дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Presseschau № 29: Tag des Sieges

    Der Tag des Sieges am 9. Mai erinnert an den Sieg der Sowjetunion über Hitlerdeutschland und gilt als wichtigster Nationalfeiertag im russischen Kalender. Der Große Vaterländische Krieg, wie der Krieg zwischen 1941 und 1945 auch heute noch in Russland überwiegend genannt wird, hat kaum ein Familienschicksal unberührt gelassen. Die Erinnerung daran sitzt tief im kollektiven Bewusstsein. Daher ist der Tag des Sieges für viele Menschen in Russland ein Tag großer Emotionen – sowohl bei denen, die sich in der offiziellen Form des Gedenkens wiederfinden, als auch bei denen, die sich genau daran reiben.

    Insbesondere die Einführung neuer Gedenktraditionen, wie das Tragen von Georgsbändchen oder das sogenannte bessmertny polk (dt. Unsterbliches Regiment), und der Krieg im Osten der Ukraine befördern in der Mediendiskussion ganz grundlegende Fragen: Was ist es eigentlich, was hier gefeiert werden soll? Und ebenso: Wie soll es gefeiert werden?

     

    RBC: SÄULE NATIONALER IDENTITÄT

    Olga Malinowa, Professorin für Politikwissenschaften an der Higher School of Economics, sieht im Sieg von 1945 das wichtigste identitätsstiftende Ereignis nach dem Zerfall der Sowjetunion, wie sie auf dem unabhängigen Wirtschaftsportal RBC schreibt:

    [bilingbox]Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wurde in den 2000er Jahren zu einer zentralen Identitäts-Säule des „Wir“, das hinter dem modernen russischen Staat steht. […]

    Dass ausgerechnet der Große Sieg die Hauptstütze einer Erinnerungspolitik wurde, die auf die Bildung einer neuen russischen Identität zielt, ist nur logisch. Es ist fast das einzige Ereignis der russischen Geschichte, welches alle Kriterien der „politischen Tauglichkeit“ erfüllt: Es ist im kollektiven Bewusstsein fest verankert, insofern es auf einer soliden Erinnerungs-Infrastruktur fußt, die hauptsächlich in den 70er und 80er Jahren geschaffen wurde, sowie auf den lebendigen Erinnerungen der älteren Generation; es deckt ein breites Spektrum symbolischer Bedeutungen für die Charakterisierung des „Wir“ ab (und zwar positive) und ist nicht Gegenstand konträrer Bewertungen, die in einem Nullsummenspiel konkurrieren.

    Gleichzeitig wurde angesichts knapper „aktualisierter“ symbolischer Ressourcen der Mythos des Großen Siegs in den letzten 15 Jahren buchstäblich unser aller; er gewann eine Vielzahl neuer Bedeutungen und symbolisiert beinahe alle Aspekte der modernen russischen Identität.~~~Победа в Великой Отечественной войне превратилась в 2000-х годах в центральный столп идентичности „нас“, стоящих за современным российским государством. […]

    То, что именно великая Победа стала главной опорой политики памяти, нацеленной на формирование новой российской идентичности, вполне закономерно. Это чуть ли не единственное событие российской истории, которое отвечает всем критериям „политической пригодности“: оно актуализировано в массовом сознании, поскольку опирается на солидную инфраструктуру памяти, созданную главным образом в 1970–1980-х годах, и пока еще живую память старшего поколения; имеет широкий спектр символических значений для характеристики „нас“ (причем позитивной) и не является предметом противоположных оценок, конкуренция которых воспринимается по принципу игры с нулевой суммой. Вместе с тем в силу скудости „актуализированных“ символических ресурсов миф о великой Победе за последние 15 лет стал буквально нашим всем; он приобрел множество новых смысловых значений и символизирует чуть ли не все аспекты современной российской идентичности.[/bilingbox]

    RUS2WEB: 1945 – PUTINS SIEG

    Einen Schritt weiter geht der Journalist und Blogger Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Online-Portal Rus2Web: Er sieht in der offiziellen Erinnerungspolitik eine Art Vereinnahmung des Sieges durch den Kreml.

    [bilingbox]Die Mythologie des Großen Vaterländischen Krieges, die in den 2000er Jahren entstand, ist eine neue Mythologie. In ihr ist Raum sowohl für imperialistischen Revanchismus („Wir können das wiederholen“) als auch für den Chanson-Pathos als auch für die liberal-intellektuelle Empörung – alles hat seinen Ort und alle sind zufrieden.

    Der Witz, dass Putins größte Errungenschaft in den 16 Jahren seiner Herrschaft der Sieg von 1945 sei, ist tatsächlich gar nicht nur ein Witz. Der Sieg ist für den putinschen Staat wirklich von allergrößter Bedeutung – wichtiger geht nicht. […]

    Putin hat den 9. Mai tatsächlich völlig mit sich selbst verknüpft: Wenn du gegen Putin bist, bist du – ob du willst oder nicht – naturgemäß auch gegen die Georgsbändchen, dann gegen die Parade und gegen das Unsterbliche Regiment und überhaupt gegen die Großväter, die gekämpft haben.~~~Мифология Великой отечественной войны, сложившаяся в нулевые, — это новая мифология. В ней есть место и имперскому реваншизму („Можем повторить“), и шансонному надрыву, и либерально-интеллигентскому возмущению — все на месте и все довольны. Шутка о том, что главным достижением Владимира Путина за 16 лет пребывания у власти оказалась победа 1945 года, на самом деле не такая уж и шутка. Победа действительно имеет для путинского государства самое важное — важнее нет — значение. […]

    Путин действительно привязал 9 мая к себе до такой степени, что, если ты против Путина, ты естественным образом, даже сам того не желая, становишься сначала против георгиевской ленточки, потом против парада, и против „бессмертного полка“, и против воевавших дедов вообще.[/bilingbox]

    SPEKTR: AGGRESSIONS-SYMBOLIK

    Zu den alljährlichen Stimmen der Empörung, von denen Kaschin spricht, zählt auch die scharfe Kritik des russischen Journalisten und Autors Arkadi Babtschenko. Sein aktueller Text, der in dem in Lettland erscheinenden Medium spektr sowie auf seinem Blog auf Echo Moskwy veröffentlicht wurde, stieß insbesondere in den sozialen Medien auf große Resonanz.

    Der Tag des Sieges, so Babtschenko, trage inzwischen eine neue Bedeutung, die der ursprünglichen diametral entgegengesetzt sei: Ging es anfangs bei der Militärparade noch um Verteidigung und nicht um Angriff, sei das Fest für ihn – vor dem Hintergrund der Kriege in Georgien und der Ukraine – mittlerweile ein Ausdruck von Aggression und Okkupation.

    Auf drastische Weise äußert er, der als Kriegsberichterstatter in Tschetschenien und Südossetien größtes Unheil hautnah miterlebt hat, sein Unbehagen über den kritiklosen Militarismus:

    [bilingbox]„Nun sehen Sie, wie die Mehrfach-Raketenwerfer vom Typ Uragan über den Roten Platz rollen. Sie kamen in Tschetschenien und Georgien erfolgreich zum Einsatz.“ Diesen Satz schnappte ich auf, als ich auf die Live-Übertragung der Parade im Fernsehen stieß. Eine junge Moderatorin sagte den Satz, mit freudig erhobenem Tonfall.

    Mein Gott, Mädchen, was erzählst du da? Hast du mal gesehen, was diese Uragans mit Tschetschenien gemacht haben? Hast du je gesehen, in was sie die Dörfer verwandeln? Hast du das tschetschenische Dorf Zony gesehen, in dem nicht ein einziges Haus heil geblieben ist, sondern nur Schornsteinschlote aus Aschebergen ragen?

    Ein ganzes Dorf nur mit Schornsteinschloten – eins zu eins wie in den Kriegsfilmen. Nur haben das hier nicht die deutsch-faschistischen Okkupanten angerichtet, sondern diese deine Mehrfach-Raketenwerfer.~~~„Сейчас вы видите, как по Красной площади идут системы залпового огня Ураган. Они успешно применялись в Чечне и Грузии“, — эту фразу я услышал как-то, когда наткнулся по телевизору на трансляцию парада. Произносила её девочка-телеведущая, с приподнято-радостной интонацией. Бог мой, девочка, что ты несешь? Ты вообще видела, что эти Ураганы с Чечней сделали? Ты видела, во что они превращают села? Видела чеченское село Зоны, в котором не осталось ни одного целого дома, а только лишь печные трубы посреди пепелищ? Целое село печных труб — один в один как в кино про войну, только наделали все это уже не немецко-фашистские оккупанты, а вот эти вот твои системы залпового огня.[/bilingbox]

    KOMMERSANT: DAS UNSTERBLICHE REGIMENT UND DIE ERSTKLÄSSLER

    Zu den umstrittensten Elementen des offiziellen Gedenkens zählt die 2012 initiierte und seitdem regelmäßig durchgeführte Aktion vom Unsterblichen Regiment, in die auch die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft einbezogen werden. Im Kommersant berichtet Mascha Traub von den WhatsApp-Gesprächen irritierter Eltern, deren Kinder in der 1. Klasse zur Vorbereitung auf den 9. Mai eine besondere Hausaufgabe bekommen hatten:

    [bilingbox]Den Erstklässlern wurde aufgetragen, Portraitfotos [ihrer Vorfahren, die im Krieg gekämpft hatten – dek.] für das Unsterbliche Regiment mitzubringen. Da die Kinder das mit dem Regiment nicht verstanden und auch die Eltern nicht, entbrannte ein wildes Hin-und-her-Geschreibe:
    – Es müssen Portraits im A4-Format mitgebracht werden, eingerahmt und mit einem Stab zum Hochhalten. Von Großvätern, die im Krieg waren.
    – Gehen auch Großmütter?
    – Nein, wohl nur Großväter.
    – Und wenn wir keinen solchen Großvater haben?
    – Dann findet einen.
    – Bei uns waren weder Großvater noch Großmutter im Krieg, sie sind in Rente.
    – Dann Urgroßväter!!!
    – Ja, man soll drunterschreiben, wo der Großvater gekämpft hat und welchen Rang er hatte. Möglichst in Paradeuniform und mit Orden. Und er sollte … na, ihr wisst schon … er sollte passen … Die Kinder sollen mündlich vortragen, wo der Urgroßvater gekämpft hat, wo er gefallen ist oder nicht gefallen ist und so weiter.~~~Детям-первоклашкам велели принести портреты для „Бессмертного полка“. Поскольку дети про полк ничего не поняли, родители тоже, началась бурная переписка.
    – Нужно принести портреты формата А4 в рамке и на палке. Дедушек, которые воевали.
    – А можно бабушек?
    – Нет, вроде бы нужны только дедушки.
    – А если у нас нет такого дедушки?
    – Найдите.
    – А у нас ни дедушки, ни бабушки не воевали, они на пенсии.
    – Прадедушки!!!
    – Да, нужно подписать, где дедушка воевал, в каком звании. Желательно, чтобы в парадном мундире и с орденами. И чтобы… ну вы понимаете… чтобы подходил… Ребенок должен устно рассказать, где воевал прадед, как погиб или не погиб и прочее.[/bilingbox]

    SLON: AUCH STALIN WAR AGGRESSOR

    In der Debatte um den Tag des Sieges geht es immer auch um eine allgemeine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte beziehungsweise um die Vergegenwärtigung von Geschichte. Im Interview mit dem unabhängigen Nachrichtenportal Slon bemängelt der Historiker und Publizist Boris Sokolow, dass gewisse Aspekte im offiziellen Gedenken ausgeblendet oder zumindest nachrangig behandelt werden:

    [bilingbox]Die Sowjetunion trat als Aggressor in den Krieg ein. Entsprechende Akte der Aggression waren die Besetzung des Baltikums, Bessarabiens, der nördlichen Bukowina sowie der Angriff auf Finnland. Und nur weil Hitler am 22. Juni 1941 Stalin angegriffen hat, heißt das nicht, dass die UdSSR kein Aggressor mehr war.

    Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre und Stalin hätte es geschafft, Hitler zuerst anzugreifen (und solche Pläne hatte er sowohl 1940 als auch 1941, es gab sogar eine ursprüngliche Angriffsfrist bis zum 12. Juni 1941, festgehalten in den Strategieplänen der Roten Armee vom 11. März desselben Jahres), dann wäre Deutschland in den Augen der Anti-Hitler-Koalition immer noch der Aggressor.

    Warum sollten wir die Sowjetunion hier anders behandeln? Nur weil sie unter den Siegern war?~~~Советский Союз вступил в войну как агрессор. Точно такими же актами агрессии были оккупация Прибалтики, Бессарабии, Северной Буковины и нападение на Финляндию. И от того, что 22 июня 1941 года Гитлер напал на Сталина, СССР не перестал быть агрессором. Ведь если бы было наоборот и Сталин успел бы первым напасть на Гитлера (а такие планы у него были и в 1940-м, и в 1941 году, и был даже установлен первоначальный срок нападения на 12 июня 1941 года, зафиксированный в плане развертывания РККА от 11 марта того же года), то Германия после этого все равно не перестала бы быть агрессором в глазах стран антигитлеровской коалиции. Почему же к Советскому Союзу у нас должен быть иной подход? Только потому, что он оказался среди победителей?[/bilingbox]

    IZVESTIA: SIEG ÜBER DEN FASCHISMUS

    Immer wieder werden Bezüge zu aktuellen weltpolitischen Geschehnissen und insbesondere zum Ukrainekonflikt hergestellt. Entsprechend dem offiziellen Narrativ von der Kontinuität im Kampf gegen den Faschismus schreibt die Schriftstellerin Diana Kadi in der staatsnahen Tageszeitung Izvestia über die Bedeutung des 9. Mai für die Krim:

    [bilingbox][…] Der 9. Mai ist heute für die Bewohner der Krim nicht nur der Tag des Sieges über Deutschland. Mit Blick auf die gegenwärtige Ukraine, als Teil derer die Krim all die Jahre ihr Dasein gefristet hat, haben die Menschen auf der Halbinsel begonnen, den friedlichen Himmel über ihren Köpfen wertzuschätzen.

    Das, was als gegeben galt. Das, wofür unser Urgroßväter ihr Leben gaben. Wir haben das vergessen, erst jetzt erinnern wir uns wieder. Tragische Ereignisse in einst heimatlichen Randgebieten haben uns dazu verholfen, die Erinnerung aufzufrischen und die Bedeutung des Sieges über die Faschisten. Dort, wo Mitglieder der OUN und der UPA […] nicht nur rehabilitiert, sondern als Unabhängigkeitskämpfer gefeiert werden.~~~[…] 9 мая для крымчан сегодня — не только день победы над Германией. Глядя на нынешнюю Украину, в составе которой Крым влачил существование все эти годы, жители полуострова стали ценить мирное небо над головой.

    То, что воспринималось как данность. То, ради чего наши прадеды отдали свои жизни. Мы забыли об этом, а вспомнили только сейчас. Освежить память и значение победы над фашистами нам помогли трагические события, произошедшие в некогда родной окраине. Там, где члены ОУН и УПА […] не только реабилитированы, но и признаны борцами за независимость.[/bilingbox]

    ROSSIJSKAJA GASETA: POSTSOWJETISCHE ZENTRIFUGALKRÄFTE

    In der von der russischen Regierung herausgegebenen Rossijskaja Gaseta beklagt die stellvertretende Chefredakteurin Jadwiga Juferowa, dass durch die individuellen Gedenkformen in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern das verbindende Element des Sieges vernachlässigt werde. Abgrenzungstendenzen vom sowjetischen Erbe und von Russland würden die gemeinsame Erinnerung gefährden:

    [bilingbox]Warum kamen in vielen postsowjetischen Republiken derartige Zentrifugalkräfte zum Tragen? Jedes Volk möchte eine eigene Geschichte haben und ehren. Wir haben sie zum wiederholten Mal zerstört. Im Jahr 1991 genau wie im Jahr 1917 … Bis auf die Grundfesten. Unter dem gemeinsamen Fundament lag Dynamit von solcher Sprengkraft, dass ihm mit Müh und Not einzig der Große Sieg standhielt (mit all seiner Wucht!).

    Alle begannen ihre eigene großartige Geschichte zu schreiben, „sowjetlos“. Die Historiker schafften es nicht, diese im Leben mehrerer Generationen so wichtige Periode gedanklich zu erfassen, nachdem sie ebenfalls zu Revolutionären geworden waren.~~~Почему многие постсоветские республики взяли такой центробежный разбег? Каждый народ хочет иметь и уважать свою историю. А мы в очередной раз ее уничтожили. В 1991-м так же, как в 1917-м… До основания. Под общий фундамент был заложен такой силы динамит, что с трудом устояла лишь одна Победа (с ее-то мощью!). Каждый начал писать свою великую историю "без совка". Историки не справились с осмыслением этого очень важного периода в жизни нескольких поколений, став тоже революционерами.[/bilingbox]

    NOVAYA GAZETA: LEBEND VERSCHOLLEN

    Die Journalisten der unabhängigen Novaya Gazeta haben anlässlich des 9. Mai die Geschichten ihrer eigenen Vorfahren nachrecherchiert und aufgeschrieben, um einen individuellen Blick auf Kriegsschicksale zu geben, die im allgemeinen Gedenken oft untergehen. So schreibt etwa Dmitri Muratow, Chefredakteur und einer der Gründer der Zeitung, über die Probleme seines Großvaters, als einstiger Feldarzt nach dem Krieg in das zivile Leben zurückzufinden:

    [bilingbox]Bis zu seinem Tod litt er aufgrund seiner schweren Kriegsverletzungen unter Kopfschmerzen und dämpfte sie mit Wodka. Vor nicht allzulanger Zeit begegnete ich Daniil Granin. Er sagte, dass sie, die Frontsoldaten, nach ihrer Heimkehr nicht wussten, was sie mit dem Sieg anfangen sollten. Mein Großvater wusste es wahrscheinlich auch nicht.

    Granin: „Ohne Krieg war alles vorbei, ja, es war ein Glück, dass man noch lebte, ein kurzes Glück, das bald endete. Was würde nun folgen?“

    Mein Großvater hat sich nie als Arzt im zivilen Leben wiedergefunden. Er blieb lebend verschollen.~~~До самой смерти его мучили головные боли от тяжелого ранения и контузии, он глушил их водкой. Я совсем недавно видел Гранина, он заметил, что они, фронтовики, вернувшись, не знали, что им делать с победой. Мой дед, наверное, тоже не знал.

    Гранин: „Без войны все оборвалось, да, есть счастье, что остался жив, короткое счастье, что кончается. И что дальше?“

    Дед не нашел себя на гражданской службе санитарным врачом. Не мог быть без вести живым.[/bilingbox]

    Daniel Marcus, Leonid A. Klimov

     

    Weitere Themen

    Presseschau № 21

    Presseschau № 22

    Presseschau № 23

    Presseschau № 24

    Presseschau № 25

    Presseschau № 26

    Presseschau № 27

    Presseschau № 28: Tschernobyl

  • Editorial: Gnose und Gnu

    Editorial: Gnose und Gnu
    Foto © R4vi/flickr.com
    Foto © R4vi/flickr.com

    Wieso eigentlich Gnose? Was soll das heißen? Wieso benutzt ihr so ein seltsames Wort?

    Zugegeben, „Gnose“ war zu Anfang einfach interner dekoder-Slang. Bei uns gibt es ja zwei Typen von Inhalten: übersetzte russische Medienartikel (die wir sinnvollerweise einfach „Artikel“ nennen) und wissenschaftliche Erklärungstexte von Forschern aus Universitätsinstituten. Wie soll man die nennen, im alltäglichen Redaktionsbetrieb, um nicht durcheinanderzukommen? „Wissenschaftliche Hintergrundtexte“? „Erklärstücke“? „Kontextinformationen“? Alles sperrig und nicht wirklich gut, vor allem, wenn das journalistische Pendant einen so griffigen und kurzen Namen hat.

    Also musste etwas anderes her, und das ist eben das Wort Gnose. Wie Dia-gnose, wie Pro-gnose, nur ohne Vorsilbe. Das Wort passt perfekt, es kommt von griechisch gnosis, Erkenntnis, und das ist ja, was diese Texte liefern sollen: Einsicht in ein spezifisches Thema, wissenschaftlich fundiert, knapp und gut lesbar.

    Der Ausdruck hat sich bei uns in kürzester Zeit eingebürgert. Wir haben eine Gnosenredaktion (Jan Matti und Leonid), wir reden von „Gnosisten“ (die Autoren der Gnosen – Standardfrage: „Haben wir einen Gnosisten für Thema XY?”), Artikel gehen erst online, wenn sie vollständig vergnost sind, und demnächst werden wir die Gnosennavigation auf dem Site verbessern (ja, hier ist ein update geplant, um die Gnosen besser zugänglich zu machen!).

    Uns selbst fällt schon überhaupt nicht mehr auf, dass das Wort irgendwie ungewöhnlich sein könnte. Also benutzen wir es auch nach außen hin. Es existiert ja sonst auch tatsächlich kein besonders passender Name für diese Textform (an der wir gemeinsam mit den Gnosisten immer weiter arbeiten, damit sie noch gnosiger wird: inhaltlich vielfältiger, anschaulicher, „aromatischer“ …).

    Nun gibt es Leute, die nicht gern gn sprechen am Wortbeginn. Man kann das auch verstehen, die Anlautung erfordert Gaumendruck. Außerdem ist gn in unserem phonologischen Ökosystem recht selten. Doch gerade deshalb möchten wir euch bitten, wohlwollend mit ihm umzugehen. Wie mit einem bedrängten Tier der Savanne – sagen wir: einer südafrikanischen Kuhantilope. Der knappe Bestand an gn ist unbedingt schützenswert. Also: Gnade dem Gnu! (und dem gnatzigen Gnom aus dem Gneis, denn auch der hats nicht leicht). (Und den Gnosen natürlich auch.)

    Damit auch für heute gnug …

    Ihr Martin Krohs
    Herausgeber

    Weitere Themen

    Editorial: Es geht los

    Editorial: Unser Geist …

    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Editorial: Übers Übersetzen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

    Editorial: Popcorn!

  • Mai: Beim Volk der Mari

    Mai: Beim Volk der Mari

    In unserer Zeit, heißt es, sei die Natur (wenn nicht die ganze Welt) entzaubert. Für diese Menschen gilt das sicher nicht: Die Mari aus der russischen Teilrepublik Mari El.

    Die Mari leben seit mindestens zweitausend Jahren am Flusssystem der mittleren Wolga und am Ural. Sie gehören zur Volksgruppe der Wolga-Finnen: Möglicherweise teilen sie ihre Ursprünge mit denen der baltischen Finnen, ihre Sprache, die zur finno-ugrischen Familie gehört, weist jedenfalls darauf hin. 

    Das Leben der Mari ist noch heute durchdrungen von einer altertümlichen Volksreligion, die das Leben in Einklang mit der Natur lehrt. Die Mari bezeichnen sich selbst oft als die letzten Heiden Russlands oder gar die letzten Heiden Europas. Wobei das nur mit Einschränkungen zutrifft, denn die meisten der ungefähr 650.000 Mari, die heute in Russland leben, sind getauft und Mitglieder der russisch-orthodoxen Kirche. Ihre Traditionen haben sie sich aber in der Tat bewahrt und sie sowohl gegen die Einflüsse des Christentums wie auch des sowjetischen Atheismus aufrecht erhalten.

    Die Mari nennen sich selbst die „kleinen Leute“, sie gelten als scheu, bescheiden und außerordentlich höflich. In ihrer Religion wird die Natur als belebt verstanden und niemals ausgebeutet, erst ihre Gaben machen das Dasein der Menschen möglich. Vielleicht war es die marische Strategie der Nicht-Konfrontation, des Ausweichens, die dem Volk das Überleben bis in die heutige Zeit ermöglicht hat: Der marische Begriff Ju kommt nach Ansicht einiger Forscher der Idee des chinesischen Dao oder dem Brahma der Hindu nahe.

    In heiligen Hainen werden die Götter verehrt, deren höchster der Große Weiße Gott ist: Osh Kugu Yumo. Unter den geringeren Göttern finden sich solche des Feuers und des Windes und zahlreiche Mischwesen aus Gott und Mensch. Die marischen Kultstätten sind meist in Waldgebieten und an Flussufern gelegen. In der Sowjetzeit wurden sie vernachlässigt oder gar zerstört. Seit der Perestroika hat die Kultur der Mari jedoch einen Aufschwung erlebt, heute werden an die 400 heilige Haine von den Mari wieder für ihre Zeremonien genutzt.

    Unsere Fotostrecke, aufgenommen von Oleg Ponomarev während mehrerer Reisen in ein marisches Dorf in den Jahren 2014–2015, zeigt zunächst Szenen aus dem alltäglichen Leben, dann Bilder von der großen alljährlichen Gebetszeremonie. Im Unterschied zur christlichen Religionen werden bei den Mari den Göttern auch Opfergaben dargebracht. Es folgen Aufnahmen vom Fest des Sommerbeginns – in der marischen Kultur ein Anlass, um der Toten zu gedenken. Den Abschluss bildet die Feier der Wintersonnenwende, Shory Kyol. Die Bewohner der Dörfer ziehen in Tiermasken durch die Häuser und bitten um Verköstigung: Nur wenn die Bedürfnisse der Tiere gestillt sind, kann auch der Mensch seiner natürlichen Bestimmung gemäß leben.

    Oleg Ponomarev ist 1988 in St. Petersburg (zu dieser Zeit noch Leningrad) geboren. Er hat an der Abteilung für Fotojournalismus der St. Petersburger Journalistenvereinigung studiert, außerdem an der Fotoschule Zekh von Sergey Maksimishin. Seine Arbeiten wurden in verschiedenen russischen Städten gezeigt, demnächst erscheint in National Geographic eine Fotoserie, in der Ponomarev durchleuchtete Gepäckstücke aus St. Petersburger Metrostationen präsentiert – mitsamt der in ihnen gefundenen, nicht immer für Metrofahrten prädestinierten Gegenstände.

    Fotos: Oleg Ponomarev
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs

    Weitere Themen

    Januar: Backstage im Bolschoi

    Februar: Gruppe TRIVA

    März: Alexander Gronsky

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    November: Arnold Veber

    Oktober: Denis Sinjakow

    September: Olga Ludvig

    Dezember: Norilsk

  • Presseschau № 28: Tschernobyl

    Presseschau № 28: Tschernobyl

    Zum 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe wurden auch in Russland Umstände und Folgen des Unfalls heftig diskutiert. Das Thema ist gerade in diesem Jahr zu einem regelrechten Politikum geworden: In der Debatte geht es nicht nur um die humanitären, ökologischen und technischen Aspekte, sondern auch um das Bild, das man sich in Russland heute von der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine macht.

    Einige Medien nehmen den Jahrestag zum Anlass, um der Ukraine alte wie neue Fehler zur Last zu legen, andere sehen bei der weiteren Bewältigung der Folgen auch den russischen Staat in der Pflicht.

    Auch zur Einschätzung der Opferzahlen und zu den Langzeitfolgen des Unglücks gehen die Meinungen weit auseinander.

    Einige der wichtigsten Stimmen haben wir hier mit Originalzitaten zusammengestellt.

    KOMMERSANT: OPFERZAHLEN SIND ÜBERTRIEBEN

    Im weitgehend unabhängigen Kommersant erklärt Leonid Bolschow, Leiter eines Instituts für nukleare Sicherheit der russischen Akademie der Wissenschaften: Alles nicht so schlimm.

    [bilingbox]In der wissenschaftlichen Literatur sind weltweit – und übrigens auch in der Sowjetunion – als direkte medizinische Folgen im ersten Jahr nach dem Unfall nur 134 bestätigte Fälle schwerer Strahlenkrankheit festgehalten. In den ersten 100 Tagen starben 28 Menschen. Alle anderen wurden geheilt und lebten und starben später entsprechend den landesweit durchschnittlichen medizinischen Kennziffern. Die Sterberate der Liquidatoren, zu denen auch ich gehöre, unterscheidet sich in nichts von Personen, die mit Tschernobyl nichts zu tun haben. Die Tausende und Millionen und Milliarden Opfer, über die einige Hitzköpfe sprachen, gibt es nicht.~~~Мировая наука, как, впрочем, и советская наука в первый же год после аварии, посчитала, что среди прямых медицинских последействий только 134 подтвержденных случая острой лучевой болезни. В первые 100 дней умерли 28 человек. Всех остальных вылечили, и дальше они жили и умирали в соответствии со средними по стране медицинскими показателями. А смертность среди ликвидаторов, к которым отношусь и я, ничем не отличается от смертности среди людей, не имевших никакого отношения к Чернобылю. Ни тысяч, ни миллионов, ни миллиардов жертв, о которых некоторые горячие головы говорили, нет.[/bilingbox]

    KOMSOMOLSKAJA PRAWDA: ALLES MYTHEN

    Ähnlich äußert sich die Boulevard-Zeitung Komsomolskaja Prawda: Opferzahlen würden aufgebläht – und heute blühe das Leben in der verlassenen Stadt Prypjat, vier Kilometer vom Reaktor von Tschernobyl entfernt.

    [bilingbox]Mit den Jahren wurde Folgendes klar: Die sowjetische Staatsführung hat unter dem Druck der Öffentlichkeit eine extrem hohe Opferzahl des Unfalls eingestanden. Den vorteilhaften Status des „Tschernobylers“ wollte dann später niemand wieder abgeben. […] Die fast vollständige Abwesenheit von Menschen hat den Wald um den Ort Prypjat in eine Oase für Tiere verwandelt. Die Zone um Tschernobyl gleicht einem Naturschutzgebiet, wo sich die Natur ganz urwüchsig zeigt: Schließlich stört der Mensch sie nicht. Hier ziehen Elche, Hirsche, Wölfe, Füchse und Bisons frei umher. Biologen untersuchen sie von Zeit zu Zeit – und finden weder Zweiköpfige noch Dreischwänzige. Also, auch alles Mythen.~~~С годами появилось понимание: руководство советской страны под давлением общественного мнения приняло решение об избыточном признании количества пострадавших от аварии людей. А потом уже не было желающих отказываться от выгодного статуса «чернобылец». […] Почти полное отсутствие людей превратило леса вокруг Припяти в животный оазис. Зона вокруг Чернобыля больше напоминает природный заповедник, где природа существует в первозданном виде: ведь ей не мешает человек. Здесь свободно бродят лоси, олени, волки, лисицы, зубры. Биологи их периодически изучают: ни одного двухголового или трехвостого. Выходит, опять выдумки.[/bilingbox]

    TAKIE DELA: BUDDELN IN RADIOAKTIVEN BEETEN

    Das spendenfinanzierte Magazin für Sozialreportagen Takie Dela dagegen behandelt die Folgen des Unfalls sehr kritisch. In der Reportage geht es vor allem um die Gebiete, die heute in Russland liegen.

    [bilingbox][…] Die Beamten, die damals in Moskau über die Radioaktivität im Gebiet Tula berichteten, gingen später im demokratischen Russland in die Politik und sagten: „Wir haben die Errichtung einer Tschernobyl-Zone durchgesetzt.“ Obwohl – oh weh – außer ein paar kleinen Geldzuwendungen für die Bewohner nichts dabei herumkam. Aber nicht einmal das war einfach. Die Einwohner von Uslowa hatten weniger als ein Jahr das Recht, umzusiedeln. Es konnte einfach niemand zulassen, dass eine ganze Stadt umzieht. Deshalb blieben die Alten hier leben, und die Kinder buddelten in radioaktiven Beeten. […]

    Außerdem haben die Politiker vor, die Anzahl der Orte auf der Tschernobyl-Zonen-Liste auf die Hälfte kürzen. Nach ihrer Auffassung wird das Gebiet dadurch attraktiver für Investoren und die Landwirtschaft.~~~[…] чиновники, заявлявшие в Москве о радиоактивным положении в Тульской области, в демократической России пошли в депутаты и говорили: «Мы пробили чернобыльскую зону!». Хотя кроме небольших денежных подачек для жителей, увы, ничего добиться не удалось. Но и это было непросто. У жителей Узловой меньше года был статус с правом на отселение. Просто никто не мог позволить, чтобы целый город переехал. Поэтому здесь так и доживали старики, а дети росли, копаясь в радиоактивных клумбах. […]

    Кроме того, власти России собираются в два раза сократить список населенных пунктов, входящих в чернобыльскую зону. По мнению чиновников, это должно сделать территорию более привлекательной для инвестиций и ведения сельского хозяйства.[/bilingbox]

    ERSTER KANAL: DIE FEHLER DER ANDEREN

    Der Erste Kanal, der mehrheitlich in Staatsbesitz ist, sieht die Versäumnisse dagegen vor allem auf ukrainischer Seite. Im Artikel auf der Webseite des Senders heißt es, nicht nur die Ingenieure sondern auch die politische Führung der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik seien für die Katastrophe verantwortlich gewesen. Heute setzten sich die Verfehlungen fort: Der Sarkophag zur Abdeckung des Reaktors sei immer noch nicht fertiggestellt, die von internationalen Geldgebern bereitgestellten Mittel versickerten in Korruptionsnetzwerken. Außerdem, so berichtet der hier zitierte Abschnitt, zeige Kiew auch im heutigen technischen Betrieb Verantwortungslosigkeit – indem es mit den USA statt mit Russland kooperiere, ohne die Folgen abzuschätzen.

    [bilingbox]Indem sie alle Kontakte mit Russland abbrach – darunter auch in puncto Kernenergie – hat sich die Ukraine nach Ansicht von Experten selbst in eine gefährliche Falle manövriert. Die Regierung hat beschlossen, die ukrainischen Atomkraftwerke auf amerikanischen Kraftstoff umzurüsten. Die Gesetze der USA verbieten die Einfuhr von Atommüll. Daher bleibt der Ukraine nichts anderes übrig, als bei sich selbst Endlager zu bauen. Auf dem Baugelände wurden bereits feierlich [Informations-]Schilder aufgestellt – ungeachtet dessen, dass der amerikanische Kraftstoff noch nicht einmal die obligatorische Freigabe erhalten hat; er wird bisher nur experimentell eingesetzt. Außerdem sind ähnliche Experimente in Europa bereits gescheitert.~~~Разорвав все связи с Россией, в том числе по линии ядерной энергетики, Украина, по мнению экспертов, сама загнала себя в опасную ловушку. Правительство приняло решение перевести украинские АЭС на американское топливо. Законы США запрещают ввозить отходы в эту страну. Поэтому Украине ничего не остается, кроме как строить хранилище у себя. На месте строительства уже торжественно установили таблички, несмотря на то, что американское топливо еще даже не прошло обязательную сертификацию, его пока используют экспериментально. Причем в Европе подобные эксперименты закончились неудачно.[/bilingbox]

    IZVESTIA: VOM WESTEN INSTRUMENTALISIERT

    In der regierungsnahen Izvestia ist von einer wissenschaftlichen Konferenz am renommierten Kurtschatow-Institut zu lesen. Die Experten dort beklagten, so die Zeitung, dass westliche Medien den Unfall ausgeschlachtet und damit den Zerfall der Sowjetunion befördert hätten.

    [bilingbox]Die Teilnehmer der wissenschaftlichen Konferenz bemerkten mehrfach, dass der Unfall in Tschernobyl einer der Gründe war, die zum Zerfall der UdSSR führten. Denn die Partner aus anderen Ländern hätten über die Tragödie ausschließlich ihrem Interesse entsprechend berichtet. Man kann die jüngste Tragödie im japanischen Fukushima in eine Reihe mit Tschernobyl stellen, die weltweite Berichterstattung zu ihr war allerdings viel zurückhaltender.~~~Участники научной конференции также неоднократно отмечали, что авария в Чернобыле стала одной из причин, способствовавших распаду СССР, поскольку зарубежные партнеры освещали эту трагедию исходя исключительно из своих интересов. Вместе с тем недавнюю трагедию на японской «Фукусиме» можно поставить в один ряд с Чернобылем, однако активность ее освещения в мировых СМИ была в разы меньше.[/bilingbox]

    VEDOMOSTI: DIE INFORMATIONS-KATASTROPHE

    Auch die regierungsunabhängigen Vedomosti behandeln die Rolle der Medien – allerdings der sowjetischen.

    [bilingbox]Die Ereignisse von Tschernobyl lösten eine Informations-Katastrophe in der sowjetischen Politik aus. Um ihre Folgen zu mindern, wurde daraufhin die Zensur gelockert, was der Presse erlaubte, offen über Probleme zu sprechen, die zuvor hinter einem dichten Vorhang militärischer, staatlicher und behördlicher Geheimnisse verborgen waren.~~~События в Чернобыле вызвали информационную катастрофу в советской политике, ликвидация последствий которой привела к смягчению цензуры и позволила прессе открыто говорить о проблемах, находившихся прежде под плотной завесой военной, государственной и ведомственной тайны.[/bilingbox]

    BIRD IN FLIGHT: GEHEIMNIS GELÜFTET

    Dass die Medien auf Anweisung des KBG zentrale Informationen zu dem Unglück zurückhielten, davon zeugen die kürzlich in der Ukraine freigegebenen Geheimdokumente, die Bird in Flight veröffentlicht hat, das in der Ukraine auf Russisch erscheint. Der KGB befahl demnach ausdrücklich die Geheimhaltung wichtiger Informationen zu Hintergründen und unmittelbaren Auswirkungen der Katastrophe:

    [bilingbox]1. Informationen, die die tatsächlichen Gründe des Unfalls im Reaktor 4 des Kernkraftwerks von Tschernobyl offenlegen.

    3. Informationen über die Menge und Zusammensetzung des Gemischs, das während des Unfalls austrat.

    11. Informationen über die radioaktive Verschmutzung der Umwelt und von Lebens- und Futtermitteln, die die höchstens zulässigen Konzentrationen überschreiten.

    16. Informationen über Ergebnisse neuer Methoden und Mittel zur Behandlung von Strahlenschäden.~~~1. Сведения, раскрывающие истинные причины аварии на блоке Nr. 4 ЧАЭС.

    3. Сведения о величинах и составе смеси, выброшенной во время аварии.

    11. Сведения о радиоактивном загрязнении природных сред, пищевых продуктов и кормов, превышающим предельно допустимые концентрации.

    16. Сведения о резултатах лечения новыми методами или средствами лучевой болезни.[/bilingbox]

    Jan Matti Dollbaum, Leonid A. Klimov

    Weitere Themen

    Presseschau № 20

    Presseschau № 21

    Presseschau № 22

    Presseschau № 23

    Presseschau № 24

    Presseschau № 25

    Presseschau № 26

    Presseschau № 27

  • Presseschau № 27

    Presseschau № 27

    „Es ist Zeit, dem Informationskrieg einen Riegel vorzuschieben“: Mit der Veröffentlichung eines derart markig betitelten Artikels sorgt Alexander Bastrykin, Chef des mächtigen, direkt Präsident Wladimir Putin unterstellten Ermittlungskomitees, dieser Tage für Aufregung in den russischen Medien.

    Bastrykin schreibt im Wochenmagazin Kommersant Vlast, gegen Russland sei ein hybrider Krieg im Gange, geführt von den USA und ihren Verbündeten. Dies hätte unter anderem zur Folge, dass der Islamische Staat gestärkt würde. Diesem hybriden Krieg müsse Moskau eine eigene Staatsideologie entgegensetzen und über eine strengere Internetzensur nach dem Vorbild Chinas und eine Verschärfung von Gesetzen, etwa im Hinblick auf Migranten, nachdenken.

    dekoder hat den Text ins Deutsche übersetzt. In der heutigen Presseschau bringt dekoder eine beispielhafte Auswahl der Reaktionen aus der russischen Medienlandschaft.

    SLON: Die „Kräfte-Perestroika

    Die Politologin Ekaterina Schulmann schreibt im unabhängigen Internetmagazin Slon, dass Ort und Zeitpunkt der Veröffentlichung fast interessanter seien als der Inhalt des „Manifests”. Zwar klinge der politische Teil von Bastrykins Text geradezu unheimlich und die Idee eines reaktionären Isolationismus, wie sie der Chefermittler hier entwerfe, könne getrost mit Nordkorea verglichen werden, so Schulmann. Der Zeitpunkt und die Veröffentlichung in der Presse deuteten jedoch darauf hin, dass es Bastrykin weniger um eine Programmschrift geht. Vielmehr wolle er sich vor allem im Ringen um Kompetenzen und Ressourcen innerhalb der Sicherheitsstrukturen, der sogenannten Silowiki, positionieren:

    „Ein mächtiger neuer Spieler hat jetzt das Kampffeld betreten – die Nationalgarde. Dadurch ändern sich Befugnisse und Zusammensetzung des Innenministeriums. Diese Ereignisse kann man als Kräfte-Perestroika bezeichnen. Man muss daran teilnehmen und dabei mit denjenigem ideologischen Fähnchen wedeln, das – nach Meinung des Autors – derzeit am besten vor Personal- und Budgetkürzungen sowie vor dem Verlust des eigenen Postens schützt. Ein Chef, der sich nicht um sich und sein Amt sorgen muss, würde sich kaum mit derart weitreichenden Aussagen an die Presse wenden. Die Silowiki sind unruhig.“

    MOSKOVSKIJ KOMSOMOLETS: WAS BASTRYKIN VERGESSEN HAT

    Das Massenblatt Moskovskij Komsomolets erinnert den studierten Juristen Bastrykin daran, dass er mit einigen Aspekten seines „Manifests“ gegen die russische Verfassung verstoße. Der Autor des Kommentars befürchtet allerdings, dass Bastrykin ihm bei einem persönlichen Treffen wohl unmissverständlich darlegen würde, dass er als Jurist im Recht sei, während der Autor als Amateur Unrecht habe. Zum Schluss hält er allerdings fest, dass dies Bastrykins persönliche Meinung sei. Garant der Verfassung in Russland sei schlussendlich immer noch Präsident Wladimir Putin.

    „Alexander Iwanowitsch [dek – Bastrykin] könnte folgende Verfassungsklausel interessieren: ‚In der Russischen Föderation wird die ideologische Vielfalt anerkannt. Es darf keine Staats- oder anderweitig verpflichtende Ideologie geben.‘
    Ich würde dem Vorsitzenden des Ermittlungskomitees außerdem empfehlen, sich erneut mit Artikel 29 Absatz 5 unseres Grundgesetzes vertraut zu machen: ‚Die Pressefreiheit wird gewährleistet. Zensur ist verboten.‘ Offensichtlich hat Alexander Iwanowitsch diesen Punkt  auch vergessen.“

    RBK DAILY: WIDER DIE VERFASSUNG

    Die Wirtschaftszeitung RBK Daily hat unterschiedliche Medienvertreter um Reaktionen zu Bastrykins Vorschlägen gebeten, da dessen Zensur-Pläne nach chinesischem Vorbild die Arbeit der Branche empfindlich einschränken würden.
    So wolle Bastrykin in Russland etwa Online-Medien verbieten, welche ganz oder teilweise in ausländischem Besitz seien. Im vergangenen Jahr habe Moskau die Medien zudem bereits härter an die Kandare genommen, wie die Zeitung festhält. Am 1. Februar 2016 ist ein Gesetz in Kraft getreten, welches ausländischen Unternehmen verbietet, mehr als 20 Prozent Anteile an russischen Medienunternehmen zu besitzen. Dies hatte bereits im Vorfeld zu großen Umwälzungen in der Branche geführt. Zudem gebe es technische und gesetzliche Hindernisse für Bastrykins Pläne:

    „Aus Bastrykins Text gehe nicht hervor, ob ein ‚Verbot‘ zum Beispiel bedeuten würde, dass man technisch gesehen keine .com-Domains mehr besuchen kann, sagt der Chefredakteur von Echo Moskvy, Alexej Wenediktow (die amerikanische EM-Holding hält eine Minderheitsbeteiligung an diesem Radiosender). Die Aussage des Vorsitzenden des Ermittlungskomitees zum ‚Maß an Zensur‘ wirke alles andere als verfassungsmäßig, sagt Wenediktow: Zensur sei in Russland durch das Grundgesetz verboten.“

    FORBES: SCHLAGSEITE GEN CHINA

    Andrej Soldatow, Publizist und Internetexperte, weist in der russischen Ausgabe des Wirtschaftsmagazins Forbes darauf hin, dass Bastrykin in Sachen Internetzensur in Russland nicht wirklich auf dem neuesten Stand sei. Schließlich erwähne er in seinen Vorschlägen auch solche, die schon längst umgesetzt seien. Internetfilter in Schulen und Bibliotheken existierten etwa schon lange, auch könnten Internetseiten in Russland bereits ohne Gerichtsentscheid blockiert werden. Bastrykin wolle nun gesetzliche Bestimmungen nach dem Vorbild Chinas kopieren. Die entsprechenden Behörden der beiden Länder tauschten sich aber bereits aus, wie Soldatow schreibt.

    „Der Grund für diese Schlagseite gen China könnte auch darin liegen, dass der russische Ansatz von Internetzensur immer wenig überzeugend wirkt. Man hatte versucht, die Online-Unternehmen einzuschüchtern, und nicht die Nutzer. Das war von 2012 bis 2014 durchaus erfolgreich, doch im Herbst 2015 hatte sich dieser Ansatz erschöpft. (…)

    Laut dem russischen Gesetz hätten internationale Unternehmen zum September 2015 ihre Server auf russisches Territorium verlegen sollen. Die Internet-Dienste, die der Anlass für all das waren – Google, Twitter und Facebook – ließen sich jedoch durchaus Zeit. (…)

    Seit vergangenem Herbst ist in Russland die Nutzerzahl von TOR [dek – Netzwerk zur Anonymisierung der Internetverbindung, über das auch Blockierungen umgangen werden können] explosiv angestiegen, bedingt durch die Blockierung von Rutracker [dek – bekannte Filesharing-Site]. Russland ist mit etwa 220.000 Nutzern pro Tag sofort auf den weltweit zweiten Platz der Zahl von TOR-Nutzern vorgerückt.“

    IZVESTIJA: PUTIN KANNTE TEXT NICHT

    Präsident Wladimir Putin habe Bastrykins Text vor der Veröffentlichung nicht gelesen, zitiert die kremlnahe Izvestija Putins Sprecher Dimitri Peskow. Eine stärkere Regulierung des Internets sei jedoch im Sinne des Kremls.

    „Peskow lehnte es ab, den Inhalt des Materials zu kommentieren und ließ verlauten, er sei nicht Bastrykins Pressesekretär. Die Frage, ob die Position des Leiters des Ermittlungskomitees ein Posten innerhalb der russischen Regierung sei, beantwortete er nicht.

    Der Pressesekretär des Präsidenten merkte noch an, dass der russische Staatschef ‚mehrmals über das Internet als Gebiet des freien Informationsaustauschs gesprochen hat, wobei dieser freie Informationsaustausch in einer bestimmten Weise reglementiert werden muss‘.“

    Beatrice Bösiger aus Moskau

    Weitere Themen

    Presseschau № 19

    Presseschau № 20

    Presseschau № 21

    Presseschau № 22

    Presseschau № 23

    Presseschau № 24

    Presseschau № 25

    Presseschau № 26

  • Presseschau № 26

    Presseschau № 26

    In Russland wird der Tag der Raumfahrt gefeiert. Derweil verteidigt Putin den Cellisten Sergej Roldugin, der als einer der Hintermänner der russischen Offshore-Verwicklungen gilt. Ein Film unterstellt dem Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus den USA gesteuerte Umsturzabsichten und das enteignete Eigentümerkonsortium von Yukos lässt internationales Vermögen des russischen Staates beschlagnahmen.

    Tag der Raumfahrt. Die russische Öffentlichkeit liebt Jahrestage, am meisten runde. Am Dienstag war nicht nur, wie an jedem 12. April, der Tag der Raumfahrt, sondern auch noch der 55. Jahrestag des ersten Raumflugs in der Geschichte der Menschheit – und der war schließlich eine russische Errungenschaft. Die Raumfahrtbehörde Roskosmos nahm es zum Anlass, unter dem Motto Podnimi golowu! (dt. Kopf hoch!) eine patriotisch-optimistische Flashmob-Kampagne zu starten – auch auf Youtube. Das charmante Breitband-Lächeln des sowjetischen Superhelden Juri Gagarin prangte am Dienstag als Festtags-Logo von den Titelseiten vieler Zeitungen. Bei dem Kommersant-Tochterblatt Ogonjok zierte der Kosmonaut sogar die Titelseite, allerdings nicht mit Helm, sondern als Schelm mit einem fransigen Damen-Strohhut. Der Kosmos sei für Russland schließlich symbolisches Kapital und ein Markenprodukt, schrieb Vedomosti in einem Kommentar – „einzig zum Erhalt der Marke reichen die Mittel und die Qualifikation nicht aus“, weshalb man „alte Symbol-Vorräte ausnutzen“ müsse. In der harten Realität sei für die russische Raumfahrt Anfang des Jahres eine Mittelkürzung um 30 Prozent für das nächste Jahrzehnt beschlossen worden – und das demnächst startbereite neue Kosmodrom Wostotschny mache vor allem durch Skandale und Hungerstreiks der Bauarbeiter Schlagzeilen.

    Panama Papers. Zu anderen irdischen Problemen: Und die laufen in Russland – wie momentan in vielen anderen Staaten – unter dem Etikett Panama Papers. Als mutmaßlicher Strohmann und eine Putin besonders nahestehende Schlüsselfigur der russischen Offshore-Verwicklungen wurde darin der Cellist Sergej Roldugin enthüllt. Zwei Milliarden Dollar sollen über Briefkastenfirmen unter seinem Namen geflossen sein. Putin persönlich nahm ihn auf einem Petersburger Medienforum in Schutz: Roldugin sei einfach ein Musiker, der auch im Business aktiv sei und sein sauer verdientes Geld in den Ankauf von sündteuren Musikinstrumenten zur Talentförderung stecke. Russlands staatlicher Hauptpropaganda-Kanal, die Sendung Westi nedeli von und mit Dimitri Kisseljow, brachte daraufhin ein langes Sujet über den Musiker und präsentierte ihn und dessen piccobello restauriertes Petersburger Haus der Musik als jenen Kulturhort, in den der emsige Roldugin seine Reichtümer gesteckt habe. Das alte Adelspalais beeindruckt in der Tat – doch konterte die lokale Webzeitung fontanka.ru schon tags darauf mit eigenen Recherchen: Die Sanierung des Gebäudes sei für umgerechnet circa 50 Millionen Euro seinerzeit von der Stadt Sankt Petersburg bezahlt worden. Und kein einziges der im Film präsentierten mehrere Millionen Dollar teuren antiquarischen Instrumente stünde in der Bilanz von Roldugins Haus der Musik – das im Übrigen zu 80 Prozent vom Kulturministerium finanziert werde.

    Enthüllungen über Nawalny. Von Kisseljow am Sonntag bereits als Preview präsentiert, strahlte Rossija 1 am Mittwoch einen langen Film mit Enthüllungen über den Oppositionspolitiker Alexej Nawalny aus. Die Kernaussage: Nawalny arbeite seit Jahren im Auftrag und auf Rechnung des Putin-Intimfeinds Bill Browder, der einst in Russland zu den größten Finanzinvestoren gehörte – und betreibe letztlich einen Umsturz in Russland. Mit allerlei angeblich erbeuteter oder abgehörter Kommunikation unterstellt der Film, dass auch der Haft-Tod des Browder-Anwalts Sergej Magnitzki von den beiden Putin-Gegnern initiiert wurde – und zwar über geheimnisvolle britische Agenten im russischen Strafvollzugssystem. Auch Nawalnys Enthüllung über das Geschäftsimperium der Söhne von Generalstaatsanwalt Juri Tschaika sei auf Geheiß westlicher Geheimdienste erfolgt, heißt es in dem Material.

    Nawalny kündigte eine Klage gegen den Fernsehsender wegen Rufmords an. Das einzig Wahre darin über ihn sei, dass er Nawalny heiße, erklärte er. Und in seinem Blog veröffentlichte er eine Selbstanzeige beim FSB, in dem er um eine offizielle Untersuchung der publik gemachten Vorwürfe samt Beschlagnahme des angeblichen Belastungsmaterials bittet. Originellerweise fand er damit sogar Beifall bei Chef-Propagandist Kisseljow. Über die Qualität des Belastungsmaterials lästerte die Novaya Gazeta: Das Englisch der vermeintlichen britischen Agenten sei auf dem Niveau von Google-Übersetzungen beziehungsweise Russlands Sportminister Mutko (gegenüber dem Günther Oettinger geradezu Oxford-English spricht).

    Auseinandersetzung um Yukos. Ein weiterer ewiger Schauplatz von Battaglien zwischen dem Kreml und seinen Widersachern ist und bleibt Yukos: Das enteignete Eigentümerkonsortium GMT versucht international, seine Forderungen über 50 Milliarden Dollar vom russischen Staat einzutreiben – und hat in Frankreich Zahlungen in Höhe von 700 Millionen Dollar an die russische Raumfahrtbranche beschlagnahmen lassen – ein unschönes Geschenk zum Tag der Kosmonautik. Die russischen Ermittler versuchen derweil, in der schon satte 20 Jahre zurückliegenden Privatisierung von Yukos Kriminelles zu finden – was ermöglichen könnte, diese Forderungen international anzufechten. Der Ex-Eigner im Exil, Michail Chodorkowski, rückte davon unabhängig dieser Tage wieder auf die Forbes-Liste der 200 reichsten Russen: Das Magazin taxierte sein Vermögen auf 500 Millionen Dollar (Platz 170) – zu Beginn seiner zehnjährigen Haft hatte er das Rating noch angeführt.

    Direkter Draht mit Wladimir Putin. Ab Donnerstagmittag wird die russische Medienlandschaft aber erst einmal durch die Inhalte des Direkten Drahts mit Wladimir Putin geflutet: Der Präsident antwortet auf Bürgerfragen aus dem ganzen Land – erstmals auch aus dem sozialen Netzwerk VKontakte. Was auf dem Bildschirm nach einem relativ spontanen Dialog aussieht, ist ein gut eintrainiertes Spektakel: Wie rbc.ru berichtete, ist das Saalpublikum bereits seit Dienstag in einem staatlichen Vorort-Sanatorium kaserniert, wo die Frager ausgewählt werden und ihr korrektes Verhalten einstudiert wird.

    Lothar Deeg aus St. Petersburg

    Weitere Themen

    Presseschau № 18

    Presseschau № 19

    Presseschau № 20

    Presseschau № 21

    Presseschau № 22

    Presseschau № 23

    Presseschau № 24

    Presseschau № 25

  • Presseschau № 25

    Presseschau № 25

    Staatliche Medien haben die Panama Papers zunächst kaum thematisiert, einzelne Journalisten der unabhängigen Presse waren dagegen an den Recherchen beteiligt: Sie schreiben nicht nur über Putin-Freund Roldugin, sondern vor allem auch über Oligarchen und hohe Staatsbeamte, die in die undurchsichtigen Finanzgeschäfte verwickelt sind. Passend dazu berichten russische Medien über den gerade erst verabschiedeten Anti-Korruptionsplan und die neu gegründete Nationalgarde.

    Putin und Panama. Was man mit zwei Miliarden Dollar alles machen könnte: Das sind ein Drittel des russischen Gesundheitsbudgets für 2016, oder 1,5 mal soviel Geld wie in Russland für den Straßenbau bis 2020 vorgesehen ist. Man könnte aber auch einen ganzen Monat lang die Rente von zehn Millionen Pensionären bezahlen, wie Current Time zeigt, ein TV-Programm, das von Radio Free Europe und Voice of America co-produziert wird. Zwei Milliarden Dollar beträgt aber auch der Umsatz des Offshore-Netzwerks des russischen Cellisten und guten Freunds des russischen Präsidenten, Sergej Roldugin, wie die Panama Papers, Recherchen des Internationalen Konsortiums für Investigativen Journalismus (ICIJ) zutage förderten. In Russland war die kremlkritische Novaya Gazeta an der Aufarbeitung des nach eigenen Angaben größten Datenlecks der Geschichte beteiligt. Hier geben die Journalisten Einblick in ihre Arbeit.

    Interessant sind die laut Experten suspekten Transaktionen der Firmen von Cellist Roldugin, vor allem wegen dessen enger Freundschaft mit dem russischen Präsidenten. Der Musiker und der zukünftige Präsident lernten sich bereits in den  70er Jahren im damaligen Leningrad kennen. Trotz ihrer unterschiedlichen Karrieren hat ihre Freundschaft offensichtlich gehalten, wie ein Interview zeigt, das Roldugin 2014 der Zeitung Vechernaja Kazan gab. Ein Faktor, welcher die Journalisten des Konsortiums vermuten lässt, dass Roldugin die Gelder für jemand anderen, möglicherweise sogar für Putin selbst verwaltete, auch wenn der Name des Präsidenten selbst nirgendwo in den Panama Papers auftaucht.

    Roldugin ist allerdings nicht der einzige prominente Russe in den Panama Papers. Tatjana Nawka, die Frau von Putins Sprecher Dimitri Peskow, der Sohn von Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew sowie Maxim Lixutow, Vizebürgermeister von Moskau figurieren laut der Novaya Gazeta ebenso in den Dokumenten, wie mehrere Oligarchen, Gouverneure und Parlamentarier. Illegal sind Offshore-Konstruktionen in Russland nicht. Brisanz erhalten die Papiere aber dadurch, dass Beamte weder Auslandstransaktionen durchführen noch Bankkonten im Ausland besitzen dürfen, wie die Wirtschaftszeitung RBC Daily schreibt. 2015 ist zudem ein Gesetz über die „Deoffshorisierung“ in Kraft getreten, laut dem Unternehmen und Privatpersonen die zuständigen Behörden über allfällige Offshore-Vermögen informieren müssen. Dumaabgeordneten ist Geschäftstätigkeit generell verboten, so RBC Daily weiter.

    Die langsame Reaktion der russischen Staatsmedien auf die Panama Papers hat das unabhängige Internetmagazin Slon hier gesammelt. Falls überhaupt, wurde eher über den Offshore-Trust des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko berichtet und im Bezug auf die Firmen gegen russische Staatsbürger meist die offizielle Kreml-Position wiedergegeben: Es handle sich dabei um eine Auftragsarbeit, dahinter stecke die CIA. Die Recherche sei ausschließlich darauf abgezielt gewesen, Russland und vor allem Wladimir Putin zu schaden. In den Papieren stehe nichts neues, so Putins Sprecher, er hätte sich von dem Journalistenkonsortium qualifiziertere Arbeit erwartet. Bereits vergangene Woche hatte Peskow vor einem Informationskrieg gegen Russland gewarnt, mit dem das Land destabilisiert werden soll.

    Nun interessiert sich aber trotzdem die russische Staatsanwaltschaft für die Offshore-Firmen, wie der Kommersant berichtet. Der parteilose Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow hat von den staatlichen Nachrichtenagenturen Tass und Rossija Segodnja Auskunft darüber verlangt, warum die Panama Papers derart kurz abgehandelt wurden, so die Zeitung weiter. Er diskutiere die Redaktionspolitik nicht mit Parlamentsabgeordneten, entgegnete darauf Dimitri Kisseljow, umstrittener Chef der staatlichen Medienholding Rossija Segodnja. Von der Zeitung befragte Soziologen bezweifeln, dass die Enthüllungen das Verhältnis der Russen zu ihren Politikern ändern werde. Dass in Russland Korruption existiere, sei hinlänglich bekannt.

    Die Gleichgültigkeit der russischen Öffentlichkeit sei heute die zuverlässigste Verbündete des Kremls, kommentiert der Publizist Oleg Kaschin die Panama Papers. Das gelte auch im Falle des Mordes an Boris Nemzow oder den Krieg in der Ukraine. In naher Zukunft sei das Vermeiden von ähnlichen Enthüllungen eine der dringendsten Aufgaben der russischen Regierung. Möglicherweise kann die russische Medienöffentlichkeit schon bald asymmetrische Entlarvungen über Barack Obama erwarten, so Kaschin weiter. Auch wenn die Enthüllungen laut der Politologin Ekaterina Schulmann nicht auf ein russisches Publikum abziele, da hier kaum ernsthafte Reaktionen folgen würden, gelte es die umfassende Recherche des Konsortiums anzuerkennen. Man müsse schon ein sehr beschränkter Mensch sein, wenn man die Veröffentlichung als Versuch begreift, „etwas Schlechtes über Putin zu sagen“, so die Politologin weiter.

    Korruption lässt Kosten steigen. Zufall oder nicht, wenige Tage vor den Offshore-Enthüllungen, hat Russland den neuen Anti-Korruptionsplan 2016/17 verabschiedet. Wichtigster Punkt: Staatsbedienstete, Leiter gesellschaftlicher Organisationen, aber auch Journalisten sollen ihre Jahreseinkommen offenlegen, damit Interessenskonflikte vermieden werden können. Der renommierte TV-Journalist Wladimir Posner spricht sich dagegen aus, damit würden die Rechte der Journalisten verletzt. Die neugegründete unabhängige Journalistengewerkschaft bedankt sich auf ihrer Facebookseite beim Kreml für die Empfehlungen, habe aber nicht vor, diesen zu folgen.

    Durch Korruption steigen allerdings auch die Lebenshaltungskosten in Russland. Eine Wohnung koste deswegen zehn bis 15 Prozent mehr als ihr tatsächlicher Wert, schreibt die Associated Press. Damit schließt sich auch wieder der Kreis zu den Panama Papers: Laut Alexej Nawalnys Anti-Korruptionsfonds hat etwa die Stadt Moskau einen Vertrag mit dem Unternehmen Transmashholding über die Lieferung neuer Metro-Waggons für die kommenden 30 Jahre abgeschlossen. Ehemaliger Teilhaber von Transmashholding ist der Moskauer Vizebürgermeister Maxim Lixutow. Dessen Name taucht ebenfalls in den Dokumenten auf.

    Neue Sicherheitsstruktur. Russland hat seit dieser Woche eine Nationalgarde, einen entsprechenden Erlass unterzeichnete Putin am Dienstagabend. Geführt wird diese von Viktor Solotow, während langer Jahre Leiter der persönlichen Leibwache des Präsidenten, zuletzt Chef der Truppen des Innenministeriums. Die mit zahlreichen Kompetenzen ausgestattete Behörde soll eine Vielzahl von Aufgaben erfüllen, die vorher von anderen Strukturen des Innenministeriums, etwa der OMON, übernommen wurden: etwa die Sicherung der öffentlichen Ordnung, die Bewachung strategisch wichtiger Objekte und Terrorbekämpfung. Vieles ist laut dem in Lettland beheimateten Oppositionsmedium Meduza im Bezug auf die Behörde aber noch unklar, etwa wie die Kompetenzen unter den Sicherheitsstrukturen aufgeteilt werden. Offizielle Angaben über die Stärke der Nationalgarde sind laut Vedomosti bislang nicht bekannt. Laut dem Kreml hänge diese Neugründung jedoch nicht mit möglichen Unruhen zusammen, welche vor den Parlamentswahlen im September ausbrechen könnten. Spekuliert wird in den russischen Medien trotzdem: Putin fürchte sich vor den Leuten in seiner Umgebung, er brauche jemanden wie Solotow zum Schutz, der ihm bedingungslos ergeben sei, meint etwa Jewgenija Albaz, Chefredakteurin des unabhängigen Wochenmagazins The New Times auf dem Radiosender Echo Moskau.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

    Weitere Themen

    Presseschau № 19

    Presseschau № 20

    Presseschau № 21

    Presseschau № 22

    Presseschau № 23

    Presseschau № 24

  • April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Wo Ukrainer und Russen aufeinandertreffen, gibt es heute meist böses Blut. Der Konflikt zwischen den Staaten hat zahllose Freundschaften zerstört und ganze Familien auseinandergerissen. Doch nicht jeder lässt sich anstecken vom Geist der Feindschaft, wie die Fotografin Oksana Yushko zeigt: Sie hat Paare besucht, bei denen der eine Partner aus der Ukraine stammt, der andere aus Russland. Bis vor kurzem lag in solchen Liebesbeziehungen nichts Besonderes, plötzlich aber werden sie zu Laboratorien der Verständigung: In ihrem täglichen Leben schaffen diese Paare sich Welten, in denen das Menschliche zählt, nicht die Politik.

    Oksana Yushko kommt aus der Pressefotografie. Sie hat die Journalismusschule der Zeitung Iswestija besucht, für russische und internationale Medien wie Stern, Mare, Financial Times und Russki Reporter gearbeitet und zuletzt den Prix Bayeux Calvados 2014 gewonnen. Sie selbst ist Russin, stammt aus einer russisch-ukrainischen Familie und lebt mit ihrem ukrainischen Partner Artur Bondar, ebenfalls einem Fotografen, in Moskau (die beiden sind auf dem letzten Bild unserer Serie zu sehen). Über ihr Projekt schreibt sie: „Ich selbst habe es nie so empfunden, dass Russen und Ukrainer etwas trennt. Ich sehe überhaupt keinen Unterschied. Seit meiner Schulzeit weiß ich, dass wir alle zusammengehören – nicht nur Russen und Ukrainer. Beim Reisen, wenn ich Freunde in allen möglichen Ländern besuche, empfinde ich das gleiche. Ich wollte von Liebe und Freundschaft berichten und nicht über Krieg und Aggression.“

    Engelina Georgijewna und Viktor Kusmitsch leben in der Ukraine, in Charkiw. Hier habe ich mit dem Fotoprojekt begonnen: mit meiner russischen Mutter und meinem ukrainischen Vater. Sie haben sich im Studium kennengelernt an der Staatlichen Universität Charkiw und leben seit mehr als 50 Jahren zusammen.

    Dima ist in Moskau geboren, Wlada kommt aus Kiew. Kennengelernt haben sie sich in Georgien und ihre Beziehung lange Zeit über große Entfernung aufrechterhalten. Jetzt leben sie mit ihrem einjährigen Sohn Lew in New York.

    Alexej ist Ukrainer, geboren in Odessa. Olga ist Russin. Ihre Liebesgeschichte begann drei Jahre bevor dieses Foto entstand. Olga machte damals Urlaub in Odessa und suchte einen Fotografen, der Bewerbungsfotos von ihr machen könnte. Alexej war der passende Mann. Mittlerweile lebt das Paar zusammen mit Töchterchen Lisa in der Nähe von Moskau.

    Bogdan ist Ukrainer, geboren und aufgewachsen in Rawa-Ruska in der West-Ukraine. Irina ist Russin und hat, bis sie 17 war, in Norilsk gelebt. Sie haben sich an einer Straßenkreuzung kennengelernt. Bogdan hatte dort mit seinem Motorrad angehalten und Irina gesagt, sie würde eine bezaubernde Schwiegertochter für seinen Vater abgeben. Sie leben seit über 25 Jahren zusammen.

    Tatjana ist Ukrainerin, geboren in Tschernihiw. Sergej ist Russe aus dem Gebiet Amur. Sie haben sich während ihres Studiums in Kiew kennengelernt. Tatjana hatte seit ihrer Schulzeit vom Fernen Osten geträumt, und Sergej lud sie zu sich nach Hause ein. Ein Jahr später waren sie verheiratet und in die Stadt Seja im Gebiet Amur gezogen. Sie sind seit mehr als 30 Jahren zusammen.

    Alexander Fjodorowitsch ist Russe, geboren in Sibirien. Er kämpfte im Großen Vaterländischen Krieg als Kapitän auf der Krim-Partisan. Irina Grigorjewna ist Ukrainerin. Sie leben seit fast 30 Jahren zusammen. Vor drei Jahren wurde bei Alexander Fjodorowitsch Alzheimer diagnostiziert. Sie leben auf der Krim.

    Julia und Edik sind in Horliwka in der Ost-Ukraine geboren. Julias Familie kommt aus Orenburg in Russland und aus Tscherkassy in der Ukraine. Ediks Eltern kommen aus Lipezk in Russland und dem Gebiet Donezk in der Ost-Ukraine. Heute sind Julia und Edik Flüchtlinge aus der Ost-Ukraine und leben mit ihrem vierjährigen Sohn Dima in Moskau.

    Alexander ist Ukrainer. Irina ist Russin. Am 7. August 2015 feierten sie ihr 33-jähriges Zusammensein. Ihre Liebesgeschichte begann beim Tanzen. Damals besuchte Alexander die Militärschule und Irina arbeitete als Krankenschwester. Sie reisen um die Welt und sammeln dabei Frösche als Glücksbringer.

    Dima kommt aus Russland, Sascha ist in der Ukraine geboren. Sascha ist Mitglied der internationalen Organisation FEMEN. Sie sind sich zum ersten Mal begegnet, als Dima als Fotograf eine Reportage über FEMEN in Kiew machen wollte. Damals begann ihre Beziehung. Jetzt leben Sascha und Dima in Paris.

    Irina ist Russin, Alexander ist aus der Ukraine. Seine Familie lebt in Tscherkassy in der Ukraine. Er hat Irina 2006 auf einer Geschäftsreise kennengelernt. Seither leben sie zusammen in Moskau. Im Jahr 2006 wurde ihr Sohn Nikita geboren.

    Waldis und Lejla haben letztes Jahr in Moskau geheiratet, aber die Hochzeitsnacht im Hotel Ukraina verbracht. Waldis ist aus Kiew, wo er gelebt hat, seit er zwei war, hierhergezogen, um mit Lejla zusammenzuleben. Sie sind sich am Ufer der Moskwa begegnet, es war Liebe auf den ersten Blick.

    Wladimir ist in Moskau geboren, Jewgenija ist aus Charkiw. Sie haben sich kennengelernt, als sie beide ihre Großmutter in einem Dorf im Gebiet Kursk besucht haben. Nach drei Jahren Fernbeziehung zog Jewgenija nach Moskau. Dort leben sie jetzt zusammen mit Töchterchen Arischa.

    Marina kommt aus Kiew, Jewgeni aus dem Gebiet Rostow in Russland. Sie leben mit ihren sechs Kindern in Moskau. Die Jüngste ist Xenija. Sie haben sich in einem Dorf in der Nähe von Moskau kennengelernt, in dem sie beide lebten. Jetzt wohnen sie in Pereslawl-Salesski, wo Jewgeni Priester ist.

    Waleri kommt aus der Ukraine, aus Odessa. Sweta lebt in Sankt-Petersburg, in Russland. Sie haben sich in Odessa kennengelernt, als Sweta dort zu Besuch war. Ein Jahr später haben Sweta und Waleri geheiratet. Sie mögen beide Yoga, andere Kulturen und exotische Dinge.

    Sergej kommt aus Donezk. Alla ist in Ufa, in Russland, geboren. Sie haben sich 2006 auf einem Forum der Orthodoxen Kirche in Kiew kennengelernt. Ein Jahr später zog Alla nach Kiew, wo das Paar seitdem lebt. Sie haben zwei Kinder, Dascha (7) und Ljoscha (3). Mindestens einmal im Jahr besuchen sie die Verwandten in Russland.

    Darija komm aus Sumi in der Ukraine, Maxim wurde in Karaganda geboren und zog später nach Woronesh in Russland. Seit einem halben Jahr leben sie in Moskau. Sie sind sich auf dem Weg von Kaluga nach Woronesh begegnet, wo sie durch eine Mitfahrgelegenheit zufällig im selben Auto saßen. Sie unterhielten sich die sechs Stunden auf dem Weg nach Woronesh ohne Pause, am nächsten Tag waren sie ein Paar.

    Igor ist im Gebiet Luhansk in der Ukraine geboren. Er ist Musiker. Olga ist aus Koroljow, aus dem Gebiet Moskau. Sie haben sich auf einem Konzert kennengelernt und sind seit mehr als 17 Jahren zusammen. Olga und Igor haben 2 Töchter, Jana und Veronika.

    Artur ist Ukrainer. Oksana ist Russin, aber sie ist in der Ukraine geboren. Ihre Mutter ist Russin, ihr Vater Ukrainer. Ihre Liebe begann vor drei Jahren. Mittlerweile arbeiten und reisen sie zusammen, besuchen Freunde und Familie in Russland, in der Ukraine und auf der ganzen Welt. Oksana ist die Fotografin dieser Serie.

    Fotos: Oksana Yushko
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Einführungstext: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 03.04.2016

    Weitere Themen

    Januar: Backstage im Bolschoi

    Februar: Gruppe TRIVA

    März: Alexander Gronsky

    November: Arnold Veber

    Oktober: Denis Sinjakow

    September: Olga Ludvig

    Dezember: Norilsk

  • Presseschau № 24

    Presseschau № 24

    Neue Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission ist seit Anfang der Woche die Menschenrechtlerin Ella Pamfilowa – eine Besetzung, die mit Blick auf die Parlamentswahlen im September für Gesprächsstoff sorgte. Thematisiert wurde in den Medien außerdem die Rückeroberung der Stadt Palmyra sowie die westliche Berichterstattung über Russland und den russischen Präsidenten.

    Transparentere Wahlen. Ein halbes Jahr ist es noch bis zu den nächsten Dumawahlen im September und die Politiker beginnen, sich dafür in Stellung zu bringen. Parteien werden gegründet, parteiinterne Listen vorbereitet, Kandidaten präsentiert. Anfang der Woche wurde nun der Vorsitz der Zentralen Wahlkommission (ZIK) neu gewählt. Das Gremium, das Referenden, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorbereitet und durchführt, wird neu von Ella Pamfilowa präsidiert. Die Menschen müssten Vertrauen in die Wahlen zurückgewinnen und glauben, mit ihrer Stimme einen Unterschied bewirken zu können; an der Arbeit der Komission müsste Grundlegendes geändert werden, sagte die ehemalige Menschenrechtsbeauftragte des russischen Präsidenten nach ihrer ersten Sitzung als Kommissionsvorsitzende. Die 62-Jährige ist eine der bekanntesten Frauen in der russischen Politik, die auch in Oppositionskreisen Respekt genießt. In den 90er Jahren war sie kurzzeitig Sozialministerin und kandidierte 2000 als erste Frau für das Präsidentenamt.  

    Wladimir Tschurow, der Vorgänger von Pamfilowa an der Spitze der ZIK, war eine äußerst kontroverse Figur. Die Entlassung des „Zauberers“ gehörte zu den wichtigsten Forderungen der Protestbewegung nach den letzten Parlamentswahlen 2011, die von massiven Fälschungsvorwürfen begleitet wurden. Immer wieder war Тschurows Gesicht auf Plakaten der Demonstranten zu sehen.

    Trotzdem wird Pamfilowas Wahl nicht als Zugeständnis an die Opposition interpretiert. Globale Veränderungen bei der Führung der ZIK seien unter ihr nicht zu erwarten, schreibt die kremlkritische Novaya Gazeta. Zwar organisiere das Gremium die Wahlen, doch durchgeführt würden sie eigentlich vor Ort in den Regionen und hier würden die lokalen Machthaber alles daran setzen, dass die Kandidaten der Regierungspartei Einiges Russland gewinnen würden. Fair oder nicht – das sei egal, einzig das Resultat zählt, heißt es in der Zeitung weiter.

    Der Kreml habe es gar nicht mehr nötig, Wahlresultate an der Urne zu frisieren, schreibt Andrej Pertsew, Journalist beim Kommersant in einem Kommentar für Carnegie. Einschüchterungstaktiken und strenge Registrierungsregeln für Kandidaten würden dazu führen, dass das „passende“ Resultat bereits lange vor dem tatsächlichen Urnengang feststeht. Einen möglichen Vorgeschmack lieferten bereits die Regionalwahlen vom vergangenen Herbst. Einzig in Kostroma wurde der Opposition die Registrierung gestattet, trotzdem sahen sich die Kandidaten dort einer heftigen Diffamierungskampagne ausgesetzt.

    Rettung von Kulturgütern. Begleitet von Peinigem Pomp hat Moskau vor zwei Wochen den Teilabzug seiner Streitkräfte aus Syrien verkündet. Russische Kampfjets fliegen allerdings nach wie vor Einsätze im Kriegsgebiet und unterstützten die Truppen von Präsident Bashar al-Assad bei der Rückeroberung der Stadt Palmyra. Kriegsberichterstatter des Staatsfernsehens versicherten, der militärische Erfolg des syrischen Regimes wäre ohne die russische Luftwaffe nicht möglich gewesen. Terroristen des Islamischen Staates hätten sich in den antiken Theatern und Tempeln verschanzt, da sie genau gewusst hätten, dass weder die russische noch die syrische Armee die wertvollen Kulturgüter zerstören würden, berichtete der Reporter weiter.

    Nur wenige Stunden nach der „strategisch wichtigen Befreiung Palmyras“ zeigten die Medien Bilder der antiken Denkmäler, welche auch auf der Weltkulturerbe-Liste der UNESCO stehen, und versuchten den Grad der Zerstörung durch den IS abzuschätzen. Russische Experten beeilten sich, Hilfe beim Wiederaufbau und der Entminierung der Stadt zuzusichern. Für den Westen dagegen sei Palmyra uninteressant, so Maria Sacharowa, Sprecherin des Außenministeriums. Ein entsprechender russischer Vorstoß im UNO-Sicherheitsrat sei blockiert worden. Ausschließlich geopolitische Interessen stünden hinter dem Handeln westlicher Länder. Weder an der Befreiung Syriens von Terroristen noch an einer Zusammenarbeit beim Friedensprozess und dem Schutz kultureller Werte seien diese interessiert, sagte Sacharowa weiter.

    Vom Militäreinsatz in Syrien profitiert jedoch nicht zuletzt auch die russische Waffenindustrie. Vor allem die Nachfrage nach dem Boden-Luft-Raketen-System S-400 sei stark gestiegen. Wie die Internetzeitung gazeta.ru berichtet, seien deswegen beim Hersteller Almaz-Antey die freien Tage gestrichen worden. Aufträge im Wert von 56 Milliarden Dollar stehen in den Büchern der russischen Waffenschmieden, das ist Rekord seit 1992, sagte Präsident Wladimir Putin unlängst. Laut Kommersant war Indien 2015 der größte Kunde und gilt neben China als größter Zukunftsmarkt für Rüstungsexporte aus Russland.

    Freund und Feind. Immer wieder kursierten in den letzten Tagen Gerüchte, westliche Medien planten ein Kompromat, eine Kampagne gegen Präsident Putin, um ihm zu schaden. Allzu unverblümt hätten ausländische Journalisten bei Pressekonferenzen nach der Familie des Präsidenten und Freunden aus Putins Jugend gefragt, was Putins Sprecher Dmitri Peskow als Indiz hierfür wertete. Wer allerdings intime Details erwartet hat, wurde bis jetzt enttäuscht. Für russische Experten hat dies jedoch System. Mehrere anti-russischen Kampagnen seien in den vergangenen Monaten in ausländischen Medien lanciert worden, heisst es im Vorwort zum „Antirussischen-Vektor“ des Instituts für Strategische Forschung (RISS) in Moskau. Mit persönlichen Attacken werde beispielloser Druck auf den russischen Präsidenten ausgeübt. All dies deute darauf hin, dass der Informationskrieg gegen Russland eine neue Qualität erreicht habe, heißt es in dem Text weiter.

    Die Studie des Thinktanks, welcher unter anderem für die Präsidialabteilung arbeitet, reiht Länder, Publikationen und Journalisten nach der Intensität ihrer negativen Berichterstattung über Russland. Auffallend: In den deutschen Medien wurde 2015 die Berichterstattung milder. Im Jahr zuvor belegte Deutschland noch den ersten Platz, 2015 hinter Tschechien und Polen den dritten. Positive Tendenzen dominieren dagegen in Syrien und Kuba. Nach welchen Kriterien der „Agressivitätsindex“ erstellt wurde, bleibt allerdings unklar.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

    Weitere Themen

    Presseschau № 18

    Presseschau № 19

    Presseschau № 20

    Presseschau № 21

    Presseschau № 22

    Presseschau № 23

  • Presseschau № 23

    Presseschau № 23

    Am Dienstag ging nach mehrmonatiger Verhandlung der Prozess gegen die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko mit einem Schuldspruch zuende. Und die Ursachen und Hintergründe der tragischen Ereignisse in Brüssel werden auch in Russland diskutiert.

    Hartes Urteil. Nach zwei Tagen, an denen Richter Leonid Stepanenko mit monotoner Stimme das Urteil verlas, verurteilte er am Dienstag die ukrainische Militärpilotin Nadeshda Sawtschenko zu 22 Jahren Haft in einer Strafkolonie. Das Gericht sah es nach einem umstrittenen und international kritisierten Verfahren als erwiesen an, dass Sawtschenko verantwortlich für die Ermordung zweier russischer Journalisten im Juni 2014 in der Ostukraine sei. Sie habe deren Aufenthaltsort an das ukrainische Militär weitergegeben und im Anschluss daran illegal die Grenze nach Russland überquert. Dafür muss sie noch zusätzlich eine Geldstrafe in Höhe von 30.000 Rubel (etwa 400 Euro) zahlen. Der Kommersant fasst die wichtigsten Fakten des Verfahrens noch einmal zusammen.

    Die 34-jährige Offizierin, Berufssoldatin der ukrainischen Armee und Parlamentsabgeordnete, die als erste Frau die Ausbildung zur Kampfpilotin absolvierte und während des Krieges in der Ostukraine in den Reihen des berüchtigten Freiwilligenbataillons Aidar kämpfte, bezeichnete sich selbst bis zum Schluss als unschuldig. Sie erkenne die Hoheit des Gerichts nicht an, werde deshalb das Urteil auch nicht anfechten, so die Pilotin. Wiederholt nutzte Sawtschenko den Gerichtssaal für ihre politischen Botschaften, zeigte dem Gericht ihren Mittelfinger, sagte Moskau einen Maidan voraus und bezeichnete Putin als Diktator und Russland als totalitäres Regime. Unmittelbar vor der eigentlichen Verkündung des Strafmaßes stimmte sie ein ukrainisches Revolutionslied an, ihre Unterstützer entrollten im Gerichtssaal eine ukrainische Flagge, der Ausruf „Ruhm der Ukraine!“ war zu hören.

    Die lange Haftstrafe überrascht nicht. Seit dem Zeitpunkt ihrer Festnahme wird Sawtschenko in den staatsnahen Medien als kaltblütige Tötungsmaschine und „Mörderin“ bezeichnet. Der Korrespondent des kremlnahen Boulevardblattes Komsomolskaja Prawda berichtet über die Geschmacklosigkeit, mit welcher sich anwesende ukrainische Journalisten über ihre ermordeten Kollegen geäußert hätten. Die Verteidigung Sawtschenkos kritisierte jedoch fehlende Beweise und Ungereimtheiten während des Verfahrens. Die Auswertung ihres Mobiltelefons etwa habe klar ergeben, dass sie zum Zeitpunkt des Angriffs, bei dem die beiden Journalisten ums Leben kamen, bereits von prorussischen Separatisten festgehalten wurde. Ein Kämpfer aus Luhansk mit dem Pseudonym Ilim, berichtete vor Kurzem dem in Lettland beheimateten Exilmedium Medusa, er habe Sawtschenko gefangengenommen und sie persönlich Igor Plotnizky, Chef der selbsternannten Volksrepublik Luhansk, übergeben. Vor Gericht wurde er jedoch nicht als Zeuge geladen.

    Die Anwälte Sawtschenkos gehen nun davon aus, dass die Verurteilte nach dem Ende des Prozesses im Rahmen eines Gefangenenaustausches an die Ukraine übergeben werden könnte. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sagte, Wladimir Putin habe ihm einen solchen Austausch bereits in Aussicht gestellt. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow stellte ein solches Versprechen allerdings in Abrede. Er wisse nichts von einer Absprache zwischen den beiden Präsidenten, so Peskow. Spekuliert wird nun, wie hoch Moskau den Preis für eine Rückkehr Sawtschenkos ansetzt. Kiew fordert einen bedingungslosen Gefangenenaustausch „alle gegen alle“: neben Sawtschenko gehöre dazu unter anderem auch der zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilte Regisseur Oleg Senzow. Die Ukraine ist dazu bereit, Moskau Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew zu übergeben, die 2015 im Donbass verhaftet wurden. Laut der Ukraine gehören die beiden dem Militärgeheimdienst GRU an, Moskau hat das allerdings nie bestätigt. Eine zweite Theorie wäre laut der kremlkritischen Zeitung Novaya Gazeta, die ein Interview mit einem Sprecher des ukrainischen Geheimdienstes veröffentlichte, dass die Pilotin nur ausgetauscht wird, wenn Russland dafür einen Landweg von Rostow auf die Krim erhält.

    Anschlag in Brüssel. Die tragischen Ereignisse in Brüssel vom Dienstag sorgten auch in Russland für Schlagzeilen. Viele Medien richteten während des ganzen Tages einen Liveticker ein, in den Abendnachrichten im Staatsfernsehen war das „barbarische Verbrechen“ die Hauptnachricht. Die Rede war allerdings nicht von Prävention, Integration oder religiöser Toleranz, sondern vielmehr von Aufrüstung, Grenzschließungen und Polizisten in Hightech-Uniformen. Erneut wurde auch Merkels Willkommenskultur kritisiert. Die Bundeskanzlerin verliere die Unterstützung für ihre Flüchtlingspolitik, rechte Kräfte wie Pegida seien auf dem Vormarsch. Mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei hätte nun der türkische Präsident Erdogan die Entscheidungsgewalt darüber, wer nach Europa gelangt und wer nicht, berichtet der Korrespondent des staatlichen Fernsehens weiter.

    Es gab nicht nur  Trauer und Beileidsbekundungen, etwa von Kreml-Chef Putin, sondern russische Politiker versuchten auch, die Tragödie für eigene Zwecke zu nutzen. Die EU müsse nun einsehen, dass ihre Migrationspolitik ein Fehler war, lautete vielfach der Tenor. Die russischen Geheimdienste hätten Belgien vor einem Anschlag gewarnt, hieß es gar auf dem kremlnahen Sender LifeNews. Präsident Putin habe auf der UNO-Vollversammlung für eine internationale Anti-Terrorallianz geworben, der Westen hätte sich dieser aber nicht anschließen wollen, heißt es aus den Reihen russischer Parlamentarier. Das unabhängige kremlkritische Internetfernsehen TV Dozhd hat hier einige Aussagen gesammelt. Maria Sacharowa, Sprecherin des russischen Außenministeriums, warf dem Westen doppelte Standards vor. Mit Verweis auf Syrien meinte sie, man könne nicht zwischen guten und bösen Terroristen unterscheiden. In der Staatsduma sprach sich Wladimir Shirinowski, Parteichef der LDPR, gegen eine Schweigeminute für die Opfer aus. Darauf wies Parlamentssprecher Sergej Naryschkin ihn mit den Worten zurecht, der Westen würde liebend gerne über Humanismus und moralische Werte reden. Für Russland seien das aber nicht nur Worte, deshalb die Gedenkaktion im Parlament, sagte Naryschkin weiter.

    Terrorexport. Die Gefahr von Anschlägen bleibt aber auch in Russland bestehen, kämpfen doch laut dem FSB 2900 Russen in den Reihen des Islamischen Staates. Eine aktuelle Studie der International Crisis Group (ICG) kommt zu dem Schluss, dass von Seiten der russischen Politik gezielt versucht worden ist, die eigenen Terroristen zu „exportieren“. Vor den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 wurde der Druck auf den islamistischen Untergrund in Russland verstärkt, viele Extremisten seien darauf nach Syrien oder in den Irak gereist, kommentiert Vedomosti. Russisch sei zur drittwichtigsten Fremdsprache im IS geworden, erzählt Jekaterina Sokirijanskaja von der ICG im Interview mit der kremlkritischen Novaya Gazeta. Kämpfer aus Russland würden innerhalb der Terrormiliz hohe Positionen bekleiden. Von ihnen könnte nach ihrer Rückkehr Gefahr ausgehen, oder sie aktivieren ihre Anhänger, so die Expertin weiter.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org





    Weitere Themen

    Presseschau № 15

    Presseschau № 16

    Presseschau № 17

    Presseschau № 18

    Presseschau № 19

    Presseschau № 20

    Presseschau № 21

    Presseschau № 22

    Blat-Korruption