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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 35: Ausblick auf NATO-Gipfel

    Presseschau № 35: Ausblick auf NATO-Gipfel

    Auf dem Gipfel in Warschau am 8. und 9. Juli werden die NATO-Staaten vor allem auch die Beziehung zu Russland in Augenschein nehmen.

    Bundeskanzlerin Angela Merkel machte in ihrer Regierungserklärung am Tag vor dem Treffen Moskau für den Vertrauensverlust verantwortlich. Die russische Presse hingegen diskutiert im Hinblick auf den Gipfel nicht nur die Aufnahme zahlreicher osteuropäischer Staaten in die Allianz in den vergangenen Jahren, sondern auch die mögliche NATO-Mitgliedschaft Finnlands.

    Die Exilpresse im Baltikum wiederum beschäftigt vor allem die Erwartung der osteuropäischen Länder an das Bündnis.

    Kommersant: NATO in der Krise

    Nach dem Außenpolitik-Experten Fjodor Lukjanow, Chefredakteur des Journals Russland in der globalen Politik, haben Russland vor allem zwei Entwicklungen der NATO beunruhigt: die Aufnahme neuer Mitgliedsländer im Osten Europas und die wachsende militärische Aktivität außerhalb des NATO-Gebiets. Die neue-alte Aufgabe der Eindämmung Russlands, so meint er, sollte aber nicht über eine andauernde Krise der Allianz hinwegtäuschen:

    [bilingbox]Die NATO ist – trotz der lautstarken Verkündigungen von Einigkeit und Entschlossenheit – kein monolithischer Block. Europas Norden, Süden, Osten und Westen sind sich uneins in den unterschiedlichsten Fragen. Die Türkei ist sowieso ein Fall für sich. Die Balance zwischen der Alten und der Neuen Welt ist labil, in den USA ist man zunehmend genervt vom Unwillen der Europäer, für die eigene Sicherheit tief genug in den Geldbeutel zu greifen. Die völlige Ahnungslosigkeit darüber, was man im Nahen Osten machen soll, sorgt für zusätzliche Unstimmigkeit in der Allianz. Hinzu kommt das allgemeine Gefühl, dass der atlantische Raum im Vergleich zum pazifischen immer mehr zur Peripherie wird. Und diesen ganzen Blumenstrauß versucht man mit dem Bändchen „aggressives Russland“ zusammenzuhalten, damit er schön aussieht und nicht auseinanderfällt. […]

    Die NATO ist in einer Krise, die nicht durch innere Differenzen hervorgerufen wurde, sondern durch eine Struktur, die für das 20. Jahrhundert konzipiert ist und den Umständen des zweiten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert nicht entspricht.~~~НАТО, несмотря на бравурные заявления о единстве и решимости, не монолитно. Север, юг, восток и запад Европы находятся друг с другом в нелинейных и противоречивых отношениях по самым разным вопросам. Турция — вообще отдельный случай. Баланс между Старым и Новым Светом неустойчив, в США растет раздражение нежеланием европейцев как следует раскошелиться на собственную безопасность. Полное непонимание, что делать на Ближнем Востоке, вносит в стройность рядов альянса дополнительный разнобой. К этому стоит добавить общее ощущение того, что атлантическое пространство становится все более периферийным по сравнению с тихоокеанским. И весь этот букет пытаются связать ленточкой с надписью "агрессивная Россия", дабы он стоял красиво и не распадался. […]

    НАТО в кризисе, который вызван не отдельными разногласиями внутри, а несоответствием структуры, спроектированной для ХХ столетия, обстоятельствам второго десятилетия XXI века. И решить эту проблему воссозданием "угрозы из Москвы" не получится.[/bilingbox]

    Vesti: Vom Kalten Krieg zum Kalten Krieg

    Vesti bringt eine Replik von Alexander Priwalow auf einen Gastbeitrag von Wolfgang Ischinger im Spiegel. Der ehemalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes legt darin u. a. nahe, trotz möglicher „negativer Reaktionen in Moskau auf den Gipfel” weiter den Dialog zu suchen, etwa einen NATO-Vertreter für Gespräche nach Russland zu schicken. Von solchen Vermittlungsversuchen hält Priwalow jedoch nicht viel:

    [bilingbox]Dem Autor ist selbst klar, dass der Westen absolut nicht gewillt ist, seinen friedliebenden Ratschlägen zu folgen. […] Warum wohl sind sich die NATO-Leute der „negativen Reaktionen“ seitens Moskaus so sicher? Nämlich deswegen, weil sie das Ziel des Warschauer Gipfels gut kennen. […]

    Es wird zunächst so aussehen, dass neue NATO-Truppen nahe der russischen Grenzen aufgestellt werden: gut weitere tausend Soldaten im Baltikum und in Polen. Man wird die für die postsowjetische Zeit höchsten Aufstockungen im Verteidigungsbudget der NATO-Staaten beschließen. Man wird (noch ganz vorsichtig) Gespräche über den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands vorschlagen.

    Mit einem Wort: Man wird bewusst einen bedeutenden Schritt hin zu einer Verschärfung der Konfrontation zwischen dem Westen und Russland machen.

    Von der Auflösung des Warschauer Pakts bis zum Warschauer NATO-Gipfel sind 25 Jahre vergangen und fast schließt sich der Kreis: vom Kalten Krieg zum Kalten Krieg.~~~Aвтор и сам понимает, что следовать его миролюбивым советам Запад отнюдь не намерен […]. Почему же натовцы так уверены в „предсказуемо негативной" реакции Москвы? А потому, что хорошо знают цель Варшавского саммита. […]

    Выглядеть это на первых порах будет так — будут размещены новые войска НАТО вблизи российских границ: по дополнительной тысяче военных в прибалтийских странах и в Польше. Будет принят план крупнейшего за постсоветский период увеличения расходов стран-членов НАТО на оборону. Будут (пока весьма осторожно) продолжены разговоры о вступлении в НАТО Швеции и Финляндии. Одним словом, будет сознательно сделан заметный шаг к усилению конфронтации Запада и России.

    От роспуска Варшавского договора до Варшавского саммита НАТО – двадцать пять лет и почти полный круг, пройденный за это время. Круг от холодной войны к холодной войне.[/bilingbox]

    Facebook, Lilija Schewzowa: Russland hat NATO provoziert

    Die renommierte Politikwissenschaftlerin Lilija Schewzowa erwartet vom Treffen in Warschau keine Wende. Auf ihrem Facebook-Account schreibt sie, die Aufgabe des NATO-Gipfels bestehe darin, dass alle Mitglieder an einem Strang ziehen und dies auch demonstrieren. Sie müssten sich darüber im Klaren werden, wie man das Verhältnis zwischen Dialog und Abschreckung ausbalancieren kann. Russland habe die Allianz herausgefordert – und diese Herausforderung werde die Allianz konsolidieren. Dabei spart sie nicht mit Kritik am russischen Vorgehen:

    [bilingbox]Warum war das nötig, dieses Geschöpf [die NATO – dek] zu wecken und es am Schwanz zu ziehen? Um zu verstehen, dass es sich noch bewegen kann? Oder um eine Antwort auf unsere nationale Frage zu bekommen: „Hast du Respekt vor mir?“ Oder wollte man „Wer blinzelt zuerst“ spielen? Oder versuchen, das Vakuum auf der Weltbühne zu füllen, solange der Westen kriselt? Man könnte sie ja noch mit den Iskander-Raketen in Kaliningrad reizen– das wird ein Vergnügen!

    Wie auch immer: Moskau hat einen strategischen Fehler gemacht, der Russland dazu treibt, den sowjetischen Zusammenbruch zu wiederholen. Ein Versuch, den Koloss zu foppen, der 940 Milliarden Dollar für Kriegs-Spielzeug in der Tasche hat, ist selbstmörderisch.

    Im Übrigen hat Putin bei seinem Treffen mit dem Präsidenten Finnlands Niinistö gesagt: „Wir werden versuchen, auf dem Gipfel in Brüssel einen Dialog mit der NATO anzufangen.“ Auf Initiative der russischen Seite hat ein Gespräch zwischen Putin und Obama stattgefunden. Vor dem NATO-Gipfel in Warschau, übrigens. Das bedeutet, im Kreml versteht man doch, dass es Zeit ist, miteinander zu sprechen …~~~Спрашивается: зачем было будить это создание и дергать его за хвост? Чтобы понять, может ли оно еще двигаться? Или получить ответ на наш национальный вопрос: «Ты меня уважаешь?» Или захотелось поиграть в «Кто моргнет первым?» Или попытаться заполнить вакуум на мировой сцене, пока Запад вошел в кризис? А ведь можно еще их пощекотать «Искандерами» в Калининграде-вот удовольствие то будет!
    В любом случае Москва сделала стратегическую ошибку, которая толкает Россию к повторению советского обвала. Пытаться дразнить махину, у которой в кармане 940 млрд долл на военные игрушки, самоубийственно.
    Впрочем, Путин на встрече с президентом Финляндии Ниинисте сказал: «Попробуем начать диалог с НАТО на саммите в Брюсселе». По инициативе российской стороны состоялся разговор Путина с Обамой. Кстати, перед саммитом НАТО в Варшаве. Значит, в Кремле все же понимают, что пришла пора разговаривать…[/bilingbox]

    Spektr: Nichts als Worte

    Das russische Exilmedium in Lettland Spektr thematisiert die Erwartungen der osteuropäischen Länder:

    [bilingbox]Sie [die osteuropäischen Staaten – dek] erwarten von dem Treffen in Polen demonstrative Einigkeit und Entschlossenheit gegenüber dem Kreml. Charakteristisch dafür ist der Titel eines Artikels in der Financial Times: „Der NATO-Gipfel in Warschau ist ein Test, den der Westen bestehen muss“.

    Es ist jedoch kaum möglich, die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen noch weiter zu verschlechtern. Kaum vorstellbar, dass der scharfen Rhetorik ernsthafte politische Schritte folgen, dass etwa ein Aktionsplan zur Mitgliedschaft postsowjetischer Republiken angestoßen wird. Zum Ausgleich für deren Regierungen kann man Russland im Abschlussdokument erneut auf die Liste der größten Sicherheitsbedrohungen setzen. Allerdings: Mit dem Konstatieren von Fakten allein beeindruckt man heute keinen mehr. ~~~От встречи в Польше они ждут демонстрацию единства и решимости в контактах с Кремлем. Характерным является заголовок редакционной статьи в Financial Times – «Саммит НАТО в Варшаве – экзамен, который Запад обязан сдать».

    Впрочем, это едва ли способно дополнительно ухудшить и без того тяжелое положение в российско-западных отношениях. Сложно представить, что за острой риторикой последуют серьезные политические шаги, такие как предоставление плана действий по членству постсоветским республикам. В качестве компенсации их властям в итоговом документе Россию могут вновь включить в список главных угроз безопасности альянса, но простой констатацией факта сегодня никого не удивишь.[/bilingbox]

    Rubaltic: Gleiche Rhetorik auf beiden Seiten

    Auf dem Kaliningrader Portal Rubaltic, das sich den Ländern des Baltikums widmet, berichtet Wadim Radionow über eine wachsende Zustimmung zur NATO im Baltikum seit den Ereignissen in der Ukraine 2014. Was die Rhetorik beider Seiten betrifft, erinnert er sich an den Ausspruch einer Fremdenführerin in Sankt Petersburg vor zwei Jahren:

    [bilingbox]„Das sind unsere Verbündeten: die Armee und die Flotte“. Und sie fügte hinzu, dass Russland auf niemanden sonst in dieser Welt zählen könne. Diesen Gedanken hatte sie sich offensichtlich von Alexander III. geborgt, dem dieser Satz zugeschrieben wird.

    Eine ähnliche Rhetorik kann man auch in Lettland hören: Auch hier spricht man inzwischen von der NATO als quasi einzige Hoffnung und Stütze. Die Rhetorik ist auf beiden Seiten recht ähnlich. Man gewinnt den Eindrück, als würden beide einander bloß „spiegeln“. Doch diese Spiegel sind noch dazu verbogen, was die Situation ins Groteske führt. […]

    Im Grunde regiert die Angst – beide Seiten handeln, während sie immerzu aufeinander schauen. Die NATO schickt ein paar Panzer ins Baltikum – Russland verstärkt seine Truppen in Kaliningrad. Um das aufzuhalten, müsste man wohl aufhören, sich gegenseitig zu fürchten. Aber das ist, wenn man die allgemeine Nervosität bedenkt, keine leichte Aufgabe. Und genau an guten Psychiatern fehlt es momentan.~~~«Наши союзники – армия и флот». И добавила, что России больше не на кого рассчитывать в этом мире. Эту мысль она, судя по всему, почерпнула у Александра III, которому приписывают эту фразу.

    Похожую риторику можно услышать и в Латвии, здесь теперь тоже говорят об армии НАТО как практически единственной надежде и опоре. Риторика в обеих странах очень похожа. Складывается впечатление, что они просто «зеркалят» друг друга. Но зеркала эти еще и кривые, что доводит ситуацию до гротеска. […]

    По сути, ситуацией управляет страх – стороны действуют, глядя друг на друга. НАТО пригоняет танки в Балтию, Россия усиливает свою группировку в Калининграде. Наверное, чтобы остановиться, нужно перестать бояться друг друга. Сделать это, учитывая общую нервозность, будет очень непросто. А хороших психиатров сейчас как раз не хватает.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

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  • Editorial: Unser Geist …

    Editorial: Unser Geist …
    Foto © Theaucitron
    Foto © Theaucitron

    … liebe dekoder-Leser, funktioniert ja meist ziemlich anarchisch. Nur selten hangelt er sich zielstrebig von einem Gedanken fort zum nächsten. Seine Bewegung gleicht eher dem Gang über ein lockeres Wolkenfeld: Da ist zwar manchmal ein gezielter Sprung von einem wattigen Gebilde zum nächsten angesagt, an anderen Stellen aber wollen so viele Assoziationen, Erinnerungen, Vermutungen andocken, dass es einen nach rechts und links und noch in mehrere Diagonalen zugleich weiterzieht.

    Im Zeitalter der papierenen Bücher und der Bibliotheken war es eine mühsame Sache, solchen Querverbindungen des Geistes zu folgen. Man musste sich durch Fußnoten, Verweisapparate und Bibliographien kämpfen, es dann mit Zettelkatalogen und Bibliothekaren aufnehmen, und wenn man schließlich die nächste ersehnte Gedankeninsel in den Händen trug, war der Grund, aus dem man sie aufsuchen wollte, vielleicht schon fortgeweht.

    Das Internet macht es uns heute viel einfacher, in alle Richtungen zugleich zu lesen – so, wie die Dynamik unseres Geists und unseres Hirns es uns vorschlägt. Der Hyperlink hat aus dem Text das gemacht, was er ursprünglich schon einmal gewesen sein sollte: eine Textur, ein Gewebe, in dem die Fäden in Kreuzform ineinandergelegt sind.

    Das muntere Sprießen des Netzes bringt aber auch eine Gefahr mit sich: die nämlich, von den allseits lockenden Linkkaskaden fortgetragen zu werden. Jeder hat ja schon erlebt, wie sich ein neugieriger Klick auf eine vermeintlich notwendige Zusatzinfo hinterrücks in eine ausgewachsene Prokrastinations-Sitzung verwandelte. Nicht, dass nicht auch das gelegentlich produktiv sein könnte. Aber will man bei einem Thema bleiben, dann ist eben das richtige Verhältnis zwischen grob angepeiltem Kurs und seitlichen Sprung- und Abzweigungsmöglichkeiten entscheidend.

    Sie ahnen, worauf ich hinaus will. Natürlich können Sie einen journalistischen Artikel hernehmen und immer dann, wenn ein Begriff Ihre Aufmerksamkeit erregt oder ein Fakt nach Überprüfung ruft, ein weiteres Browserfenster öffnen und dort Google oder Wikipedia befragen. Aber nicht nur bekommen Sie dabei Material höchst unterschiedlicher Güte geboten, das Sie zunächst selbst wieder auf seine Verlässlichkeit überprüfen müssen. Sie laufen auch Gefahr, sich nach einiger Zeit nicht auf einer tragfähigen und für Ihre Frage relevanten Gedankenscholle wiederzufinden, sondern weit abseits, in irgendeinem Wolkenkuckucksheim.

    Deshalb ist bei dekoder die Grundidee, dass sich alles bereits beieinander befindet, was man für den Ritt durch ein Thema benötigt: Der Haupt-Text, der zu einem Ziel will, und der Kon-Text, der sich beidseits von ihm aufbauscht. Auf  langgestreckten Wolkenbahnen kann man so seiner eingeschlagenen Richtung folgen und dennoch den Bedürfnissen des lesenden Geistes nach dem Links und dem Rechts, dem Kreuz und dem Quer nachgehen: Man hat gewissermaßen das Beste beider Welten.

    In solchen hybriden Textformen steckt viel Zukunft, davon bin ich überzeugt. Stand das vielleicht mit dahinter, als dekoder Ende Juni in Köln mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde? Der renommierte Preis geht an „herausragende Beiträge, die demonstrieren, wie das Internet oder Apps für aktuelle Formen des Online-Journalismus und der Informationsvermittlung eingesetzt werden können“. Die Auszeichnung jedenfalls ist gerade für ein so junges Medium wie dekoder von hochmotivierendem Wert.

    Eine flüssige Juli-Lektüre wünscht –  egal ob längs, kreuz oder quer – Ihr

    Martin Krohs
    Herausgeber

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    Editorial: Gnose und Gnu

    Editorial: Es geht los

    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Editorial: Übers Übersetzen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

    Editorial: Lesen, Wischen, Recherchieren

    Editorial: Popcorn!

  • Editorial: Es geht los

    Editorial: Es geht los

    Liebe dekoder-Leser,

    начинается, es geht los, und das in vielerlei Hinsicht: Nicht nur die Sommersonne lacht endlich vom Himmel, auch bei dekoder tut sich viel Neues und Erfreuliches. 

    Aufmerksame Leser haben’s längst bemerkt: Seit Mai sieht unsere „Presseschau“ ganz anders aus. Das Format erscheint nun in loser Folge zu jeweils nur einem, dafür aber besonders wichtigem Thema – wie etwa der Freilassung Sawtschenkos, den Entwicklungen beim unabhängigen Investigativmedium RBC oder dem Tag des Sieges.

    Zu jedem Thema bringen wir mehrere und unterschiedliche Stimmen: aus staatlichen wie unabhängigen Medien, aber auch Social Media und Blogs. Dazu stellen wir übersetzte Textausschnitte: In einer Box können Sie jeweils zwischen dem Original-Absatz und seiner Übersetzung hin und her schalten (und unseren Übersetzern auf die Finger gucken). Diese Änderungen geben uns die Möglichkeit, den Fokus zu weiten und die russischen Medien-Debatten zu einzelnen, aktuellen Themen für Sie in ihrer ganzen Breite abzubilden. 

    Zu den Besonderheiten von dekoder zählt sein hybrides Format, der Mix aus Artikeln und Gnosen. Das spiegeln auch Sie uns immer wieder, wenn Sie uns etwa auf neue Gnosen-Themen aufmerksam machen. Diesen Dialog mit Ihnen wollen wir in Zukunft ein bisschen weiter treiben: In den nächsten Tagen werden wir eine kleine Umfrage auf Facebook starten, welche Gnose Sie auf dekoder gerne lesen möchten. Wir freuen uns schon auf Ihre Vorschläge!  

    Und weil Festivals mindestens so zum Sommer gehören wie pivo und moroshenoje (Bier und Eis), gibt es bei uns diesen Monat Sommer, Sonne, Groove satt – in unserem aktuellen Visual von Fotograf Nikita Shokhov. Er hat die besondere Festival-Mischung aus Sex, Drugs and Rock’n’Roll mit direktem Blick eingefangen: nackte, tanzende Körper, ausgelassenes Feiern und die Stille abseits am See.

    Aufregend wird es für uns nochmal am Monatsende: Am 24. Juni wird der Grimme Online Award in Köln vergeben. dekoder ist nominiert – drücken Sie uns also die Daumen und wir freuen uns, wenn Sie hier bis einschließlich 16. Juni für uns abstimmen. Herzlichen Dank!

    In jedem Fall: Auch Ihnen einen spannenden Sommeranfang mit viel Rock’n’Roll, pivo und moroshenoje,

    Ihre Tamina Kutscher
    Chefredakteurin

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    Editorial: Gnose und Gnu

    Editorial: Unser Geist …

    Editorial: dekoder-Gnosmos

    Editorial: Übers Übersetzen

    Editorial: Wenn es kompliziert wird

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    Editorial: Popcorn!

  • Juli: Gefundene Fotos

    Juli: Gefundene Fotos

    Eine große Altbauwohnung in St. Petersburg. Die Wohnung steht leer, die Bewohner sind längst ausgezogen, längst verstorben. Es waren viele.

    Die Wohnung soll entrümpelt werden, das Alte soll fort, doch es sind Menschen vor Ort, die gerade für dieses Alte einen Blick haben: eine Gruppe Architekten und der Fotograf Max Sher. Ihm fallen Fotoalben der früheren Bewohner in die Hände. Aufnahmen aus den 1960ern, den 1970ern, den 1980ern. Der Fotograf ist Sohn eines Archäologen, und mit einem solchen Blick – einem archäologischen – macht er sich ans Betrachten.

     

    Gefundene Fotografien, Gebrauchsfotografie: Hinter den englischen Stichwörtern found photography und vernacular photography steht eine aktuelle Bewegung, die dem alltäglichen Bild einen hohen Wert beimisst. Die Fotos, mit denen sie arbeitet, entdeckt sie auf Flohmärkten, Dachböden, ja auf der Straße. Das gefundene Bild wird zum zufälligen Zeugnis eines Lebens, das real war wie das eigene, das noch nicht lang vergangen ist, das doch fremd bleibt und sich nie ganz erschließt. Sammeln und Zusammenstellen ist hier Forschung und Kunst zugleich.

    Die Fotos, die Max Sher in der Petersburger Wohnung fand, offenbaren auf doppelte Weise eine besondere Welt. Es ist die Zeit des Tauwetters, dann die Breshnew-Zeit. Eine schüchterne Romantik durchwehte die Sowjetunion, man war nicht mehr ständig beobachtet, nicht mehr alle, nicht auf Schritt und Tritt kontrolliert. Liedermacher sangen nicht von der Partei, sondern vom Leben. Und die Archäologie – sie spielt nicht nur beim forschenden Fotografen, sondern auch in den Fotoalben selbst eine wichtige, wenn auch kaum sichtbare Rolle – wurde zu einer Nische der Freiheit: Sie erlaubte es zu reisen, um zu forschen, auch denen, die keine Fachleute waren. Im Sommer „zu Ausgrabungen” zu fahren, in den Süden, in die Natur, wurde zum verbreiteten kleinen Abenteuer.

    Eine besondere Welt zeigen diese Bilder auch, weil die Alben aus einer Kommunalka stammen. Aus einer Wohnung, in der man zusammenlebte, ob man es wollte oder nicht: meist eine Familie pro Zimmer, oft die des Lehrers neben der der Schauspielerin, die der Professorin neben der des Säufers. Die Kommunalka ist legendär, im guten wie im üblen Sinne. Sie hat eine ganze Generation geprägt, mit ihrem Mangel an Privatheit, ihrem Zwang zum endlosen Improvisieren, den Streits, den Versöhnungen, den verschlungenen Geschichten, die sie gebar.

    Die Dame mit dem strengen Blick: Galina Babanskaja, geboren 1920 in dieser Wohnung, gestorben 2002 ebenfalls in dieser Wohnung. Sie war Ethnografin und Archäologin. Ihr gehörten die Alben, sie waren ihr persönliches Familienarchiv. Babanskajas erster Mann, Alexander Bernstam: einer der führenden Archäologen der UdSSR. Er starb 1956 – in dieser Wohnung –, nachdem die sowjetische Propaganda auf ihn als einen „kirgisischen Bourgeois” eingehackt hatte (Bernstam ist auf den Fotos nicht zu sehen, dafür aber mehrfach Galinas zweiter Mann, Wenjamin Awerbach, ein Ingenieur, gestorben 2009). Und, Verkettung von Umständen: Zwischen der Familie des Fotografen Max Sher und den Personen auf den Fotos gab es eine Verbindung, wenn auch nur eine haarfeine. Max Shers Vater war Bernstam einmal begegnet, 1951, das Treffen hatte seine Begeisterung für den zukünftigen Beruf geweckt. All das ließ sich nun nach und nach rekonstruieren.

    Alle hier gezeigten Fotos stammen aus den gefundenen Archiven, mit Ausnahme der quadratischen, die Max Sher in der Wohnung vor ihrer Entrümpelung aufgenommen hat. Max Sher ist 1975 in St. Petersburg, damals Leningrad, geboren, wuchs in Sibirien auf, studierte Linguistik in Kemerowo und Straßburg und wandte sich 2006 der Fotografie zu. Seine Fotografien sind international publiziert, waren nominiert unter anderem für den niederländischen Paul Huf Award und den Cord Prize. Aus seiner Arbeit mit gefundenen Fotografien ist ein Buch entstanden mit dem Titel A Remote Barely Audible Evening Waltz – ein Zitat aus einem Roman von Sascha Sokolov.

    Die Bilder in den Alben waren bereits vergessen, der Container, der sie vernichtet hätte, stand auf der Straße bereit. Sie wurden erhalten, und nun schauen wir, Fremde, sie an: Worüber diskutierten diese Menschen rauchend am Besprechungstisch? Wie klangen ihre Stimmen? Wer fotografierte die Troika der Stechfliegen? Wohin kämpfte sich der Bus durch die tauenden Schwaden von Schnee?

    Fotos: Max Sher
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.07.2016

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    Januar: Backstage im Bolschoi

    Februar: Gruppe TRIVA

    März: Alexander Gronsky

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

  • Presseschau № 34: Brexit

    Presseschau № 34: Brexit

    Die Briten stimmen für den Brexit – und wie reagiert Russland darauf? Russlands Politiker und Experten machen sich vor allem Gedanken über die wirtschaftlichen Folgen für das Land. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow kommentierte nach der Abstimmung, Russland sei daran „interessiert, dass die Europäische Union eine blühende, stabile und berechenbare Wirtschaftsmacht bleibt“.

    Russische Medien diskutieren vor allem, inwiefern der Brexit eine Ohrfeige für Brüssel darstelle – und ob er letzten Endes nicht so sehr der EU schade, sondern vielmehr Russland.

    Komsomolskaja Prawda: Eine Ohrfeige für Brüssel

    Michail Deljagin sieht im Brexit eine Ohrfeige für die EU – und eine Bestätigung für Russlands Politik, wie er im Boulevard-Blatt Komsomolskaja Prawda kommentiert:

    [bilingbox]

    Erstens wird der Druck auf Moskau seitens der sanktionsverrückten EU-Bürokratie sinken. Zweitens hoffe ich, dass Brüssel endlich versteht, dass die Förderung russophober Kräfte in Polen, dem Baltikum und ähnlichen Staaten zu einer Diskreditierung der Europäischen Union führt, und dass man sich auf die Rückkehr zu einer vernunftgeleiteten Politik besinnt. Wenn jetzt schon Großbritannien austritt … England beschimpft uns zwar verbal, praktisch aber hat es seine Handelsbeziehungen mit Russland ausgebaut. Und das wird sich jetzt wahrscheinlich noch intensivieren. […]

    Ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Krim hat bei ihrem Referendum [über die Angliederung an Russlanddek] im Grunde zwischen europäischen Werten in der gegenwärtigen ukrainischen Version und Russland gewählt. Und sich für Russland entschieden. Was für die Europäische Union eine Ohrfeige war. Das Referendum wurde dort nicht anerkannt. Und nun hat sich auch Großbritannien beim Referendum gegen die allgemein-europäischen Werte in der gegenwärtigen Brüsseler Version ausgesprochen. Das ist ein eindrucksvolle Bestätigung, dass wir im Recht sind.~~~

    Во-первых, ослабнет давление на Москву буквально обезумевшей от санкций европейской бюрократии. Во-вторых, надеюсь, в Брюсселе вырастет понимание, что поощрение русофобов из Польши, Прибалтики и прочих подобных стран ведет к дискредитации Евросоюза, и там задумаются о возвращении к политике здравого смысла. Коль уж сама Великобритания от них уходит… Сама Англия хоть на словах нас и ругает, на деле развивала торговые отношения с Россией. И теперь они, вероятно, укрепятся еще больше. […]

    Еще один важный аспект. Крым на референдуме по большому счету выбирал между европейскими ценностями в сегодняшнем украинском издании и Россией. И выбрал Россию. Что было обидно Евросоюзу. Референдум там не приняли. А теперь и Великобритания на референдуме отвергла общеевропейские ценности в сегодняшнем брюссельском издании. Это наглядное подтверждение нашей правоты.

    [/bilingbox]

    Novaya Gazeta: EU schmarotzt vor sich hin

    Auch in der unabhängigen Novaya Gazeta bewertet die Journalistin Julia Latynina, die für ihre umstrittenen Positionen bekannt ist, den Brexit als eine verdiente Abrechnung mit Brüssel:

    [bilingbox]

    […] Bei all ihren Pluspunkten, wie den offenen Grenzen und der einheitlichen Währung, ist die Europäische Union ein riesiger sozialistischer Staat, der so langsam vor sich hinschmarotzt auf den Ruinen der großen europäischen Zivilisation.

    Es ist ja nicht so, dass sich Sozialismus auf Folgendes beschränkt: UdSSR, Stalin und Gulag. Die UdSSR, das war Kriegskommunismus und der Versuch, das ganze Land in eine Waffenfabrik zu verwandeln, mit dem Ziel, die ganze Welt zu erobern. Sozialismus hingegen, das ist Demokratie, die sich in eine Bürokratie auswächst.~~~

    […] Евросоюз, при всех его плюсах в виде открытых границ и единой валюты, является огромным социалистическим государством, медленно паразитирующим на развалинах великой европейской цивилизации.

    Это неправда, что социализм — это СССР, Сталин и Гулаг. СССР — это военный коммунизм и попытка превратить всю страну в завод для производства оружия с целью завоевания всего мира. А социализм — это демократия, перерождающаяся в бюрократию.[/bilingbox]

    Slon.ru: Schlag für die russische Wirtschaft

    Kommentator Andrej Archangelski dagegen schreibt auf dem unabhängigen Portal slon.ru, der Austritt der Briten sei weniger ein Problem für die EU, sondern vielmehr für Russland:

    [bilingbox]

    „[… die russische Elite] weiß selbst am besten, wie sehr durch die Weltwirtschaft längst alle miteinander verwoben sind und wie sehr Russlands Rohstoffwirtschaft in erster Linie von der europäischen Wirtschaft abhängt. Und dass jeder Schlag für die EU-Wirtschaft – und der Austritt Großbritanniens, einer Lokomotive der EU, ist zweifellos ein Schlag – automatisch auch ein Schlag für die russische Wirtschaft ist. Das heißt wiederum, dass man die Staatsausgaben und in der Folge auch die Sozialleistungen kürzen muss.

    Letztendlich trifft der Austritt Großbritanniens gar nicht so sehr die EU als vielmehr die mangelhafte, träge und abhängige Wirtschaft Russlands. Das wissen die russischen Eliten nur allzu gut, aber im Feuereifer antiwestlicher Rhetorik denken sie nicht an die ökonomischen Folgen.“~~~

    “[…российская элита] лучше других знает, насколько мировая экономика связала всех со всеми и насколько сырьевая экономика России зависит именно от экономики европейской в первую очередь. И что всякий удар по экономике ЕС – а выход Британии, локомотива ЕС, это, безусловно, удар – означает автоматически и удар по экономике России. А это в свою очередь означает, что госрасходы придется сокращать, а следовательно, и соцвыплаты, соцпакеты, пособия. В конечном счете выход Британии из ЕС ударит не столько даже по ЕС, сколько по несовершенной, инертной и зависимой экономике России. Это все прекрасно известно российским элитам, но в пылу антизападной риторики они не думают об экономических последствиях”

    [/bilingbox]

    Izvestia: Anfang vom Ende

    Die kremlnahe Izvestia lässt den serbischen Politiker Nenad Popovic, Vorsitzender der national-konservativen Srpska Narodna Partija, zu Wort kommen. Der sieht die EU generell auf dem absteigenden Ast:

    [bilingbox]

    Man hätte den Brexit womöglich vermeiden können, wenn Brüssel bei wichtigen Entscheidungen nach pragmatischen Interessen und nicht nach politisch vordiktierten Motiven gehandelt hätte. So etwa bei der Einführung der Russland-Sanktionen oder bei der Ausarbeitung gesamteuropäischer Gesetzgebungen im Bereich der Migrations- und Sozialpolitik, wo man die Besonderheiten der einzelnen Länder nicht berücksichtigt hat.

    In der letzten Zeit nahm die Zustimmung zur EU unter den Bürgern kontinuierlich ab, sowohl bei den gegenwärtigen als auch bei den potentiellen Unionsmitgliedern. Die Flüchtlingskrise, die Unfähigkeit, den Terroristen zu trotzen, sowie die Lage in den jungen Mitgliedsländern haben das völlige Unvermögen Brüssels demonstriert.
    Das Referendum in Großbritannien ist der Anfang des formellen Zerfalls der Union. Die Idee der EU und der NATO ist ein Mythos, geschaffen von Lobbyisten eben jener Blöcke.

    ~~~Возможно, если бы Брюссель при принятии важных решений, таких как введение санкций против Российской Федерации, разработка общеевропейских законодательных актов в области миграционной и социальной политики, не учитывающих специфику отдельных стран, руководствовался бы прагматичными интересами, а не политически продиктованными мотивами, то Brexit […] получилось бы избежать. В последнее время рейтинг ЕС в глазах жителей стран — нынешних и потенциальных членов объединения — постепенно падал. Миграционный кризис, неспособность противостоять террористам и положение дел в молодых странах-членах демонстрировали полную несостоятельность Брюсселя. Референдум в Великобритании положил начало формальному распаду объединения. Идея ЕС и НАТО — это миф, созданный лоббистами этих блоков. [/bilingbox]

    EJ: Europa wird nicht einstürzen

    Die renommierte Politologin Lilija Schewzowa dagegen glaubt nicht an das Ende Europas, wie sie im unabhängigen EJ schreibt:

    [bilingbox]

    Wird Europa einstürzen wie ein Kartenhaus? Ach wo! Nichts da. Europa wird sich neue Bindegewebe suchen – langsam, methodisch und beharrlich. Wenngleich die Europäer eine Menge Rost abkratzen müssen. Und nicht nur ihr politisches Regelwerk ändern, sondern jedes Äderchen ihrer Konstruktion säubern müssen.

    Und was bedeutet diese Erschütterung für Russland? Hier von der Peripherie aus sehen wir, wie sich die weltstärkste Zivilisation auf die Suche nach neuen Existenzformen macht. Bei allen Turbulenzen – aber es ist diese Zivilisation, die weiterhin die Spielregeln und die Regeln des Fortschritts bestimmen wird. Deshalb ist es für Russland so wichtig, in welche Richtung sich der Westen bewegt.~~~

    Европа станет карточным домиком? Бросьте! Не станет. Европа будет искать новые соединительные ткани — медленно, методично и упорно. Хотя европейцам придется соскрести много ржавчины. И сменить не только своих политических регуляторов, но и прочистить сосуды своей конструкции.

    И что вся эта встряска означает для Россия? Мы со своей периферии видим, как самая мощная в мире цивилизация начала поиск новых форм жизнеспособности. Именно эта цивилизация, несмотря на свою лихорадку, продолжает устанавливать правила игры и прогресса. Поэтому для России так важно, в каком направлении двинет Запад. [/bilingbox]

    Vedomosti: Die gelenkten Bürger

    Maxim Trudoljubow sieht in der unabhängigen Tageszeitung Vedomosti den Brexit ebenfalls als Folge dessen, dass sich der „kleine Mann“ von den großen Entwicklungen nicht mitgenommen fühle. Dass dies in Russland womöglich anders sei, gereiche der Politik allerdings nicht unbedingt zur Ehre:

    [bilingbox]

    Die Eliten von China und Russland […] wollen sich keineswegs demokratischen Risiken aussetzen und sind davon überzeugt, dass sie gut gelernt haben, die Stimmungen der Bürger so zu lenken, dass sie vor gesetzmäßigen, legitimen Aufständen vollständig geschützt sind.

    Die autoritären Führer sind überzeugt, dass ihnen die Zukunft gehört, weil sie innenpolitisch Regeln geschaffen haben, nach denen sie auf dem heimatlichen Spielfeld nicht zu schlagen sind. ~~~

    „Элиты Китая и России […] не согласны подвергать себя демократическим рискам и уверены, что хорошо научились управлять настроениями граждан, настолько хорошо, что полностью застраховали себя от законных и легитимных восстаний.

    Авторитарные лидеры уверены, что за ними будущее, потому что они создали такие правила игры во внутренней политике, по которым выиграть у них на домашнем поле невозможно.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

     

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  • Presseschau № 33: Doping-Sperre

    Presseschau № 33: Doping-Sperre

    Das Olympia-Aus für russische Leichtathleten ist fix – mit Ausnahmen: Am Dienstag hat sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) zwar hinter die Entscheidung des Weltverbandes IAAF gestellt, die derzeitige Doping-Sperre für russische Leichtathleten auf die Olympischen Spiele im August auszuweiten. Allerdings dürfen nachweislich saubere Athleten bei Olympia unter ihrer russischen Landesflagge starten. Dies gab IOC-Präsident Thomas Bach in Lausanne bekannt. Alle russischen Sportler müssen für ihre Teilnahme demnach eine Freigabe durch internationale Fachverbände ihrer Sportarten vorweisen.

    Der russische Sportminister Witali Mutko reagierte laut Nachrichtenagentur TASS erleichtert auf die Entscheidung: „Wir werden alles machen, was sie uns sagen.“

    Russlands Leichtathleten wollen dennoch juristisch gegen die Sperre vorgehen und beim Internationalen Sportgerichtshof (CAS) Einspruch einlegen.

    Schon die auf Olympia ausgeweitete Doping-Sperre für Leichtathleten hatte heftige Diskussionen in russischen Medien ausgelöst. Vor allem ging es um die Frage, inwiefern der Sport dabei als politische Waffe instrumentalisiert würde – und man Sportler anstelle des Staates bestrafe.

    Ja, laufen sie denn? Aufregung um Olympia-Teilnahme russischer Athleten. Foto © Tab59 unter CC BY-SA 2.0
    Ja, laufen sie denn? Aufregung um Olympia-Teilnahme russischer Athleten. Foto © Tab59 unter CC BY-SA 2.0

    Echo Moskvy Blog: Kollektivstrafe nur für Behörden

    Der bekannte Journalist Anton Nossik begrüßt auf seinem Blog die Entscheidung des IOC, durch die er eine Bestrafung unschuldiger Sportler abgewendet sieht – und fordert eine Kollektivstrafe an anderer Stelle:

    [bilingbox]Die Entscheidung des IOC  […] verstehe ich sehr gut und unterstütze sie. Die Praxis von Kollektivstrafen ist widerlich. […] Es ist aber was anderes, wenn es um nationale Verbände und staatliche Behörden geht, die den Einsatz verbotener Präparate und darauf folgende Probenfälschungen zur Staatspolitik gemacht haben. Die gehören auf jeden Fall bestraft – auch gerne kollektiv, damit all diejenigen, die ein solches Vorgehen ihrer Kollegen im tiefsten Innern nicht gutgeheißen haben, stärker motiviert werden, solche Praktiken öffentlich zu machen.~~~Решение МОК […] я очень хорошо понимаю и поддерживаю. Практика коллективных наказаний — омерзительна […] Другое дело — всевозможные национальные федерации и государственные ведомства, которые употребление запрещённых препаратов и последующую фальсификацию проб возвели в ранг госполитики. Этих, конечно же, нужно наказывать — и можно коллективно. Чтобы у тех, кто в душе не одобрял подобной практики сослуживцев, появилась сильная мотивация рассказать о таких практиках вслух.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Prinzip der Kollektivschuld

    Nach dem IAAF-Urteil kritisierte unter anderem die unabhängige Novaya Gazeta das Prinzip der „Kollektivschuld“ für alle Leichtathleten:

    [bilingbox]Mit dieser überaus harten, in ihrem Ausmaß beispiellosen und nicht unumstrittenen Strafe soll kein bestimmter Verstoß geahndet werden, auch nicht eine Reihe von Verstößen gegen Antidoping-Gesetze. Geahndet wird die Summe aller Sünden, die das sportliche Russland angehäuft hat.

    Wenn man diese Summe zu Grunde legt, ist das alles wahrscheinlich nur gerecht. Verständlich ist dann auch, dass konsequent das Prinzip der Kollektivschuld angewendet wird: In Russland trägt auf höchster Ebene der Staat die Verantwortung für den Sport  – und nun wurde er bestraft […].

    Es ist viel zu ernst, um es leichtfertig als die Vollendung einer vor anderthalb Jahren begonnenen „antirussischen“ Kampagne zu begrüßen. Es ist viel zu schmerzhaft, um einfach nur abzuwinken und vor sich hinzumurmeln: „Der Zaun ist abgebrannt, soll doch ruhig die ganze Hütte niederbrennen.“~~~Жесточайшее, беспрецедентное по масштабам и небесспорное наказание применено не за какое-то определенное нарушение, или даже за цепочку нарушений  антидопингового законодательства, а по совокупности накопившихся у спортивной России грехов.

    Если брать за основу именно совокупность — наверное, все справедливо. Понятно и жесткое применение принципа коллективной ответственности — у нас за спорт высших достижений де-факто отвечает государство, вот его-то и наказали. […]

    Это слишком серьезно, чтобы с легкостью приветствовать  завершение  начатой еще полтора года назад «антироссийской» кампании. Это слишком больно, чтобы махнуть на все рукой, приговаривая: „Сгорел забор — гори и хата“.[/bilingbox]

    Vedomosti: Nicht einfach den Spieß umdrehen

    Die regierungsunabhängige Tageszeitung Vedomosti dagegen meint, die Empörung über eine vermeintliche Kollektivstrafe lenke von den eigentlichen Herausforderungen ab, die nun anstünden:

    [bilingbox]Offiziell wird die Disqualifikation als Bemühen angesehen, da eine kollektive Verantwortung aufzudrücken, wo eigentlich Institutionen bestraft werden müssten. Dadurch kann man Diskussionen über eine Reform der Institutionen aus dem Weg gehen – die Lösung des Problems wird damit aufgeschoben und erschwert. […] Um eine Disqualifikation zu vermeiden, sollte Russland nicht den Spieß umdrehen, sondern überzeugend demonstrieren, dass man ernsthaft gewillt ist, das Dopingproblem auszumerzen, indem man effiziente Strukturen schafft, um Missbrauch vorzubeugen.~~~Официальная позиция, видящая в дисквалификации стремление навязать коллективную ответственность, а не наказать институт, позволяет избегать разговоров о реформе институтов, тем самым откладывая и усложняя решение проблемы. […] Чтобы избежать дисквалификации, России нужно не переводить стрелки, а убедительно демонстрировать серьезность намерения искоренить допинг и создать качественные структуры по предотвращению злоупотреблений.[/bilingbox]

    TASS: Duma sieht Sperre als politische Waffe

    Die russische staatliche Nachrichtenagentur TASS gibt eine Erklärung der Staatsduma zum IAAF-Urteil wieder, die in der Sperre der russischen Leichtathleten einen Angriff des Westens sieht:

    [bilingbox]„Irgendjemand versucht da, eine heftig nach Mottenkugeln riechende politische Waffe aus der Müllhalde der Geschichte hervorzuzerren. […] Anders lässt sich das Teilnahmeverbot an den Olympischen Spielen […] von Sportlern, die sich nicht einmal mit dem Verdacht des Einsatzes von Dopingmitteln besudelt haben, nicht erklären. Im Grunde genommen wird hier von einigen wenigen Sportbürokraten im Alleingang das Prinzip‚ im Zweifel gegen den Angeklagten‘ gegenüber Sportlern aus einem konkreten Land  eingeführt“, heißt es in der Erklärung.

    Die Abgeordneten ließen verlauten, dass dieses Prinzip – das „so in etwa zu Zeiten der Inquisition und totalitärer Regime“ Anwendung fand – in unserer Zeit kaum als angemessen gelten kann.~~~„[…] сегодня кое-кто пытается вытащить это пропахшее нафталином политическое оружие со свалки истории“.[…] „Запрет на участие в Олимпийских играх […] спортсменам, не запятнавшим себя даже подозрением в употреблении допинга, иными мотивами объяснить нельзя. По сути дела, некоторыми спортивными бюрократами явочным порядком вводится принцип презумпции виновности по отношению к спортсменам конкретной страны“, – подчеркивается в заявлении.

    Депутаты предупредили, что этот принцип, „использовавшийся разве что во времена инквизиции и тоталитарных режимов“, вряд ли можно считать применимым в наше время.[/bilingbox]

    Blog: Ungerechtes Kontrollsystem

    Blogger Pawel Shipilin vergleicht auf seinem Livejournal-Blog verschiedene Statistiken und findet russische Doping-Sünder im Vergleich zu anderen zu hart bestraft:

    [bilingbox]Es ist auffällig, dass die WADA [Welt-Anti-Doping-Agentur] von unseren und den chinesischen Athleten praktisch ununterbrochen Proben nimmt. Vielleicht gibt es dafür eine Erklärung, doch auch hier fehlt eine rechtliche Regulierung. Warum nimmt man nicht von allen gleich viele Proben – unabhängig davon, welchen Platz ein Athlet belegt hat? Nach jedem Lauf, nach jedem Sprung, nach jedem Spiel stellen sich alle bei den Inspekteuren an und geben ihre Proben ab mit allem, was dazu gehört.

    Und wenn das zu umständlich ist, dann lasst uns eine Rangliste erstellen, aber nicht nach der absoluten Anzahl der entlarvten Verstöße, wie das heute passiert, sondern gemäß dem prozentuellen Anteil in Bezug auf die Gesamtzahl der Tests. Das wäre gerechter, oder nicht?~~~Заметно, что у наших и китайских спортсменов WADA берет пробы практически непрерывно. Возможно, этому есть какое-то объяснение, но, опять же, отсутствует правовое регулирование. Почему бы не брать у всех на равных — вне зависимости от того, какое место занял спортсмен? После каждого забега-запрыга, после каждой игры все выстраиваются в очередь к инспекторам и сдают все, что положено.

    А если это слишком хлопотно, то тогда давайте составлять рейтинг не по количеству выявленных нарушений, как это происходит сегодня, а по их доле в общем количестве тестов. Так будет честнее, разве нет?[/bilingbox]

    Echo Moskvy: Russland läuft hinterher

    Unmittelbar nach dem IOC-Urteil gibt Schod Muladshanow, Chefredakteur der Moskowskaja Prawda, ein Interview auf dem unabhängigen Radiosender Echo Moskvy. Er sieht die Probleme nicht in den Strukturen, sondern an ganz anderer Stelle:

    [bilingbox]Wir verwenden oft verbotene Präparate, deswegen kommt man nicht umhin, Schmiergelder zu zahlen und so weiter. Die Athleten vieler anderer Länder verwenden natürlich neuere Medikamente, die noch nicht auf die Verbotsliste gelangt sind. Die anderen laufen diesen Verboten quasi voraus, und wir hinterher. Und durch dieses Hinterhersein verliert Russland leider sehr viel. Es verliert natürlich auch an das System der Korruption, weil klar ist, dass man in vielen anderen Ländern die Rechtsschutzorgane und Beamten nicht so stark in das Dopingsystem einbinden würde wie bei uns.~~~Мы пользуемся препаратами, запрещенными часто, поэтому приходится давать взятки, чтобы это прикрыть, и так далее. А спортсмены из многих других стран, конечно же, пользуются медикаментами, более продвинутыми, которые еще не успели попасть в список запрещенных. Они идут впереди этих запретов, а мы идем позади этих запретов. И вот на этом опоздании Россия, к сожалению, очень много теряет. Теряет, конечно, на системе коррупции, потому что понятно, что во многих странах не решились бы так втягивать правоохранительные органы и чиновников в эту систему допинговую, как у нас это происходит.[/bilingbox]

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  • Presseschau № 32: Fußball-Hooligans

    Presseschau № 32: Fußball-Hooligans

    Die UEFA hat durchgegriffen: Nachdem russische Fans am Samstag beim EM-Fußballspiel Russland gegen England randaliert und englische Fans heftig attackiert hatten, verhängte die UEFA nun eine Geldstrafe von 150.000 Euro. Kommt es erneut zu Zwischenfällen, wird die russische Mannschaft disqualifiziert.

    Etwa 150 russische Hooligans hatten nach dem EM-Spiel englische Fans im Stadion von Marseille attackiert, schon vor dem Spiel kam es zu Ausschreitungen. Ein Engländer schwebte danach in Lebensgefahr.

    In russischen Medien war nach den Hooligan-Attacken vor allem über die Äußerungen des stellvertretenden Duma-Vorsitzenden und Vorstandsmitglieds des Allrussischen Fußballverbands RFS Igor Lebedew diskutiert worden. Еr hatte die Hooligans auf Twitter in Schutz genommen: „Ich kann nichts Schlimmes an kämpfenden Fans finden. Im Gegenteil, gut gemacht, Jungs. Weiter so!“

    So gab es auch Stimmen, die die Schuld nicht bei den gewalttätigen Hooligans, sondern bei westlichen Provokateuren sahen. Debattiert wurde auch, ob die Randalierer vom russischen Staat gesteuert seien – oder eben einfach Hooligans wie deutsche, britische oder polnische auch.

    Echo Moskvy: Immer gegen Russland!

    Der einstige Fußballprofi und Trainer Alexander Tschugunow empfindet die Strafe der UEFA als ungerecht, wie er auf Echo Moskvy schreibt:

    [bilingbox]Eine Frage bleibt offen: Warum wurden keine Sanktionen gegen das Gastgeberland verhängt? Warum blieb Frankreich außen vor, während  Mütterchen Russland wie immer die ganze Suppe auslöffeln muss? Ich bin fest davon überzeugt: Hätten sich englische und walisische Fans geprügelt oder deutsche und ukrainische oder wer auch immer – Frankreich hätte auf jeden Fall schuldig dagestanden. Aber hat man einmal russische Fans in der Schlägerei gesichtet, dann heißt es gleich: Also sorry, Russland gehört bestraft und disqualifiziert.~~~Остаётся один вопрос. Почему не наложили санкции на принимающую сторону? Почему Франция осталась за бортом, а расхлёбывать всё пришлось как всегда матушке-России? Я уверен, произошла бы стычка между болельщиками Англии и Уэльса, Германии и Украины, да кого угодно — Франция осталась бы виновата! Но раз в драке увидели русских, то, уж извините — России штраф и дисквалификация.[/bilingbox]

    Komsomolskaja Prawda: Feinde des Vaterlands

    Die Boulevard-Zeitung Komsomolskaja Prawda dagegen lässt nach dem Urteil weniger Milde mit den gewalttätigen Fans und ihren Unterstützern walten:

    [bilingbox]Zu gewinnen reicht Sluzkis Team nicht mehr. Die Fußballer müssen hoffen, dass jetzt kein Dummkopf vor der ganzen Welt seinen Schlagradius demonstrieren will  oder dunkelhäutigen Spielern etwas zuruft.

    Natürlich wissen wir, wer Schuld hat. Wussten es schon vorher: Die Feinde des Vaterlands, die englischen Provokateure, die Polizisten von Marseille … In Wirklichkeit (können wir uns das eingestehen?) wird bei uns gegen die Hooligans nichts unternommen. Im Gegenteil, man unterstützt sie in jeder Weise, streichelt ihnen über die Köpfe, bespaßt sie.~~~Теперь команде Слуцкого мало выиграть. Футболисты должны надеяться, что ни один придурок не захочет показать миру размах своего удара и не крикнет что-нибудь в адрес темнокожих игроков.

    Конечно, мы уже знаем кто виноват. Заранее. Враги Отечества, английские провокаторы, марсельские полицейские… На самом деле (сами себе-то мы можем признаться?) с футбольными хулиганами у нас не борются. Наоборот, всячески поддерживают, гладят по голове, организуют досуг.[/bilingbox]

    Grani.ru: Kreml managt die Ultras

    Unmittelbar vor der UEFA-Strafe reagiert Journalist Ilja Milstein auf dem oppositionellen Portal grani.ru auf die Worte von Igor Lebedew, der der Sohn des rechtspopulistischen LDPR-Chefs Wladimir Shirinowski ist. Dabei bringt Milstein organisierte Hooligans in direkte Verbindung zum Kreml:

    [bilingbox]Igor Lebedew plaudert Geheimnisse aus, aber man muss es ihm nachsehen. Immerhin ist er Shirinowskis Sohn […] Ja und auch das Geheimnis selbst gehört nicht zu den streng gehüteten. Im Gegenteil. Dass die russische Führung die Ultras managt und sie zur Lösung unterschiedlichster staatlicher Aufgaben heranzieht, das ist schon lange bekannt. […]

    Ähnlich wie die Traktoristen und Bergarbeiter im Donbass, sind die russischen Fußballfans seit einiger Zeit Figuren im großen politischen Spiel. Zunächst im innenpolitischen, und jetzt, bittesehr, auch in der internationalen Arena. Deswegen haben sie, umhegt von staatlicher Fürsorge, kurz vor der Europameisterschaft in Frankreich vermutlich auch trainiert – wie die Fußballer. Nur eben auf ihrem Gebiet.~~~Игорь Лебедев выбалтывает сокровенное, но ему простительно. Все-таки он сын Жириновского […]. Да и сама тайна не принадлежит к разряду тщательно охраняемых. Напротив. О том, что российское начальство руководит ультрас и обращается к ним для решения разнообразных государственных задач, известно уже давно. […]

    Подобно трактористам и шахтерам в Донбассе, российские футбольные фанаты с некоторых пор стали фигурами в большой политической игре. Сперва в игре внутриполитической, а теперь вот и на международной арене. Поэтому они, окруженные государственной заботой, незадолго до чемпионата Европы во Франции тоже наверняка тренировались, подобно футболистам. Только на свой лад.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Vollpfosten haben keine Nationalität

    Eine solche Verbindungslinie zum Kreml sieht Wladimir Rodionow in der unabhängigen Novaya Gazeta dagegen nicht und wundert sich, wer die Ausschreitungen gutheißt:

    [bilingbox]Die Zusammenstöße der russischen und britischen Fußballfans in Frankreich bestätigen meiner Meinung nach nur, dass Vollpfosten keine Nationalität haben. Zwei Gruppen aggressiver angetrunkener Männer haben sich einfach entschieden, auf alle Konventionen zu pfeifen und gedankenlos die Fäuste zu schwingen.

    […] Doch diese traurige, für einige auch tragische Geschichte wurde auf Facebook zum Anlass für Stolz. Den Stolz bekunden dabei nicht mal die Fußball-Hooligans, die aus irgendwelchen Gründen zuhause geblieben waren, sondern die denkbar intelligentesten Leute. Oder zumindest Leute, die sich als solche ausgeben.~~~Столкновения во Франции российских и британских футбольных фанатов только подтвердили, на мой взгляд, что у отморозков нет национальности. Просто две группы агрессивных подвыпивших мужчин решили отбросить все условности и бездумно помахать кулаками.

    […] Но эта грустная, а для кого-то и трагичная история стала поводом для гордости в Facebook. Причем эту гордость выражали не футбольные хулиганы, по каким-то причинам оставшиеся дома, а самые что ни на есть интеллигентные люди. Ну или, по крайней мере, позиционирующие себя таковыми.[/bilingbox]

    Rossijskaja Gaseta: Die brüllenden Engländer auseinander gejagt

    Die offizielle Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta nimmt die russischen Hooligans kurz nach dem Spiel in Schutz – und lobt ihre Taten:

    [bilingbox]Ehrlich gesagt, ist mir vollkommen unklar, wie man mehrere Tage am Stück hemmungslos saufen kann und sich rundherum für gar nichts interessiert. Aber für englische Fußballfans im Ausland ist das wohl das einzig denkbare Verhalten. Die russischen Fans, von denen viele mit ihren Frauen und Kindern zu den Spielen fahren, verbringen ihre Zeit völlig anders: Sie machen Exkursionen, kaufen Kleidung und schaffen es auch noch, Sehenswürdigkeiten zu bestaunen […]

    Prügeleien, an denen Engländer beteiligt waren, gab es schon drei Tage lang mehr als genug, die Russen traten erst unmittelbar vor dem Spiel auf den Plan. Und innerhalb von ein paar Minuten gelang ihnen, was weder Polizei noch einheimische Fans geschafft hatten: Sie jagten diese brüllende Menge hunderter Engländer einfach auseinander.~~~Честно говоря, с трудом понимаю, как можно беспробудно пить несколько дней подряд, не интересуясь вообще ничем вокруг, но для английских футбольных фанатов такое поведение на выезде является чуть ли не единственно приемлемым. Те же россияне, многие из которых приезжают на футбол с женами и семьями, проводят время совсем иначе – ходят на экскурсии, закупают одежду, успевая любоваться достопримечательностями. […]

    Драк с участием англичан за три дня происходило достаточно, а вот русские вышли на авансцену уже непосредственно перед игрой. И за несколько минут сделали то, чего не смогла ни полиция, ни местные ребята – попросту разогнали эту орущую английскую толпу из нескольких сотен человек.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

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  • Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    Juni: Grooven auf den Leeren Hügeln

    60.000 Besucher, Musik von Blues über Reggae bis zur Elektronik, freier Eintritt, viel Natur und eine gewaltige Portion Idealismus: Beim Festival Pustye Kholmy, die „Leeren Hügel“, kommt einem unweigerlich Woodstock in den Sinn oder der Burning Man in Nevada. 

    Fast zehn Jahre lang trafen sich jedes Jahr im Juni musik- und sonnenhungrige Städter zum gemeinsamen Feiern und Chillen – immer in der Provinz, nicht zu weit von Moskau, in der Oblast Kaluga oder Smolensk, und immer an den Ufern von Flüssen oder Seen.

    Im Jahr 2011, bei einem der letzten grossen Leeren Hügel (die während des Festivals alles andere als leer sind), war der Fotograf Nikita Shokhov mit dabei. Shokhov, Jahrgang 1988, geboren in Ekaterinburg und zur Zeit dieser Aufnahmen noch Student an der Rodchenko School of Multimedia in Moskau, hatte sich zuvor schon als Fotograf des Moskauer Nachtlebens einen Namen gemacht. Auf dem Festival wechselte er nun vom Schummerlicht der Klubs in die pralle Sonne – ließ den Blitz aber auf dem Fotoapparat. „Der Blitz“, sagt Shokhov „bringt eine Übertreibung in die Körperoberflächen“ – und lässt sie mal besonders natürlich, mal fast künstlich-plastisch erscheinen. Nikita Shokhov hat 2014 einen dritten Platz im World Press Photo Award errungen und hat sich seit Neuestem einer sehr technischen Fotografie zugewandt: Er fängt das Fließen der Zeit in Aufnahmen mit einer Scanner-Kamera ein.

    Auch das „Festival der freien Schöpfungen“, wie sich die Leeren Hügel selber nannten, gibt es in dieser Form nicht mehr – Einzelprojekte aus dem Programm werden nun gesondert an anderen Orten fortgeführt. Es bleiben legendäre Erinnerungen und die nie versiegende Sehnsucht nach Ursprünglichkeit, Sommer, Freiheit und Musik.

     

    Fotos: Nikita Shokhov
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.06.2016

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    Januar: Backstage im Bolschoi

    Februar: Gruppe TRIVA

    März: Alexander Gronsky

    April: Liebe in Zeiten des Konflikts

    Mai: Beim Volk der Mari

    November: Arnold Veber

    Oktober: Denis Sinjakow

    Dezember: Norilsk

  • Presseschau № 31: Freilassung Sawtschenkos

    Presseschau № 31: Freilassung Sawtschenkos

    Lange war darauf hingearbeitet worden: Am Mittwoch dieser Woche, dem 25. Mai, durfte die ukrainische Militärpilotin Nadija Sawtschenko in die Ukraine ausreisen.

    Sie war zwei Jahre in Russland festgehalten und im März zu 22 Jahren Haft verurteilt worden. Nun wurde sie gegen die russischen Staatsbürger Alexander Alexandrow und Jewgeni Jerofejew ausgetauscht. Die beiden waren 2015 im Donbass aufgegriffen worden. Ihnen wurde vorgeworfen, als Angehörige des russischen Militärgeheimdienst gegen die Ukrainische Armee gekämpft zu haben, was Moskau allerdings bestritt. Ein Kiewer Gericht hatte sie noch im April zu je 14 Jahren Haft verurteilt.

    Sawtschenko war während ihrer Gefangenschaft zur Ikone in ihrer Heimat aufgestiegen: In Abwesenheit wurde ihr etwa die Auszeichnung „Heldin der Ukraine“ verliehen. Im Fall Jerofejew/Alexandrow dagegen hatte Moskau vor allem betont, dass sie als Freiwillige in der Ukraine gekämpft, ihren Dienst in Russland zuvor quittiert hätten. Offiziell sind keine russischen Einheiten vor Ort.

    Entsprechend fiel der Empfang für die drei Freigelassenen in ihren Heimatländern jeweils sehr unterschiedlich aus: Sawtschenko wurde von Präsident Petro Poroschenko und weiteren hochrangigen Politikvertretern geradezu triumphal willkommen geheißen, Jerofejew und Alexandrow dagegen in Moskau lediglich von ihren Frauen begrüßt.

    International fand die Freilassung große Resonanz. Hochrangige Politiker, darunter der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier, äußerten die Hoffnung, dass der Gefangenenaustausch sich auch auf die weitere Lösung des Konflikts positiv auswirke.

    Rossijskaja Gaseta: Auf Wunsch der Hinterbliebenen

    Der Kreml betonte, dass die Freilassung vor allem den Hinterbliebenen der – laut Anklage von Sawtschenko – getöteten Medienleuten zu verdanken sei. Die Witwe und die Schwester zweier Verstorbener hätten Putin bei einem Treffen um Begnadigung Sawtschenkos gebeten und so einen Gefangenenaustausch erst ermöglicht. Die Rossijskaja Gaseta, Amtsblatt der russischen Regierung, berichtet:

    [bilingbox]Wie der Pressesprecher des Präsidenten Dimitri Peskow erklärte, „waren dem Treffen Schreiben der genannten Personen vom 22. und 23. März an das Staatsoberhaubt vorausgegangen, in denen sie, Marianna Dimitrijewna und Jekaterina Sergejewna, aus humanitären Erwägungen den Präsidenten darum bitten, Sawtschenko zu begnadigen.“ Das Staatsoberhaupt unterschrieb einen Ukas über die Begnadigung der ukrainischen Pilotin.~~~Как пояснил пресс-секретарь президента Дмитрий Песков, „этой встрече предшествовали обращения на имя главы государства от упомянутых родственниц, которые были написаны еще 22 и 23 марта соответственно, в котором Марианна Дмитриевна и Екатерина Сергеевна исходя из соображений гуманности просят президента помиловать Савченко“. Глава государства подписал указ о помиловании украинской летчицы.[/bilingbox]

    Slon.ru: Verlegenes Schweigen

    Nun sind auch die beiden Gefangenen Jerofejew und Alexandrow wieder in ihrer Heimat – Russland wisse jedoch einfach nicht, wie es mit ihnen umgehen soll, kommentiert Oleg Kaschin auf dem unabhängigen Portal Slon.ru:

    [bilingbox]Jewgeni Jerofejew und Alexander Alexandrow sind für Russland nicht einfach nur keine Helden, sondern es ist völlig unklar, wer sie überhaupt sind – im besten Fall Opfer des ukrainischen, repressiven Systems . […]

    Das verlegene Schweigen, mit dem Russland Nadeshda Sawtschenko zum Flugzeug begleitet und mit dem es zwei der eigenen Staatsbürger mit unklarem Status empfängt – das ist vielleicht die wichtigste psychologische Folge des Donbass-Krieges für Russland. Der hat Russland gelehrt, verlegen zu schweigen. Und begleitet von diesem Schweigen müssen wir nun immer weiterleben.~~~Евгений Ерофеев и Александр Александров для России не просто не герои, а вообще непонятно кто, в лучшем случае жертвы украинской репрессивной системы. […]

    Неловкое молчание, которым Россия провожает Надежду Савченко и встречает двух своих граждан с непонятным статусом, – это, может быть, главное психологическое последствие донецкой войны для России. Она приучила Россию неловко молчать, и под аккомпанемент этого молчания нам еще жить и жить.[/bilingbox]

    Spektr: Nadeshda, halte durch!

    Auch der Journalist und Kriegsreporter Arkadi Babtschenko vergleicht die unterschiedliche Art und Weise, mit der Sawtschenko, Jerofejew und Alexandrow in ihren Heimatländern jeweils empfangen werden. Auf dem russischen Exil-Medienprojekt Spektr, das unter dem Dach einer lettischen Medien-NGO firmiert, warnt er Sawtschenko:

    [bilingbox]Meiner Meinung nach beginnt für die ukrainische Gesellschaft im Fall Sawtschenko jetzt tatsächlich eine der schwierigsten Zeiten: die Entheiligung. Denn ein lebender Mensch wird niemals dem von der Gesellschaft für ihn erdachten Bild entsprechen – und das ist für viele schmerzhaft und schwer. Für manche mag es gar wie Verrat wirken. Und nach Sawtschenkos Temperament zu urteilen – geradeheraus, harsch und nicht gewohnt, sich in Worten und Taten zurückzunehmen – wird sie diesen Vorgang nur beschleunigen.

    Also, Nadeshda, halte durch: Jetzt werden sie dich so richtig in die Mangel nehmen, wie noch nicht mal vorm Kadi in Donezk.~~~На мой взгляд, для украинского общества в вопросе Савченко теперь вообще начинается один из самых трудных периодов — деканонизация. Потому что живой человек никогда не будет соответствовать придуманному ему обществом образу, а это для многих очень болезненно и тяжело. А кем-то воспринимается даже как предательство. И, судя по характеру Надежды — прямому, резкому, не привыкшему сдерживать себя ни в словах, ни в поступках — она этот процесс только ускорит.

    Так что, Надежда, держись: как теперь тебя начнут «полоскать» — не полоскали даже на судилище в Донецке.[/bilingbox]

    TASS: Guter Anfang

    International wurde der Gefangenenaustausch immer wieder mit der Hoffnung auf weitere Fortschritte im Rahmen der Minsker Vereinbarungen verbunden. Ähnlich äußerte sich auch Pawel Krascheninnikow, Chef des Duma-Ausschusses für Gesetzgebung, den die staatliche Nachrichtenagentur TASS zitiert:

    [bilingbox]„Wir lassen unsere Leute nicht im Stich. […] Sowohl im Fall Sawtschenko als auch bei unseren Jungs wurden alle Verfahrensweisen eingehalten. Alles wurde im Einklang mit der Russischen Verfassung und den Rechtsnormen durchgeführt“, erklärte Krascheninnikow gegenüber der Nachrichtenagentur TASS.

    Ihm zufolge sei das ein Ausdruck für die immer noch bestehende Möglichkeit eines Dialogs zwischen Russland und der Ukraine auf völkerrechtlichem Gebiet. „Es ist durchaus erfreulich, dass es auf juristischer Ebene Kontakt zwischen den Ländern gibt“, fügte Krascheninnikow hinzu.~~~„Мы своих не бросаем. […] А в случае и с Савченко, и с нашими ребятами все процедуры были соблюдены. Все было проведено в соответствии с Конституцией РФ и правовыми нормами“, – заявил Крашенинников ТАСС.

    По его словам, это говорит о сохраняющейся возможности диалога между Россией и Украиной в международно-правовой сфере. „Не так плохо, что есть контакт в правовой области“, – добавил Крашенинников.[/bilingbox]

    Vedomosti: Kein großer Schritt vorwärts

    Die Autoren der regierungsunabhängigen Tageszeitung Vedomosti dagegen warnen vor allzu großen Hoffnungen:

    [bilingbox]Die Rückkehr von Sawtschenko sowie Jerofejew und Alexandrowitsch zeigt wohl eher, dass Fortschritt prinzipiell möglich ist. Was die Erfüllung des Minsker Abkommens angeht, ist es ein Schritt vorwärts, aber kein großer. Zumal das Minsker Abkommen einen gleichzeitigen Austausch „aller gegen alle“ vorsieht. Andererseits ist nun auch möglich, dass sich etwas bewegt in den Fällen anderer Gefangener, die es auf beiden Seiten gibt. […] Hat der Kreml Sawtschenko ausgetauscht für eine Lockerung der Sanktionen im Gegenzug? Da wird sich in den nächsten Monaten nichts bewegen. Das ist erst für das Jahr 2017 realistisch, sofern es weitere Fortschritte bei der Konfliktlösung gibt. Vorerst hat sich Russland vor allem damit hervorgetan, dass es Humanität gezeigt hat.~~~Возвращение Савченко и Ерофеева с Александровым скорее обозначает принципиальную возможность прогресса. Это шаг вперед в плане выполнения минских соглашений, но небольшой. Тем более что минские соглашения предусматривают обмен „всех на всех“ и одномоментно. С другой стороны, теперь возможны подвижки в делах других кандидатов на обмен, которые есть с обеих сторон. […] Обменял ли Кремль Савченко на ослабление санкций? Не в ближайшие месяцы. Реалистичный срок при условии прогресса в урегулировании – 2017 год. А пока главная награда для России – ощущение проявленного гуманизма.[/bilingbox]

    dekoder-Redaktion

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    Presseschau № 30: RBC – Medium unter Druck

    Es war der Höhepunkt nach immer stärkerem Druck auf eines der wichtigsten investigativen Medien in Russland: Ende vergangener Woche, am Freitag, den 13. Mai, wurde die dreiköpfige Chefredaktion von RBC entlassen. Es habe keinen Konsens bei wichtigen Themen gegeben, hieß es in der offiziellen Begründung der Geschäftsführung.

    RBC stand für investigativen Journalismus wie kaum ein anderes Medium in Russland. Neben fundierter Wirtschaftsberichterstattung war die Redaktion berühmt geworden mit Recherchen etwa über Korruption bei Prestige-Bauprojekten, zu Putins familiärem Umfeld oder dem Vorgehen Russlands in Syrien und im Donbass.

    RBC hatte auch als eines der wenigen Medien in Russland mit den Recherchen der Panama Papers auf der Titelseite aufgemacht.

    Seit 2009 war RBC im Besitz des Oligarchen Michail Prochorow. Büros seiner Onexim Group waren bereits im April von Steuerermittlern durchsucht worden. Außerdem hatte es in den vergangenen Wochen auch Ermittlungen und Razzien gegen einzelne Vertreter des Unternehmens gegeben. Zur Medien-Holding gehören neben der Online-Ausgabe unter anderem noch eine Zeitung sowie ein TV-Sender.

    Die Auflösung der bisherigen Chefredaktion hat vor allem in der unabhängigen Presse große Bestürzung ausgelöst: Viele sehen Parallelen zu anderen, ehemals kritischen Medien, die durch Eigentümerwechsel oder politische Einflussnahme „auf Linie“ gebracht worden waren.

    Snob.ru: Was wäre wenn

    Auf RBC und ihren Herausgeber Michail Prochorow war schon länger Druck ausgeübt worden. Kolumnistin Xenija Sobtschak jedenfalls sagte auf Snob dem Medium schon Ende April ein düsteres Schicksal voraus, nach Durchsuchung von Prochorows Onexim Group:

    [bilingbox]Wir müssen uns endlich eingestehen, dass viele von uns eine idiotische und naive Hoffnung hatten: Was, wenn es Michail Dimitrijewitsch [Prochorow] doch auf irgendeine wundersame Weise gelungen ist, Absprachen zu treffen. Was, wenn es den Machthabern doch nützt, dass es im Land zumindest ein Portal gibt, das die Wirtschaft auf diese Art beleuchtet und solche Recherchen betreibt. Was, wenn man wegschaut, sie plötzlich in Ruhe lässt? Denn innerhalb des vergangenen Jahres wurde RBC tatsächlich zum besten Nachrichtenportal im Land, und das, was sie gemacht haben, war megacool.

    Aber nix von wegen „was, wenn“. So etwas gibt es nicht mehr.~~~Пора признаться себе, что у многих из нас была безумная и наивная надежда: вдруг Михаилу Дмитриевичу [Прохорову] удалось как-то особым образом договориться? Вдруг власти выгодно, чтобы в стране был хотя бы один такой портал, с таким освещением бизнеса и такими расследованиями? Вдруг пропустят, вдруг не тронут? Ведь за последний год РБК действительно стал лучшим новостным порталом в стране, и то, что они делали, было мегакруто.

    Но — никаких „вдруг“. Сейчас так уже не бывает.[/bilingbox]

    Novaya Gazeta: Die totale Kontrolle

    Auch die kremlkritische Novaya Gazeta weist darauf hin, dass RBC keine Ausnahme sei und zieht Parallelen zum Sender NTW – ihn hatte 2001 ein ähnliches Schicksal ereilt. Und doch gebe es einen bedeutenden Unterschied:

    [bilingbox]Im Unterschied zum Jahr 2001 halten die Machthaber die Kontrolle nur über die Fernsehsender nicht mehr für ausreichend. Auch die Presse muss vollends loyal und kontrolliert sein. Im Grunde ist das ziemlich merkwürdig – 2001 gab es intensive Machtkämpfe zwischen mehreren starken Gruppen, aber derzeit ist die Ruhe der Kreml-Bewohner doch durch nichts bedroht: Die Bevölkerung insgesamt befürwortet die Arbeit von Partei und Regierung.

    Doch gleichzeitig breitet sich in den Medien das Kasernen-System immer weiter aus: Die Nachricht vom Austausch des RBC-Teams fiel zusammen mit der soundsovielten Verlautbarung des Medienministeriums, dass es bis 2020 in Russland ein eigenes, souveränes Internet geben wird, das völlig unabhängig von ausländischen Kanälen Informationen verbreitet.~~~B отличие от 2001 года, теперь власти считают контроль над телевидением мерой недостаточной. Пресса тоже должна быть полностью лояльной и подконтрольной. На самом деле это довольно странно: в 2001 году шла интенсивная борьба за власть между несколькими сильными группировками, а теперь спокойствию кремлевских обитателей вроде бы ничего не угрожает — народ в целом одобряет деятельность партии и правительства. Но при этом казарменная система в медиа распространяется все шире — новости о смене команды РБК пришли одновременно с очередными реляциями Минкомсвязи о том, что к 2020 году в России будет построен собственный, суверенный интернет, совершенно не зависящий от иностранных каналов распространения информации.[/bilingbox]

    Meduza: Das zerstörte Wunder

    Das Online-Portal Meduza, das im lettischen Exil sitzt, wurde 2014 von Galina Timtschenko gegründet – nachdem sie als Chefredakteurin bei Lenta.ru gekündigt und durch einen politisch loyalen Nachfolger ersetzt worden war. Viele ihrer Mitarbeiter gingen mit ihr. Die Meduza-Redaktion reagierte sogleich auf die Entlassungen bei RBC:

    [bilingbox]Freitag, der 13. Mai – ein wirklich mieser Tag für uns alle, für die Journalisten und für die Leser. Ein Tag, an dem vor unseren Augen ein Wunder zerstört wurde. Es gibt keinen einzigen Grund, der das rechtfertigen könnte. Hinter dieser Entscheidung stehen keinerlei sinnvolle Erwägungen des Besitzers wie auch keinerlei „staatliche Interessen“. Einzig Empfindlichkeiten und Rachsucht – die haben irgendwie komisch geschaut, die haben sich irgendwie komisch benommen, die haben irgendwie komisch geschrieben. Man hat euch doch gesagt, ihr sollt euch nicht einmischen – doch ihr mischt euch ein.

    Das, was da mit RBC geschehen ist, ist kein Kampf mit einem ideellen Gegner. Nein, das ist eine Schlägerei in einer Toreinfahrt.~~~Пятница, 13 мая — по-настоящему скверный день для всех нас, и для журналистов, и для читателей. Это день, когда на наших глазах было уничтожено чудо. Нет ни одной причины, которая могла бы это оправдать. Позади этого решения нет никаких взвешенных размышлений собственника, как нет и никаких «государственных интересов». Есть только обидчивость и мстительность — посмотрели не так, вели себя не так, написали не так. Вам же говорили не лезть, а вы лезете. То, что случилось с РБК, — это не борьба с идейным противником. Нет, это разборки в подворотне.[/bilingbox]

    Lenta.ru: Das Schweigen der Oligarchen

    Auf Lenta.ru weist eine freie Mitarbeiterin auf die Parallelen zwischen RBC, Lenta.ru, NTW und anderen (ehemals) kritischen Medien hin. Und thematisiert vor allem die Rolle der Oligarchen als Herausgeber:

    [bilingbox][…] die Oligarchen werden gar nicht mehr gefragt, Fragen aus der Öffentlichkeit fließen an ihnen vorbei wie Bäche an Baumwurzeln. Die Besitzer werden kaum erwähnt, wenn es wieder einmal in einem journalistischen Medium, das ihnen gehört, zu einem Umsturz kommt. Und nicht nur, weil „sowieso alles klar ist“, sondern auch, weil sie – als Besitzer der Medien – die Arbeitgeber der sogenannten „sprechenden Klasse“ sind. […]

    Zu den Geschehnissen befragen kann man die Machthaber, die Kollegen, den glatzköpfigen Teufel [Sprichwort – dek], nur nicht den Besitzer. Die Oligarchen sind im Grunde gegen Vorwürfe gefeit, sie können nicht einmal wirklich zur Rechenschaft gezogen werden. Über das Schicksal der sprechenden Klasse entscheidet die schweigsamste soziale Gruppe.~~~[…] с олигархов больше не спрашивают, общественные вопрошания обтекают их, как ручей корягу. Владельцы почти не упоминаются, когда в очередном СМИ, им принадлежащим, происходит переворот. И не только потому, что «и так все ясно», но также и потому, что они, владельцы СМИ, — работодатели так называемого «говорящего класса». […] Спрашивать о происходящем можно у власти, у коллег, у черта лысого — но никак не у владельца. Олигархи почти неприкосновенны для претензий. И практически непризываемы к ответу. Судьбы говорящего класса решает самая молчаливая социальная группа.[/bilingbox]

    Rossijskaja Gaseta: Politische Einflussnahme wäre absurd

    Die Rossijskaja Gaseta, das Amtsblatt der russischen Regierung, verzichtet auf eigene Kommentare und zitiert stattdessen Kreml-Sprecher Dimitri Peskow, der jede Einflussnahme von Seiten des Staates bestreitet:

    [bilingbox]Wir sehen keinen Anlass für eine Beunruhigung seitens internationaler Organisationen in dieser Sache. Behauptungen, dass irgendein Druck staatlicherseits bei den Umbesetzungen im Redaktionsteam der Holding eine Rolle gespielt habe, halten wir für vollkommen grundlos.

    Es ist eine private Holding, und so sollten die Entscheidungen des Eigentümers dieser Holding von ihren Vertretern erklärt werden und nicht von Vertretern des Staates. […] Wir können nur voller Gewissheit sagen, dass es absurd ist, hinter dieser Sache irgendeinen politischen Druck zu vermuten.~~~Мы не видим каких-либо оснований для того, чтобы какие-либо международные организации испытывали бы обеспокоенность в этой связи. Мы считаем абсолютно несостоятельными какие-либо утверждения о том, что какое-то давление со стороны властей имеет отношение к кадровым изменениям в редакции холдинга. Холдинг частный, и в данном случае решения владельца этого холдинга должны объясниться именно представителями этого холдинга, а не представителями власти. […] Можем только с уверенностью сказать об одном, что абсурдно увязывать это с каким-то политическим давлением.[/bilingbox]

    The New Times: Schlecht, einen guten Job zu machen

    Im regierungskritischen Wochenmagazin The New Times dagegen beklagt Kolumnist Juri Saprykin den zunehmenden Druck, unter dem Journalisten in Russland arbeiten – und vor allem die unausweichlichen Folgen, die dies habe:

    [bilingbox]Aber es gibt eine wichtige und unumkehrbare Veränderung: Allen innerhalb dieses Berufsstandes wird immer klarer, dass es schlecht ist, einen guten Job zu machen. Aus dem Nichts die einflussreichste Wirtschaftszeitung zu machen, die meistzitierten und -diskutierten Materialien zu bringen, den Umsatz zu steigern – sogar auf dem Höhepunkt der Krise, das alles ist zweitrangig.

    Das Wichtigste ist, dass du dich nicht mit hochrangigen Leuten anlegst. Am besten spannst du dir freiwillig Absperrbänder, begehrst nicht auf und provozierst keine Widerrede, man muss sich auch gar nicht besonders um die Qualität kümmern – dann bleibst du am Leben.~~~Но есть [одно…] важное изменение, которое невозможно развернуть назад: всем внутри этой профессии все больше становится очевидно, что работать хорошо — это плохо. Что сделать из ничего самую влиятельную деловую газету, придумывать самые цитируемые и обсуждаемые материалы, зарабатывать все больше денег, даже на пике кризиса — это все вторично; а главное — ни с кем высокопоставленным не ссориться. Лучше добровольно обложить себя флажками и барьерами, не рыпаться и не нарываться, можно даже не особо заботиться о качестве — и тогда будешь жив.[/bilingbox]

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