rufen und selbstgemalten Schildern, Putin und seinen Pressechef Dimitri Peskow auf sich aufmerksam zu machen, um ihre Frage stellen zu können.

    Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise interessierte die Pressevertreter hauptsächlich die Entwicklung des Ölpreises und wie stark die Pensionen 2016 der Inflation angepasst werden (vorgesehen ist eine Indexierung von vier Prozent). Ebenso angesprochen wurden die Proteste der Lastwagenfahrer, die immer noch gegen eine neue Maut protestieren oder das seit dem Abschuss der SU-24 stark belastete Verhältnis zur Türkei. Hier das komplette Transkript mit allen Details der knapp über dreistündigen Veranstaltung. Eine Frage betraf auch die innenpolitischen Skandale der letzten Monate: den Mord an Boris Nemzow, die Korruptionsaffäre um Generalstaatsanwalt Juri Tschaika oder die steile Karriere von Putins angeblicher Tochter und den Geschäften ihres Ehemannes. Putin vermied klare Antworten, wich aus. Im Online-Magazin znak.com schreibt die Fragestellerin später, wichtiger als überhaupt Antworten zu erhalten sei ihr gewesen, dass solche Fragen im landesweiten Fernsehen überhaupt gestellt würden.

    Während Vedomosti auf der Pressekonferenz einen eher müden, uninteressierten Putin sah, welcher aus Gründen der Staatsräson mit diesem öffentlichen Auftritt Stabilität zu demonstrieren versuchte, zeigte sich die kremltreue Presse zufrieden. Schützend habe sich der Präsident vor den Generalstaatsanwalt und die Minister gestellt, welche von der Opposition angegriffen wurden. Damit demonstriert Putin, dass der Kreml in Krisenzeiten erst recht nicht auf Druck reagiere, schreibt der Moskovski Komsomolets. Der Präsident habe gezeigt, wer am Steuer sitzt und das seine Hände nicht zittern, so die Zeitung weiter. Noch weiter ging der Politologe Sergej Markow in einem Kommentar für Izvestia: Es sei egal, dass auf der Pressekonferenz mit keinen wirklichen Neuigkeiten aufgewartet wurde. Die russische Armee in Syrien und die humanitären Konvois, mit welchen Moskau seit mehr als einem Jahr den Donbass versorgt, sprechen im Namen Putins. Der Präsident spreche nicht durch Worte, sondern er liebe es, seine Taten für sich sprechen zu lassen. Und dafür lieben ihn die Bürger und fürchten ihn seine Gegner, schreibt Markow weiter. 

    Türkei. Welche realen Konsequenzen die scharfe Rhetorik russischer Offizieller hat, zeigt sich dieser Tage. Bereits bevor mit Jahreswechsel das Gesetz in Kraft tritt, das russischen Arbeitgebern untersagt, Menschen mit türkischem Pass anzustellen, nimmt der Druck auf die rund 200.000 türkischen Staatsbürger zu, welche in Russland arbeiten oder studieren. Wie Mediazona schreibt, sehen sich diese plötzlich verstärkten Kontrollen ausgesetzt, etwa bei der Passkontrolle am Flughafen oder durch den Föderalen Migrationsdienst, der verstärkt Kontrollen an den Arbeitsorten durchführt. Meduza.io berichtet gar von Studenten, die ihre Studienplätze wegen angeblichen Drogenmissbrauchs oder des Verdachts auf Terrorismus verloren haben.

    Star Wars. Der mittlerweile siebte Teil der Star Wars-Reihe sorgt auch in Russland für Aufsehen. Ganz im Gegensatz zu 1977: Als in den USA der erste Teil der Weltraumsaga in die Kinos kam, nahm das in der UdSSR so gut wie niemand zur Kenntnis, schreibt die Izvestia. Erste sowjetische Kritiken betrachteten damals den Film, abgesehen von den Spezialeffekten, als nichts besonderes, später wurde etwa die Ähnlicheit der Uniformen der imperialen Sturmtruppen mit denen sozialistischer Länder festgestellt und daran antisowjetische Züge von Star Wars festgemacht. Erst 1990 kam der erste Film der Trilogie in der Sowjetunion in den regulären Kinoverleih, mit absolut sehenswerten Plakaten (ganz herunterscrollen), die eigens für die Kinos entworfen wurden. Für den aktuellen Film hängen nun seit Wochen riesige Werbeposter im Zentrum Moskaus, auf denen Filmfiguren für die Produkte eines Kreditkartenunternehmens werben.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

     

     

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  • Presseschau № 10

    Presseschau № 10

    Kleine Erfolge und größere Einschränkungen beschäftigen diese Woche die russischen Medien: LKW-Fahrer erringen einen Teilerfolg nach wochenlangen Protesten gegen die Maut. Die Luftfahrtbranche leidet dagegen unter den Beschränkungen im Flugverkehr und der immer weiter sinkende Ölpreis hemmt die wirtschaftliche Entwicklung. Außerdem: Ein erstes Urteil aufgrund des verschärften Versammlungsrechts – eine Vorausschau auf das Wahljahr 2016?

    Ölpreis drückt Rubel. Krieg in Syrien, Trouble mit der Türkei, Dauerknatsch mit der Ukraine  – und jetzt auch noch das: Der für Russlands Wohl und Wehe maßgebliche Ölpreis ist massiv in den Keller gegangen: Am Dienstag sackte der Preis für ein Barrel Brent auf  38 Dollar ab – und ist damit wieder so niedrig wie Ende 2008/Anfang 2009 während der großen Ölpreiskrise.

    Fast zwangsläufig rutschte dadurch auch der Kurs der russischen Währung ab: Der Euro kletterte über 76 Rubel, der Dollar-Kurs marschiert in Richtung seines historischen Höchststandes von knapp über 70 Rubel. Gegen den Rubel arbeiten gegenwärtig neben dem Ölpreis auch noch eine ganze Reihe von Faktoren, etwa die erwarteten Zinserhöhungen in den USA und die zum Jahresende fällig werdenden russischen Auslandsschulden, schreibt der Kommersant.

    Insofern ist es ziemlich fraglich, ob der von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew für 2016 prognostizierte Dollarkurs von im Schnitt 60,8 Rubel und die Rückkehr zu einem leichten Wirtschaftswachstum von circa 1 Prozent noch im Rahmen des Möglichen liegt – denn dazu bräuchte es einen Ölpreis im Bereich von 50 bis 60 Dollar.  Doch der wird noch lange bei 50 Dollar oder niedriger liegen, glaubt Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – und findet das gar nicht schlecht: Für Russland sei das immerhin ein Stimulator für Reformen.

    2015 wird Russland – vorrangig wegen der niedrigen Ölpreise – einen Rückgang der Wirtschaft um 3,9 Prozent verbuchen müssen.  Die Realeinkünfte der Russen lagen im Oktober um 5,6 Prozent niedriger als im Vorjahr, die Gehälter sogar um 10,9 Prozent – der Kreml hält das für nicht dramatisch.  Die Inflation erreicht unterdessen 12 Prozent.

    Heftiger gebeutelt hat der Discount-Preis fürs Schwarze Gold 2015 nur Venezuela, so fontanka.ru – und da hatte der herrschende Autokrat Nicolas Maduro gerade bei Parlamentswahlen eine heftige Niederlage erlitten und seine Regierung entlassen. Apropos, auch in Russland sind im September Dumawahlen

    Haft für Demos. Erstmals ist in Russland ein Oppositionsaktivist nach dem kürzlich verschärften Demonstrationsrecht zu einer Haftstrafe verurteilt worden: Ildar Dadin muss für drei Jahre ins Gefängnis, weil er laut Gericht letztes Jahr in Moskau innerhalb von weniger als 180 Tagen vier Mal an gewaltfreien, aber nicht genehmigten Protestaktionen teilgenommen hat. Dadin gibt hingegen an, dass er in drei der vier Fälle allein demonstriert habe, was keiner Genehmigung bedürfe.
    Die Zeitung Vedomosti zitiert Experten mit den Worten, dass dieses Urteil „Furcht vor Anbruch des Wahljahres verbreiten“ soll: „Politische Protestaktionen werden gefährlich“. Das Publikum im Gerichtssaal reagierte auf das Urteil mit einem Tumult, weil die Strafe sogar um ein Jahr länger ausfiel als von der Anklage gefordert. Drei weitere Prozesse gegen andere Protest-Aktivisten laufen noch, darunter auch gegen den 75 Jahre alten Wladimir Ionow. In seinem Fall fordert die Staatsanwaltschaft drei Jahre auf Bewährung und ein Verbot, seinen Wohnort Ljuberzy im Moskauer Umland zu verlassen.

    Streit um LKW-Maut. Es ist aber auch nicht so, dass in Russland jegliche Proteste unterdrückt würden und nichts bringen: Das bewiesen die seit Wochen gegen das Mautsystem Platon demonstrierenden Spediteure und Fernfahrer: Nachdem Wladimir Putin in seiner jährlichen Programm-Ansprache vor beiden Parlamentskammern nicht auf das Thema eingegangen war, legten die in einer Sternfahrt auf Moskau angerückten Trucker ein Teilstück der Moskauer Ringautobahn lahm. Faktisch zur gleichen Zeit kassierte die Duma mit einer Änderung des Bußgeldkatalogs immerhin einen der Hauptkritikpunkte an der Lkw-Maut: Die existenzgefährdenden Strafsätze bei Mautverstößen wurden um 99 Prozent zusammengekürzt. Die Maut als solche soll aber beibehalten werden – auch wenn inzwischen 20 Verbände von Lebensmittelherstellern und –händlern unisono vor Lieferengpässen und einem zusätzlichen Inflationsschub warnen – als gäbe es, wie schon geschildert,  nicht genug Krisenfaktoren im Land.

    Luftfahrt-Krise. Starke ökonomische Turbulenzen erschüttern auch die russische Luftfahrtbranche – und 2016 kann eigentlich nur schlimmer werden, berichtet der Kommersant: Bislang war zwar das Passagiervolumen konstant, da mehr Inlandsflüge die weniger gefragten Auslandsverbindungen ersetzen. Doch Geld verdienen die Airlines nur im internationalen Verkehr. Aber seit kurzem sind fast alle Flüge in die beiden populärsten Destinationen Türkei (Sanktionen) und Ägypten (Sicherheitsbedenken) sowie in die Ukraine (gegenseitige Flugverbote) gecancelt. An den Moskauer Flughäfen machen diese Destinationen allein ein Fünftel aller Flüge aus. Und schon in den ersten neun Monaten dieses Jahres buchten die zum Sparen gezwungenen Russen über 30 Prozent weniger Auslandsurlaube.

    Umgekehrt wird natürlich auch ein Filzstiefel draus: Die Russen erholen sich mehr im eigenen Land – wobei sie sich teure Ziele wie St. Petersburg kaum leisten können. Der Chef der russischen Tourismusbehörde Oleg Safonow erklärte in einem Interview mit der Rossijskaja Gazeta gar, das Bedürfnis nach Strand und Meer, und erst recht nach All-inclusive-Ferien in der Türkei, sei ein „aufgedrängtes Stereotyp der letzten Jahre“. Früher seien ja auch selbst wohlhabende Russen nicht massenhaft ans Meer gefahren. Und selten für einen heutigen russischen Beamten: Er bezeichnete die US-Bürger als vorbildhaft, urlauben sie doch zu 80 Prozent innerhalb der eigenen Staatsgrenzen.

    Lothar Deeg aus Sankt Petersburg für dekoder.org

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  • Presseschau № 9

    Presseschau № 9

    Putin bestraft die Türkei mit Einschränkung der Reisefreiheit und einem Importembargo für Lebensmittel. In der Folge steigen die Lebensmittelpreise. Weitere Themen, die die russische Presse in dieser Woche beschäftigten: der Blackout auf der Krim, Korruptionsvorwürfe gegen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika und zu guter Letzt eine tierische Freundschaft im Wladiwostoker Zoo, die als Vorbild für die Beziehung zwischen Putin und Erdogan diskutiert wird.

    Russisch-türkische Spannungen: Der Abschuss der russischen Su-24 an der syrisch-türkischen Grenze hat zwei sich in ihrer Starrköpfigkeit sehr ähnliche eurasische Machtpolitiker auf Konfrontationskurs gebracht: Wladimir Putin wartete vergeblich auf eine Entschuldigung von Recep Tayyip Erdogan, verweigerte auf dem Klima-Gipfel in Paris auch das Gespräch mit ihm – obwohl Erdogan versuchte, Putin auf dem Flur abzupassen, wie der Kommersant berichtete.

    Stattdessen holte Putin einen ganz dicken Knüppel heraus. Per Ukas belegte er die Türkei mit einem umfangreichen Sanktionspaket: ein ab dem 1. Dezember geltendes Import-Embargo für Hühnerfleisch, Salz und bestimmte Obst- und Gemüsesorten, eine Auftragssperre für türkische Unternehmen, schärfere Kontrollen türkischer Schiffe und Lastwagen.

    Der Wirtschaftszeitung Vedomosti war die Bedrohung der einst so blühenden russisch-türkischen Geschäftsbeziehungen eine zweiseitige Analyse wert. Das Fazit: Der Türkei drohen 12 Mrd. Dollar Verluste – oder 1,6 Prozent des BIP. Einen hohen Preis haben aber Russlands Verbraucher zu zahlen: Die Großhandelspreise für Tomaten (auf der Sanktionsliste) und Zitronen (nicht betroffen) sind jetzt schon auf gut das Doppelte gestiegen. Begründung: Transporte aus der Türkei werden an der Grenze sehr penibel kontrolliert und auf diese Weise zurückgehalten.

    Außerdem setzt Russland zum 1. Januar 2016 den visafreien Reiseverkehr mit der Türkei aus. Außenminister Sergej Lawrow begründete dies mit einer von der Türkei ausgehenden „realen terroristischen Gefahr“. Die Türkei wird dies wohl kaum mit gleicher Münze heimzahlen, wenn sie wenigstens einen Teil ihres Tourismusgeschäfts mit den Russen retten will: 2014 machten 3,2 Mio. Russen in der Türkei Urlaub, aber nur 135.000 Türken in Russland. Doch nun hat Russland den Verkauf von Türkei-Reisen verboten und wird den Charterflugverkehr stoppen, sobald alle Urlauber zurückgekehrt sind. Der Chef der staatlichen Tourismus-Agentur Rostourism hofft jedenfalls, dass schon nächstes Jahr drei bis fünf Millionen Russen mehr Urlaub im eigenen Lande machen – neben der Türkei ist ja seit dem Anschlag auf den Airbus über dem Sinai auch Ägypten für erholungssuchende Mitbürger tabu. Russische Individualtouristen lassen sich davon aber nicht unbedingt beeindrucken: Sie buchen weiter munter Linienflüge und Hotels am Bosporus und in den Seebädern.

    Die Zeitung Vedomosti kommentiert, dass Russland durch diesen Konflikt endgültig zu einem „Land mit negativer Tagesordnung“ geworden ist: Nadelstich-Sanktionen und den einen oder anderen kleinen Handelskrieg mit Nachbarn gab es früher auch schon, doch nun scheinen alle Behörden kollektiv ihre ganze Energie nur noch darauf zu richten, möglichst viel zu verbieten – momentan eben alles Türkische. Selbst der bekannte Showman und Leiter eines nach ihm benannten A-Capella-Chores Michail Turezki denkt bereits ernsthaft darüber nach, seinen (eigentlich polnischen) Familiennamen zu ändern – schließlich klingt der genauso wie das russische Adjektiv „türkisch“.

    Isolierte Krim: Am 22. November sprengten krimtatarische und rechtsnationale Gruppen alle vier Stromleitungen, die aus der Ukraine auf die Krim führen. Seitdem leben die zwei Millionen Einwohner der von Russland vereinnahmten Halbinsel im Energienotstand. So gibt es in Sewastopol nur vier Stunden am Tag Strom aus den wenigen eigenen Kraftwerken, berichtet RBK. Die Energiekrise führte sogar zu einem heftigen Zerwürfnis zwischen Krim-Republikchef Sergej Aksjonow und dem kremltreuen TV-Sender NTW: Der hatte behauptet, die Regionalregierung habe Moskau vorgeflunkert, die Halbinsel sei für solche Situationen gewappnet und erst der kompetente Einsatz Moskauer Minister habe Ordnung ins Chaos gebracht. Aksjonow bezeichnete dies als „Lüge“ und „Blödsinn“, der eines zentralen TV-Kanals nicht würdig sei.

    Lenur Isljamow, der krimtatarische Initiator der Lebensmittel- und Stromblockade der Halbinsel, kündigte unterdessen in einem Interview mit Open Russia auch noch eine Seeblockade an. Auf der Krim gibt es, so schreibt der Kommersant in einer Blackout-Reportage, mittlerweile Versorgungsengpässe, vor allem bei Milchprodukten und anderer kühl zu haltender Ware – aber auch die Hoffnung, dass es jetzt besser wird: Seit Mittwoch liefert ein erstes Unterwasserkabel zusätzlichen Strom aus Russland. In der ukrainischen Nachbarprovinz Cherson weisen die Behörden inzwischen auf die Gefahr durch grenznahe Chemiefabriken auf der Krim hin: Dort sind Speicher mit mehreren hundert Tonnen Chlor, Ammoniak und Salzsäure die meiste Zeit ohne Stromversorgung – und könnten das Land im weiten Umkreis verseuchen.

    Korruptionsvorwürfe: Begonnen hatte die Woche mit der Veröffentlichung von geharnischten Vorwürfen gegen die Familie und Kollegen von Generalstaatsanwalt Juri Tschaika durch den oppositionellen Korruptionsjäger Alexej Nawalny. Tschaikas Sohn Artjom besitze neben einer Villa auch noch ein teures Hotel in Nordgriechenland. Teilhaberin daran sei die Ex-Frau eines Tschaika-Stellvertreters Olga Lopatina – die wiederum in Südrussland ein gemeinsames Business mit der erst 2010 nach einem brutalen Massenmord aufgeflogenen Zapok-Bande betrieben habe. Tschaika bezeichnet die Nawalny-Enthüllungen als erlogene Auftragsarbeit, auch Lopatina dementiert alles. Die meisten russischen Print-Medien fassen diese Story mit Samthandschuhen an oder ignorieren sie ganz – nur die Zeitung RBK habe sich damit auf die Titelseite getraut, so Nawalny auf Facebook.

    Amur und Timur: In solchen angespannten Zeiten ist es kein Wunder, dass die ungewöhnliche Freundschaft zweier Bewohner eines Wildparks bei Wladiwostok dieser Tage quer durch alle (sozialen) Medien die Herzen der Russen erfreut: Denn der Ziegenbock Timur war eigentlich als Lebendfutter in das Gehege des sibirischen Tigers namens Amur gesteckt worden. Das Unausweichliche blieb aber aus: Der Tiger hatte keinen Appetit auf den Bock, der seinerseits keinerlei Angst vor dem Herrscher der Taiga zeigte – worauf beide dicke Freunde wurden und nun täglich gemeinsam spazierengehen. Russlands YouTube-User diskutieren nun darüber, inwieweit dieses idyllische Beispiel nicht auch als Rollenmodell für die Menschheit – und Putin und Erdogan im Besonderen – taugen könnte.

    Lothar Deeg aus Sankt Petersburg für dekoder.org

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  • Dezember: Norilsk

    Dezember: Norilsk

    Norilsk ist eine der kältesten Städte auf unserem Globus – und einer der bedeutendsten Rohstofflieferanten überhaupt. Wer hier lebt, muss sich anpassen an extreme Bedingungen: Dauerfrost, neun Monate Winter, eine verheerende ökologische Situation. Wie die Menschen in Norilsk diese Aufgabe bewältigen, zeigen die großartigen Aufnahmen von Elena Chernyshova. Sie hat in ihrer mehrfach preisgekrönten Reportage (u. a. World Press Photo Award 2014) das Leben einer Stadt eingefangen, die oft im Dunkeln liegt, aber nie schläft.

    400 km nördlich des Polarkreises gelegen, führt keine Landverbindung nach Norilsk. Die Stadt ist nur über Luft- und Wasserwege mit dem übrigen Russland verbunden. Die Flüsse werden im Winter unpassierbar.

    Mit einer Bevölkerung von 175.300 ist Norilsk eine der größten Städte nördlich des Polarkreises. Die Stadt wurde 1940 auf dem Reißbrett entworfen – von Architekten, die in Lagern des Gulag-Systems interniert waren. Sie sollten eine ideale, logisch aufgebaute Stadt erschaffen.

    Aufgrund ihrer Lage hat die Stadt ein strenges, subarktisches Klima. Norilsk ist eine der kältesten Städte der Welt. Die Winter sind lang, mit Durchschnittstemperaturen von -25 °C. Während harter Fröste, wenn die Temperatur unter -40 °C fällt, quillt Dampf aus den Kanälen der Wasserversorgung und hüllt die Straßen in dichten Nebel.

    Die winterliche Kälteperiode erstreckt sich über circa 280 Tage pro Jahr, dabei fegen an mehr als 130 Tagen Schneestürme durch die Stadt.

    Während 8–9 Monaten pro Jahr ist die Stadt von Schnee bedeckt. Mehr als 2 Millionen Tonnen Schnee fallen in dieser Zeit auf die Landfläche des Großraums Norilsk, pro Einwohner 10 Tonnen. Die Schneeverwehungen erreichen eine Höhe von 2–3 Metern. 

    Während des neunmonatigen Winters ist jeder Weg eine Expedition und mit Gefahr verbunden. Die Arbeitsplätze sind 20–30 km von der Stadt entfernt, die Straßen dorthin führen durch die offene Tundra. 

    Wenn Schneestürme herrschen, wird der öffentliche Verkehr in Kolonnen organisiert. 15–20 Busse befördern die Arbeiter zwischen der Stadt und den Arbeitsorten hin und her. Sollte ein Bus eine Panne haben, können die Passagiere von einem anderen aufgenommen werden. Solche Konvois verkehren nur drei Mal pro Tag. 

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion stieg Norilsk Nickel  (einer der Generaldirektoren war bis 2007 Michail Prochorow) zum weltgrößten Produzenten von Nickel, Palladium und Platin auf. Trotz des harschen Klimas sind die Minen das ganze Jahr rund um die Uhr in Betrieb, auch bei Temperaturen von -50 °C.

    In Norilsk gibt es sechs unterirdische Minen. Die Länge der Schächte, in denen das Erz abgebaut wird, beträgt mehr als 800 km, ihre Tiefe variiert zwischen 450 und 2050 Metern.

    Die Produktion von Norilsk Nickel pro Jahr:

    – mehr als 300.000 Tonnen Nickel (96 % der russischen und 17 % der weltweiten Gesamtproduktion)

    – 2.731.000 Unzen Palladium (41 % der weltweiten Produktion) – 683.000 Unzen Platin (11 % der weltweiten Produktion)

    – 419.000 Tonnen Kupfer (95 % der russischen Produktion und 2 % der weltweiten)

    Norilsk Nickel erwirschaftet 1,9 % des russischen Bruttosozialproduktes. 57 % der Bevölkerung arbeitet unmittelbar in den Abbau- und Produktionsbetrieben.

    Die Arbeitsbedingungen sind hart. Zu Hitze und Lärm kommt die Belastung durch schädliche Stoffe. Als Ausgleich dafür erhalten die Arbeiter 90 Tage Urlaub pro Jahr. Das Rentenalter beginnt mit 45 Jahren.

    Die Fabriken laufen jeden Tag, rund um die Uhr. Auf drei Arbeitstage im Schichtbetrieb folgt ein Ruhetag. 

    Nach Angaben des Blacksmith Institute ist Norilsk eine der 10 Städte mit der weltweit stärksten Umweltbelastung. Das russische Statistikinstitut Rosstat führt Norilsk als die am stärksten verschmutzte Stadt des Landes.
    Jedes Jahr entlassen die metallurgischen Kombinate fast zwei Millionen Tonnen Gas in die Atmosphäre, vor allem Schwefeldioxid (98 %), aber auch Schwefelkohlenwasserstoffe, Stickoxide und Phenole. Die Menge dieser Emissionen entspricht denen Frankreichs oder einem Prozent des weltweiten Emissionsaufkommens. Auch Schwermetalle wie Blei, Nickel, Selenium und Kobalt werden in die Atmosphäre abgegeben. Das Norilsker Nickelkombinat gilt als größter Einzelluftverschmutzer der Erde. 

    Für die Umweltverschutzung ist in erster Linie eine veraltete technische Ausstattung verantwortlich. An mehr als 200 Tagen im Jahr überschreiten die Emissionen das gesetzlich zugelassene Maximum. In den nächsten Jahren sollen die Emissionen der Fabriken durch eine Erneuerung der technischen Ausrüstung maßgeblich verringert werden. Die ökologische Situation in der Stadt ist aber weiterhin alamierend.

    Zwar ist die Stadt Norilsk wohlhabend, dennoch verfallen viele Gebäude. Fast die ganze Stadt ist auf Pfeilern im Permafrost-Boden errichtet worden. Wenn die oberen Bodenschichten auftauen, werden die Verankerungen instabil, die Strukturen kommen in Bewegung, in tragenden Wänden tun sich große Risse auf. Viele Häuser sind unbewohnt und werden den Mächten der Witterung überlassen.

    Die Polarnacht dauert von Ende November bis Ende Januar. In dieser Zeit erhebt sich die Sonne nicht über den Horizont. Die natürlichen Rythmen des Körpers werden außer Kraft gesetzt, viele Bewohner klagen in dieser Zeit über Angstzustände, Nervosität oder Schlaflosigkeit.

    Eine Frau und ein Kind in ihrem Wohnzimmer. Während der kalten Monate geht ein Großteil des alltäglichen Lebens in geschlossenen Räumen vor sich, Dunkelheit und Kälte hindern die Menschen daran, sich für längere Zeit unter freiem Himmel aufzuhalten.

    Je nach Witterung müssen kleinere Kinder manchmal mehrere Monate am Stück in geschlossenen Räumen verbringen. Die Kindergärten haben daher spezielle Räume eingerichtet, die sich für Laufspiele, Radfahren oder andere Outdoor-Aktivitäten eignen.

    Trotz der schwierigen Lebensbedingungen und der ökologischen Situation ist die Geburtenrate in Norilsk höher als in anderen Regionen Russlands. Dennoch haben Klima und Umweltbedingungen einen negativen Einfluss auf die Gesundheit der werdenden Mütter. Die Mehrzahl der Geburten muss per Kaiserschnitt stattfinden. 

    Während der neun Wintermonate haben die Bewohner von Norilsk keine Gelegenheit, sich in einer grünen Natur zu erholen. Viele schaffen sich daher kleine grüne Oasen in ihren Wohnungen.

    Licht ist das wirkungsvollste Mittel, um die Polarnacht besser zu überstehen. In den 50er und 60er Jahren war eine spezielle Lichttherapie verbreitet. Heute gehen die Menschen ins Solarium, das überall und für wenig Geld zugänglich ist.

    Eine der beliebtesten Winteraktivitäten ist das Eisbaden. Die Außentemperatur spielt keine Rolle, im Gegenteil: Je kälter es ist, desto mehr Menschen kommen an die Badestellen. Nach dem Badegang kann man sich in kleinen Banjas am Rand des zugefrorenen Sees wieder aufwärmen, die mit heißem Dampf aus dem Heizkraftwerk auf Temperatur gehalten werden. 

    Die Einwohner von Norilsk haben ein spezielles Verhältnis zur Natur. Nach 9 Monaten in geschlossenen Räumen zieht es die Menschen im Sommer in die unberührte Tundra zu langen Wanderungen.

    Fotos: Elena Chernyshova
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Veröffentlicht am 01.12.2015

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  • Presseschau № 8

    Presseschau № 8

    Ereignisse dieser Woche: Abschuss des russischen Jagdbombers durch die Türkei. Es gibt emotionale Reaktionen, wütende Proteste – und ein neues Feindbild. Außerdem: In den Regionen protestieren LKW-Fahrer gegen die neue Straßenmaut. Jekaterinburg: Naina Jelzina, Witwe des ersten Präsidenten der Russischen Föderation, wirft anlässlich der Eröffnung des Jelzin-Zentrums einen Blick zurück auf die Regierungszeit ihres Mannes.

    Abschuss der SU-24. „Zehn türkische Flugzeuge gehören abgeschossen, Erdogan sponsert den Islamischen Staat!“ So die Reaktion eines Demonstranten vor der türkischen Botschaft in Moskau. Nach dem Abschuss eines russischen SU-24 Jagdbombers durch einen türkischen F-16 Kampfjet kam es am Dienstag und Mittwoch zu Protesten. Steine wurden geworfen, Fensterscheiben gingen zu Bruch. Ebenso wütend und emotional reagierten auch die Medien und die Politik. Einige Stunden nach dem Abschuss meldete sich Wladimir Putin zu Wort: Es handele sich um ein „Verbrechen“, einen „Stoß in den Rücken“, ausgeführt durch Komplizen der Terroristen, sagte der russische Präsident. Moskau und Ankara geben sich gegenseitig die Schuld an dem Abschuss.

    Der Abschuss der SU-24 beherrschte die Berichterstattung der Medien, mit der Türkei als neuem Feindbild: Bereits unmittelbar nach Bekanntwerden des Abschusses schrieb der Kommersant von einer Provokation Ankaras, um die von Moskau angestrebte breite Koalition gegen den Islamischen Staat zu verhindern, dank derer Assad womöglich länger an der Macht bleiben könnte. Das Staatsfernsehen zeigte einen Film über die Schlachten der russischen Armee gegen das osmanische Reich und in der populären Talkshow Der Abend mit Wladimir Solowjow diskutierten Politologen und Politiker die angeblichen gemeinsamen Wurzeln der türkischen Regierungspartei AKP und der ägyptischen Muslimbrüder, welche ja, ähnlich dem Islamischen Staat, ein Kalifat errichten wollten.

    Reagiert hat auch die Wirtschaft. Als erstes wurde der Tourismus zurückgefahren, weitere Großprojekte stehen auf der Kippe. Das Außenministerium in Moskau empfiehlt, von Reisen in die Türkei abzusehen, die größten Reisebüros verkaufen keine Touren mehr. Nach dem Verbot der Reisen nach Ägypten ist dies bereits der zweite Schlag innerhalb kürzester Zeit für die russische Tourismusindustrie: 40 Prozent aller Auslandsreisen aus Russland gingen im ersten Halbjahr 2015 an diese beiden Destinationen.

    Lastwagenfahrer protestieren. Zu erwarten ist, dass der Abschuss der SU-24 und der Streit mit der Türkei innerhalb Russlands noch zu einer noch stärkeren Unterstützung für die Politik des Kremls führen wird. Andernorts regt sich aber auch sozialer Protest, in mehreren Regionen streiken Lastwagenfahrer. Protestiert wird gegen die Mitte November neu eingeführte LKW-Maut – Projektbezeichnung: Platon. Durch die viel zu hohen Kilometertarife würden ihre Kosten unnötig steigen, ihre Arbeit lohne sich nicht mehr, klagen die Streikenden. Der Umfang des Protests lässt sich nur schwer beziffern, offiziellen Angaben zufolge nehmen landesweit nicht mehr als 2500 LKW-Fahrer teil. Laut den Lastwagenfahrern sollen es aber alleine in Dagestan mehr als 17.000 Protestierende sein. Der Konflikt wird bislang von den Staatsmedien ignoriert, trotz Forderungen der Zuschauer an den Ersten Kanal. Zu berichten gäbe es genug: In St.Petersburg protestierten die LKW-Chauffeure vor der Stadtverwaltung, in Samara und Petrosawodsk behinderten sie mit langsam fahrenden Kolonnen den Verkehr und in Dagestan wurde kurzerhand die Autobahn blockiert. Die Streikenden drohen nun auch dem Kreml: Am 30. November soll die Moskauer Ringautobahn, der MKAD, blockiert werden. Mit ihrer Kampagne erreichen die LKW-Fahrer politisch bislang kaum etwas, könnten aber zum Vorbild für die Organisation anderer Gruppen aus der Mittelklasse werden, welche ihren Unmut artikulieren wollen, schreibt Vedomosti. Medienberichten zufolge signalisieren die Behörden aber nun zumindest Gesprächsbereitschaft. Nicht alle Reaktionen sind jedoch gleich konstruktiv: Der Dumaabgeordnete Jewgeni Fjodorow hatte zuvor per Videobotschaft erklärt, der Protest gegen Platon sei von Agenten der Fünften Kolonne auf Geheiß der USA mit dem Ziel organisiert worden, den russischen Staat zu zerstören.

    Unmut über das neue System regte sich vor allem aber auch, weil von der LKW-Maut, mit deren Einnahmen eigentlich Straßen repariert werden sollten, nicht zuletzt Igor Rotenberg, der Sohn des Oligarchen Arkadi Rotenberg, der als Putin-Vertrauter gilt, profitiert. Die Fahrer nahmen kein Blatt vor den Mund: Wie die Novaya Gazeta berichtet, waren bei den Demonstrationen Transparente mit Schriftzügen wie „Russland ohne Rotenberg“, „Rotenberg ist schlimmer als der IS“ zu lesen.  Rotenberg-Junior soll zur Hälfte der Betreiber des Mautsystems, die Firma RT-Invest Transport Systeme, gehören. Open Russia schätzt den jährlichen Gewinn der Firma auf umgerechnet 43 bis 57 Millionen Euro pro Jahr – ohne vorangegangene Investition, da dafür staatliche Kredite herhalten. Igor Rotenberg ist nicht der einzige Sohn oder die einzige Tochter eines Oligarchen oder Politikers, der zur Zeit im Rampenlicht steht. Kritiker sprechen gar von einer neuen Aristokratie, die sich in Putins Russland entwickelt.

    Jelzin-Zentrum. Zum Abschluss noch ein Blick zurück in die 1990er Jahre, welche in Russland wieder im Fokus stehen. Anlass war die am Mittwoch in Ekaterinburg im Beisein von Putin und Medwedew erfolgte Eröffnung des Jelzin-Zentrums. Zu diesem Ereignis gab Naina Jelzina ein Interview: Die Witwe des ersten russischen Präsidenten spricht von einer schwierigen Zeit, die damals errungene Freiheit habe die Zukunft des Landes über viele Jahre hinweg bestimmt. Dekoder erinnerte bereits vor einigen Wochen mit mehreren Artikeln und Gnosen an den kontroversen Umgang mit dem unübersichtlichen ersten Jahrzehnt der Russischen Föderation.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

     

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