Nach wie vor kommt es in Belarus fast täglich zu politisch motivierten Festnahmen und Verurteilungen mit langen Haftstrafen. Gleichzeitig wurden in den vergangenen Monaten dutzende politische Gefangene freigelassen.
Experten deuten dies als Signale von Alexander Lukaschenko, den Kontakt zur EU und zu den westlichen Demokratien zu suchen. Warum passiert dies gerade jetzt? Ist eine neuerliche Annäherung nach der brutalen Niederschlagung der Proteste 2020 und der Flucht von hunderttausenden Belarussen tatsächlich denkbar? Welches Interesse könnte die EU daran haben?
Über diese und andere Fragen haben wir mit dem belarussischen Ex-Diplomaten und Politanalysten Pavel Matsukevich von der Initiative Center for New Ideas gesprochen.
dekoder: Lukaschenko hat in den vergangenen Wochen dutzende politische Gefangene freigelassen. Warum? Der Diktator wird doch wohl nicht altersmilde?
Pavel Matsukevich: Noch nicht. Ein klares Anzeichen dafür sind die Repressionen in Belarus, die weiterlaufen. Aber die Freilassungen sind ein deutliches Signal, dass Lukaschenko bereit ist, weicher zu werden. Es könnte ein gewisses Tauwetter geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es in Belarus schon mehr als einmal solche Perioden gegeben hat. Die gesamte Geschichte der 30-jährigen Herrschaft Lukaschenkos ist die Geschichte des Wechsels von Zeiten des Tauwetters und des verstärkten Drucks. Dank dieser Tauwetterperioden konnte sich auch die Zivilgesellschaft entwickeln, die 2020 ihre Bürgerrechte eingefordert hat.
Aber zu der Zeit vor 2020 lässt sich kaum zurückkehren, wenn man an das Ausmaß der Repressionen denkt.
Kein Tauwetter war wie das andere. Ich glaube also nicht, dass wir in das Jahr 2018 zurückkehren können, einer Zeit der weitreichenderen Liberalisierung. Aber wir könnten zu einer insgesamt besseren Situation im Vergleich zum heutigen Klima kommen, nicht zu einer idealen natürlich, zu einer besseren, indem die Leute endlich aus den Gefängnissen entlassen werden und die brutalen Repressionen aufhören. Die belarussischen Behörden können theoretisch fast allem zustimmen, solange es nicht ihre Macht betrifft. In dieser Hinsicht wird es keine Öffnung oder Kompromisse geben. Darüber muss man sich im Klaren sein. Lukaschenko wird sich nicht zum Demokraten entwickeln. Aber andere Öffnungen sind zumindest denkbar. In der Zeit, als die Existenz unabhängiger Medien geduldet wurde, hat das Regime beispielsweise auch eine gewisse öffentliche Kritik zugelassen.
Gleichzeitig wurden Kritiker aber auch weggesperrt und in früheren Zeiten sogar umgebracht.
Ja, auch das passierte: Politiker verschwanden, Proteste wurden niedergeschlagen. Aber dann gab es eben wieder Phasen des Tauwetters. Lukaschenkos Regime ist de facto nicht das Regime Stalins, wo es nur Repression und Terror in einem unvorstellbaren Ausmaß gab.
Es gab in den vergangenen drei Jahren immer wieder Anzeichen dafür, dass das Regime den Kontakt zur EU und zum Westen sucht. Zum Beispiel der Brief des damaligen Außenministers Wladimir Makei im Frühjahr 2022, mit dem er sich an seine Kollegen, die Außenminister der EU-Länder, wandte und vorschlug, einen Neuanfang zu versuchen. Seine Begründung: Andernfalls würden die Repressionen weitergehen, die Zivilgesellschaft werde in der Folge vernichtet und Europa würde schließlich vollkommen aus Belarus verschwinden und Belarus selbst in Russland aufgehen.
Eine Situation, die wir aktuell fast so vorfinden in Belarus.
Und diese schafft ein sehr gefährliches Ungleichgewicht, nicht nur für Lukaschenkos Macht, sondern auch für die Souveränität von Belarus und die belarussische Gesellschaft. Der Wunsch, in einen Dialog einzutreten, hat für das Regime vor allem eine Motivation: die eigene Macht zu stärken. Denn wenn der Westen auf den Vorschlag zum Dialog eingeht, haben die belarussischen Behörden die Möglichkeit, ein Gleichgewicht, eine Balance herzustellen – zwischen Russland und der EU. So konnte Lukaschenko auch in der Vergangenheit seine Macht sichern – durch das Lavieren zwischen Ost und West. Das gilt auch für Belarus aufgrund der geopolitischen Lage des Landes: der Ausgleich zwischen Ost und West ist sozusagen eine Formel für die Wahrung der Unabhängigkeit, der Souveränität.
Warum sollte die EU Interesse daran haben, die Macht von Lukaschenko zu stärken?
Das ist eine Frage der Abwägung. Und hier geht es nicht um moralische Faktoren. Hier treffen sich die Regime-Interessen einerseits und Interessen, Belarus als souveränes Land zu erhalten, andererseits. Die Isolierung von Belarus steigt stetig. Wir haben heute bereits einen Zaun an der Grenze zur EU. Belarus wird immer abhängiger von Russland, vor allem im Bereich Wirtschaft, der Finanzkredite und so weiter. Die Unabhängigkeit von Belarus ist tatsächlich ernsthaft bedroht. Die EU hat Interessen, die sich über ein souveränes Belarus besser realisieren lassen, wo man zumindest etwas Einfluss geltend machen könnte, als über ein Belarus, das in Russland aufgeht.
Welches Interesse hätte die EU daran, in einen Dialog einzutreten?
Es gibt gemeinsame Interessensbereiche, in denen Belarus eine bedeutende Rolle spielen kann. Der erste ist die Sicherheit. Die EU hat Interesse daran, das Risiko einer Wiederholung des Jahres 2022 zu verringern, als Russland das Territorium von Belarus nutzte, um in die Ukraine einzumarschieren. Wenn Russland an die EU-Grenze heranrückt, steigt die Unsicherheit für die EU. Der zweite Bereich ist das Thema Migration. Lukaschenko hat die Migrationskrise an den Grenzen zur EU als Reaktion auf den Sanktionsdruck organisiert. Bei einer Dialogaufnahme könnte also die gemeinsame Sicherung der EU-Grenze verhandelt werden. Und die dritte gemeinsame Interessensphäre ist der Warentransit zwischen der EU und China. Der Eisenbahntransit stellt eine gute Alternative zum Seetransport dar, besonders wenn er wie aktuell am Roten Meer bedroht ist.
Würde die EU nicht die demokratische Opposition diskreditieren, die sich im Exil befindet und die derart unter den Repressionen leidet, wenn man auf Lukaschenko zugehen würde?
Der Dialog zwischen den belarussischen Machthabern und den westlichen Ländern ist im Prinzip unvermeidlich. Es ist nur eine Frage der Zeit, da es, wie gesagt, um drängende regionale und globale Interessen geht. Die demokratischen Kräfte können sich nur die Frage stellen, ob sie diesen Prozess unterstützen oder ob sie bei ihrem Versuch bleiben, ein Regime zu demokratisieren, das sich nicht demokratisieren lässt. Es ist denkbar, dass sich das Regime als Bedingung für einen Dialog zumindest auf die Frage eines perspektivischen Machttransits gegen 2030 einlässt. Lukaschenko weiß, dass er nicht unsterblich ist. Aber nochmal: Eine schnelle Demokratisierung wird dabei nicht herausspringen. Und es besteht auch die Gefahr, dass das Regime, wenn es sich bedroht fühlt, wieder mit Repressionen reagiert. Das ist sogar sehr sicher. Es geht aktuell darum, die Menschen aus den Gefängnissen freizubekommen, und eine weitere Verschlechterung der Lage zu verhindern.
Was will denn eigentlich die belarussische Bevölkerung?
Soweit man das anhand der Umfragen von Chatham House beurteilen kann, wünschen sich die Menschen die Rückkehr zu einer gewissen Normalität in den Beziehungen zwischen Belarus und dem Westen. Sie leben ja unter diesen Repressionen und haben deshalb ihre eigenen Interessen. Wir hier draußen denken darüber nach, wie wichtig es ist, Belarus zu demokratisieren, während die Belarussen im Land vielleicht eher darüber nachdenken, wie wichtig es ist, einen Krieg zu vermeiden. So entsteht natürlich eine Diskrepanz der Interessen.
Putin wird es nicht gefallen, wenn Lukaschenko auf den Westen zugeht.
Das stimmt. Es ist wichtig zu verstehen, dass jeder Dialog mit den westlichen Ländern in der aktuellen Situation seine Grenzen haben wird. Er muss ja auch nicht öffentlich passieren. Das Regime hängt an der Leine Russlands und die Leine ist sehr kurz. Lukaschenko ist kein Selbstmörder. Er weiß, was passiert, wenn er sich dem Westen zu sehr nähert. Russland würde ihm das nicht durchgehen lassen. Aber aktuell ist Putin mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt, viele Kräfte und Ressourcen sind konzentriert. Wenn es zu Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland kommt, werden die Kräfte neu gemischt. Es wird neue Dynamiken geben, auf die sich Lukaschenko möglicherweise jetzt schon vorbereiten will, um seine Macht zu stärken. Dafür könnte er den Dialog mit dem Westen gut gebrauchen. Und der Westen könnte ihn gut gebrauchen, um Belarus nicht ganz zu verlieren, um dafür zu sorgen, dass Europa auch künftig noch eine Rolle in Belarus spielt.
Viele Belarussen, die mittlerweile im Exil in Polen, Litauen oder Georgien leben, engagieren sich für die Demokratiebewegung. Im Belarus selbst ist Engagement gefährlich und öffentlicher Protest nicht mehr möglich. Lukaschenko hat seinen Machtapparat vor allem auf eines eingeschworen: auf politische Verfolgung. Verlässliche Informationen darüber, wie es sich unter derart hochrepressiven Bedingungen lebt, wie sich die Sichtweisen der Belarussen seit 2020 entwickelt haben, gibt es kaum.
Im Interview erklärt der Soziologe Andrei Wardomazki vom Belarusian Analytical Workroom die Tücken seiner Arbeit: Wie lassen sich die Einstellungen und Stimmungen der Belarussen ermitteln? Tut sich tatsächlich eine Kluft zwischen den Belarussen im Exil und denen im Land auf?
dekoder: Die Belarussen in ihrem Land und außerhalb ihres Landes nehmen die Situation in Belarus unterschiedlich wahr, einige Experten nennen die Differenz zwischen den Sichtweisen sogar „katastrophal“. Woher kommt das?
Andrei Wardomazki: Der Begriff „Katastrophe“ hat eine subjektive emotionale Aufladung. Ich sage lieber „bedeutender“ oder „wesentlicher Unterschied“.
Unterschiedliche Meinungen gibt es immer. In den USA zwischen Republikanern und Demokraten, in Großbritannien zwischen Tories und Whigs … Das gilt auch für Belarus. Seit wann es diesen bedeutenden Unterschied in der Wahrnehmung der Belarussen gibt – es ist schwierig, hier einen Anfangspunkt zu markieren. Ein Faktor war bestimmt die zunehmende Emigration nach 2020. Damals tauchten einige Merkmale auf, die auf eine erhebliche Differenz zwischen der Sichtweise der Belarussen im und außerhalb des Landes hindeuteten. Erhebliche Unterschiede, die sich vielleicht irgendwann zu wesentlichen entwickeln.
Ich nenne sie „Nein zum Krieg“ und „Es gibt keinen Krieg“. Es gibt auch Kokons zu anderen weltanschaulichen Positionen. Zum Beispiel zur geopolitischen Ausrichtung, zur Einstellung zu Europa. Die Menschen sehen verschiedene Realitäten. Während ein Belarusse im Exil das Lächeln der westlichen Politiker vor Augen hat, sieht man von Belarus aus den Gesichtsausdruck eines EU-Grenzbeamten beim Grenzübertritt.
Der nächste Kokon betrifft das Thema Wirtschaft. Jenseits von Expertenkreisen (die die Situation nüchtern beurteilen) besteht unter den Durschnittsbelarussen im Ausland die Vorstellung vom wirtschaftlichen Niedergang in Belarus, dass es immer schlimmer wird. Die Bevölkerung im Land bewertet die wirtschaftliche Lage anders, sie nimmt keine Verschlechterung wahr. Die Statistik gibt ihnen übrigens recht.
Der nächste Unterschied ist, dass die Exil-Belarussen von extremen Repressionen und der totalen Entbelarussifizierung in Belarus ausgehen. Aus dem Land selbst hingegen gibt hört man immer wieder, dass Gras darüber gewachsen sei. Aus verständlichen Gründen führe ich keine Beispiele an.
Die Auswanderer sind im Jahr 2020 steckengeblieben, in Belarus herrscht schon eine „neue Normalität“
Worin liegt der Unterschied im Denken der Belarussen innerhalb und außerhalb des Landes, wie und warum bilden sich diese Kokons?
Es gibt den Parameter der sozialen Zeit. In vielerlei Hinsicht kann man die Diaspora charakterisieren als erstarrt im Jahr 2020. Alles blieb dort und damals stehen – die Menschen, das Weltbild, die Psychologie. Aber innerhalb von Belarus passieren Veränderungen, die zu einer Art „neuen Normalität” führen. Der Belarusse im Exil befindet sich in einem Kokon der Vieldeutigkeit, mit vielen Interpretationsmöglichkeiten. Er bewegt sich in einem Informationsstrom, der ihm vielfältige Interpretationen anbietet, verschiedene Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen.
Der Belarusse in Belarus bewegt sich im Strom der Zensur und Begrenzung. Putin soll man nicht kritisieren, über Selensky lieber nichts Gutes sagen. Das Jahr 2020 darf man nicht positiv bewerten, und zu manchen Persönlichkeiten sollte man sich gleich gar nicht äußern. Das ist Zensur, vermischt mit Selbstzensur.
Generell sind der Grund für solche Kokons einerseits diese verschiedenen, manchmal diametral entgegengesetzten Informationsströme, andererseits gehen die persönlichen Erfahrungen auseinander. Die Kombination aus beiden erzeugt eine Kluft. Ein wichtiger Grund hat mit Sicherheit damit zu tun: mit dem Überleben. In Belarus ist es schlicht gefährlich, blockierte ausländische Medien und nichtstaatliche belarussische Auslandsmedien zu lesen oder zu konsumieren, die Mehrheit ist als „extremistisch“ gelistet. Man richtet daher seine Aufmerksamkeit auf andere Quellen, wechselt den Kokon.
Sie sprechen über die Belarussen im In- und Ausland, erwähnen aber diejenigen nicht, die in Belarus geblieben sind und dennoch dasselbe lesen und schauen wie die Emigrierten.
VPN-Dienste verringern das Problem der Blockierungen erheblich, aber die Gefahr bleibt bestehen. Ich denke, den Anteil derer, die dieselben Medien konsumieren wie die Emigranten, kann man bei 30 Prozent verorten. Übrigens ist das Vertrauen in die unabhängigen belarussischen Medien genauso hoch wie das in die russischen Medien. Trotz aller Einschränkungen bleibt das Interesse also bestehen. Das ist ein wichtiger Indikator.
Es wirken aber auch psychische Schutzmechanismen. Manche Menschen sind nicht in der Lage, Fotos aus Butscha anzusehen oder viel negative Information aufzunehmen. Hält ein Mensch das nicht aus, zieht er sich zurück in einen ruhigeren, positiveren Kokon. Beim Entstehen dieser Kokons wirken also zwei Arten von Selbstschutz. Erstens das existenzielle, lebensnotwendige Sicherheitsbedürfnis – sich die Freiheit zu bewahren, die man verlieren kann, wenn man Medien nutzt, die in Belarus blockiert sind oder als extremistisch gelten. Zweitens der psychische Selbstschutz – die Unfähigkeit, das Negative in den Medien auszuhalten.
So bewegt man sich in einer Art Korridor zwischen dem gerade noch Erträglichen und dem Interesse daran, informiert zu bleiben. In diesem Korridor zwischen Unerträglichkeit und Neugier wird alles genutzt, was an Medien zugänglich ist.
Welche Gründe gibt es noch, dass Leute aus einem Kokon in einen anderen wechseln?
Wenn die Interessen auseinandergehen und die Probleme, die die Menschen beschäftigen, nicht den Themen entsprechen, die die nichtstaatlichen Medien anbieten. Zum Beispiel interessiert man sich für Wirtschaft, aber hört nur von politischen Gefangenen. Dann entfernt man sich von dieser Information und landet in einem anderen Kokon.
Kann man einen Point of no Return prognostizieren, an dem die Belarussen im In- und Ausland einander endgültig nicht mehr verstehen werden?
Bei sozialen Phänomenen gibt es keine „hundert Prozent“, kein „absolut schlecht“ und „absolut gut“, kein „endgültig”.
Gab es bei den Deutschen einen Point of no Return? Gibt es ihn in Nordkorea? Dort sind die Menschen überzeugt, dass sie besser als der Rest der Welt leben, das habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber das heißt nicht, dass sich die Situation nicht irgendwann, in einer langen Zeitspanne, ändern kann. Über die russische öffentliche Meinung sagt man heute: „Das ist der Point of no Return, du kannst sie nicht mehr ändern.“ Aber das gibt es nicht. Was es gibt, sind Punkte, die eine Annäherung schwieriger oder leichter machen, die Veränderungen wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher machen.
Hier muss man noch die gegenseitigen Vorbehalte zwischen Emigranten und Gebliebenen erwähnen. Beide Seiten beschuldigen die jeweils andere, konform mit dem Regime zu sein, meinen damit aber unterschiedliche Dinge. Die Emigrierten sagen, ihr seid geblieben und zahlt Steuern, ihr unterstützt das Regime. Die Gebliebenen wiederum sagen, ihr Konformisten seid abgehauen, wer wird dann unser Land erhalten oder sogar kämpfen? Nach demselben – sozialpsychologischen und logischen – Prinzip haben sich die gegenseitigen Anschuldigungen schon 2020 eingebürgert, damals zwischen den Unterstützern des Wandels und den systemtreuen Jabatki. Heute beschuldigen einander Inlandsbelarussen und Auslandsbelarussen.
Es ist ein einzigartiges Phänomen: Dass die einen Belarussen die anderen Belarussen zu erforschen beginnen. Darin liegt die Besonderheit dieser Untersuchung, sowohl für die Wissenschaft als auch insgesamt für die belarussische Gesellschaft. Ich wiederhole, es gibt keinen Point of no Return. Es gibt eine Verweildauer in einem Zustand, die länger oder kürzer sein kann. Aber dass eine Situation für immer festfriert, das gibt es nicht. Dasselbe gilt für Konformismus- und Kollaborationsvorwürfe.
Erzeugen die Informationskokons die Trennlinie oder verstärken sie sie nur? Zum Beispiel Präferenzen bei der außenpolitischen Orientierung oder bei ökonomischen Veränderungen.
Das sind so Stimmungen, die schwanken und sich nicht stabil in eine Richtung bewegen. Einmal reagiert Europa anders auf die Situation in Belarus – schon ändert sich die Einstellung in Belarus. Grafiken, die diese Schwankungen der geopolitischen Präferenzen illustrieren, zeigen keine kontinuierliche, lineare Ausrichtung, es gibt ein Auf und Ab.
Welche Stereotype über die Sichtweisen von Emigrierten und in Belarus Gebliebenen wurden im Verlauf der Studie aufgebrochen?
Jede Forschung ist in gewisser Weise ein Brechen mit Stereotypen. Ich habe schon das Beispiel der Repressionen angesprochen. Von außen besteht die stereotype Ansicht, dass die Situation in Belarus maximal schlimm ist und sich noch weiter verschlimmert. Aber die Befragten in Belarus geben nicht nur negative Einschätzungen ab. Und trotz der zahlreichen katastrophalen Wirtschaftsprognosen empfinden die Einwohner die Lage nicht als absoluten Zusammenbruch.
Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen
Was die geopolitische Ausrichtung angeht, so nehmen die Belarussen beispielsweise Europa ganz unterschiedlich wahr, meist je nach persönlichen Erfahrungen und je nach Informationsquellen. Ich möchte hier keine Antworten zitieren, aber es gibt viele Details abseits von Stereotypen.
Über Russland sagen die einen, dass davon die Kriegsgefahr ausgehe, die anderen, dass die Freundschaft mit Russland Garant dafür sei, dass das belarussische Territorium von den Kämpfen verschont bleibe.
Im Rahmen unserer Forschungen, unter anderem zum Thema „Informationskokons in Belarus und im Ausland“, tragen wir Berge von detaillierten Informationen zusammen und denken bereits über die Entwicklung einer Kokontheorie nach. Alles ist vielfältiger und komplexer als die Stereotype polarisierter Meinungen.
Belarus ist mal wieder in den Nachrichten: Staatsführer Aljaxandr Lukaschenka hat bekanntgegeben, dass fast ein Drittel der belarussischen Armee an die Grenze zur Ukraine verlegt wurde. Laut Geheimdiensten wurden auch russische Söldner der Wagner-Gruppe an der Grenze im Gebiet Homel zusammengezogen. Warum dieses Manöver von Lukaschenkas Seite?
Zudem wurden für den 23. Februar 2025 sogenannte Präsidentschaftswahlen angekündigt, die weder frei noch fair werden, weil im Land keine Opposition mehr möglich ist. Diese muss aus dem Exil heraus agieren. Wie tut sie das? Wie hat sich die Opposition insgesamt entwickelt? Und welche Strategien hat sie für die anstehende Wahlinszenierung?
Auf diese und andere Fragen antwortet die belarussische Politologin Victoria Leukavets vom Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS).
dekoder: Anscheinend hat Lukaschenka Truppen an der belarussisch-ukrainischen Grenze aufmarschieren lassen. Warum?
Victoria Leukavets: Die Spannungen zwischen Belarus und der Ukraine haben sich nach dem Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk verschärft. Letzte Woche erklärte Lukaschenka, dass Belarus etwa ein Drittel seiner Streitkräfte an die Grenze zur Ukraine verlegt habe. Er warf der Ukraine eine aggressive Politik vor: unter anderem die Verletzung des belarussischen Luftraums bei ihrem Angriff auf die russische Region Kursk und die angebliche Entsendung von mehr als 120.000 ukrainischen Soldaten an die Grenze zu Belarus. Verteidigungsminister Viktor Chrenin erklärte, Belarus sei bereit, Vergeltung zu üben, falls ukrainische Soldaten in das Hoheitsgebiet des Landes eindringen sollten. Die Ukraine hat die belarussischen Anschuldigungen zurückgewiesen und erklärt, sie habe keine 120.000 Soldaten an die Grenze geschickt.
Alles nur ein Psychospiel oder besteht tatsächlich die Gefahr, dass Lukaschenka in den Krieg eingreifen könnte?
Das Vorgehen Lukaschenkas kann auf verschiedene Weise interpretiert werden. Erstens ist ihm bewusst, dass belarussische Freiwillige eine aktive Rolle beim Einmarsch der Ukraine in die russische Region Kursk gespielt haben. Das Hauptziel der Freiwilligen ist es, nicht nur die Ukraine, sondern auch Belarus zu befreien. Daher versucht Lukaschenka, ein deutliches Signal zu senden, dass er die Lage an der belarussischen Grenze unter Kontrolle hält, falls die ukrainische Offensive auf belarussisches Gebiet übergreift. Zweitens könnte er durch die zunehmenden Spannungen an der belarussisch-ukrainischen Grenze Russland helfen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit von dem Rückschlag abzulenken, den Russland beim Einmarsch in die Region Kursk erlitten hat. Dies erklärt die aktive Präsenz russischer Streitkräfte und russischer Söldner wie Wagner an der ukrainisch-belarussischen Grenze. Insgesamt ist es unwahrscheinlich, dass Belarus eigene Truppen in den Krieg schicken wird, da das Land für Moskau als Ausgangspunkt für militärische Operationen viel wertvoller ist als aktiver Teilnehmer an militärischen Aktionen. Letzteres könnte das Risiko der Instabilität in Minsk erhöhen und eine harte internationale Reaktion auslösen, die der Kreml nicht unbedingt gebrauchen kann.
Eigentlich war die sogenannte Präsidentschaftswahl für den Sommer 2025 in Belarus angekündigt. Nun wurde bekannt, dass sie am 23. Februar 2025 stattfindet. Hat Lukaschenka Angst, dass der Sommer den Protestwillen der Belarussen beflügeln könnte?
Lukaschenka versucht tatsächlich, die Risiken einer Wiederholung des Szenarios von 2020 zu minimieren. Damals wurde Belarus von einer Welle noch nie dagewesener Proteste erfasst. Diese Erfahrung war ein Schock für das politische System, das Lukaschenka seit Mitte der 1990er Jahre aufgebaut hat. Es gelang ihm, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Der Preis dafür allerdings war sehr hoch. Der Westen verhängte umfassende Sanktionen. Auf internationaler Bühne geriet er in die völlige politische Isolation. Rückblickend auf das Jahr 2020 könnte Lukaschenka also denken: Wenn er damals vorsichtiger gewesen wäre, wenn er weniger Risiken eingegangen wäre, hätte er diese Krise vermeiden können. Und deshalb wird er dieses Mal keinerlei Risiken eingehen und alle noch so kleinen Schritte unternehmen, die Situation vollständig unter Kontrolle zu halten. Dazu gehört auch das Kalkül, dass die Menschen im Winter möglicherweise nicht so protestwillig sind wie im Sommer.
Alle oppositionellen Parteien wurden verboten, die Repressionswelle rollt weiterhin. Warum braucht Lukaschenka solche Wahlinszenierungen überhaupt noch?
Wahlen in nicht-demokratischen Umgebungen sind Instrumente und Rituale, mit denen sich Diktatoren an der Macht halten. Autokratien mit Wahlen gelten in der Wissenschaft tatsächlich als beständiger als solche ohne Wahlen. Bei Belarus sehe ich drei wesentliche Funktionen, die solche Wahlen haben: Das Regime will damit seine Unbesiegbarkeit signalisieren. Allein durch das Abhalten der Wahl sendet das Regime eine starke Botschaft sowohl an die Bevölkerung als auch an die politische Opposition. Und die besagt: Wir sind stark genug, diesen Stresstest durchzustehen, und wir haben die Lage vollständig unter Kontrolle.
Zudem nutzt das System solche Wahlen sicher, um Informationen über die Opposition zu sammeln?
Richtig. Das Regime sammelt Informationen zur Loyalität in der Bevölkerung und vor allem unter den eigenen Anhängern. Die Wahlen geben dem Regime die Möglichkeit, die Taktiken der Opposition zu studieren, daraus zu lernen und so die eigenen Taktiken zu testen, anzupassen und infolgedessen insgesamt widerstandsfähiger zu werden. Außerdem helfen solche Wahlen Lukaschenka, sich im In- und Ausland zu legitimieren: Sie stärken die Verbindung zum loyalen Teil seiner Wählerschaft, aber übermitteln auch den internationalen Partnern wie Russland und China die Botschaft, dass das Regime stark ist, dass es die völlige Kontrolle hat und dass die vertrauensvolle Zusammenarbeit fortgesetzt werden kann.
Seit Juli wurden zahlreiche politische Gefangene entlassen. Muss man dies auch in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Wahlereignis sehen?
Es gibt Gerüchte, dass es eine dritte Welle von Freilassungen geben wird. Zum Tag der nationalen Einheit am 17. September. Lukaschenka verfolgt damit zwei Hauptziele. Er versucht, die Spannungen in der Gesellschaft ein wenig abzubauen und den Boden für die Wahl zu bereiten. Aber ein wahrscheinlicheres, vielleicht ein realistischeres Ziel ist dieses: Er ist bestrebt, die Kommunikationskanäle mit dem Westen wieder zu öffnen. Es ist seine Art, dem Westen zu signalisieren, dass er zu Verhandlungen bereit ist, um den Sanktionsdruck zu verringern. Dazu gehört auch, dass er sehr genau beobachtet, was auf dem Schlachtfeld zwischen Russland und der Ukraine passiert. Vor dem Hintergrund der mutigen Offensive der Ukrainer in Kursk kalkuliert er seine eigenen Schritte. Wenn Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland unvermeidlich werden, würde dies die geopolitische Konfiguration in der ganzen Region beeinflussen, was sich wiederum auf Lukaschenka auswirken würde. Er sendet deswegen im Voraus Botschaften an den Westen. Als ernsthafte Schritte zur Einleitung eines tiefgreifenden Öffnungsprozesses würde ich diese aber nicht interpretieren. Er will ja keinen politischen Selbstmord begehen. Vielmehr hat er kleinere, pragmatische Ziele im Blick.
Bevor wir über die Taktik der Opposition sprechen – wer oder was ist die belarussische Opposition eigentlich?
Die Opposition ist kein homogener Körper, sondern besteht aus verschiedenen Strukturen und Organen. Zum einen ist da das Team von Swjatlana Zichanouskaja, der anerkannten nationalen Führungsfigur der Opposition. Dann gibt es ihr Vereinigtes Übergangskabinett, eine Art Exilregierung, deren Mitglieder wie Minister zu unterschiedlichen Fachbereichen agieren. Dazu kommt der Koordinationsrat, der sich quasi zu einem Exilparlament entwickelt, in dem Gruppierungen und Fraktionen mit unterschiedlichen politischen Interessen vertreten sind. Im Mai wurden erstmals Wahlen zu diesem Koordinationsrat abgehalten. Die Wahlbeteiligung war sehr gering, aber nichtsdestotrotz ist dies eine spannende demokratische Übung, die sich weiterentwickeln wird und die den hohen Organisationsgrad der Opposition zeigt. Weitere Gravitationszentren sind das Nationale Anti-Krisen-Management, das sich in Warschau befindet und das von Pawel Latuschka geleitet wird, das Kalinouski-Regiment, das auf Seiten der Ukraine kämpft und das auch im Koordinationsrat vertreten ist, und Sjanon Pasnjak, ein prominenter Vertreter der alten Opposition. Er ist einer der lautesten Kritiker von Zichanouskaja, wird aber von der Mehrheit in der Demokratiebewegung nicht ernst genommen.
Wie sieht also die Strategie der Opposition in Bezug auf die Wahlinszenierung aus?
Wenn es keine neuen Entwicklungen geben wird und die Situation so bleibt, wie sie ist, wären die Wahlen im Grunde eine One Man-Show. Die Opposition hätte so nur ein sehr begrenztes Instrumentarium, um die Situation vor Ort zu beeinflussen. Eine Strategie, die aktuell diskutiert wird, ist daher die Entwicklung einer effizienten Kommunikationskampagne, die sich an die belarussische Bevölkerung innerhalb des Landes, aber auch an das externe Publikum richtet. Das Hauptziel dieser Kampagne wäre es, Lukaschenka weiter zu delegitimieren, indem man die ganze Welt daran erinnert, wie repressiv dieses Regime ist, wie viele politische Gefangene es immer noch gibt, welche Rolle Lukaschenka beim Angriffskrieg gegen die Ukraine spielt und so weiter.
Wie stark ist eigentlich die Anhängerschaft von Lukaschenka? Es gibt Zahlen, die sie auf 20 bis 30 Prozent bemisst.
Wir können keine eindeutige Antwort auf diese Frage geben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Belarus wie jedes andere autoritäre Land eine Blackbox ist. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der Unterdrückung kann man die Stimmung in der Gesellschaft einfach nicht genau messen, Die Leute haben Angst, ihre Meinung zu sagen. Meinungsumfragen werden nur online durchgeführt. Und das bedeutet bereits, dass sie nicht vollständig repräsentativ sind. Die Zahlen, die Sie nennen, stammten aus Umfragen von 2021, die von Chatham House durchgeführt wurden. Präzise werden dort 27 Prozent auf Seiten der Lukaschenka-Unterstützer genannt.
Einige in der Opposition fordern, dass sich auch Swjatlana Zichanouskaja als Oppositionsführerin zur Wahl stellen müsse. Wäre das nicht kontraproduktiv?
Es gibt diese Stimmen. Aber viel wichtiger ist, dass am Ende der Konferenz Neues Belarus, die im August in Vilnius stattfand, von den Teilnehmern ein sehr wichtiges Dokument verschiedet wurde, mit dem Zichanouskaja als Anführerin bestätigt wurde. Und zwar bis zu dem Zeitpunkt, wenn wirklich demokratische Wahlen in Belarus abgehalten werden können oder wenn sie selbst das Amt niederlegt. Die Mehrheit ist also der Ansicht, dass solch eine Wahl unter den derzeitigen Umständen riskant wäre. Sie könnte den inneren Zusammenhalt der demokratischen Bewegung untergraben.
In den vergangenen Jahren gab es immer Kritik am Team Zichanouskaja. Was sind die wesentlichen Kritikpunkte?
Bei der Kritik geht es um die angeblich intransparente Verwaltung der von westlichen Gebern bereitgestellten Mittel, um die angeblich mangelnde Koordination zwischen all den Institutionen der Opposition, über die wir vorhin gesprochen haben. Zudem wird vor allem die nicht gleichberechtigte Vertretung oppositioneller Stimmen auf internationaler Ebene bemängelt. Der Druck auf das Team von Zichanouskaja ist sehr hoch, die Erwartungen sind groß, die Exilsituation ist für alle sehr schwierig. Ich will die Kritikpunkte nicht abmildern, aber Kritik ist unter diesen Umständen normal, und sie ist ein Zeichen für die Vitalität und Diversität der Opposition. Wenn wir über den Erfolg oder Misserfolg der Opposition sprechen, müssen wir andere Kriterien heranziehen.
Und die wären?
Kriterium Nummer eins: Die belarussische Oppositionsbewegung wird von einem starken Zusammenhalt getragen und hat eine effektive Koordination entwickelt. Nummer zwei ist die hohe Anerkennung im Ausland und erfolgreiche Lobbyarbeit auf internationaler Ebene. Tatsächlich ist Swjatlana Zichanouskaja ständig unterwegs, wird sogar auf höchster politischer Ebene von politischen Amtsträgern und Vertretern empfangen. Es ist gelungen, stetige Kommunikationskanäle mit Regierungen aufzubauen. Das dritte Kriterium: Die Oppositionsbewegung ist bemüht, regierungsähnliche Strukturen zu schaffen, die auf Grundlage demokratischer Prinzipien funktionieren. Auch hier sehen wir, dass die Oppositionsbewegung mit demokratischen Aushandlungsprozessen und Vertretungsformen experimentiert. Die russische Oppositionsbewegung beispielsweise macht keinen einzigen Schritt in diese Richtung. Und das letzte Kriterium, das wohl fundamentalste und schwierigste: Jede Oppositionsbewegung kann als erfolgreich angesehen werden, wenn sie effektive Mechanismen entwickelt, um die Verbindung zur Bevölkerung im Heimatland aufrechtzuerhalten.
Kritiker bemängeln, dass die Opposition immer mehr zu einer Interessensvertretung der Exilbelarussen wird und den Kontakt zur Bevölkerung verliert.
An dieser Kritik ist natürlich etwas Wahres dran. Aber die Aufrechterhaltung der Kommunikation mit den Menschen im Land und deren Unterstützung hatte immer hohe Priorität. Es werden ständig neue Mechanismen entwickelt und getestet, um neue Kommunikationskanäle zu schaffen. Als die russische Vollinvasion begann, wurden verschiedene Antikriegs-Initiativen unterstützt, einschließlich der Eisenbahn-Partisanen und der Cyber-Partisanen. Diese Aktivitäten wurden in enger Abstimmung mit dem Büro von Zichanouskaja umgesetzt. Zudem werden ständig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt, um politischen Gefangenen und deren Familien zu unterstützen. Es wird auch mit neuen Plattformen und Kanälen experimentiert, um die Menschen im Land mit Informationen abseits von Propaganda zu versorgen. Ich würde also nicht sagen, dass die Kommunikation mit den Menschen im Land ein völlig weißer Fleck ist. Ja, sie hat ihre Grenzen, weil das Regime derart repressiv ist. Aber die Opposition ist bemüht, diese Grenzen zu verschieben und aufzuweichen.
Lukaschenka hat in letzter Zeit häufiger gesagt, dass sich die Belarussen an einen neuen Anführer gewöhnen müssten. Er will doch nicht etwa zurücktreten?
Diesen Aussagen sollte man nicht ernst nehmen. Er hat in der Vergangenheit ähnliche Aussagen getätigt. Er versteht, dass Belarus eine sehr entscheidende Phase durchläuft. Und dies ist kein guter Zeitpunkt für einen Machtwechsel. Ich würde sagen, dass der Zweck solcher Aussagen im Grunde nur darin besteht, einen sehr ehrgeizigen Teil seiner Eliten in Schach zu halten. Indem er ihnen vermittelt, dass er zwar kein ewiger Anführer ist, dass er aber irgendwann für eine stabile Nachfolge sorgen wird, dass er die Kontrolle hat. Ein Rücktritt oder eine Machtübergabe werden ganz sicher nicht im Rahmen der Wahlen oder in baldiger Zukunft geschehen. Lukaschenka hat Angst, dass, wenn er loslässt, etwas Unvorhergesehenes passieren könnte.
Am gestrigen Donnerstag kam es zu einem großangelegten Gefangenenaustausch zwischen Russland, den USA, Deutschland und anderen Ländern. Insgesamt 24 Personen wurden dabei aus der Haft entlassen und in andere Länder überstellt, darunter die bekannten russischen Oppositionspolitiker Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa, sowie der US-amerikanische Journalist Evan Gershkovich. Der sogenannte „Tiergartenmörder“ Wadim Krassikow wurde bei seiner Ankunft in Russland von Wladimir Putin persönlich in Empfang genommen. Aus belarussischer Haft wurde der Deutsche Rico Krieger entlassen, der ursprünglich zum Tode verurteilt und Anfang der Woche von Alexander Lukaschenko begnadigt worden war.
In Belarus gibt es fast 1400 politische Häftlinge, keiner wurde bei dem Austausch berücksichtigt. Die Enttäuschung bei der belarussischen Opposition ist groß. Warum spielte sie bei der Aktion keine Rolle? Und welche Signale sendet diese Nicht-Berücksichtigung? Dazu zwei Stimmen aus belarussischen Medien.
„Der Westen betrachtet Belarus faktisch als russische Provinz“
In seiner Analyse für das Online-Medium Pozirk äußert der Journalist Alexander Klaskowski die Vermutung, dass Lukaschenko nicht mehr als eigenständig agierender Staatschef wahrgenommen wird.
[bilingbox]Ganz offensichtlich schätzt der Westen – in diesem Fall vertreten durch Deutschland – die politische Eigenständigkeit von Alexander Lukaschenko äußerst gering ein. Einerseits könnten sich seine erbitterten Gegner darüber freuen: Seht her, mit dem Diktator will niemand reden. Andererseits wird mehr und mehr deutlich, dass der Westen Belarus mittlerweile faktisch als russische Provinz betrachtet und vorerst keine Möglichkeit sieht, das Land aus den Fängen des Imperiums zu befreien. Mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Gewiss: EU-Politiker unterstützen weiterhin eine europäische Perspektive von Belarus. Aber de facto schließen sie den eisernen Vorhang und überlassen das Land dem Kreml zum Fraß.~~~Oчевидно, что и Запад — в этом случае прежде всего в лице Германии — крайне низко оценивает политическую субъектность Лукашенко.
С одной стороны, его яростные противники могут порадоваться: вот, с диктатором не хотят разговаривать. С другой стороны, становится все яснее, что Запад фактически стал считать Беларусь российской провинцией, не видит возможности на нынешнем этапе вырвать страну из лап империи. Со всеми вытекающими последствиями.
Да, европейские чиновники продолжают риторически поддерживать европейскую перспективу Беларуси, но де-факто опускают железный занавес, отдают ее на съедение Кремлю. [/bilingbox]
„Kolesnikowa wäre eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen“
Belarus sei für die verhandelnden Parteien nicht „gewinnbringend“ genug, sagt der Politanalyst und Ex-Diplomat Pawel Sljunkin in einem Interview mit dem Online-Medium Zerkalo.
[bilingbox]Sogar unter rein symbolischen Gesichtspunkten wäre es wichtig gewesen, zumindest einen belarussischen Bürger in den Austausch einzubeziehen. Dies zeigt, dass die westlichen Länder Russland für wichtiger erachten als Belarus. Das höchste der Gefühle, was die europäischen Länder [gegenüber den belarussischen politischen Gefangenen] tun können, ist, ihre Solidarität zu bekunden. In diesem zynischen Sinne waren die belarussischen politischen Gefangenen für den Westen im Gegensatz zu Krieger wahrscheinlich nicht „gewinnbringend“ genug. Die Tatsache, dass der Austausch nicht einmal symbolisch Belarussen umfasste, spricht Bände. Maria Kolesnikowa etwa hat lange Zeit in Deutschland gelebt und kehrte 2020 nach Belarus zurück, um sich an der Demokratiebewegung zu beteiligen. Auch sie wäre doch eine würdige Kandidatin für einen Austausch gewesen. Wie es scheint, hat Deutschland aber nicht versucht, sie auszutauschen. ~~~Даже с символической точки зрения было бы важно попробовать включить в обмен хотя бы одного гражданина Беларуси, — отметил он. — Это говорит о том, что западные страны воспринимают Россию как более приоритетную страну, чем Беларусь. И максимум, что могут делать европейские страны [по отношению к беларусским политическим заключенным], — это выражать солидарность. Наверное, в этом циничном смысле беларусские политзаключенные были для Запада недостаточно «выгодны», в отличие от Кригера. Тот факт, что в обмен не включили ни одного беларуса, хотя бы символически, говорит о многом. Та же Мария Колесникова долгое время прожила в Германии и вернулась в Беларусь в 2020 году, чтобы поучаствовать в демократическом движении. Она тоже была бы достойным кандидатом на обмен — но, видимо, [Германия] не стала [пытаться ее обменять][/bilingbox]
Uladsimir Njakljajeu, 1946 in der westbelarussischen Stadt Smarhon geboren, ist einer der bekanntesten belarussischen Dichter und Schriftsteller. In jungen Jahren verbrachte er mehrere Jahre im Fernen Osten Russlands, bevor er Anfang der 1970er Jahre am Moskauer Literatur Institut studierte. Danach arbeitete er in unterschiedlichen Positionen bei journalistischen und literarischen Publikationen. 1976 debütierte er mit dem Gedichtband Adkryzzjo (dt. Entdeckung). Seitdem hat er zahlreiche weitere lyrische Arbeiten und Romane veröffentlicht. 2010 gründete er die gesellschaftspolitische Initiative Sag die Wahrheit! (belaruss. Hawary praudu!), als deren Kandidat er im selben Jahr bei den Präsidentschaftswahlen antrat. Am Wahlabend wurde er von maskierten Männern verprügelt und im Krankenhaus schließlich verhaftet. Nach den Protesten von 2020 und infolge der Repressionen ging er ins Exil.
In seinem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft geht Njakljajeu der Frage nach, ob die Belarussen in ihrer Geschichte genug getan haben, um die Unabhängigkeit ihres Staates zu sichern. Ein Schlüsselfaktor für das weitere Bestehen von Belarus ist für ihn der Ausgang des Krieges, den Russland gegen die Ukraine führt. „Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine“, schreibt er, „das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation.“
Mein Feld ist die Literatur, deren Objekt der Mensch ist, und so betrachte ich für gewöhnlich die Geschichte weniger als Geschichte der Ereignisse, sondern als Geschichte der Menschen, die die Ereignisse schaffen. Das Jahr 2020 war für Belarus ein Ereignis mit hunderttausenden, ja Millionen Menschen. Das Jahr der Augustrevolution, die in Freiheit und Demokratie münden sollte, aber in Unfreiheit und Tyrannei endete. Warum ist es so gekommen, und nicht anders? Wie konnten wir in den 33 Jahren unserer (wenn auch größtenteils formalen) Unabhängigkeit an den Abgrund des Verlusts unseres Vaterlandes gelangen?
Um eine Antwort auf diese Fragen zu finden, fing ich an, einen Roman zu schreiben, über die Ereignisse, deren Zeuge ich war, über die Menschen, die diese Ereignisse initiiert hatten. Ich begann 2021 – und schob es dann auf. Alles war zu nah und zu schmerzhaft, mein Herz krampfte, Tränen flossen. Unter Tränen kann man nicht schreiben. Keinen Roman, und noch viel weniger die Geschichte einer mitleidlosen Zeit.
Nach den Ereignissen von 2020 konnte ich schon deshalb nicht mehr mit ansehen, was in Belarus geschieht, weil mein Herz es nicht verkraftete. Mit anzusehen, wie Sprache, Kultur und Geschichte vernichtet werden, wie das Volk sich über die Welt verteilt, um den Repressionen zu entgehen, das ist keine Emigration mehr, das ist ein Exodus. Wie der historische Auszug der Israeliten, die durch die Wüste und die Herausforderungen des Schicksals gingen und doch zu sich selbst zurückkehrten. Denn sie hatten etwas und jemanden, zu dem sie zurückkehren konnten.
Haben wir das auch? Und wenn ja, wird es noch bestehen, wenn wir uns auf dem Rückweg befinden? Dass der Weg lang sein wird, ist schon jetzt absehbar. Aber werden wir als Belarussen zurückkehren? Nicht nur diejenigen, die im Ausland sind, sondern auch die, die zu Hause geblieben sind – auch dort findet ein Exodus statt. Denn alles, womit wir, wie Wasser und Brot, das Gott mit den Ausgestoßenen teilt, überleben könnten, um unseren Weg durch die Wüste zu gehen, wird vernichtet und ausgemerzt.
Das Schrecklichste daran war, nicht die geringste Möglichkeit zu haben, der Vernichtung entgegenzutreten. Der Schmerz war so groß, dass ich sogar meine älteren Freunde zu beneiden begann, die in die andere Welt gehen durften, ohne sehen zu müssen, wie alles ruiniert wird, wofür sie schrieben – und lebten. Als mir also in Polen angeboten wurde, ein Buch herauszugeben, das in Belarus nicht gedruckt werden konnte, nutzte ich die Gelegenheit. Ich ging nach Polen und setzte mich wieder an den in Minsk begonnenen Roman.
Bis zum Krieg in der Ukraine war etwa die Hälfte des Textes fertig. Mit Kriegsbeginn wurde klar, dass ohne die Ergründung seiner Ursachen keine Antwort auf die Frage möglich war, warum es bei uns so ist, wie es ist. In meinem Text sah ich dieselben konzeptuellen Fehler, die auch in der Politik gemacht worden waren, und musste ihn wieder verwerfen. Ich begann neu, direkt beim Krieg.
Das Schicksal Belarus‘ wurde von jeher durch Kriege bestimmt. So war es im 18. Jahrhundert nach dem Siebenjährigen Krieg und den Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik, im 19. Jahrhundert nach den Napoleonischen Kriegen und im 20. Jahrhundert nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Auch das 21. Jahrhundert ist keine Ausnahme, über das belarussische Schicksal entscheidet der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ein Krieg, in dem Menschen einander töten, die sich bis vor Kurzem Brüder nannten – eine antike Tragödie. Man muss nicht nur ihre Regisseure, Akteure und Dekorateure verstehen, sondern, und das ist das Schwierigste, den antiken Chor, der in den klassischen Tragödien des Euripides, Aischylos und Sophokles das Volk verkörpert, dessen Rolle es ist, die Handlung zu erklären und die Helden vom Standpunkt der Moral her zu beurteilen. Wenn also der antike Chor in Russland dem brüdermordenden Krieg ein Loblied singt, und das Volk in Belarus zuhört und scheinbar zustimmend schweigt (geht mich nichts an), was ist das dann für ein Volk? Maxim Bahdanowitschs Worte „Belarussisches Volk, du bist wie ein Maulwurf, blind und trist“ sind ein emotionaler Seufzer, der nichts zu bedeuten hat. Das Volk ist weder trist noch blind. Es ist einfach historisch so gekommen, dass es noch nicht zum Volk geworden ist. Es hat sich noch nicht lieb genug gewonnen, um ein Volk werden zu wollen.
Wir leiden an Oikophobie. An Unliebe zu uns selbst. Unsere Sprache, Kultur, Geschichte … Fast alles, was nicht Unseres ist, ist in unserer Vorstellung viel besser. Tatsächlich ist das eine Krankheit, an der verschiedene Völker zu verschiedenen Zeiten litten, bei den Belarussen aber ist sie chronisch. Und solange wir uns nicht von dieser Krankheit befreien, uns und alles, was unseres ist, nicht lieben, solange kann uns nichts und niemand dabei helfen, ein Volk, eine vollwertige Nation zu werden.
Letztlich betrifft das nicht nur uns, sondern auch unsere östlichen Nachbarn. Und vielleicht sogar in größerem Maße. In jedem Fall hat niemand je über Belarus geschrieben, wie es die Russen über Russland tun: „Russlands Bestimmung liegt lediglich darin, der ganzen Welt zu zeigen, wie man nicht leben und was man nicht tun sollte.“ (Pjotr Tschaadajew)
Natürlich ist es nicht sehr wissenschaftlich, über die Rolle der Liebe im historischen Prozess der Nationsbildung zu sprechen. Aber ich bin Schriftsteller, kein Wissenschaftler. Und als Schriftsteller weiß ich, dass die beste Literatur diejenige ist, die von der Familie handelt – nehmen wir die Forsyte Saga von Galsworthy oder Krieg und Frieden von Tolstoi. Und nicht nur in diesen Romanen, in allen, die ich las, ob nun von Briten oder Chinesen verfasst, ist die Familie dann Familie, wenn sie auch Liebe ist. Und das Volk ist eine Familie, die Welt ist eine Familie der Völker, alles gründet auf der Liebe – und plötzlich wurde diese Grundlage vom brudermordenden Krieg zerrüttet.
Gott sei Dank sind wir nicht direkt in diesen Krieg eingetreten. Aber die seit Stalins Zeiten ungekannten Repressionen, die nach den Augustereignissen von 2020 begonnen haben – sie sind ein direkter Krieg des Staates gegen sein Volk. Ein Krieg gegen sich selbst. Entweder wir halten ihn auf, oder er wird uns in den nationalen Selbstmord führen. Wie es auch unser Krieg gegen die Ukraine getan hätte.
Die Zukunft von Belarus ohne die Ukraine, das bedeutet die Eingliederung in die Russische Föderation. „Freiwillige Angliederung“ an Russland, „entweder als sechs Gouvernements oder als Belarus im Ganzen“, wie es Putin schon im Jahr 2000 vorschlug, kurz nachdem er Präsident geworden war. Natürlich kann man auch angegliedert existieren (immerhin hatten wir fast zweieinhalb Jahrhunderte irgendwie Bestand, erst im Russischen Imperium, dann in der UdSSR), doch stellt sich in diesem Fall die Frage, ob die Belarussen zur vollwertigen Nationswerdung fähig sind.
In meinem Roman Gej Ben Ginnom, den ich noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine (den damals alle Wissenschaftler, Politiker und Politologen als unmöglich betrachtet hatten) schrieb, gibt es einen Dialog zwischen Stalin und Janka Kupala, unserem Nationalgenie. Stalin sagt: „Das russische Volk ist ein großes Volk, Genosse Kupala. Hätten die Belarussen die Deutschen besiegen können? Oder auch nur die Georgier? Nein. Aber die Russen haben gesiegt. Sie könnten sogar die Ukraine besiegen, wenn sie wollen.“ Kupala fragt: „Warum sollten sie die Ukraine erobern?“, woraufhin Stalin antwortet: „Was heißt hier warum? Weil sie Russen sind.“
Das ist natürlich weder Politik noch Politologie, sondern Literatur. Für die Handlung des Romans ist dieser Dialog gar nicht so bedeutsam, er könnte genauso gut nicht dastehen. Und doch – Kunstwissenschaftler nennen es kreative Intuition – wurde er geschrieben, am Vorabend des Krieges.
Was hat zu diesem Krieg geführt? Es geht bei diesem Krieg gar nicht so sehr um Territorium, nicht um die Krim und den Donbas. Die Ursache liegt viel tiefer: Sie ist zivilisatorisch. Wie schrieb mir ein ukrainischer Dichterfreund in seinem Brief: „Wir sind für sie existenzielle Feinde, und sie auch für uns. Dieser Krieg ist – jenseits seiner tiefen Wurzeln und seiner Tragik – von biblischem Charakter … Entweder wir sie oder sie uns. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Westen ist Westen, und Osten ist Osten – sie kommen nie zusammen“, formulierte der russische Dichter Alexander Blok in Anlehnung an den Engländer Rudyard Kipling. Und wenngleich sich diese Formel auf der Welt langsam verwäscht (wie beispielsweise in Südkorea, wo Ost und West augenscheinlich zusammengehen), so geschieht das in Russland nicht. Von Beginn seiner Staatlichkeit an hat Russland den Osten und sein Postulat „Alle Macht in einer Faust“ gewählt. In der „russischen Welt“ heißt das heute „russische Macht“, ein Konzept, das in der Mitte der 1990er Jahre entwickelt wurde und auf eine Person zugeschnitten ist, die über dem Gesetz steht. Ebenso war es bei den Zaren, bei den Generalsekretären und so blieb es bei den Präsidenten, deren letzter verlauten ließ, die Goldene Horde sei Russland näher gewesen als die „westlichen Eroberer“. Die Ukraine versuchte entschlossen, vorbereitet durch ihre Geschichte, in die Spur der westlichen Zivilisation mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu treten. Das mag nicht der erste Grund sein, aber sicher auch nicht der letzte, der zum Kampf der Zivilisationen führte. Russland hat seinen Weg gewählt, die Ukraine ihren. Belarus hat sich nicht entschieden. Es steht noch immer zwischen den Wegen.
Das führte direkt dazu, dass die Republik Belarus die errungene Unabhängigkeit in keiner Weise nutzte. Ganz am Anfang gab die Unabhängigkeit die Möglichkeit, eigenständige Entscheidungen zu treffen (unabhängig vom stark geschwächten Russland). So konnten die baltischen Staaten Entscheidungen treffen, die sie auf den Weg in die EU führten und dadurch retteten. In Belarus wurden solche Vorschläge weder vom konservativen (kommunistisch-prosowjetischen) Teil der Bevölkerung akzeptiert noch vom demokratischen Teil noch von der Belarussischen Volksfront (damals die stärkste oppositionelle Kraft). Deren Anführer trat für ein völlig unabhängiges Belarus ein, das sich weder der Russischen Föderation noch der Europäischen Union anschließt. In jener Zeit veröffentlichte ich den Artikel Zwischen den Polen, in dem ich fragte: wie kann ein metallisches Körnchen zwischen zwei Magneten im Gleichgewicht schweben? Es ist unmöglich. Ich bekam zur Antwort, das sei in der Physik unmöglich, in der Politik könne das vorkommen.
Das war der erste politische Fehler, den man historisch nennen kann, denn er wurde tatsächlich zum ersten Schritt auf dem Weg zum Verlust der eben erst gewonnenen Unabhängigkeit. Und wie viel Zeit musste vergehen, bis der ukrainische Präsident Selensky, der Belarus der Zusammenarbeit mit dem Aggressor beschuldigte, endlich erklärte: „Europa – das ist der Balkan, das ist Moldau, und es wird auch der Tag Europas kommen für Georgien und der Tag Europas für Belarus.“ Natürlich hätte man Belarus 1991 nicht sofort in die EU aufgenommen. Wie in den baltischen Staaten wäre Zeit nötig gewesen, um die notwendigen Bedingungen zu erfüllen. Aber das wäre für unsere Geschichte keine verlorene Zeit gewesen, so wie es jetzt der Fall ist. Es wäre der gewählte Weg.
Hier kann man nun fragen: Und was ist mit dem Unionsstaat? Ist das nicht der Weg nach Osten? Ist das keine Wahl? Ja, es ist eine Wahl. Aber kein Weg. Denn es ist keine zivilisatorische Entscheidung, sondern eine politische. Und die Politik ist ebenso wechselhaft, wie das Wetter. Den zweiten Fehler machte die Staatsführung des unabhängigen Belarus bei der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens. Ich kannte den damaligen Staatssekretär der Russischen Föderation, Gennadi Burbulis, recht gut; wir hatten uns Anfang der 1980er Jahre in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg) kennengelernt, wo ich den Studenten der Polytechnischen Hochschule Gedichte vortrug, er Vorlesungen über marxistisch-leninistische Philosophie. Ich fragte ihn also, ob während der Unterzeichnung des Belawescher Abkommens (an der er direkt beteiligt war) in irgendeiner Weise die Folgen dieses Dokumentes umrissen wurden? Politisch, wirtschaftlich, sozial? Er antwortete, nichts davon sei besprochen worden, es sei ein „freies Gedankenspiel“ gewesen. Genauso sagte er es, ich werde es meinen Lebtag nicht vergessen: „Es war ein freies Gedankenspiel.“ Und in diesem Spiel entstand die Formulierung: „Die UdSSR als völkerrechtliches Subjekt sowie als geopolitische Realität beendet ihre Existenz.“
Nun gut, sie beendet ihre Existenz. Und danach? Die Vereinbarungen wurden ohne jegliche weitere Absprachen unterzeichnet, ohne Ergänzungen, ohne irgendwelche Garantien seitens der Initiatoren dieses Dokumentes (der russischen Staatsführung). Allem voran Garantien für die Unverletzlichkeit des Staatsgebietes der Ukraine und Belarus‘. Vielleicht haben Jelzin und Burbulis nicht daran gedacht, sie wollten ausschließlich die Machtfrage klären: Sie konnten den Führer der UdSSR, Gorbatschow, nicht absetzen, also nahmen sie ihm das Land, das er führte. Die Unterzeichnenden von belarussischer und ukrainischer Seite, Schuschkewitsch und Kebitsch sowie Krawtschuk und Fokin, hätten aber daran denken müssen. Sie kannten die Geschichte, sie kannten Russland, dessen Außenpolitik zu jeder Zeit entweder Eroberung oder Rückführung „angestammter russischer Gebiete“ gewesen war. Vielleicht stand ihnen zu Zeiten der politischen und wirtschaftlichen Krise nicht der Sinn danach. Aber dennoch hätte man die Frage stellen müssen: Was kommt danach? Welche Garantien gibt es, dass Russland nicht wieder zur imperialen Idee der „Sammlung russischer Erde“ zurückkehrt?
Jetzt ist es dahin zurückgekehrt, Russland „sammelt Erde“.
Man könnte nun sagen: Russland würde ohnehin jegliche Garantie brechen, so wie es auch das Budapester Memorandum missachtet hat. Vielleicht. Aber ich spreche nicht über die Verantwortung Russlands, sondern über die Verantwortung der Menschen, denen die Völker der Ukraine und Belarus‘ ihr Schicksal anvertraut hatten.
Jelzin wollte Gorbatschow, mit dem er noch persönliche Rechnungen offenhatte, so sehr loswerden, dass er jede Garantie unterzeichnet hätte. Aber weder die Staatsführung von Belarus noch die der Ukraine machten Vorschläge. Und hinterher erzählten sie, was für kluge Politiker sie seien, wenn es die von ihnen unterzeichneten Vereinbarungen nicht gäbe, hätte es Krieg gegeben. Dabei haben sie 1991 im Wald von Belawescha den Krieg in der Ukraine 2022 unterzeichnet.
Der dritte historische Fehler wurde bei der Durchführung der ersten Präsidentschaftswahlen gemacht. Anstatt sich auf einen einzigen Präsidentschaftskandidaten der demokratischen Kräfte zu einigen, führte die Opposition einen zwischenparteilichen Kampf, infolgedessen der Abgeordnete des Obersten Sowjets Henads Karpenka (russ. Gennadi Karpenko) seine Kandidatur zurückzog. Genau der Politiker, der Charisma und zudem als Werksdirektor und Kommunalpolitiker die notwendige Autorität einer Führungsperson hatte, um die Wahl zu gewinnen. Dann hätte Belarus gewonnen.
Viele Stimmen behaupten (so zum Beispiel Sjarhej Nawumtschyk in seinen Erinnerungen an das Jahr 1994), Belarus hätte siegen können, wenn bei der ersten Wahl Sjanon Pasnjak gewonnen hätte, bei der zweiten dann Henads Karpenka. Aber das ist politische Fantasy. Wie hätte in einem sowjetisierten Staat ohne Nationalbewusstsein sofort ein Nationalist gewinnen können? Keinesfalls. Es hätte nur umgekehrt kommen können: zuerst der tolerante Karpenka, danach der radikale Pasnjak. Aber keine von beiden Varianten ist eingetroffen, denn alle anderen Beteiligten dieser Ereignisse dachten nicht an Belarus, sondern an sich selbst. Und überlegten, wie sie Karpenka nicht zur Wahl zulassen könnten, noch dazu auf eine, gelinde gesagt, nicht ganz schickliche Weise.
Aleh Trussau, Vorsitzender der Initiativgruppe von Stanislau Schuschkewitsch, agitierte 14 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei Hramada, ihre Unterstützungsunterschriften für Karpenkas Aufstellung als Präsidentschaftskandidat zurückzuziehen. Dem Wahlrecht nach war eine solche „Initiative“ unzulässig. Von den Gesetzen der Moral ganz abgesehen. Gemeinsam mit Aljaxej Dudarau, dem Vorsitzenden von Karpenkas Wahlkampfstab, überredeten wir Karpenka, seine Rechte zu verteidigen, vor der Wahlkommission und vor Gericht, das damals noch ein Gericht war. Aber er lehnte es kategorisch ab (obwohl er sonst kein kategorischer Typ war), vor Gericht zu gehen oder überhaupt mit jemandem über Trussaus „Initiative“ zu sprechen. Er sagte: „Was mit Niedertracht beginnt, endet auch mit Niedertracht. Damit will ich nichts zu tun haben.“
Warum halte ich mich an dieser fast privaten Episode aus unserer jüngeren Geschichte auf? Weil aus ihr, wie aus einer Krebsgeschwulst, die Metastasen der Unmoral gestreut haben. Die Situation mit dem Widerruf der Unterschriften wiederholte sich im dramatischen Jahr 1996, als wieder ein Umbruch möglich gewesen wäre. 73 Abgeordnete unterschrieben einen Antrag an das Verfassungsgericht für ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten wegen Verletzung der Verfassung. Aber zwölf von ihnen widerriefen ihre Unterschriften. Dem Gesetz nach hatte ein solcher Widerruf, wie auch im Fall Karpenka, keine juristische Wirkung, was das Verfassungsgericht auch feststellte. Aber während die Richter mit der Entscheidungsfindung befasst waren, führte Lukaschenka sein Referendum bereits durch, und seine Macht war von nichts und niemandem mehr beschränkt, weder Gericht noch Gesetz galten mehr für ihn. Keiner von denen, die damals erst unterschrieben und dann widerrufen hatten, hat seine Schuld je eingestanden.
Es ist bezeichnend, dass von den 14 Personen, die Karpenka zunächst unterstützten und ihn später verrieten, nur eine Person um Entschuldigung bat, der Dichter Anatol Wjarzinski. Von allen anderen perlte es einfach ab. Bei allen folgenden Wahlen manipulierten und fälschten nicht nur die Machthaber, sondern auch die Opposition. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 sammelte nur einer von neun Oppositionskandidaten die notwendigen 100.000 Unterschriften. Vielleicht auch zwei. Aber auf Grundlage von gefälschten Listen wurden auch alle anderen registriert. So war es auch 2015, als alle Oppositionskandidaten gefälschte Listen einreichten, und 2020, als nur für Swjatlana Zichanouskaja echte Unterschriften gesammelt wurden. Dadurch beteiligte sich die Opposition an der totalen, das Land beherrschenden Täuschung.
„Mit der Lüge kommst du durch die ganze Welt, aber nicht mehr zurück“, sagt der Volksmund. Und genau die Täuschung des Volkes bei den Präsidentschaftswahlen 2020 war es, die die Proteste in eine Revolution verwandelte. Die Revolution mag das politische System und die Regierung nicht geändert haben, aber sie veränderte das Bewusstsein der Bevölkerung, die nicht mehr mit der Lüge leben wollte. Warum hat die Revolution nicht gesiegt? Es gibt mehrere Gründe für die Niederlage – einer davon ist, dass es bei den früheren Massenprotesten (z. B. beim Ploschtscha 2010) zahlreiche politische Führungspersonen anwesend waren, aber zu wenig Kraft des Volkes, um zu siegen. 2020 war es umgekehrt: Es war ausreichend Kraft der Masse, aber es fehlte an Führungspersonen. Diejenigen, die auftauchten, waren unvorbereitet, nicht gewappnet, die Last der Führungsrolle auf sich zu nehmen. Und es fällt schwer, ihnen daran die Schuld zu geben (aus persönlicher Erfahrung weiß ich, wie schwierig es ist), aber …
Die „neue“ belarussische Opposition grenzte sich von der „alten“ Opposition ab, indem sie Polittechnologien einsetzte, wie sie bei der Konfrontation zwischen Macht und Opposition in Armenien erfolgreich gewesen waren, zum Beispiel die Dezentralisierung der Proteste. Keinem der früheren Oppositionspolitiker, die Erfahrung mit der Organisation von Massenprotesten hatten, wurde eine Mitarbeit im Koordiniernationsrat angeboten, obwohl dort niemand solche Erfahrungen mitbrachte. Alle Vorschläge, die auf dieser Erfahrung beruhten, wurden als Bestrebungen betrachtet, die Strategien des Ploschtscha 2010 aufzuzwingen, wovon niemand der neuen Politiker mehr etwas hören wollte: „Wir kommen auf friedlichem Wege an die Macht, ohne Gewalt“. Aber die Mechanismen der Selbstorganisation funktionierten nicht ohne einen Anführer (den es in Armenien damals gab und der nach dem Sieg der Revolution zum Staatschef wurde).
Ploschtscha – das bedeutet nicht unbedingt Gewalt, Barrikaden und Schießerei. Der ukrainische Maidan, zwang den damaligen Staatschef Janukowitsch, der Opposition den Posten des Premierministers anzubieten und neue Parlamentswahlen anzusetzen, noch bevor Barrikaden errichtet wurden. Die Opposition lehnte dieses Angebot ab, was ein Fehler war, der zur Verschärfung des Konfliktes führte – und am Ende zu Schießereien. Das hätte vermieden werden können, hätte man die Angebote der Staatsmacht akzeptiert und den Maidan als Druckmittel verwendet, damit das Versprochene auch umgesetzt wird. Ähnlich hätte man im August 2020 in Belarus vorgehen können (oder es wenigstens versuchen). Aber jetzt ist offenbar, dass darin ein enormes Risiko gelegen hätte.
Russland plante damals wohl bereits den Einmarsch in die Ukraine (was wir nicht wussten), und Belarus war notwendig als Aufmarschgebiet. Daher hätte ein Ploschtscha-Aufstand zu einem Angriff führen können. Bei Smolensk standen russische Panzer in Warteposition, der Krieg hätte bei uns statt in der Ukraine beginnen können. Aber wer weiß schon, was hätte passieren können. Es ist, wie es ist. In der jetzigen Situation ist die Gefahr, Belarus zu verlieren, nicht geringer als in einem Krieg.
Vielleicht hat uns der Versuch der Opposition, auf friedlichem Weg an die Macht zu kommen, vor Blutvergießen bewahrt. Höchstwahrscheinlich ist es so. Aber wo und wann wurde der Weg zur Freiheit je ohne Opfer beschritten? Wann gab es je einen Fall, in dem die Freiheit wie gewonnen so auch gleich wieder zerrann? Weil sie nicht geschätzt wurde, denn sie hatte keinen Preis gehabt?
In meinem Roman sagt eine Person: „Wie wenig wir die Unabhängigkeit schätzten, die uns einfach von Gottes Hand gegeben worden war. Die Mehrheit bemerkte nicht einmal, dass sie da war. Da dachte Gott: ‚Wenn ich ihnen nur aus Liebe die Freiheit schenke, werden sie mit ihr dann so umgehen, wie sie mit der Unabhängigkeit umgegangen sind?‘ Und er sandte uns auf den Opferweg. Gefängnisse, Folter, Exil … Und wer kann sagen, ob dieser Weg leichter oder schwerer ist als der, der nicht gewählt wurde?“
Im Leben geschieht nichts einfach so. Nichts geschieht grundlos. Alles – groß wie klein – hat eine Bedeutung. Die Revolution hat das Bewusstsein verändert, und Gott hat uns auf die Probe gestellt: Den Weg zur Freiheit zu gehen. Auf diesem Weg stehen wir vor einer Vielzahl von Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Diese erste ist: Wann wird es sich ändern? … Wann wird sich ein neues Fenster der Möglichkeiten für uns öffnen?
Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben, wie auch mein Roman. Als ich begann ihn zu schreiben und die Handlungsfäden, die Charaktere und Ereignisse festlegte, anhand derer sich die Gründe für unsere heutige Situation erschließen lassen sollten, kamen etwa ein Dutzend zusammen. Folgenderweise würde ich sie umreißen:
MOTIVATION (sie war bei denen, die an der Macht waren und dortbleiben wollten, um ein Vielfaches höher als die Motivation derer, die an die Macht kommen wollten);
NATION (die noch nicht reif genug ist, um das Nationale als das Eigene zu verteidigen);
UMSONSTKULTUR (Vieles wurde nicht aus eigener Kraft, sondern „kostenlos“, mit russischen Finanzspritzen, erreicht, die letztlich – wie zu erwarten – doch nicht kostenlos waren) und so weiter.
Aber von all diesen Gründe wiegt einer am schwersten, einer, den schon vor langer Zeit Alexander Herzen als prägend für das Schicksal Russlands benannt hat (heute zu lesen als: und für das Schicksal von Belarus, wo das Konzept der russischen Macht, einer über dem Gesetz stehenden Person, in die Verfassung geschrieben wurde): „Der Staat hat sich in Russland wie eine Okkupationsmacht eingenistet. Wir sehen den Staat nicht als Teil von uns, als Teil der Gesellschaft. Der Staat und die Gesellschaft führen einen Krieg. Der Staat – mit Bestrafung, die Gesellschaft – mit Partisanentum.“
Geschrieben vor langer Zeit, aber doch tagesaktuell.
Wissend, dass Herzen den Nagel des zentralen Problems Russlands auf den Kopf getroffen hat, versuchen sich die russischen Propagandisten darin zu übertreffen, das als Fake herauszustellen: Herzen habe das niemals gesagt oder geschrieben. Erstens, selbst wenn Herzen es nicht geschrieben hätte, bliebe es dennoch eine Tatsache. Zweitens kann man es schwarz auf weiß im Sammelband der Zeitung Kolokol lesen, die Herzen im Exil herausgab. Es ist so viel Zeit vergangen, das Russische Imperium hat zwei Mal seinen Namen geändert, aber das, was hinter dem Namen steckt, ist unverändert geblieben. Und genau diese Unverändertheit, wie paradox es auch sein mag, wird zu grundlegenden Veränderungen führen, denn dieses Staatsmodell steht ganz offensichtlich im Widerspruch zur Zeit – und muss aus der Zeit verschwinden.
Verschwinden wird die Russische Macht aus Russland durch zivilgesellschaftliche Aufstände – die unausweichlich sind nach dem ungerechten, brudermordenden Krieg, den nicht das Volk führt, sondern der Staat: eine in Russland installierte Besatzertruppe. Wenn sie verschwindet, öffnet sich auch für uns ein neues Fenster der Möglichkeiten, das wir nutzen müssen, ohne die Fehler zu machen, die am Anfang der Geschichte der unabhängigen Republik Belarus gemacht worden sind.
Warum haben wir diese Fehler nicht vermieden? Die Gründe sind mannigfaltig, einige sind offensichtlich, andere bis heute nicht bewusst. Zu den offensichtlichen Ursachen gehört, dass es bei uns keine Menschen gab, keine Politiker, die für entscheidende historische Ereignisse vorbereitet gewesen wären. Der Staatschef des unabhängigen Belarus war Physiker, zudem gingen Archäologen, Historiker und Literaten in die Politik. Zum allergrößten Teil waren es Menschen mit den besten menschlichen Qualitäten, aber ohne politische Schulung. Nicht nur in der Opposition, sondern auch in der Staatsführung und im Ministerkabinett gab es keine Erfahrungswerte für eine eigenständige Politik, die nicht nach Ost oder West blickt.
Ohne Frage ist das ein wesentlicher Grund, er beeinflusste die Qualität der politischen Entscheidungen, war jedoch nicht der wichtigste. Der bestand darin, dass wir in einer neuen Zeit lebten, aber im Gestern stehengeblieben waren. Das Volk versuchte mehrfach, aus der Vergangenheit herauszutreten, aber der Staat, der bis heute im Gestern existiert, weil er in seiner Form nicht in der neuen Zeit überleben würde, schlug alle Versuche nieder. Die Zukunft von Belarus hing damals und hängt auch heute davon ab, wie schnell das Volk die Vergangenheit hinter sich lässt und dabei den Staat hinter sich herzieht.
„Wie lange dauert es noch? Wann wird das sein?“ – diese Fragen bestimmen unser Schicksal. Nicht morgen. Und ich zitiere noch einmal Herzen: „Man kann das Volk nicht mehr befreien, als es im Inneren frei ist.“ Dieser einzige Weg zur Freiheit ist an keinem Ort und zu keiner Zeit je kurz gewesen.
Die belarussische Demokratiebewegung kämpft im Exil dafür, dass belarussische Themen von der internationalen Staatenwelt gehört werden und nicht unter den Tisch fallen. Zudem ist sie bemüht, sich zu ordnen und ihre eigenen Strukturen zu demokratisieren. Zu diesem Prozess gehörten beispielsweise auch die Wahlen zum Koordinationsrat, die Ende Mai 2024 stattfanden. Der Koordinationsrat sollte eine Art parlamentarische Vertretung von Oppositionsgruppierungen aus Politik oder Zivilgesellschaft werden. Allerdings zeigte die extrem niedrige Wahlbeteiligung, dass viele Belarussen sowohl im Exil als auch im Land selbst offensichtlich andere Probleme haben, auf die die Opposition aber kaum Einflussmöglichkeiten hat. Zudem positionieren sich Belarussen in vielfacher Hinsicht anders als die Demokratiebewegung um Swetlana Tichanowskaja.
An wen richtet sich die belarussische Opposition also mit ihren Forderungen, wen will und kann sie vertreten und was bedeutet der schwierige Spagat zwischen den Interessen der Belarussen im Land und derjenigen im Exil, die als besonders progressiv gelten, für die Zukunft der Demokratiebewegung? Diesen Fragen widmet sich Artyom Shraibman in seiner Analyse.
Gleich vorweg: Verschiedene Gruppierungen innerhalb der belarussischen Opposition geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wessen Meinung sie vertritt. Sie haben zuweilen den Anspruch, je nach Thema unterschiedliche Zielgruppen zu repräsentieren. Wenn es etwa um die Forderung fairer Wahlen, die Befreiung politischer Gefangener und das Ende der Repressionen geht, dann wollen die demokratischen Kräfte immer noch jene Mehrheit repräsentieren, die offensichtlich im Jahr 2020 für Tichanowskaja gestimmt hat.
Geht es um den Krieg in der Ukraine, so versuchen die demokratischen Kräfte, im Namen der überwiegenden Mehrheit der belarussischen Gesellschaft zu sprechen, die – im Unterschied zu den Russen – gegen den Krieg sei. Aus analytischer Distanz betrachtet ist das jedoch manipulativ. Tatsächlich vertritt zugänglichen Umfrageergebnissen zufolge nur ein geringer Prozentsatz der Belarussen die Meinung, belarussische Truppen sollten im Krieg eingesetzt werden. Doch ist die Zahl jener Belarussen, die Russland unterstützen, ebenfalls hoch: Zwischen 30 und 40 Prozent der Belarussen (je nach Formulierung der Frage) finden es gut, wie die russische Armee in der Ukraine vorgeht und dass sie belarussisches Territorium als Aufmarschgebiet nutzt. Einerseits ist das nicht sehr viel, wenn man die Vernichtung der Meinungsfreiheit in Belarus und den enormen Einfluss der russischen Propaganda bedenkt. Aber von einem „antimilitaristischen Konsens“ kann man in dieser Situation nur sehr bedingt sprechen, und zwar, was den Einsatz belarussischer Soldaten im Krieg betrifft. In vielen Aspekten dieses Themas sind die Belarussen gespalten und alles andere als einig.
Wen die demokratischen Kräfte adressieren
Wenn man der Frage genauer nachgeht, wie ein Ende des Kriegs aussehen könnte, dann vertreten die Tichanowskaja nahen Demokraten mit ihrer Meinung nur eine Minderheit der Belarussen. Mehr als die Hälfte der Befragten wünscht sich ein sofortiges Einfrieren des Konflikts an den aktuellen Frontlinien, und ein weiteres Viertel wünscht sich einen Sieg Russlands. Weniger als 15 Prozent der Städter (die Umfragen werden in der urbanen Bevölkerung durchgeführt) sagen offen, dass der Krieg mit einem klaren Sieg der Ukraine enden soll. Und sogar wenn man den häufig zitierten Faktor Angst ausklammert, bleiben die eindeutig proukrainischen Ansichten der Opposition trotzdem klar in der Minderheit1.
Auch in anderen Fragen können die demokratischen Kräfte im Exil nicht behaupten, die Mehrheit der Belarussen zu repräsentieren, sondern eher nur die aktive prowestliche Minderheit. Hierzu gehören die europäische Integration, der Ausstieg aus allen Bündnissen mit Russland, der Status des Belarussischen als einziger Amtssprache und schließlich die Ausweitung der Sanktionen gegen Belarus bis hin zu einem Handelsembargo – wohl die unbeliebteste aller hier aufgezählten Ideen. Manchmal sieht es aus, als würde die Demokratiebewegung in manchen dieser Fragen zwar nicht unbedingt absichtlich die gesellschaftlich unbeliebtesten Lösungen bevorzugen, aber durchaus eine historische Mission verfolgen: heute strategische Ziele zu formulieren, um sie in Zukunft zur mehrheitsfähigen Meinung zu machen. Darin zeigt sich der Wille, eine ganz besondere soziale Gruppe zu vertreten – die „Belarussen der Zukunft“, die „nachziehen“, sich also der heutigen prowestlichen Minderheit und ihren Standpunkten annähern werden. Und zum Teil zielen die Aktivitäten der Opposition auch darauf ab, die Diaspora zu vertreten – sei es mit der Idee zu einem „Pass des neuen Belarus“, mit dem Aufbau alternativer staatlicher Organe im Exil oder dem Kampf für bessere Aufenthaltsbestimmungen der Belarussen im Westen.
Der Faktor Westen
Hinter diesem komplizierten Gespinst aus Positionen verbirgt sich ein weiteres Element, ein delikateres, über das man nicht laut spricht — die Interessen westlicher Länder, die der Opposition entweder Asyl gewähren oder über internationale Stiftungen ihre Arbeit finanzieren. Es gibt keine überzeugenden Beweise, dass westliche Akteure den demokratischen Kräften irgendwelche Positionen aufzwingen würden. Doch die belarussischen Exilpolitiker müssen die Interessen ihrer Partner durchaus berücksichtigen. Manchmal stehen diese Interessen den Vorstellungen der überwiegenden Mehrheit der Belarussen entgegen – zum Beispiel beim Thema Mobilität. Die Belarussen, die vor der Covid-Pandemie die Nation mit den meisten Schengen-Visa pro Kopf waren, wollen möglichst offene Grenzen zur EU. Aber die westlichen Nachbarn von Belarus reagieren auf die Provokationen, die Minsk an den Grenzen veranstaltet hat, und auf die Rolle von Belarus im Krieg mit Schließung von Grenzübergängen. Litauen versucht sogar, den Zustrom der Belarussen zu stoppen, indem es den Busverkehr teilweise einstellt.
Für die demokratischen Kräfte ergibt sich daraus ein Interessenkonflikt. Swetlana Tichanowskaja und ihre Anhänger müssen sich einerseits loyal verhalten gegenüber jenen Belarussen, die in die EU reisen möchten, und gleichzeitig rechtfertigen, dass ihre Nachbarländer die Grenzen zu Belarus schließen. Dieser Spagat führt dazu, dass innerhalb der Opposition Gruppen entstehen, die Tichanowskajas Mannschaft vorwerfen, sich zu wenig gegen den „eisernen Vorhang“ an der Westgrenze von Belarus einzusetzen. Gleich mehrere solche Koalitionen („Listen“) traten bei den Wahlen zum Koordinationsrat der Opposition am 25. bis 27. Mai mit dem Versprechen an, den internationalen Lobbyismus in Fragen der Mobilität zur obersten Priorität zu machen.
Das Ende der Ad-hoc-Koalition
In der Demokratie werden solche Probleme im Zuge von Wahlen gelöst: Parteien, die mit sich selbst beschäftigt sind und den Kontakt zur Masse der Wählerschaft verlieren, bekommen weniger Stimmen und büßen ihre Macht ein. Ein solcher Rotationsmechanismus fehlt bei den belarussischen Demokraten. Es ist schwierig, sich auf Wahlen zu verlassen, die nur im Ausland stattfinden können. Repräsentanten, die vom politisch aktivsten Teil der Diaspora gewählt wurden, sind möglicherweise noch weiter von den Interessen des Durchschnittsbelarussen entfernt als die derzeitige Regierung in Belarus. Insofern sucht sich jede politische Kraft selbst ihre Zielgruppe aus, deren Interessen sie vertreten will. Ob sie auf das richtige Pferd setzt, wird die Geschichte zeigen. Diese kennt sehr wohl Beispiele für eine triumphale Rückkehr politischer Emigranten aus dem Exil, die sich auf die Arbeit mit einem aktivistischen Kern konzentriert und die Verbindung zur Mehrheit ihres Volkes scheinbar schon verloren hatten. Solche Beispiele sind jedoch eher die Ausnahme von der Regel, die nahelegt, dass der Wandel in Belarus eher von neuen Kräften angetrieben werden wird, die innerhalb des Landes entstehen werden, sobald sich das nächste Fenster historischer Volatilität auftut.
Doch dieses Dilemma wirft noch eine andere Frage aus der politischen Philosophie auf: Wie weit soll sich die Exil-Opposition überhaupt von den Schwankungen der öffentlichen Meinung in ihrem Heimatland beeindrucken lassen? Die Koalition jener, die 2020 Tichanowskaja unterstützt haben, ergab sich in vielerlei Hinsicht aus der Situation. Das war keine Revolte einer konkreten Gesellschaftsschicht, einer demografischen Gruppe oder von Anhängern einer bestimmten Ideologie. Vielmehr war es ein Ausbruch allgemeiner Empörung angesichts Gewalt, Lügen und Wahlfälschung vonseiten des Staates. Das angestaute Verlangen nach respektvoller Behandlung hatte sich mit dem Überdruss an Lukaschenko gepaart. Doch es war eine Koalition völlig unterschiedlicher Menschen, die sich zu einem konkreten Zeitpunkt als Reaktion auf konkrete Handlungen des Regimes gebildet hatte.
Es wäre naiv anzunehmen, man könne diese bunte und spontane Koalition einer belarussischen Mehrheit ewig aufrechterhalten. Sogar in einem Land mit normalem politischem Wettbewerb müssen bei neuen Wahlen die Sieger der vorangehenden Wahlen wiederum versuchen, eine Mehrheit zu überzeugen, und den Menschen neue Gründe anbieten, warum sie ihnen auch in der aktuellen Situation ihre Stimme geben sollen. Doch in Belarus gibt es jetzt und wohl auch in nächster Zukunft keine politische Konkurrenz, keinen Kampf um die Macht durch Überzeugung von Mehrheiten. Das heißt, dass die Opposition allein schon aus technischen Gründen keine neue „Siegerkoalition“ bilden kann. Man kann zu jeder beliebigen Frage – von Sanktionen über Neutralität bis hin zur Wirtschaftspolitik – so populäre oder gar populistische Positionen einnehmen, wie man will – solange es im Land keinen politischen Wettbewerb gibt, wird die Opposition nichts davon haben.
Deswegen werden die Belarussen keine neuen Möglichkeiten zum politischen Handeln bekommen. Und das Fenster zu diesen Möglichkeiten wird nicht aufgehen, nur weil die Oppositionsführer im Exil anfangen, in ihren Reden beliebtere Thesen zu verkünden.
Das Dilemma unterschiedlicher Meinungen innen und außen
Wie paradox das auch klingen mag: Es ist unklar, welchen politischen Nutzen die Opposition daraus zieht, wenn sie den Ansichten der heutigen belarussischen Mehrheit folgt. Welche Risiken eine solche Herangehensweise für die Exilstrukturen darstellen würden, ist hingegen nicht schwer zu erahnen.
Erstens: Der Versuch, sich im Einklang mit der Mehrheit der Belarussen im russisch-ukrainischen Krieg neutral zu verhalten, zum sofortigen Waffenstillstand aufzurufen oder gegen die Sanktionen einzutreten, würde die Verbindung der Opposition zum proukrainischen und proeuropäischen Kern der demokratisch gesinnten Belarussen schädigen, die zu all diesen Fragen ganz klar Position beziehen. Genau jene oppositionell gesinnten Menschen arbeiten in politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Exil und in Redaktionen unabhängiger Medien und bilden die Diaspora, die von der Opposition eine Vertretung ihrer Interessen fordert. Anders gesagt, das Bemühen, dem durchschnittlichen Belarussen zu gefallen, würde beim prodemokratischen oppositionellen Kern auf Frustration und Ablehnung stoßen.
Zweitens würde eine Übernahme der in Belarus populärsten Ansichten in einer Situation des Kriegs und der scharfen Trennung in „Unsere“ und „Fremde“ eine effektive internationale Politik der Demokraten in Europa verunmöglichen. Eine Swetlana Tichanowskaja, die eine Aufhebung der sektoralen Sanktionen fordert, oder ein Pawel Latuschko, der zu Neutralität und einem sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine aufruft, könnten nicht nur mit den ukrainischen, sondern auch mit den meisten westeuropäischen Beamten und Diplomaten nicht mehr normal reden. Sogar ihr Aufenthaltsrecht in Vilnius und Warschau könnte dann in Zweifel gezogen werden.
Ehrliche Abkehr von der Idee einer Exilregierung
Wahrscheinlich wird es mit der Zeit die organischste Entscheidung für die Opposition im Exil sein, sich in die Nische der moralischen Autoritäten zurückzuziehen, der Meinungsführer und internationalen Anwälte von Belarus, die nicht von der Konjunktur der aktuellen öffentlichen Meinung im Heimatland abhängig sind. Das würde ihnen erlauben, ungeschminkt ihre Überzeugungen zu verfechten, die Interessen ihrer heutigen Anhänger und der Diaspora zu vertreten und nicht mehr so tun zu müssen, als würde die historisch präzedenzlose Mehrheit von 2020 noch immer in allen Fragen den demokratischen Kräften folgen. Natürlich würde dies eine bescheidenere Positionierung bedeuten und eine Abkehr von der Idee einer „Exilregierung“ mit dem Anspruch, die Interessen aller oder der meisten Belarussen zu verteidigen. Doch eine solche Positionierung wäre wenigstens ehrlich – sowohl den internationalen Gesprächspartnern als auch ihren heutigen tatsächlichen Anhängern gegenüber.
1.Forschungen schätzen die Verminderung der Zahl der proeuropäischen und proukrainischen Antworten auf 3 bis 16 Prozentpunkte ein. ↑