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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Ein bisschen Frieden

    Ein bisschen Frieden

    Spot an, die halbe Welt schaut zu: Die ukrainische Krim-Tatarin Jamala gewinnt den Eurovision Song Contest 2016 – nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit Russland und mit einen Lied, das die leidvolle Geschichte ihres Volkes unter Stalin besingt. „Zu politisch“, kritisierten manche, die den Song auch als eine Anspielung auf die Situation der Krim-Tataren heute verstehen.

    Andrej Archangelski befindet auf Colta.ru: Ja, der ESC ist politisch. Und das ist gut so.

    Derzeit begegnen Millionen russischer Fernsehzuschauer einmal jährlich dem realen Europa – wortlos, wie Stierlitz seiner Frau. Millionen russischer Fernsehzuschauer haben Gelegenheit – ohne ideologische Interpretation und in natürlicher Umgebung – eben jene Europäer anzuschauen. Die uns unsere Identität nehmen wollen und denen deswegen der Untergang droht. Europa wirkt dabei ziemlich einheitlich: einander ähnelnde Frauen in glitzernden Roben, beziehungsweise Männer in gestreiften Jacketts mit lustigen Fliegen.

    Der will uns vernichten? Der mit der Streifenhose und dem lustigen Namen?

    Die Bilder vom ESC müssten im Prinzip hart aufeinanderprallen mit dem, was der Fernsehzuschauer täglich von Europa zu sehen und hören bekommt. Im Prinzip müsste er sich fragen: Das also sind unsere Feinde? … Die sollen uns vernichten wollen? … Der da? Mit seinem Propeller und der Streifenhose und dem lustigen Namen? …   

    Doch die Moderatoren schlagen an diesem Tag tatsächlich einen anderen Ton an als sonst. Als ESC-Kommentator muss man, abgesehen von der grundlegenden Intonation, auch auf die Spielart achten – wie in einer Partitur: „wohlwollend, aber mit leichter Ironie“ oder „mit einem Anflug von Ärger“. All diese Nuancen wurden bereits in der sowjetische Sprecherschule erarbeitet,  Vorbilder gibt es also genug. Doch eines ist klar – diese Sendung bleibt harmlos (krass wird’s erst morgen). 

    Es ist eine heikle Arbeit: Millionen von Zuschauern wissen zu lassen, dass die Eurovision in unserem Fernsehen „eine vorübergehende Erscheinung“ ist, „ein Spiel“, „ein Muss“ – und dabei mit der Stimme regelrecht zu zwinkern. Und all das nur, weil es der russischen Staatsmacht kurioserweise immens wichtig ist, den Wettbewerb derjenigen zu gewinnen, deren Lebensstil sie erklärtermaßen verachtet.

    Worte, wie in Bronze gegossen

    Der Sieg Jamalas war für alle überraschend (deswegen ist ein Wettbewerb ein Wettbewerb), für das russische Fernsehen aber ganz besonders. Bei der Jurywertung war ja mit riesigem Abstand Australien auf Platz 1 gelandet, beim Publikumsvoting Russland.

    „Die Politik war am Ende stärker als die Musik“, so begann der Moderator bei Rossija 1 Boris Kortschewnikow seinen Kommentar zum Ergebnis. Bis zum nächsten Morgen waren diese Worte in Bronze gegossen, wie auch folgende fixe Formulierungen: „Die Völker Europas haben für den russischen Interpreten gestimmt“, und: „Die Abstimmung war politisch“. Für die Propaganda eine tadellose Formel.

    Hier können uns Linguisten weiterhelfen: Das Wort „Politik“ gehört in Russland dem Staat. Er hält 99 % der Aktien an diesem Wort. Als psychologischen Abwehrmechanismus auf dieses unnatürliche Monopol entwickeln die Menschen seltsame Konzepte, an die sie irgendwann selbst glauben, wie etwa: „Kultur und Politik existieren unabhängig voneinander“, Kultur oder Sport „sollen nicht politisch sein“.

    Wenn man das so sagt, kann man genauso gut sagen: „Kultur und Sport dürfen nicht den Menschen gehören“, denn Politik umfasst sowohl Sport als auch Kultur.

    Bei einem Menschen oder einem Ereignis das Politische vom Nichtpolitischen zu trennen, ist äußerst schwierig. Und wozu auch? Wenn das Politische doch ursprünglich das „Menschliche“ bedeutet.

    Natürlich ist der ESC politisch – das ist weder ein Geheimnis, noch ein Problem

    Die schreckliche Wahrheit ist, dass der Eurovision Song Contest tatsächlich politisch ist – doch ist das weder ein Geheimnis, noch ein Problem. Und zwar genau deswegen, weil Politik eigentlich den Menschen gehört und niemand Angst vor ihr hat.

    Der Wettbewerb ist schon allein dadurch politisch, dass jede Abstimmung von Millionen Menschen über eine beliebige Frage auch immer ein Plebiszit ist. Und wird auf einen Staat Einfluss haben. Allein durch seine Existenz glättet der Wettbewerb internationale Wogen, bringt Menschen auf andere Gedanken.

    Wenn 26 Länder einander Herzchen und Likes schicken – klar ist das Politik. In ihrer neuen Bedeutung, wo im Zentrum der Mensch steht, und nicht der Staat. Dass einige Länder nie für bestimmte andere voten – auch das ist Politik. Wie im übrigen auch, dass manche Punkte als symbolische „Bitte um Verzeihung“ zu verstehen sind (Deutschland hat seine 12 Punkte Israel gegeben) – auch das wird keine musikalische Bedeutung haben.

    Vielleicht geht das als „erster Schritt zur Versöhnung“ in die Geschichte ein

    Dass die Ukraine und Russland einander im Publikumsvoting „wieder, als ob nichts gewesen wäre, wie damals“ fast die höchste Punktzahl gaben (Russland der Ukraine 10 Punkte, die Ukraine Russland 12) – das zeigt, dass die Eurovision geschafft hat, was bisher niemandem gelungen ist.

    Gott sei Dank gibt es diese Art von Politik. Beten sollte man für eine solche Politik, auf die Knie fallen vor ihr. Dass der russische Sänger der ukrainischen Sängerin zum Sieg gratulierte – wer weiß, vielleicht geht das als erster Schritt zur Versöhnung in die Geschichte ein, und insofern ist Sergej Lasarew durchaus ein Sieger, aber in einem anderen, wichtigeren Sinn – dem moralischen.    

    Der politische Konflikt zwischen Russland und der Ukraine wurde eins zu eins auf die Musik übertragen. Und dabei wohlgemerkt nicht geglättet, dafür ganz und gar ins Menschliche gedreht. Natürlich konkurrierten nicht die Sänger, sondern das Image des jeweiligen Landes. In diesem Wettkampf hat die Ukraine gesiegt. Weil (zumindest) in der heutigen Kultur ein Opferkult und kein Siegerkult vorherrscht, was Michail Jampolski sehr treffend beschreibt.

    Heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern

    Das ist für die russische Propaganda eine wertvolle Lektion – heute gewinnt man nicht mit Panzern, sondern mit Liedern. Mit dem Ergebnis, dass die Ukraine wieder weltweit im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der nächste Songcontest ist ein Garant der Sicherheit für die Ukraine, denn jetzt werden alle teilnehmenden Länder, einschließlich Russland, daran interessiert sein, dass die Ukraine ein sicherer Ort ist.

    Mit anderen Worten: Der Sieg der Ukraine bedeutet die Legitimität der Ukraine. Und diese Tatsache wird, um es mit dem sowjetischen Agitprop zu sagen, manch heißen Kopf herunterkühlen.

    Schon jetzt gibt es rhetorische Figuren: Teilnehmen oder nicht teilnehmen, und wenn ja, mit wem (еine Variante wäre Schnur von der Petersburger Gruppe Leningrad). Das wird nun  eine politische Entscheidung, und gefällt wird sie nicht im Fernsehen.

    Wenn es heißt, nächstes Jahr braucht Russland einen Künstler „mit so einem Lied, wie Jamala“, der bitte auch von tragischen Vorfällen singt (gemeint sind etwa die tödlichen Ausschreitungen in Odessa 2014), dann vergisst man komplett die unterschiedlichen Auswahlverfahren in Russland und der Ukraine.

    Russland will vorerst „weiter mitspielen“

    Jamala gewann aufgrund einer landesweiten Abstimmung, sie hatte starke Konkurrenz und setzte sich mit nur wenig Vorsprung durch: Eben weil es riskant ist, mit so einem Lied an einem Wettbewerb für Unterhaltungsmusik teilzunehmen. Doch ein Künstler kann ein solches Risiko eingehen, ein Staat nicht.  

    In Russland wurde der diesjährige Kandidat von einem TV-Sender ausgewählt; das wird wahrscheinlich auch nächstes Jahr so sein – und die Bürokratie trifft keine riskanten oder extravaganten Entscheidungen. Am ehesten wird es ein Kompromiss werden, eine möglichst neutrale Variante. Für das „Teilnehmen“ hat sich bisher (gleich nach dem Finale, das ist wichtig) die erste stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses der Staatsduma, Jelena Drapeko, ausgesprochen. Ein gutes Zeichen: Man will also vorerst „weiter mitspielen“ und nicht die Welt ignorieren.    

    Die Welt ignorieren funktioniert ohnehin nicht. Unmöglich. Das ist das wichtigste Ergebnis des Eurovision Song Contest – für Russland. Natürlich nur, wenn es fähig ist, das zu verstehen.

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  • „Das fehlte noch, die Schwulen schützen“

    „Das fehlte noch, die Schwulen schützen“

    Die Nachricht vom Mord an dem bekannten Journalisten Dimitri Zilikin erschütterte Ende März die russische Medien-Community. Zilikin, der unter anderem für Vedomosti und den Kommersant geschrieben hatte, war in seiner Petersburger Wohnung tot aufgefunden worden. Er war an dutzenden Messerstichen verblutet. Der Täter hatte außerdem Computer und Handy gestohlen und nach der Tat die Wohnungstür von außen verschlossen.

    Es sind Codes wie dieser, die alle kennen: Ein alleinstehender Mann, den man tot in seiner eigenen Wohnung findet. Alles deutet auf ein Gewaltverbrechen hin, oft ist das Opfer zuvor beraubt worden. Die Publizistin Masha Gessen beschreibt in der New York Times in ihrem Artikel The Art of Reading Russian Obituaries (Die Kunst, russische Todesanzeigen zu lesen) diese Verschlüsselung von Gewaltverbrechen gegen Homosexuelle in Russland. Jeder weiß, worum es geht, aber keiner spricht darüber.

    Die geringe Akzeptanz von LGBT spiegelt sich auch in dem im Juli 2013 erlassenen Gesetz, das so genannte homosexuelle „Propaganda“ unter Strafe stellt – etwa eine positive Äußerung über Homosexualität in Anwesenheit von Kindern oder Minderjährigen.

    Colta.ru holt in vier Interviews mit einem Polizisten, einer Juristin und zwei schwulen Männern, die selbst Opfer homosexuellenfeindlicher Gewalt wurden, das Phänomen aus der Tabuzone.

    Foto © Roman Jandolin / ITAR-TASS/Interpress
    Foto © Roman Jandolin / ITAR-TASS/Interpress

    Alexej Lewaschtschew, Wirtschaftler

    Der Überfall geschah auf der Wassiljewski-Insel in Sankt Petersburg am 22. November 2015 gegen neun Uhr abends, im Tutschkow Pereulok. Nicht weit von der Metrostation Sportiwnaja. Ich trat aus dem Gebäude, in dem das LGBT-Filmfestival Bok o Bok („Seite an Seite“) stattfand, und ging Richtung Metro. Ich war allein.

    Plötzlich sah ich mich von irgendwelchen Typen umringt, von vorn versperrte mir so ein junger Muskelprotz den Weg, einer mit Schnurrbart. Das war nicht irgendein normaler Kerl, das war so ein Kampfsporttyp. Und hinter mir, wie wenn die Welpen auf die Jagd mitgenommen werden, so Jungsche. Wolfswelpen. Die werden mitgenommen, damit sie lernen, wie man jemanden angreift. Vielleicht waren sie noch nicht mal volljährig.

    Sie haben mehr als sieben Minuten lang auf mich eingeschlagen. Wie viele es waren, kann ich nicht mehr genau sagen

    Die Typen sahen alle slawisch aus, keine Spur kaukasisch. Es war ein Gefühl wie im Krieg: die werden dich töten, einfach, weil du Soldat bist. Also es hat keiner mit mir gesprochen. Der Typ, der mir den Weg versperrte, sagte so was wie „Hallo Schwuchtel“ oder „Hier nimm das, du Schwuchtel“. Dann habe ich die Arme vor dem Gesicht verschränkt und nichts mehr gesehen.

    Zwei Rippen haben sie mir gebrochen und die Nieren verletzt. Sie haben mehr als sieben Minuten lang auf mich eingeschlagen. Wie viele es waren, kann ich nicht mehr genau sagen. Als ich mich losreißen konnte, drehte ich mich um – da standen mindestens zehn Leute und skandierten: „Gute Schwuchtel – tote Schwuchtel“.

    Ich nahm die Beine in die Hand, rannte bis zur Uferstraße und rief sofort die Polizei. Wie ich gehörte habe, kam die Polizei später auch, doch sie fanden niemanden mehr vor, was offenkundig auch gar nicht ihr Interesse war.

    Der Rettungswagen las mich auf der Straße auf und brachte mich ins Marijnski-Krankenhaus. Sowohl den Ärzten als auch der Polizei erklärte ich, dass es sich um einen homophob motivierten Übergriff gehandelt hat. Mit der Polizei sprach ich am Tag des Überfalls allerdings lediglich am Telefon. Persönlich konnte ich die Ermittlerin erst eine Woche später treffen. Sie hieß Olga. Bei ihr machte ich im Beisein meiner Anwältin auch eine ausführliche schriftliche Aussage.

    Mir ist generell nicht wohl, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Ich bin ja ein sowjetischer Mensch, ich weiß nur zu gut, was die von LGBT halten

    Als ich bei der Polizei eintraf, war die Atmosphäre unangenehm. Ich hatte lauter Verletzungen, fühlte mich unbehaglich. Mir ist generell nicht wohl, wenn ich mit der Polizei zu tun habe. Ich bin ja ein sowjetischer Mensch, 50 Jahre alt bin ich jetzt, und ich weiß nur zu gut, was die bei der Polizei von LGBT halten.

    Die Polizisten sahen mich argwöhnisch und später geradezu feindselig an. Olga unterhielt sich kurz mit mir, gab mir drei Blätter, auf denen ich die Geschehnisse beschrieb. Sie nahmen meine Anzeige auf, doch die Täter wurden praktisch nicht gesucht. Selbst ein Strafverfahren leiteten sie erst auf Antrag meiner Anwältin ein, und zwar wegen „leichter Körperverletzung“ und ohne Hinweis auf den strafverschärfenden Umstand, dass es sich um ein Hassverbrechen handelte.

    Nach einiger Zeit wurde das Verfahren eingestellt, da die Identität der Täter „letztlich nicht festgestellt werden konnte“. Meine Anwältin legte bei der Staatsanwaltschaft Berufung ein, der Fall wurde anhand desselben Paragraphen noch einmal wiederaufgenommen, später aber auch wieder eingestellt.

    Zu Sowjetzeiten war die Miliz Homosexuellen gegenüber feindlich eingestellt, Homosexualität galt als Verbrechen. In den 90ern wurde das etwas besser, aber in den 2000er Jahren war alles wieder beim Alten.

    Maria Koslowskaja, Juristin der Petersburger Menschenrechtsorganisation LGBT-Netz

    In Petersburg setzte etwa 2012 eine Welle der Gewalt gegen Homosexuelle ein, die Situation hat sich deutlich verschärft. Vorher kamen Übergriffe wesentlich seltener vor, und selbst wenn es welche gab, sprang einem daraus nicht unverhohlene Homophobie entgegen. Die Täter sagten nicht: „Ich schlage dich, weil du schwul bist.“  Jetzt verteidigen sie das Anti-Propagandagesetz, und der Zusammenhang zwischen diesem Gesetz und der Zunahme an Gewalt gegen LGBT liegt auf der Hand. Das Gesetz wird als Zeichen aufgefasst, dass solche Gewalt zulässig ist.

    Der Zusammenhang zwischen dem Anti-Propagandagesetz und der Zunahme der Gewalt gegen LGBT liegt auf der Hand

    Häufig handelt es sich um organisierte Kriminalität, um Erpressung. Oftmals gehen die Täter so vor wie früher die Bewegung Occupy Pedofiljaj („Occupy Pädophilie“): Auf Online-Kontaktseiten (der letzte Fall, mit dem wir befasst waren, lief über die Mobile Dating–App Grindr), manchmal auch in sozialen Netzwerken wie VKontakte, wird ein Fake-Profil eines – meist zwischen 18 und 20 Jahre alten – jungen Mannes erstellt. Dann wird das Opfer zu einem Date eingeladen, wobei darauf bestanden wird, dass es irgendwohin zu Besuch kommt. Dann lotsen sie es in eine Wohnung.

    Nach einer Weile kommt eine Gruppe junger Männer herein, manchmal mit Kamera, und sie fangen an, den Betroffenen zu beleidigen, Geld von ihm zu erpressen, sie nehmen ihm sein Telefon ab, schüchtern ihn ein, drohen, ihn in der Verwandtschaft und vor Kollegen anzuschwärzen, wenden physische Gewalt an.

    Oft nehmen sie ihm seine Sachen ab: Handtasche, Handy, Pass, elektronische Geräte. Wenn derjenige eine Bankkarte hat, wird er zum Geldautomaten eskortiert.

    Es gab Fälle, in denen die Täter dem Opfer den Pass abgenommen haben und später für die Rückgabe Geld forderten. Die extreme Form dieser Praxis sieht so aus, dass die Treffen von vornherein einzig mit dem Ziel der Gewalt und Misshandlung organisiert werden.

    Nicht nur, dass die Polizei in Fällen, die sie als „ausgedacht“ betrachtet, oft keine Anzeige aufnehmen will, sie beleidigt die Opfer auch noch

    In den meisten Fällen wollen die Opfer nicht zur Polizei gehen. Sie sind eingeschüchtert, haben Angst ihre sexuelle Orientierung zu offenbaren, darum wenden sie sich an uns.

    Ich selbst habe einmal jemanden begleitet, dem sie den Pass abgenommen hatten, wir gingen zur Polizei, um Anzeige zu erstatten. Der Ermittler saß da und hielt sich an irgendwelchen nebensächlichen Details auf, dann schlug er vor, den Täter anzurufen, der natürlich nicht abnahm.

    Sein Kollege kam aus dem Dienstzimmer und ich hörte, wie er im Flur laut lachte und zu jemandem sagte: „Jetzt kommen hier die Schwuchteln zu uns – das fehlte noch, dass wir die schützen …“ Der Mann, der der Misshandlung und Erpressung ausgesetzt gewesen war, hörte alles mit.

    Nicht nur, dass die Polizei in Fällen, die sie als ausgedacht betrachtet, oft keine Anzeige aufnehmen will, sie beleidigt die Opfer auch noch. Von allen von uns zur Anzeige gebrachten Fällen wurde nicht in einem einzigen ordnungsgemäß ermittelt.

    2015 hat unsere Organisation LGBT-Netz 284 Fälle von Gewalt und Diskriminierung dokumentiert. Insgesamt haben im vergangenen halben Jahr 107 Menschen uns um Rechtsbeistand ersucht.

    Ein Unterleutnant der Polizei, Abschnittsbevollmächtigter im Nordöstlichen Verwaltungsbezirk von Moskau (auf eigenen Wunsch anonym)

    In meiner Dienstpraxis gab es das nicht, Hilfsgesuche von Homosexuellen. Aber ich habe auch nie gehört, dass man ihre Anzeigen einfach unter den Tisch fallen lässt. Weder von meinen Kollegen noch im Fernsehen habe ich so etwas gehört.

    Wir haben unsere Arbeit, und die erledigen wir, egal, welchem Glauben ein Mensch anhängt, welchen Lebensprinzipien oder welcher sexuellen Orientierung, das macht im Prinzip keinen Unterschied.

    Ich finde Homosexualität nicht gut. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Man muss die alle kaltmachen oder so

    Wenn hier zwei Schwule ankommen, die man verprügelt hat, dann nehme ich ihre Anzeige auf. Schließlich sind sie genauso Bürger wie alle anderen. Meine Meinung habe ich dabei sicher im Hinterkopf, aber meine Arbeit, die erledige ich. Wir haben ja auch noch Instanzen über uns, die uns auf die Finger schauen.

    Generell habe ich allerdings meine eigene Position, was das angeht. Ich finde  Homosexualität nicht gut. Aber es ist nicht so, dass ich sagen würde: Man muss die alle kaltmachen oder so. Ich weiß, dass diese Leute existieren, so in ihren eigenen Kreisen. Bitte,  da sollen sie leben, wie es ihnen passt. Hauptsache, sie tragen das nicht in die breite Gesellschaft.

    Solange sie sich in meiner Gegenwart genauso benehmen wie ganz normale Menschen, sich nicht mehr herausnehmen als jeder normale Mensch – solange ist mir das egal. Aber irgendwelche Zärtlichkeiten, oder wenn sie  sich gegenseitig anfassen und ich bin dabei – das lasse ich nicht zu.

    Wenn sie sich küssen – das ist echt abstoßend und unanständig, das will ich nicht, in meinen Augen ist das pervers, und dafür muss man sich irgendeinen Paragraphen ausdenken. Das Gesetz gegen die Homo-Propaganda unterstütze ich voll und ganz.

    Ich sehe mich als russischen Menschen, unsere russische Kultur war immer gegen so etwas. Und auch unser Land ist dagegen

    Um ehrlich zu sein, hab ich in den 26 Jahren meines Lebens noch nie Schwule getroffen. Hab nie welche gesehen, hab nur irgendwie davon gehört, dass es so was gibt. Gesehen habe ich das nur auf YouTube, wie sie da ihre Paraden veranstalten, aber so hatte ich nie damit zu tun.

    Wenn jetzt zum Beispiel ein Freund von mir so einer wäre und ich das mitkriegen würde, würde sich meine Einstellung zu ihm ändern. Ich würde ein bisschen vorsichtig sein mit ihm. Nicht dass ich ihn verprügeln würde oder so … Aber wir hätten weniger Kontakt, ich würde nicht mit ihm durch den Park spazieren oder Eis essen gehen. Ich würde den Umgang auf das Nötigste beschränken.

    Ich sehe mich als russischen Menschen, unsere russische Kultur war immer gegen so etwas. Und auch unser Land ist dagegen. Meine Kollegen bei der Polizei – das sind auch Menschen und die stehen dem auch ablehnend gegenüber.

    Sie sind nun mal da, keiner kann sie leiden, was gibt’s da groß zu reden

    Über solche Themen unterhalte ich mich mit meinen Kollegen natürlich nicht, da gibt es nichts zu unterhalten. Kann sein, dass mal ein Wort das andere gab und ein bisschen über diese Leute gekichert wurde. Sie sind nun mal da, keiner kann sie leiden, was gibt’s da groß zu reden.

    Wenn, sagen wir, zwei Schwule sich zur Wehr setzen und mit jemandem aneinandergeraten würden, dann würde ich das vom Standpunkt des Gesetzes aus betrachten. Aber innerlich wäre ich natürlich auf der Seite des normalen Menschen und nicht auf der des Schwulen. Ich würde ihm zu verstehen geben, wie er es anstellen muss, damit er das Gesetz nicht verletzt. Ich meine, wie er es klug anstellt, um aus der Sache als Sieger hervorzugehen.

    Alexander Smirnow, ehemaliger Assistent des Pressesprechers der Vizebürgermeisterin von Moskau im Bereich Bauwesen und Stadtentwicklung

    Das erste Mal, dass ich mit einem Mord an einem Schwulen unmittelbar zu tun hatte, war noch in Blagoweschtschensk. Das war 2003. Viktor war 39. Er war Leiter einer bedeutenden Immobilienagentur. Damals hatte ich Angst, dass die polizeilichen Ermittler anfangen, alle Leute zu überprüfen, mit denen der Ermordete am Tag zuvor telefoniert hatte. Meine Angst war nicht, dass man mich der Tat verdächtigen könnte, sondern dass meine sexuelle Orientierung öffentlich gemacht werden würde.

    Den Freund einer Freundin von mir haben sie auch umgebracht, das war im Sommer 2010, der Junge war 26 Jahre alt

    Dann kam die Serie von Journalistenmorden in Moskau. Einzelne Hauptstadtmedien schrieben bereits offen über die Homosexualität der Opfer, zu denen Journalisten der Sender Erster Kanal, NTW, TV-Zentr und Expert-TV gehörten. Einige der Ermordeten hatte ich persönlich gekannt, und ich bekam das Gefühl, dass eine gezielte Jagd im Gange war. Im Grunde kam dieses Gefühl lediglich daher, dass der Mord an einem Journalisten für die Medien interessanter ist als der Mord an einem Verkäufer oder einem Buchhalter.

    Die Zahl der getöteten schwulen Journalisten ist auch deshalb so erschreckend, weil man sich automatisch fragt, wie hoch wohl die realen Homophobieopfer-Zahlen sein mögen.

    Den Freund einer Freundin von mir haben sie auch umgebracht, das war im Sommer 2010, der Junge war 26 Jahre alt, Dimitri Okkert. Er arbeitete beim Fernsehen. Als er einmal zwei Tage lang nicht aufgetaucht war, ging sie in seine Wohnung, die Tür stand offen, der Freund war tot, an seinen Stichverletzungen gestorben.

    Ich kochte was, deckte den Tisch, der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Schlag auf den Kopf.

    Ich weiß noch, wie sie damals zu mir sagte: „Man darf keine Zufallsbekanntschaften mit nach Hause nehmen.“ Aber wie oft muss man sich mit jemandem treffen, bevor man ihn zu sich nach Hause einlädt? In meinem Fall kam es zu einem Übergriff, nachdem der Mensch vorher schon einmal bei mir gewesen war.

    2012 hatten wir uns kennengelernt, auf neutralem Boden, in Moskau, dann fuhren wir zu mir, hatten Sex. Nach einiger Zeit rief der Typ an und sagte, er wolle sich noch einmal mit mir treffen. Ich wohnte damals in Koroljow, wir fuhren mit der Elektritschka zu mir. Sein Komplize saß im selben Zug.

    Wir schlossen die Haustür auf, alles okay, ich kochte was, deckte den Tisch, der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Schlag auf den Kopf, ich verlor aber nicht das Bewusstsein und erkannte am Geruch, dass sie mir eine Bierflasche über den Kopf gezogen hatten. Ich drehte mich um und sah, dass der Typ einen abgeschlagenen Flaschenhals in der Hand hielt. Neben ihm stand der andere, den er unbemerkt hereingelassen hatte. Ganz normale Jungs, slawisches Aussehen, nichts Auffälliges. Der eine hielt mir die abgebrochene Flasche an den Hals, der andere setzte mir das Messer an die Kehle.

    Ich hatte eine Wahnsinnsangst. In diesen Sekunden wurde mir klar, dass das das Ende war

    Ich war barfuß, trat auf die Glasscherben, doch ich fühlte keinen Schmerz. Ich blutete am Kopf. Ich hatte eine Wahnsinnsangst. In diesen Sekunden wurde mir klar, dass das das Ende war. Ich konnte absolut nichts tun. Zwei Typen, bewaffnet, Fliehen war vollkommen sinnlos. Meine Kehle war knochentrocken. Ich konnte gerade noch denken, Scheiße, ich hab keine Angst zu sterben, aber zu so einem Tod bin ich nicht bereit. Das erste, was ich sagte, war: „Nehmt alles, den Computer, das Geld, aber lasst mich am Leben.“ Erniedrigend, aber so war es. Etwa eine Stunde lang quälten sie mich. Und dabei sagte der Typ, mit dem ich mich vorher schon getroffen hatte, allen Ernstes: „Wegen solchen wir dir ist mein Bruder jetzt auch schwul geworden.“ Sich selbst betrachtete er also nicht als schwul.

    Dann verlangten sie Beweise, dass ich niemandem etwas erzählen würde. Ich hatte einen coolen Job damals, wenn die dort erführen, was Sache ist, würden die mich entlassen, erklärte ich, und darum würde ich nicht zur Polizei gehen. Schließlich zwangen sie mich noch, mich auszuziehen, machten pornografische Fotos, nahmen mein Notebook, mein Handy und mein Bargeld.

    Nach der ganzen Sache setzte ich mich aufs Sofa und versuchte einfach nur meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen

    Erst wollten sie, dass ich mit meiner Karte Geld am Automaten abhebe, während sie danebenstehen, aber dann überlegten sie sich wohl, dass das nicht ungefährlich wäre, durchwühlten noch die ganze Wohnung und zogen ab. Als sie gingen, sagten sie, sie würden unten im Hausflur warten, sie wollten sichergehen, dass ich nicht um Hilfe rufe.

    Nach der ganzen Sache setzte ich mich aufs Sofa und versuchte einfach nur meine Atmung wieder in den Griff zu kriegen. Dann holte ich mein altes Notebook heraus, schrieb einem Freund, er solle meine Chefin, die stellvertretende Bürgermeisterin, anrufen und sie informieren, dass ich nicht zur Arbeit kommen würde, ich sei auf der Straße überfallen worden und liege im Krankenhaus. Meine Kollegen wollten mich besuchen kommen, aber ich lehnte ab. Ich war nicht imstande, jemanden zu sehen.

    Als ich mit der besagten Freundin von mir sprach, meinte die nur: „Ich habe dich ja gewarnt.“ Doch ich brauchte etwas anderes, ich brauchte unterstützende Worte, und ich war enorm verletzt damals. Heute verstehe ich, dass es einfach zu schlimm für sie gewesen wäre, noch einen Freund zu begraben.

    Was ich in der Zeit danach durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Ständig dachte ich, ich begegne diesen Typen wieder

    Was ich in der Zeit danach durchgemacht habe, wünsche ich niemandem. Es hat mich extrem belastet, weiter in der Wohnung zu wohnen, auch in der Metro hatte ich Angst, ständig dachte ich, ich begegne diesen Typen noch einmal wieder.

    Oft sind die Leute erstaunt, dass ich niemanden über die Sache informiert habe, mich nicht einmal um psychologische Unterstützung bemüht habe. Für mich war das so: Ich habe überlebt, aus und gut. Aber so ist das für russische Homosexuelle, wir müssen mit solchen Übergriffen selbst fertig werden. Denn nach der physischen Gewalt machst du ja noch die psychische Vergewaltigung in der Notfallambulanz durch, und bei der Polizei. Dabei sollte nicht das Opfer sich schämen, sondern der Täter. Unsere falsche Scham führt dazu, dass die Täter ungestraft bleiben.

    Mittlerweile bin ich seit 15 Monaten in den USA, ich habe einen Job als Lagerarbeiter. Ich mache Therapie … Also ich denke, ich bin wahrscheinlich so weit okay … Ich hab einen Dreizehnstundentag. Aber ich habe kein einziges Mal bereut, dass ich Russland verlassen habe.

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  • Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    Wie Russland lernte, die Bombe zu lieben

    „Kaum eine Ausgabe der Nachrichten kommt heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands aus“, so Andrej Loschak in seinem Kommentar für Colta.ru. Er fragt sich: Wird die Atombombe zur neuen Nationalidee?

    Vor zwölf Jahren war ich in der Demokratischen Volksrepublik Korea, um dort heimlich einen Beitrag für Namedni zu drehen. Ich wunderte mich damals über die vielen Plakatwände, die Straßen Pjöngjangs waren voll davon. Anstelle der üblichen Reklame gab es Militärplakate mit riesenhaften furchtlosen Nordkoreanern drauf, die kleinen feigen Amerikanern auf allerlei Art zusetzten. Das war ebenso komisch wie erstaunlich: Die lokale Propaganda schenkt den USA solche Aufmerksamkeit, während die Mehrheit der Amerikaner kaum eine Ahnung davon hat, dass es die Nordkoreaner überhaupt gibt.

    Wasserstoff-Bombe AN602, auch Zaren-Bombe genannt, in Originalgröße. Die im wissenschaftlichen Team des späteren Bürgerrechtlers Andrej Sacharow entwickelte Bombe wurde im Oktober 1961 bei einem Atomtest gezündet und verursachte damals die stärkste je von Menschen erzeugte Explosion. Foto © Sergej Nowikow

    Das kleine und schwache Nordkorea ist für seine Autarkie darauf angewiesen, dass man es fürchtet – sowohl innerhalb wie auch außerhalb des Landes. Weiter hat sie nichts zu bieten – keine Technologien, keine Reichtümer, keine Kultur. Die einzige Nachricht aus Nordkorea, die es regelmäßig in die Top Ten schafft, ist die Meldung, dass sie die Atombombe haben. Angst und Schrecken einflößen, den Menschen drohen, das ist alles, was bleibt, wenn die Seele verkauft ist. Nicht umsonst wird im Hooligan-Jargon ein Messer als „Argument“ bezeichnet – es stimmt schon, wenn einem damit einer vor der Nase herumfuchtelt, wirkt es tatsächlich überzeugend, aber im Allgemeinen ist der Gebrauch eines derartigen „Arguments“ vor allem ein Zeichen von Dummheit, Niedertracht und Schwäche.

    Angst und Schrecken einflößen, den Menschen drohen, das ist alles, was bleibt, wenn die Seele verkauft ist

    Als ich damals 2004 in Nordkorea war, glaubte man in Russland fest und unerschütterlich an Kohlenwasserstoffe. „In gas we trust“, so lautete das Credo der Regierenden. Ich weiß noch, wie Leonid Parfjonow in einer Namedni-Ausgabe eine Rede Putins vor der Föderationsversammlung mit dem Auftritt des Vorstandsvorsitzenden eines Mineralölkonzerns vor seinen Aktionären verglich. Seinerzeit hatte der Präsident keine andere Idee, als den Pipelines und Förderrohren ordentlich Profit zu entlocken. Die Brosamen, die von dem Gelage für das Volk abfielen, nannte man Stabilität. Und die Menschen glaubten gerne daran. Nach seinem Abgang 2008 wäre Putin denn auch als erfolgreicher Topmanager in die Geschichte des Landes eingegangen. Doch er ging nicht.

    Die Brosamen, die von dem Gelage für das Volk abfielen, nannte man Stabilität

    Seit dieser Zeit fielen die Preise für Energieträger mehrfach in den Keller, und es wurde klar – aus einer ephemeren Substanz wie dem Erdgas eine nationale Idee machen zu wollen, ist zumindest dumm. In Russland kam eine dumpfe Unzufriedenheit auf, der Topmanager erwies sich als doch nicht so effektiv. Viele nannten den Präsidenten sogar plötzlich einen Dieb, forderten ehrliche Wahlen und verwiesen dabei auf die westliche Demokratie. Das daraufhin inszenierte patriotische Projekt ließ die Russen angesichts der alptraumhaften Perspektive, sich in ein nächstes Gayropa zu verwandeln, enger zusammenrücken, aber zur nationalen Idee wurde es nicht. Niemand zeigte sich in der Lage, mitreißend zu erklären, was es mit „unseren Traditionen“, der geistigen Klammer und dem Sonderweg auf sich hat. Und je weiter man auf dem Sonderweg voranschritt (Leskow hielt diesen Weg übrigens für eine Sackgasse), desto steiler ging es mit der Stabilität bergab und die Feinde, die schuld waren an unserem Unglück, wurden immer mehr.

    Unerwartet aktuell war plötzlich die Erfahrung der nordkoreanischen Genossen: Die kriegerische Songun-Doktrin wurde zur neuen Ideologie der russischen Machthaber, und die Atombombe als gewichtigstes Argument zu ihrem Symbol. Vor zwölf Jahren kam mir Nordkorea wie ein absurdes Relikt der Vergangenheit vor, wie eine Parodie auf eine Antiutopie aus dem 20. Jahrhundert. Inzwischen ist mir die Lust vergangen, über Nordkorea zu spotten, denn das Land, in dem ich lebe, ist gerade dabei, sich in ein Nordkorea zu verwandeln. Russland erinnert heute an Dr. Seltsam. Wir haben angefangen die Bombe zu lieben, als uns klar wurde, dass wir etwas Cooleres und Stärkeres sowieso nicht haben. Die Bombe ist unsere wichtigste „Klammer“, unser schwerwiegendstes Argument. Es ist offensichtlich, dass es bei uns in nächster Zeit ebenso wenig für einen Elon Musk oder einen Steve Jobs reichen wird wie für irgendwelche Wissenschafts-Nobelpreisträger. Aber die Bombe – die gute alte sowjetische Atombombe -, die ist da und rührt sich nicht vom Fleck. Wenn man uns schon nicht achten will (wofür eigentlich?), so soll man uns wenigstens fürchten.

    Das Land, in dem ich lebe, ist gerade dabei, sich in ein Nordkorea zu verwandeln

    Kaum eine Ausgabe der Nachrichten kommt heute ohne Beiträge über das nukleare Potenzial Russlands aus. Den Anfang machten natürlich die berühmt gewordenen Eskapaden von Dimitri Kisseljow zur Zeit der Krim-Annexion: „Obama ist vor Angst ergraut“, „wir können die USA in radioaktive Asche verwandeln“ und so weiter. Wohl genau für das feinfühlige Erfassen dieses Trends wurde er in der Folge mit Huldigungen überschüttet. Selbst der Präsident vergleicht die Atomwaffe zärtlich mit den Krallen und Zähnen eines freundlichen kleinen Bären, dem die Feinde das Fell abziehen wollen.

    2015 beklagt sich eben jener Moderator Kisseljow auf einer Pressekonferenz bei Putin: „Es kann natürlich sein, dass ich an Paranoia leide, aber ich spüre förmlich den Würgegriff der NATO, ich fühle, wie ihr Ring sich immer weiter schließt und ich keine Luft mehr bekomme!“ „Keine Angst, wir haben doch selbst alle im Würgegriff“, beschwichtigt Putin und geht zu seinem Lieblingsthema über: den Kräften der nuklearen Abschreckung.

    Das Verteidigungsministerium hat letztes Jahr vorgeschlagen, einen neuen Feiertag einzuführen: den Tag der Kernwaffe – zum Gedenken an die Erprobung der ersten sowjetischen Atombombe. Ein Karikaturist der Nachrichtenagentur RIA Nowosti veröffentlicht eine Karikatur, die seinen ständigen Helden – einen etwas heruntergekommenen Bären – zeigt, wie er als Reaktion auf den gesunkenen Ölpreis Obama mit einer Rakete vor dem Gesicht herumfuchtelt. Gegenüber der amerikanischen Botschaft in Moskau hängt ein Plakat mit der Aufschrift „Obama ist ein Mörder“, und auf den Straßen sind Autos mit antiamerikanischen Aufklebern unterwegs.

    „Die Ölpreise werden nie mehr hochgehen“ - „Ich habe da was – damit geht alles hoch.“ Karikatur von Witali Podwizki, veröffentlicht auf RIA Nowosti. Später wurde sie von der Website heruntergenommen. Quelle: buyro.ru

    Ich war diesen Sommer zwei Wochen in den USA – ich habe nicht einen einzigen Anti-Putin-Aufkleber gesehen. Die Amerikaner kümmern sich einen Dreck um ihn – sie haben wichtigere und interessantere Dinge zu tun. Dieser Krieg findet ausschließlich in unseren Köpfen statt – und zwar als Projektion der Launen des Präsidenten. Die Fixiertheit auf das Feindbild enthüllt einen ungeheuerlichen Provinzialismus; nicht von ungefähr ist das Internet voll von Witzen zum Thema „Noch nie ging es den Russen so schlecht wie unter Präsident Obama“. Wenn das nicht Nordkorea ist!

    Es ist traurig, es sich einzugestehen, aber Russland ist heute eine Art internationaler gewaltbereiter, kriminalitätsaffiner Gopnik mit einem „Argument“ in der Hosentasche. So weit wurde der Militarismuskult nicht einmal von der kommunistischen Propaganda getrieben, die wenigstens den Versuch machte, sich als Friedenstaube zu verkaufen, die dem Ansturm der Falken aus dem Pentagon Einhalt gebietet. Für den Verteidigungskomplex gibt Russland das Zehnfache dessen aus, was es in Gesundheit und Bildung investiert (rund 30 Prozent gegenüber 3 Prozent), wobei die Verteidigungsausgaben unablässig steigen, während die Mittel für den medizinischen Bereich bereits seit Jahren gekürzt werden. Krankenhäuser werden geschlossen, Arzneimittel werden nicht gekauft, Geräte gehen kaputt – nahezu täglich wird darüber berichtet. Im Grunde bezahlen wir alle schon heute – ohne jeden Atomkrieg – für die Liebe des Präsidenten zur Bombe, nämlich mit unserer Gesundheit.

    Mit ihrer militaristischen Paranoia versuchen sie alle zu infizieren, selbst die Kinder. Vor ein paar Wochen war ich bei einer von den Nachtwölfen veranstalteten Neujahrsshow. Ich war gespannt, wofür die Biker die 9 Millionen Rubel ausgegeben hatten, die sie als Präsidenten-Fördergelder für den Bereich Nichtkommerzielle Organisationen eingestrichen hatten. Dabei waren wirklich renommierte Organisationen wie der Hospiz-Hilfsfonds Vera und die Stiftung Freiwillige helfen Waisenkindern leer ausgegangen.

    Selbst der Präsident vergleicht die Atomwaffe zärtlich mit den Krallen und Zähnen eines freundlichen kleinen Bären, dem die Feinde das Fell abziehen wollen

    Die einstündige Show bei frostigen Temperaturen erschütterte durch eklektizistische Scheußlichkeit. Nach etwa sieben Minuten trat eine anzüglich gekleidete Frau mit amerikanischem Akzent auf, die sofort gegen alles Russische loswetterte und immerzu wiederholte: „Bei euch ist alles Mist und auch diese Neujahrsfeier ist voll daneben!“ Die bunte Truppe der Feinde [Russlands] bestand aus Sultan Erdogan, einem Nazi mit schwulem Gebaren, einem Hipster mit MacBook unterm Arm und einem Rockmusiker, in dem Andrej Makarewitsch zu erkennen war. Ihnen gegenüber standen einfache russische Menschen, aus patriotischen Gründen unterstützt vom Unsterblichen Koschtschej: „Wir sind vielleicht Räuber und Unholde, aber unser Blut ist russisches Blut!“ Anschließend besiegten die Russen unter Führung von Koschtschej, dem Unsterblichen, natürlich die Taugenichtse. Dabei bretterten die einen wie die anderen auf amerikanischen Motorbikes durch die Kulissen, eine Eins-zu-eins-Kopie von Mad Max, übrigens auch zu erkennen an einer riesigen Aufschrift mit dem Titel des Actionstreifens.

    Später fragte ich den siebenjährigen Sohn von Freunden, der die patriotische Halluzinose bis zur Hälfte mitangeschaut hatte, bevor er sich zum Aufwärmen ins Café verzog: „Was würdest du sagen, worum ging es bei der Vorstellung?“ Der Junge kratzte sich am Kopf und sagte unsicher: „Irgendwie um Krieg?“

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  • Die Kirche des Imperiums

    Die Kirche des Imperiums

    Im vergangenen Monat musste der langjährige Chefredakteur der offiziellen Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, Sergej Tschapnin, seinen Posten räumen. Der Grund für die Entlassung dieser wichtigen Persönlichkeit des kirchlichen Lebens (Tschapnin hatte im Moskauer Patriarchat auch andere Ämter inne) wird in einer Reihe analytischer und durchaus kritischer Äußerungen zur jüngsten Geschichte der Kirche gesehen, mit denen Tschapnin in letzter Zeit hervortrat. Eine besondere Rolle spielte dabei nach Tschapnins eigenen Vermutungen der vorliegende Artikel über den Wandel der Kirche seit den Zeiten der Perestroika, der zunächst in der amerikanischen Religionszeitschrift first things erschien und nun in einer neuen Fassung des Autors bei Colta.ru veröffentlicht wurde.

    Ich trat Ende 1989 in die Kirche ein und begann Anfang 1990, mich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen. Die Zeiten damals – zwei Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion – waren hart: Inflation, tiefgreifende Wirtschaftskrise, leere Regale in den Geschäften. Unsere Gemeinde bekam in der Stadt Klin, 85 Kilometer nordwestlich von Moskau, eine alte verfallene Kirche im Stadtzentrum zugesprochen. Die enthauptete Kirchenruine auf Bergen städtischen Mülls, der erstmal weggeschaufelt werden musste, wurde für uns zum Symbol der neuen Zeit. Es war das erste Gotteshaus in der Moskauer Umgebung, das der Kirche zurückgegeben, und das einem Bekenner aus der Zeit der Kirchenverfolgung geweiht wurde, dem Heiligen Patriarchen Tichon von Moskau und Russland.

    Um den Kirchenvorsteher, einen jungen tatkräftigen Priester, versammelte sich eine junge Gemeinde, die von der Hoffnung einer Wiedergeburt Russlands lebte. Der Priester hatte noch den Druck der sowjetischen Geheimdienste zu spüren bekommen – er wurde überwacht, da er zwei Jahre zuvor in seiner damaligen Kirche gewagt hatte, einen Kinderkirchenchor zu gründen.

    Damals, Anfang der 1990er-Jahre, zweifelte niemand daran, dass die Entwicklung des Landes, die Erfolge der kirchlichen Wiedergeburt und der Weg in die Zukunft unmittelbar mit der Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit zusammenhingen. Wir wussten und verstanden vieles nicht, aber wir fühlten es klar: Um das Land zu verändern, mussten wir uns selbst verändern und vor allem mussten wir aufhören, sowjetisch zu sein. Die innere Umkehr (Metanoia) war die zentrale und zugleich eine unbeschreiblich schwierige Aufgabe. Doch wir – damals Studenten und Schüler der höheren Klassen – lebten von der Hoffnung.

    Nach dem Untergang der Sowjetunion geriet Russland in eine langanhaltende Identitätskrise. Zwei Wege standen zur Wahl: entweder die europäische Demokratie oder die eurasische Autokratie. Anfang der 1990er fiel die Wahl der Menschen eindeutig auf die Demokratie. Die Gesellschaft bewegte sich weg vom sowjetischen Imperium, sie stieß es regelrecht von sich weg.  

    Die kirchliche Wiedergeburt nahm in jenen Jahren äußerlich gesehen demokratische, ihrem Wesen nach aber regelrecht kanonische Formen an. Es entstand eine breite Laienbewegung, die zahlreiche Initiativen in den verschiedenen damals noch zur Sowjetunion gehörenden Regionen vereinte. Bereits im Herbst 1990 entstand aus dieser Bewegung der Bund der orthodoxen Bruderschaften. Eine Reihe von Eparchien in den Staaten, die nach der Auflösung der Sowjetunion unabhängig geworden waren, erhielt den Status autonomer Kirchen. Es begann die Verehrung von Neomärtyrern und russischen Bekennern aus der Zeit der Kirchenverfolgung. Wenige Jahre zuvor noch war die bloße Erwähnung der Verfolgung oder der Namen von Betroffenen nicht ungefährlich gewesen. Langsam und tastend entstand wieder ein Gemeindeleben. Und die lebendige kirchliche Predigt war gerichtet an die Herzen der Menschen, war Aufruf zu einem Leben in Christus.

    Als eine Gemeinschaft, die so lange unterdrückt worden war und trotz brutaler Verfolgung überlebt hatte, erhielt die Kirche von der Gesellschaft und später auch vom Staat einen enormen Vertrauensvorschuss. Nicht nur die Orthodoxe Kirche insgesamt, sondern buchstäblich jeder einzelne Priester, jeder Träger von Kutte oder Talar, erhielt diesen enormen Vertrauensvorschuss.  

    Im ersten Stadium spielte das Konzept der kirchlichen Wiedergeburt – nennen wir es kirchliche Wiedergeburt 1.0 – eine wichtige Rolle bei der ideellen und kulturellen Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit. Viele schauten auf das, was die Kirche allem Anschein nach hatte bewahren können: die traditionelle russische Kultur, also die andere, nicht die, die jedermann bekannt war, – nicht die sowjetische. Die Kirche zog sogar die Aufmerksamkeit derer auf sich, die sich nicht für Glaubenslehre und Gottesdienst interessierten. Und alle wollten irgendwie teilhaben an dieser Kultur, doch die überragende Mehrheit hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Eben in dieser Verwirrtheit der Mehrheit sind die Gründe für die ganz und gar beispiellose Hochachtung zu suchen, die die orthodoxe Geistlichkeit genoss. Für viele wurde der Priester zu einer Art Lotse auf dem Weg in die unergründete Welt eines anderen Russland.

    Doch Wunsch und Wirklichkeit klafften stark auseinander. Die Kirche war unterdessen bereits ziemlich sowjetisch. Die höchste Geistlichkeit war Teil des sowjetischen Establishments, und die Priester erhielten – sofern sie sich bei ihrer Tätigkeit streng auf das Abhalten von Gottesdiensten beschränkten – erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Auch nach dem Niedergang der Sowjetunion gab es viele, denen der stillgelegte Zustand der Kirche à la Sowjetunion gelegen kam. Mitte der 1990er Jahre gab es die ersten Anzeichen dafür, dass das Episkopat beschlossen hatte, nicht mit neuen Tendenzen herumzuexperimentieren – und das Gemeindeleben zurück in die gewohnten sowjetischen Bahnen zu lenken. 1994 fasste die Synode den Beschluss, das Wachstum der Laienorganisationen bzw. der Bruderschaften zu begrenzen und unterstellte sie rigoros den Kirchenvorstehern. Viele Bruderschaften mussten aufgelöst werden.

    In dieser Zeit begann auch die für das ideologisierte sowjetische Denken charakteristische Suche nach Feinden innerhalb der Kirche. Als erstes geriet die Gemeinde- und Katechesearbeit des Priesters Georgi Kotschetkow in die Schusslinie. Seine Widersacher bezeichneten ihn und seine Bewegung als Neo-Erneuerer, womit sie ihre kirchengeschichtliche Unwissenheit offenbarten, und versuchten, ihn als antikirchlich zu brandmarken. Eine offizielle Verurteilung seitens der Kirche konnten sie letztlich nicht erwirken – das Episkopat entschied, in der Angelegenheit zu schweigen. Doch seit jener Zeit besteht innerhalb der Kirche eine offene Spaltung in Liberale und Konservative.

    Bei aller Bedingtheit dieser Begriffe im kirchlichen Kontext bleibt es eine wesentliche Tatsache, dass die Liberalen über die Katechese-Praxis und die Rolle des Gottesdienstes im Gemeindeleben nachdachten, während die Konservativen die althergebrachte Praxis als unabänderlich und nicht verhandelbar betrachteten. Sie sahen daher ihre Hauptaufgabe darin, sich in den gesellschaftlich-politischen Raum zu begeben und eine rechtgläubige [sprich: orthodoxe – dek] Ideologie zu etablieren.

    Eine Zeitlang hielten sich die Kräfte die Waage. Das Episkopat war im Großen und Ganzen bemüht, in diesem Streit keine klare Position zu beziehen. Die Konservativen betrachteten sich als die Hüter des Glaubens und übten scharfe Kritik nicht nur an Laien und Priestern, sondern auch an Bischöfen (als einem der ersten – an dem heutigen Patriarchen, und dem damaligen Metropoliten von Smolensk und Kaliningrad, Kirill) für ihre „Abweichung vom orthodoxen Glauben“ und beschuldigten sie sogar der Häresie.

    Seit dem Jahr 2000 änderte sich die Situation allmählich, als sich nämlich die Regierung mehr und mehr vom demokratischen Modell entfernte und zunächst autokratische, und dann auch autoritäre Züge annahm. Im Zuge dieser Wandlung änderten sich die Prioritäten im Konzept der Wiedergeburt der Kirche schlagartig. Die erste Etappe war abgeschlossen, als die Arbeit mit den Gemeindemitgliedern in den Hintergrund trat und das Zusammenwirken von Staat und Kirche zur zentralen Aufgabe wurde. Konkret ging es um

    1) die Herausbildung einer neuen Identität durch das Predigen von Patriotismus und traditionellen Werten in voller Übereinstimmung mit der Innen- und Außenpolitik der Regierung und

    2) die Verwaltung von Grundbesitz sowie die Einwerbung von staatlichen Mitteln für Bau und Restaurierung von Immobilien.

    Gleichzeitig liefen Bürokratisierungsprozesse in der Kirche, neue Kirchenämter wurden geschaffen, der Dokumentenverkehr und die Zahl der Kirchenbeamten nahmen rasant zu.

    Eine neue Etappe war angebrochen – die Wiedergeburt der Kirche 2.0. Dabei kommt mit der Kirche des Imperiums ein mächtiger und klar umrissener Archetyp ins Spiel, der unmittelbar auf Byzanz verweist und auf das ganze Feld weltanschaulicher Positionen um die Ideen vom Orthodoxen Reich und vom Dritten Rom. In diesem Konzept liegt zum einen ein großes Mobilisierungspotential – die Orthodoxe Kirche fügt sich bündig ein in das System der postsowjetischen Staatsführung, und zwar an der Leerstelle, die zuvor von der Kommunistischen Partei besetzt war. Das war für jeden offensichtlich, selbst für die kirchenfernen Staatsbeamten. Zum anderen ist dieser Archetypus auf emotionaler und ideologischer Ebene sehr attraktiv für viele Kirchenmitglieder – sowohl Laien als auch Amtsträger –, die sich für die wortgetreue Auslegung der Ideen von der Heiligen Rus und Moskau als dem Dritten Rom begeistern.

    Das neue Imperium braucht gleichermaßen die Religion (als Form der Legitimierung einer nicht-demokratischen Regierung) wie auch die sowjetische Vergangenheit (als eine mythologische Zeit der großen Helden – darum ist auch der Tag des Sieges in den letzten Jahren zum wichtigsten Feiertag des Landes avanciert). Auch die Kirche bringt auf dieser Etappe durchaus ihre Sympathie für alles Sowjetische zum Ausdruck. Zum einen zeigt das ihre Solidarität mit der Staatsgewalt, zum anderen ist es ein Bekenntnis, dass die prosowjetischen Stimmungen innerhalb der Kirche sehr stark sind. Letzteres lässt sich durchaus erklären.

    Die Wiedergeburt der Kirche 1.0 war außerstande, die drängendsten Aufgaben der Kirche zu bewältigen: Die Massen-Taufen der 1990er Jahre haben die Menschen nicht auf eine bewusste Teilnahme am Gemeindeleben vorbereitet. Das belegen nicht nur soziologische Umfragen, sondern auch die Priester selbst. Bezeichnend sind hierfür die Beobachtungen des Bischofs von Smolensk und Wjasemski (heute Orechowo-Sujewsk) Panteleimon: „Anfang der 1990er Jahre gab es einen regelrechten Ansturm von Gemeindemitgliedern auf die Gotteshäuser … Die Menschen gingen damals nicht in die Kirche, sie stürmten sie buchstäblich. Leider blieben nur wenige dort, und die Zeit des aktiven Interesses am Gemeindeleben, der Verkirchlichung war relativ schnell wieder vorbei … Der Anteil derjenigen, die am Sonntag in die Kirche gehen, macht nach meiner Einschätzung höchstens ein Prozent der Landesbevölkerung aus.“

    Abgesehen von den Besucherzahlen der Kirchen, ist auch Folgendes zu erwähnen: Die sowjetischen Menschen empfingen zwar die Taufe, aber sie erlangten kein Wissen über die Grundlagen des Glaubens. Die Kirche nahm sie so auf, wie sie waren, und ging davon aus, dass die Verkirchlichung von alleine geschehen würde, auf einem irgendwie gearteten „natürlichen“ Weg. Aber in der überwältigenden Mehrheit empfanden die sowjetischen Menschen keinerlei Bedürfnis sich zu ändern, sie blieben genau so, wie sie waren … Veränderungen gab es freilich trotzdem: Es war die Kirche selbst, die durch die „Neugläubigen“ verändert wurde.

    Und in dieser Situation vollzog sich unbemerkt ein wesentlicher Wandel. Der wichtigste Appell, den die Kirche sowohl an den Einzelnen wie auch an die Gesellschaft als Ganzes gerichtet hatte, klang lange Zeit attraktiv: „Lasst uns die Traditionen wahren!“, „Die Missachtung von Traditionen ist gefährlich!“ Auf den ersten Blick geht es hier um einen gesunden christlichen Konservatismus, doch im russischen Kontext muss man unbedingt nachfragen: Welche Traditionen genau meinen wir?

    Riesige moralische und intellektuelle Anstrengungen sind im heutigen Russland nötig, um einen Blick tief in die Geschichte zu werfen – in die Zeit vor dem Oktoberumsturz, vor 1917, in die Geschichte des Russischen Reiches. Zu viel Zeit ist vergangen, zu viele Generationswechsel haben stattgefunden, zu viele Träger vorrevolutionärer Traditionen wurden bewusst vernichtet. Und so wird die Rückbesinnung auf kirchliche Traditionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unweigerlich zu einer Nachstellung historischer Ereignisse, zu einem Amateurtheater.

    Aus der Behauptung, die Traditionen des Christentums seien aus dem russischen Alltagsleben verschwunden und in Vergessenheit geraten, lassen sich zwei praktische Schlüsse ziehen:

    1) Man sollte sich auf die Suche nach einer noch erhaltenen lebendigen Tradition begeben.

    2) Es muss eine Basis geschaffen werden, auf der neue Traditionen wachsen können, die unseren heutigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen entsprechen.

    Als Christ ist diese Einsicht für mich besonders bitter, aber von einer lebendigen Tradition können in Russland nur diejenigen sprechen, die von der sowjetischen sprechen. Darin liegt das eigentliche Geheimnis der Anziehungskraft von allem, was mit der Sowjetunion und der kommunistischen Vergangenheit zu tun hat, nicht nur für die Rentner, sondern auch für die Jugend. Das heutige Gepäck Russlands – kulturell, geschichtlich, gesellschaftlich, philosophisch und religiös – besteht nicht in der Vielfalt, sondern in einer einzigen lebendigen Tradition, an die sich alle erinnern, die alle kennen und die alle an ihre Kinder weitergeben können. Das ist die sowjetische Tradition. Und ihre triumphale Wiederkehr in den letzten Jahren – sie ist das Eingeständnis, dass in Russland nichts anderes übrig geblieben ist.

    So wurde die Wiedergeburt der Kirche 2.0 zu einem zentralen Element bei der Herausbildung einer postsowjetischen Zivilreligion, die dem Staat als ideologische Stütze dient. Und das hat Formen und ideologische Konstruktionen maßgeblich vorgezeichnet, die für das geltende Modell staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung tragend sind.

    Obwohl sich die Kirche nicht auf die schöpferische Erschließung der zeitgenössischen Kultur konzentriert hat, sondern auf die Anrufung der Vergangenheit, die Rekonstruktion von Praktiken des 17.–19. Jahrhunderts, ist einiges für den Weg nach vorn getan worden. Der Historiker Alexej Beglow erkennt an dieser Stelle: „Es geht hier nicht um die mechanische Wiederherstellung von etwas einst Verlorengegangenem, sondern um einen Prozess der Inkulturation, um ein schöpferisches Eintreten der Kirche in die zeitgenössische – moderne und postmoderne – Kultur Russlands und aller Staaten des postsowjetischen Raums.“ Dass die Kirche nicht die richtigen Worte gefunden hat, um das zu erklären, ist eine andere Sache.

    Warum ist dann die Wiedergeburt der Kirche abgeschlossen? Die Wiedergeburt oder auch die Renaissance der Kirche markiert eine Übergangsperiode, eine Zeit der Unbestimmtheit. Die Wahl zugunsten der Kirche des Imperiums ist bereits getroffen, und die entsprechenden kirchlichen Formen und Institutionen sind geschaffen. Gut möglich, dass man die neue historische Phase der Orthodoxie in Russland genau so wird bezeichnen können – als neoimperal, oder vielleicht sogar als neosowjetisch.

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    Mitte September füllte sich das russische Internet auf einmal mit seltsamen Fotos: viele von ihnen schwarz-weiß oder in nicht ganz lebensechten Farben, mit schiefen Bildausschnitten, und ungewohnten – mindestens – Frisuren bei den Dargestellten. Das Kulturportal Colta.ru hatte zu einem Flashmob aufgerufen: Die User sollten Fotos aus den 1990ern ins Netz legen – und zwar alles, was sie finden konnten und für zeigenswert hielten – und Hunderte, vermutlich Tausende, kamen diesem Aufruf nach. 

    Die 1990er Jahre haben bis heute eine besondere Stellung in Russland, es ist ein unübersichtliches Jahrzehnt. Vielen ist es als Zeit der Armut, der Entbehrungen und des Leidens in Erinnerung geblieben, für andere ist es eine Epoche des Aufbruchs, der Hoffnung und der Freiheit gewesen. Von daher war der Foto-Flashmob zu diesem Thema mehr als nur ein nostalgischer Zeitvertreib: Er hat eine Welle von Diskussionen ausgelöst, die oft politischen Charakter hatten. Andrej Archangelski von Colta.ru versucht im Rückblick, die Bilder zu deuten und zu erfassen, an welche Schichten von Erinnerung und Aktualität die Aktion gerührt hat.

    Quelle – Colta.ru
    Quelle – Colta.ru

    Nicht alle Flashmobs in sozialen Netzwerken sind so dynamisch: Die von Colta ins Leben gerufene Facebook-Aktion Erinnern wir uns an die 1990er erlebte einen solchen Zuspruch, dass sie tatsächlich „politisch kalkuliert“ wirkte, und Patrioten witterten in den Aufnahmen eine versteckte Bedrohung. Das war soweit eine verständliche Reaktion. Aber ein Flashmob richtet sich gegen niemanden, es geht dabei in der Regel allein um die Form, es gibt kein Ziel, außer dem, dass alle ungefähr zur gleichen Zeit annähernd das Gleiche tun. „Ein auf den ersten Blick harmloser Flashmob“ – dieser Satz staatstreuer Kolumnisten könnte aus dem Wortschatz sowjetischer Zeitungen stammen: Gerade die Harmlosigkeit, die Ziellosigkeit, ist die größte Gefahr für eine totalitär angelegte Psyche. Ziellosigkeit schreckt machthungrige Menschen mehr als offen gezeigte Feindseligkeit, denn die Verschwendung von Minuten und Stunden des eigenen Lebens – der gemeinschaftliche Potlatch – bedeutet, dass man über sich selbst verfügt, bedeutet Freiheit. Ziellosigkeit ist im Grunde auch ein Merkmal der 1990er. Die allgemeine, allzu verschwenderische Geste, das Teilen dieser herrlich zweckfreien Dinge geradezu mit Opfermut.

    Die Fotos der 1990er Jahre fixieren vor allem die veränderte gesellschaftliche Haltung. Ein typisches Intellektuellenfoto aus den 1970ern oder 1980ern: Man sitzt Seite an Seite, legt die Arme umeinander, alle blicken in die Kamera, zwischen drei und zwanzig Personen, meist am gedeckten Tisch. Hier sind – das ist mit Parfjonows halbironischer Intonation auszusprechen – „vor allem die Augen wichtig, der Blick – weil man noch nicht alles laut sagen darf.“ Wichtig ist, dass man die Gemeinschaftlichkeit zur Schau stellt. Wichtig ist nicht zuletzt auch, dass man sich an die Traditionen hält: Ein Gruppenfoto von Intellektuellen aus Kratowo unterscheidet sich hinsichtlich der Bildkomposition nicht immer von der fotografischen Dokumentation eines Treffens des Politbüros mit einer kommunistischen Bruderpartei.

    Neben dieser Tradition gibt es eine weitere, nicht weniger starke (wenn auch nicht neue). Die Menschen, die in den 1970ern und frühen 1980ern geboren wurden, erinnern sich gut an ihre Kinderfotos. Es war üblich, mit Kindern zwischen ein und sieben Jahren etwa einmal jährlich das Fotoatelier aufzusuchen. Ein abscheuliches Ritual, ein abscheulicher Initiationsritus, wie wir als fleißige Pelewin-Leser heute verstehen. Ein sowjetisches Auge hat euch zum ersten Mal festgehalten, ihr seid sichtbar geworden, auf dem Filmstreifen erschienen. Ihr wart so angezogen, „wie es sich gehörte“, euer Blick war so, „wie er zu sein hatte“ – genau das war das Ziel, ihr wurdet zu einem Teil der Norm. Wenn die Leute später, als Erwachsene, fremde Fotoalben durchblätterten, konnten sie es kaum fassen, dass Millionen von Kinderfotografien voneinander nicht unterscheidbar waren, egal ob sie in Tscherepowez, Batumi oder in Kaliningrad entstanden waren. Die Aufnahmen wurden nicht gemacht, um Individualität festzuhalten, sondern um alle völlig gleich aussehen zu lassen. Besonders die gefalteten Kinderhändchen, mit dem Plüschbär, der schieläugigen Puppe, und der für immer fest in der Erinnerung eingeprägte Ruf „Nicht bewegen jetzt!”, sind ein grelles Kindheitstrauma.

    All diese Aufnahmen erzogen einen dazu, nicht für sich selbst zu leben, sondern für die Gesellschaft, die Eltern, für die Buchführung, für die anderen. Das Foto aus den 1990ern ist vor allem für einen selbst. Oder im Grunde genommen für überhaupt niemanden und nichts. Die Fotos aus den 1990ern, die jetzt ins Netz gestellt werden, kämpften unbewusst gegen die beiden Traditionen an: das freundschaftlich-gesittete Foto bei Tisch und das gnadenlose Kinderfoto aus dem Atelier. Auf den Fotos der 1990er ist der Mensch oft im Moment größter Abweichung von der Norm festgehalten. Es waren Akte symbolischer Rache für die sowjetische Entwürdigung und den Anruf „Stillgesessen!“

    Der Gesichtsausdruck der 1990er ist nicht Lächeln, sondern eine gewisse Verwunderung: Schaut wozu ich fähig bin, das da bin ich. Faktisch bedeutete es eine Selbst-Entdeckung, Offenheit, Hoffnung. Und auch Freiheit. Die Freiheit verstand sich noch nicht als solche: Es war nur Verwirrung darüber, dass nun alles möglich war. Im Grunde genommen findet man genau solche Fotos auch bei den Leuten, die heute auf einem Posten in der Präsidialverwaltung oder bei einem staatlichen Fernsehsender sitzen. Die gleichen benebelten Gesichter mit der ersten Flasche ausländischen Wodkas vor sich oder der erste Irokesenschnitt als Schatten an der Wand. Aber natürlich posten sie diese Bilder nicht. Nach der Tradition, die sich in Russland entwickelt hat, wird Freiheit als Verirrung, als Jugendsünde aufgefasst, eine vorübergehende formale und nicht etwa inhaltliche Erscheinung. Premierminister Dimitri Medwedew hörte in seiner Jugend bekanntlich gern Deep Purple, doch diese ästhetische Erfahrung wurde nicht zur einer Werteerfahrung. Es ist eine Eigenheit des sowjetischen, selbst des hochgebildeten Menschen, die Dinge zu trennen: Die Idee der Freiheit ist das eine, das wahre Leben das andere. Damit trösten sie sich heute, wenn sie eure Bilder aus den 1990ern sehen. Ob sie euch beneiden?

    Die Erinnerung daran, dass Freiheit auch für sie einmal ein Instinkt war, wie die Luft zum Atmen, bevor sie rationalisiert, unterdrückt und in Anzughosen gesteckt wurden, ist es, was Menschen, die ihre Freiheit heutigem „Erfolg“ geopfert haben, an diesen Aufnahmen ärgert. Freiwillig geopfert übrigens. Wenn sie ihre romantischen Lieder über die „wilden Jahre“ anstimmen, wollen sie uns in Tat und Wahrheit weismachen, dass es nur einen Weg zu Reichtum und Fortschritt gab, nämlich den ihren, der über Entwürdigung und den Verkauf der Seele führte. Die Existenz anderer Entwicklungsmöglichkeiten (damals wie heute), die Möglichkeit der Wahl würden sie lieber weiter verheimlichen. Aber diese verfluchten Fotos erinnern sie daran. Dass damals alle frei waren und auf unterschiedliche Weise davon Gebrauch machten.

    Diesen Fotos aus den 1990ern ist eine gewisse ontologische Armut gemeinsam. Man sieht, dass die Leute Bekleidung tragen und noch nicht ein bestimmtes Kleid oder eine spezielle Hose, ebenso wie es Essen, Trinken und „Saufware“ gibt und noch keine bestimmte Sorte oder einen bestimmen Jahrgang. Diese Armut ersetzt die Benjaminsche Aura. Gerade die Not an jedem Eck und End lässt das Gefühl der Unwiederbringlichkeit entstehen. Den Mittelpunkt der Komposition bildet oft irgendein seltenes Kleidungsstück, das das allgemeine Elend merkwürdigerweise nur betont. Es ist kaum mehr nachzuvollziehen, wie arm wir damals im Vergleich zu heute waren, selbst die bereits verhältnismäßig reichen Leute. Gerade der Wunsch, nie wieder arm zu sein, trieb all diese fotografierten Menschen um. Und jeder ging das Problem auf seine Weise an.

    Eigentlich gab es im Russland der 1990er Jahre, anders als zuvor in den 1980er oder danach in den Nullerjahren, kein einheitliches Gefühl für die Zeit. In den 1990ern entstand sozusagen ein Loch, durch das ganz Russland hinabstürzte. Es war ziemlich schauerlich. Das Leben war nicht mehr zyklisch, sondern bestand aus Einzelstücken, alle Uhren gingen zu Bruch. Dieser Flashmob ist – immer noch im Geiste Benjamins – ein Versuch, im Nachhinein, anhand von Fotos, eine in sich geschlossene Zeit herzustellen. Sie im Wäscheschrank zu verstauen, zu stapeln, zu schematisieren. Sie für ein und allemal zwischen die 1980er und die 2000er zu packen und ihnen so den gleichen Status zu geben, wie ihn auch das jetzt hat. Aber faktisch ist das eine Selbsttäuschung. Hätte man die 1990er Jahre richtig verstanden, wären sie zu einem Lebensquell für die Zukunft geworden. Aber sie wurden nicht verstanden und blieben so ein Rätsel – und auf jeden Fall entschwinden sie, die 1990er. So wie in Russland jede Zeit der Freiheit entschwindet.

    Geblieben sind eigentlich nur diese Schnappschüsse.


    Beispiele von Fotos aus dem Flashmob gibt es zum Beispiel bei Snob, sobaka.ru und fishki.net, und – ein Dank an unsere Leser! –  noch eine besonders wilde Sammlung (allerdings nicht aus dem Flashmob) auf yahooeu.

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    Kontrovers diskutiert im russischen Internet wird derzeit dieses Interview mit Alexander Baunow zum Thema Syrien. Baunow schreibt als Journalist in verschiedenen unabhängigen Medien vor allem über außenpolitische Themen, zuvor war er mehrere Jahre im diplomatischen Dienst der Russischen Föderation tätig. Seit 2015 ist er zudem senior associate des Carnegie Center Moskau, eines international aufgestellten Thinktanks. Die Fragen an Alexander Baunow stellte für Colta.ru Arnold Chatschaturow.

    Das Interview hat vor allem in regierungskritischen Kreisen skeptische Reaktionen hervorgerufen, da Baunow aus einer relativ regierungsnahen Perspektive argumentiert. Insbesondere wurde eine Tendenz zur Verharmlosung der Repressionen und Menschenrechtsverletzungen durch das Regime Assad schon in der Zeit vor dem Bürgerkrieg beklagt sowie ein ungenügendes Hinterfragen der tatsächlichen Ziele der russischen Luftschläge. Andererseits hat das Material Beifall erhalten dafür, dass es nicht der Versuchung erliegt, jegliches außenpolitische Handeln des Kreml reflexhaft zu verurteilen: Baunow sieht in Russlands Syrien-Einsatz einen durchaus sinnvollen Versuch, nach der Ukraine-Krise wieder einen Dialog mit dem Westen anzubahnen – der seinerseits zunächst abwartend beobachte, ob man Russland diesmal vertrauen könne.

        Keine zwei Tage nach Wladimir Putins Rede vor der UN-Generalversammlung [am 28. September – dek] hat Russland die ersten Luftschläge in Syrien ausgeführt. Die Frage ist allerdings, gegen wen?

        Die russische wie die syrische Führung versichern, dass die Luftschläge sich gegen den Islamischen Staat richten. Die syrische Opposition erklärt, sie selbst und die Zivilbevölkerung seien das Ziel der Angriffe. Allerdings ist für die Opposition ein Szenario, in dem Russland Assad hilft, in jedem Fall ein Alptraum: Selbst wenn die Intervention sich tatsächlich nur gegen den IS richtet und die Opposition in keiner Weise tangiert, stärkt das indirekt Assad, weil es ihn an einer der Fronten entlastet, und nimmt der Opposition die Chance auf einen klaren Sieg. Deshalb ist sie daran interessiert, die Sache von Anfang an so darzustellen, als würde Russland sie bekämpfen. Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen, man kann also niemandem ohne weiteres glauben, sondern muss abwarten, bis Beweise vorliegen. Wären die Informationen über diese Luftschläge von OSZE-Beobachtern gekommen – die es in Syrien natürlich nicht gibt –, oder auch, sagen wir, von Frankreich, dann könnte man ihnen viel eher vertrauen.

        Der zweite Punkt ist, dass der IS kein Staat mit festen Grenzen ist, sondern eine Organisation, die sich selbst zum Kalifat erklärt hat. Auf den Karten, die wir in den Medien sehen, sind die Gebiete, die Russland am Mittwoch bombardiert hat, nicht in den IS-Farben dargestellt. Die Lage vor Ort ist viel komplizierter, und eine einzelne Einheit von Kämpfern in irgendeinem Dorf ist in diesen Karten nicht zwangsläufig erfasst. Um das zu wissen, braucht man kein Syrien-Spezialist zu sein, es genügt, sich an den russischen Bürgerkrieg zu erinnern: Auch damals gab es bis auf wenige Ausnahmen keine geschlossenen Territorien.

        Jede Seite verfolgt ihre eigenen Interessen, man kann also niemandem ohne weiteres glauben, sondern muss abwarten, bis Beweise vorliegen.

        Die dritte Frage ist, wen außer dem IS es in Syrien noch gibt und ob alle übrigen Kräfte tatsächlich der vielzitierten demokratischen Opposition angehören, die in Wirklichkeit weniger eine demokratische als eine sunnitische Opposition ist. Die New York Times zum Beispiel schreibt, die russischen Luftschläge hätten Stellungen der Al-Nusra-Front zum Ziel gehabt. Aber diese Al-Nusra-Front ist ein Ableger von Al Qaida, und sie hat schon zu einer Zeit, als der IS noch nicht in Syrien agierte, in der christlichen Stadt Maalula im Südwesten des Landes – einem einzigartigen Ort, wo bis heute Aramäisch gesprochen wird – ein Massaker angerichtet. So eine Gräueltat steht denen des IS in nichts nach. Sollten Stellungen der Al-Nusra von den Luftschlägen getroffen worden sein, muss man also sagen, das haben sie verdient.

        Warum hat man für die Luftschläge keine eindeutig zuzuordnenden Gebiete gewählt?

        Hätte man sich vor allem aus Imagegründen oder zu diplomatischen Zwecken zu bombardieren entschlossen, dann hätte man sich andere Ziele suchen müssen, in einem homogeneren Teil der Karte. Es gibt dort ja Wüsten, Oasen, Flusstäler, und die detaillierten Karten zeigen ein wesentlich komplexeres Bild. Ich denke, bei der tatsächlichen Auswahl der Ziele haben drei Überlegungen den Ausschlag gegeben. Zum einen bombardieren die amerikanischen Bündnispartner den IS schon seit einem Jahr, sie haben schon tausende Einsätze geflogen, insofern wäre es gar nicht so einfach, hier noch ein eigenes Ziel zu finden. Zweitens war natürlich klar, dass die sonderbare Warnung an die Amerikaner, sie sollten ihre Flüge einstellen, keine Wirkung haben würde, so dass die russische Luftwaffe womöglich gleichzeitig mit der amerikanischen, britischen oder türkischen über IS-Gebiet geflogen wäre. Und da Russland sein Vorgehen auf taktischer Ebene bisher nicht abgestimmt hat (auch wenn sich das bald ändern dürfte), wäre das nicht ungefährlich gewesen.

        Wenn ein Land nicht frei ist, folgt daraus, dass wir schleunigst für den Sturz des dortigen Regimes sorgen müssen? Oder sollten wir erst einmal sehen, wer dieses Regime ablösen könnte?

        Drittens schließlich gab es eine Gruppe von Zielen, die die westliche Koalition grundsätzlich nicht angegriffen hat. Das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet beschränkt sich ja zum einen auf Damaskus und Umgebung, zum anderen auf die Küste mit den Ausläufern des Libanon-Gebirges, von Tartus über Latakia in Richtung des türkischen Antakya. Die wichtigste Straße dazwischen führt durch sunnitisches Gebiet, an ihr liegen die Städte Homs und Hama, und zwischen diesen Städten wiederum lagen die Ziele der gestrigen Luftschläge. Wir reden hier also von der einzigen Straße, die die beiden von der Regierung kontrollierten Landesteile verbindet. Wenn diese Verbindung abgeschnitten wird, zerfällt das Gebiet in zwei Teile. Das würde Assad schwächen, er wäre viel leichter zu besiegen. Die Ziele, die die syrische Armee Russland gegenüber benannt hat, sind folglich lebenswichtige Punkte.

        Über die syrische Opposition herrscht viel Unklarheit. Gibt es überhaupt neutrale Gruppen in ihren Reihen, oder ist sie durchweg islamistisch?

        Was und wer die syrische Opposition ist, das ist ein Thema für sich. Die Revolution im Iran wurde von Kommunisten, liberalen Demokraten, antiwestlicher Intelligenzia, Studenten und Islamisten gemeinsam gemacht. Die stärkste Gruppe waren am Ende die Islamisten. Ähnlich verhält es sich auch in Syrien: Der Teil der Bevölkerung, der Assad sein Vertrauen entzogen hat, setzt sich aus ganz verschiedenen Gruppen zusammen, aber die stärkste Kraft unter ihnen sind die Islamisten. Und auch diese Gruppe ist in sich wieder sehr heterogen – das Spektrum reicht von relativ gemäßigten Organisationen wie der Muslimbruderschaft bis zur Al-Nusra-Front, die schon ganze Städte abgeschlachtet hat. Natürlich sind die gebildeten Männer in westlichen Anzügen, die vor die Fernsehkameras treten und die Losungen der Opposition proklamieren, nur die mediale Seite des Widerstands – vor Ort laufen Männer in ganz anderen Anzügen und mit Maschinenpistolen herum. Andererseits sind ja auch die Vertreter der Assad-Regierung europäisch gekleidete, weltliche Männer und Frauen ohne Kopftuch – vergessen wir nicht, dass Syrien schon seit einem halben Jahrhundert eine säkulare Diktatur ist.

        Die gesamte westliche Welt wendet sich heute gegen die syrische Staatsführung. Welche politischen Perspektiven hat Assad Ihrer Meinung nach, genießt er im Volk noch Vertrauen?

        Ich bin selbst weniger als ein Jahr vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien gewesen, und ich kann sagen, dass die Entwicklung damals nicht vorherzusehen war. Von einer maroden Diktatur, die kurz vor dem Fall steht, von einem beim Volk verhassten Schreckensregime war nichts zu spüren, diese Stimmung gab es nicht. Es gab sie in Libyen, und es gibt sie heute im Iran, aber in Syrien gab es einen damals noch jungen Diktator (er ist auch heute noch ziemlich jung), an den sich Hoffnungen knüpften – und er hat ja auch wirklich eine gewisse Liberalisierung in Angriff genommen, vor allem im Bereich der Wirtschaft. Er hatte in London gelebt, dort studiert und als Arzt gearbeitet. Er war kein Isolationist, im Gegenteil: Die Regierungszeit des jüngeren Assad verbindet man mit einem vorsichtigen Umbau des arabischen Sozialismus zu einer zunehmend weltoffenen Marktwirtschaft. Damaskus Anfang der 2000er und Anfang der 2010er Jahre, das waren zwei völlig verschiedene Städte, und auch das Land insgesamt hatte sich verändert. Auf einmal gab es private Initiativen, es gab westliche Hotels, Restaurants, Handel – noch kein Starbucks Café, aber weit weg war auch das nicht mehr.

        Im Bezug auf die Ukraine wurde eine Unmenge von Mythen in die Welt gesetzt – in Bezug auf Syrien ist das anders. Hier konstruieren beide Seiten ihre Realität etwa im selben Maß.

        Das Wesen eines Regimes ist ja nicht das einzige, was zählt, man muss auch sehen, in welche Richtung es sich entwickelt. Das syrische Regime war vor dem arabischen Frühling dabei, sich zu liberalisieren, und eben deshalb hat es sich als so stabil erwiesen. Ben Ali war innerhalb von zwei Wochen weg vom Fenster, bei Mubarak dauerte es gerade einmal sechs Wochen, Gaddafi konnte sich vier Monate halten, und das auch nur, weil er die Hauptstadt verließ und sich ins Gebiet seines Clans zurückzog. In Syrien geht der Bürgerkrieg in sein fünftes Jahr. Ein blutiger Tyrann, der in einem Bürgerkrieg fünf Jahre lang die Hauptstadt kontrolliert, wird offensichtlich nicht nur von seinem eigenen Geheimdienst unterstützt, sondern auch noch von anderen Kräften. Hinter ihm stehen zumindest die 30 Prozent der Bevölkerung, die religiösen Minderheiten angehören: Sie sehen durch Assads Herrschaft ihr Überleben gesichert. Dazu kommt ein Teil der Sunniten, die ja auch nicht alle unter der Scharia leben wollen. Die Entscheidung zwischen der Scharia und einer säkularen Diktatur fällt nicht zwangsläufig zugunsten der ersteren aus. Es gab schließlich auch Afghanen, die die sowjetische Herrschaft der der Taliban vorzogen. Mich wundert das überhaupt nicht. Umfragen zufolge (wie genau deren Ergebnisse in Syrien derzeit sein können, ist natürlich schwer zu sagen) unterstützt etwa ein Viertel der syrischen Bevölkerung den IS.

        Warum hat sich die westliche Koalition dann so auf Assad eingeschossen?

        Das ist sehr die Frage. Ich vermute, die Vorgeschichte war in etwa die: Als erstes wurde Ben Ali abgesetzt – ein säkularer Diktator und prowestlicher Politiker, dann Mubarak, ebenfalls ein Partner des Westens, dann Gaddafi, der dem Westen verhasst war, aber gerade in seinen letzten Jahren angefangen hatte, die Beziehungen zum Westen zu normalisieren und westliche Ölfirmen ins Land zu lassen. Damals hatte man das Gefühl, auch Assad würde nicht mehr lang im Amt bleiben. Warum sollte man ihn also nicht stürzen? Syrien hatte ja fünfzig Jahre lang zum antiwestlichen Lager gehört, es war eher mit der Sowjetunion und dem Iran verbündet, der dem Westen gleichfalls eher unangenehm war. Aber die Wette auf den friedlichen Wandel ging nicht auf. Und im nächsten Schritt setzte die Dynamik der Verstrickung ein: Nachdem es nicht gelungen war, Assad mit Hilfe friedlicher Demonstrationen zu stürzen, nachdem Assad diese Demonstrationen gewaltsam niederzuschlagen begonnen hatten, musste man eben auf anderen Wegen helfen. Wenn man ständig in eine Partei eines Konflikts investiert, diese Seite aber nicht siegt, kann man ab irgendeinem Punkt, wenn die Investition zu groß geworden ist, trotzdem praktisch nicht mehr zurück. Natürlich ist Assad in den Jahren des Bürgerkriegs wirklich ein blutiger Tyrann geworden, seine Armee hat viele Menschen getötet. Andererseits haben die, die gegen ihn kämpften, ungefähr genauso viele Menschen getötet – oder zumindest so viele, wie sie konnten. Aber was die Zeit vor dem Bürgerkrieg angeht, können Sie die komplette westliche Presse durchforsten: Zwischen 2004 und 2011, grob gesagt, werden Sie nicht einen Hinweis auf Assad als Geschwür am Leib der Menschheit finden, selbst in den kritischsten Menschenrechtsberichten nicht. Assad wird dort in etwa derselben Weise kritisiert wie die Diktatoren der Nachbarländer auch.

        Eine massenhafte Unterstützung für das syrische Brudervolk zeichnet sich – anders als beim Thema Ukraine – in Russland nicht ab.

        Die Welt besteht ungefähr zur Hälfte aus illiberalen Regimen. Innerhalb dieser Gruppe gibt es aber verschiedene Entwicklungstendenzen, die man beobachten muss. Wenn ein Land nicht frei ist, folgt daraus, dass wir schleunigst für den Sturz des dortigen Regimes sorgen müssen? Oder sollten wir erst einmal sehen, wer dieses Regime ablösen könnte? In Syrien geht es ja nicht nur um einen Regimewechsel. Der Preis dafür sind 250.000 Menschenleben und 4 Millionen Flüchtlinge. Ob die Sache diesen Preis wert ist, ist sehr die Frage – zumal die Lage vorher nicht so schrecklich war. Es gab die regional üblichen Repressionen. Ich verstehe, dass man bei dem Wort „Repressionen“ gerechten Zorn empfindet, aber im Grunde sah es in jedem anderen unfreien Land ganz genauso aus. Zu Beginn des arabischen Frühlings war Syrien ein wesentlich angenehmerer Ort als Saudi-Arabien oder auch die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar, vom Jemen ganz zu schweigen. Die ganze Region wird autoritär regiert; mit Ausnahme von Israel, dem Libanon und der Türkei, die fast schon zu Europa gehört, gibt es dort keine Demokratien.

        Wer trägt die Hauptschuld an dem, was heute in Syrien geschieht?

        Der Westen sagt: Assad hätte gleich abtreten müssen, dann wäre es nicht zum Bürgerkrieg gekommen. Ben Ali und Mubarak sind gegangen, und es gab keinen Bürgerkrieg. Nur, warum sind sie gegangen? Nicht aus freien Stücken, sondern weil der Machtapparat und die Bevölkerung ihrer Hauptstädte nicht mehr hinter ihnen standen. In Damaskus gab es keine großen Demonstrationen, alles fing in kleineren Provinzstädten in der sunnitischen Zone an. Es war nicht so, dass die örtlichen Liberalen und Demokraten auf die Straßen der Hauptstadt gegangen wären und den Rücktritt des Diktators gefordert hätten. Wenn Sunniten in einem überwiegend sunnitischen Gebiet gegen die gottlose Hauptstadt demonstrieren, dann kann man diesen Vorgang nicht guten Gewissens als Demokratiebewegung beschreiben. Insofern unterschied sich der Fall Syrien schon vom Beginn des arabischen Frühlings an stark von den anderen Fällen – eine kritische Masse von Demonstranten in der Hauptstadt gab es dort nicht. Und dann, wer hat überhaupt eine Vorstellung von den Namen und Gesichtern, die die syrische Demokratiebewegung ausmachen? Der Krieg dauert schon über vier Jahre, aber diese Leute sind im Grunde nicht vorhanden, oder nur sehr schemenhaft. Es gibt Sprecher, es gibt eine Leitung, aber Führer der Demokratiebewegung, bekannte Gesichter, Identifikationsfiguren, gibt es nicht. Wir haben also auf der einen Seite eine säkulare Diktatur, und auf der anderen etwas ziemlich Undefinierbares.

        Der Westen sieht sich das derzeit an und überlegt, inwieweit das zutrifft und ob man Russland vertrauen kann.

        Wäre es auch zu einem Bürgerkrieg gekommen, wenn Assad zurückgetreten wäre? Diese Frage ist sehr schwer zu beantworten. Für einen Zerfall des Staates gab es in Syrien, wie auch in Libyen, durchaus eine Menge Voraussetzungen. Es gibt dort eine kurdische Zone, eine schiitische, eine alawitische und eine sunnitische. Die Leute hätten sich auch ohne Assad einfach gegenseitig abschlachten können, so wie man es im benachbarten Libanon zwanzig Jahre lang getan hat. Dafür braucht man keinen Diktator.

        Die offizielle Position Russlands im Syrienkonflikt ist also ganz angemessen?

        Wenn wir Syrien mit der Ukraine vergleichen, dann ist Russlands Position im ersten Fall wesentlich angemessener. Im Bezug auf die Ukraine wurde eine Unmenge von Mythen in die Welt gesetzt – in Bezug auf Syrien ist das anders. Hier konstruieren beide Seiten ihre Realität etwa im selben Maß. Der furchtbare, bei allen verhasste Assad ist ungefähr genauso eine Konstruktion wie eine Opposition, die ausschließlich aus Al-Qaida-Anhängern besteht. Aus dem, was man von russischen Regierungssprechern und Diplomaten hört, spricht nicht weniger vernünftige Einschätzung der Situation als aus den Reden von John Kerry.

        Mit der Intervention in Syrien hat Russland sich aus einem Land, das Krieg gegen die Ukraine führt, in eines verwandelt, das die Islamisten bekriegt – ein wesentlich ehrenhafterer Status. Ein Ende des Krieges in der Ukraine würde an den Sanktionen natürlich nichts ändern und an der Rhetorik ebensowenig, aber bis dahin wird das alles schon Schnee von gestern sein. Man wird Russland nicht daran hindern, den IS zu bekämpfen, man wird nur verlangen, dass es die von der Opposition kontrollierten Gebiete nicht anfasst. Idealerweise werden auch die USA ihren Juniorpartnern das Signal geben, Assad in Ruhe zu lassen und sich auf den IS zu konzentrieren. Das Problem der Staatsführung muss man später lösen: Assad jetzt zu stürzen, wo der IS in den Vororten von Damaskus steht, wäre reiner Wahnsinn und völlig unverantwortlich, es würde nur zu noch mehr Blutvergießen führen. Dass man allerdings nach dem Ende des Konflikts nicht zum Vorkriegszustand zurückkehren kann, dem stimme ich absolut zu. Nach einem Bürgerkrieg kann nicht eine der Konfliktparteien friedlich regieren. Verantwortliches Handeln bestünde in meinen Augen jetzt darin, die Opposition und die Regierung daran zu hindern, sich gegenseitig auszuradieren. Beide Koalitionen – der Westen, die Opposition und die Kurden auf der einen Seite, und Assad, Russland und der Iran auf der anderen – müssen den IS zerschlagen und sich dann auf eine Übergangsregierung einigen, die verschiedene Kräfte einschließt. Und wahrscheinlich auch auf einen Rücktritt Assads, der das Land immerhin auch schon 15 Jahre regiert – lang genug. Aber bevor man die Haut der Hydra aufteilt, muss man sie erst einmal erlegen – und davon sind wir weit entfernt.

        Welche Ziele verfolgt Russlands Führung in Syrien, und wie wird ihr Vorgehen im Inland wahrgenommen?

        Eine massenhafte Unterstützung für das syrische Brudervolk zeichnet sich – anders als beim Thema Ukraine – in Russland nicht ab. Eine Ausnahme sind allenfalls die Patrioten unter den Politologen, die am liebsten ständig die Seekriegsflotte irgendwohin entsenden würden, weil wir schließlich eine Großmacht sind. In der Bevölkerung allgemein ist die Unterstützung dagegen ziemlich gering. Den Amerikanern zeigen, wo der Hammer hängt – ja, aber unsere Jungs nach Syrien schicken – damit erreicht man keine 86 Prozent Zustimmung. Wir haben es hier also nicht mit einem Versuch zu tun, die Umfragewerte [des Präsidenten – dek] zu verbessern und das Land zusammenzuschweißen. Das Ziel ist vielmehr ein diplomatisches: Es geht darum, die Isolation zu überwinden, in die Russland nach der Krim, dem Donbass und der Boeing geraten ist. Man versucht, ein neues Kapitel anzufangen, und wie wir sehen, durchaus mit Erfolg. Dahinter steht der Wunsch, sich mit dem Westen zu versöhnen, aber nicht, indem man auf Knien angekrochen kommt, sondern indem man seinen Einfluss und seine Unentbehrlichkeit demonstriert. Der Westen sieht sich das derzeit an und überlegt, inwieweit das zutrifft und ob man Russland vertrauen kann. Haben die Russen sich wieder einmal wie Leute verhalten, die nicht nach den Regeln spielen – oder wie eine eigenständige Macht, die sich dem amerikanischen Führungsanspruch zwar entzieht, mit der man aber trotzdem etwas zu tun haben kann? Wenn es keinerlei Chance einer Verständigung gäbe, dann hätten sich wohl weder Putin und Obama noch Lawrow und Kerry getroffen.

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      • Die Propagandamacher (Teil 2)

        Die Propagandamacher (Teil 2)

        Wie werden Nachrichten in Propaganda verwandelt? Das Kulturportal Colta.ru hat Erfahrungsberichte von Mitarbeitern aus dem Inneren russischer TV-Sender veröffentlicht. Hier nun der zweite Teil dieser Materialien auf dekoder.

        Sergej Semjonow (Name geändert), Producer (REN TV)

        Ich habe bei der Sendung Sonderprojekt gearbeitet und bin dann vor einem Jahr gegangen. Aber den April und Mai habe ich noch mitbekommen – wie sich die Krim abspaltete und die ersten Säuberungen nach dem Maidan anfingen. Wir hatten den Auftrag für den Film Liebling, ich mach grad Revolution! Wir wollten da das aktuelle Thema Ukraine aus einer etwas anderen, persönlichen Perspektive angehen: Wir haben alle Revolutionsführer genommen, unsere guten Jungs von der Krim und die bösen Anführer des Maidan, und wollten zeigen, wie ihre Ehefrauen sich fühlen, wenn der Mann sagt: „Liebling, ich mach grad Revolution!“, wie die Familie das erlebt.

        Natürlich haben wir bei den bösen Figuren nicht nach guten Eigenschaften gesucht – dass sie eine Ehefrau, Kinder und eine Mutter haben – sondern nach einer Geliebten, nach abträglichen Seiten im Privatleben. An die Anführer der antirussischen Revolution heranzukommen war für russische Sender völlig unmöglich. Wir konnten unser Aufnahmeteam nicht dorthin schicken. Eine Akkreditierung hatten nur die Nachrichtenredaktionen. Alle anderen, auch Dokumentarfilmer, wurden damals wie heute nicht in die Ukraine gelassen. Also mussten wir uns was ausdenken. Deshalb wurde alles über Freelancer erledigt, aber kein ukrainischer Freelancer wollte etwas mit russischen Sendern zu tun haben.

        Als wir an einem Beitrag über den mittlerweile toten Musytschko alias Sascha Bilyj arbeiteten, haben wir uns einer jungen Freelancerin nicht als russischer, sondern als amerikanischer Sender vorgestellt. Wir haben gesagt, dass wir ihn als dynamischen Menschen zeigen möchten, der gut ist und Gutes will. Kurz, wir haben sie angelogen.

        Es war schwierig, Leute vom Maidan vor die Kamera zu bekommen. Aber diese Freelancerin kannte Musytschko persönlich und hat einen Termin mit ihm organisiert gekriegt, zwischen zwei Veranstaltungen. Er hat sich natürlich in gutem Licht dargestellt, aber wer sich mit Schnitt auskennt, weiß, dass man alles so zusammenschneiden und montieren kann, wie man es gerade braucht. Eine große Hilfe dabei war sein Background: Auf öffentlich zugänglichen Videos benahm er sich wie ein Verbrecher, mit Maschinenpistole schnappt er sich Beamte und packte sie bei der Krawatte. Das alles haben wir mit den Gesprächsaufnahmen gegengeschnitten, in denen er mit seinem bedrohlichen, vernarbten Kopf zu sehen ist und erzählt, wie nett und puschelig er ist, wie sehr er das Angeln, Eichhörnchen und seine Liebste mag. Außerdem haben wir noch ein Video hervorgeholt (das erstmals einige Tage zuvor auf NTW gezeigt worden war – Anm. Colta), in dem jemand auf dem Boden liegt, der dem armen Musytschko von weitem sehr ähnlich sieht, dahinter ein Mädchen im Sessel, die ihm mit einem schwarzen Stiefelabsatz ins Gesicht tritt – so Sadomaso-Zeug. Diese Bilder haben wir zwischen zwei Aufnahmen gepackt, in denen er besonders eifrig einen auf netter Kuschelbär macht – das Ergebnis war ein Porträt eines kompletten Perverslings.

        Als wir das alles zusammengeklatscht hatten, kriegte ich plötzlich große Angst: Was wird denn jetzt mit dieser armen Freelancerin, die das Ganze organisiert hat? Musytschko war ja knallhart – sein Großvater war Nationalist und Verfolgter [während der stalinschen Repressionen – dek], sein Vater ist da im Norden, im Lager aufgewachsen und hat dann später gesessen. Der Hass auf die Sowjetmacht war bei ihm erblich bedingt, er verband sie mit der russischen Besetzung der Ukraine. Für ihn waren die Russen immer schon Feinde und alle, die gegen sie sind, Freunde. Wir hatten echt Angst: Wenn er sieht, was wir da bringen, schlägt er diese Freelancerin ganz einfach tot, mit einer Eisenstange auf den Kopf und das war's.

        Die Sendung sollte am Mittwoch kommen. Am Montag haben wir angefangen zu überlegen, wie wir die Freelancerin da raushauen, haben einen ausführlichen Plan gemacht, aber in der Nacht auf Dienstag wurde er erschossen. Und so kam es, dass wir das letzte Interview mit ihm hatten – über sein Privatleben und Sexualexzesse.

        Das Einzige, was ich bei seinem Tod spürte, war Erleichterung wegen des Schicksals der Journalistin. Ich bin ein gläubiger Mensch, ich hatte gebetet: „Gott, wie kann ich sie retten? Gott, soll diese Sünde wirklich auf meiner Seele lasten? Für mich ist das einfach nur noch ein Film, aber sie wird erschlagen und Schluss.“ Aber die himmlische Hand hat alles gefügt, obwohl wir danach im Studio noch lange rumgescherzt haben, dass ich den Mord an Musytschko bestellt habe.

        Bei unserer Sendung änderte sich vor allem das Themenspektrum: Vor den aktuellen Ereignissen waren unsere Hauptfeinde solche wie die Rothschilds, Morgans und die ganze übrige Verschwörung des Weltkapitals, das uns mal mit schlechtem Essen vergiftet, mal den Ölpreis erhöht oder senkt. Als die Ereignisse in der Ukraine anfingen, wurde aus dem allgemeinen ein konkreter Feind. Aber das Redaktionsklima bei den Produktionen hat sich nicht verändert. Alles war wie immer, wir haben zur üblichen Zeit Mittagspause gemacht und zur üblichen Zeit die Bahn genommen. Bei uns waren auch Leute beschäftigt, die aus dem Donbass oder der Ukraine stammten, aber sie hatten keinerlei Probleme damit, die Dinge im gewünschten Licht darzustellen. Journalisten und Prostituierte unterscheiden sich nur dadurch, dass die einen es mit dem Körper tun und die anderen mit dem Kopf. Auch unsere finanzielle Lage hat sich nicht verändert. Das gibt es nur in schlechten Propagandafilmen: „Sie werden jetzt besser bezahlt und laufen schneller.“ Warum sollte ein Arbeitgeber das tun? Die Sendezeit bleibt gleich, der Produktionsumfang bleibt gleich. Es gibt einfach nur ein neues Brennpunktthema. Aber natürlich war das viel interessanter zu bearbeiten als die Rothschilds und Rockefellers. Es gab hier weniger Hirngespinste und mehr echten Stoff, emotionaleres Material.

         

        Stanislaw Feofanow, Producer (NTW, REN TV, TWZ)

        Zu Beginn der Ereignisse in der Ukraine habe ich für Die Woche gearbeitet, bei Marianna Maksimowskaja, von der Besetzung des Maidans bis zum Abzug der [ukrainischen – dek] Truppen von der Krim. Die Sendung unterschied sich sehr von dem ganzen Mist, der sonst auf REN TV lief. Wir haben versucht, objektiv zu berichten. Ich weiß noch, als das Regionalverwaltungsgebäude in Donezk besetzt wurde, sprachen wir erst mit den [separatistischen – dek] Milizen und fuhren dann viele Kilometer, um mit den ukrainischen Militärs zu reden. Ich staune immer, wenn erzählt wird, dass man nicht von zwei Seiten aus filmen kann. Alles geht, man muss es nur wollen! Ich erinnere mich, wie Puschilin uns erzählte: „Die Soldaten aus Kiew fressen der hiesigen Bevölkerung die Haare vom Kopf.“ Wir dachten: Ja, interessante Geschichte. Wir fuhren in ein Dorf, sprachen mit den alten Mütterchen dort, und die sagten: „Niemand wird armgefressen, wir kommen gut miteinander aus.“ Dann gingen wir zu den Soldaten, sie gruben gerade einen Panzer ein. Wir dachten, dass die uns auf der Stelle festnehmen, aber sie sagten gleich: „Wir können gern reden, worum geht‘s? Ob wir den Leuten was wegfressen? Ach wo, wir haben doch eine Feldküche.“ Während des Gesprächs kamen zwei Autos vorbei – in einem brachten Einheimische den Soldaten Borschtsch, im anderen wurde leckerer Speck rangekarrt. Wenn du natürlich mit der Vorstellung ankommst, dass hier Strafkommandos sind – mit denen braucht man gar nicht erst zu reden, ihre Gesichter sprechen für sich – dann sehen die Bilder hinterher auch so aus. Aber bei uns wurden die Themen ausgewogen dargestellt, wir haben beide Seiten zu Wort kommen lassen.

        Ich kann mich an keine Fälle von direkter Zensur bei der Woche erinnern. Die Leitung des Senders hat vielleicht bestimmte Fragen mit Marianna diskutiert, aber ich habe so etwas nicht mitbekommen. Trotzdem war klar, dass die Sendung an einem seidenen Faden hing, das Ende der Woche kam nicht unerwartet. Nach dem Abschuss der Boeing wurde es völlig unmöglich, so zu berichten, wie wir es bisher getan hatten. Aus allen Kanälen dröhnte und polterte es über die Junta, die Strafkommandos, die das Flugzeug abgeschossen hätten. Wir waren gerade im Urlaub, als die SMS von Marianna kam: „Liebe alle! Es ist soweit, unsere kleine, stolze Sendung wird abgesetzt. Vor uns liegt eine schöne neue Welt, in der das Leben anders sein wird.“ Heute arbeiten einige aus dem Team als Freelancer, andere gar nicht, wieder andere sind im Nachrichtenbereich von REN TV geblieben. Ich habe einen Kompromiss gefunden.

        Die Sendung Die Verteidigungslinie bei TWZ, bei der ich jetzt arbeite, ist ein Grenzfall. Es gibt bei uns Filme wie Die fünf Versprechen von Poroschenko, aber sie sind eher ironisch als propagandistisch. Ich selbst mache Beiträge zu abseitigeren Themen. Direkte Propaganda zu drehen, wird mir nicht angetragen, und ich würde das auch nicht machen. Ich hab jetzt Angebote vom Film und sollten die mir im Sender sagen: „Du musst das und das tun“, dann werd ich sagen: „Müssen muss ich gar nichts, auf Wiedersehen.“

        Natürlich ist die Verteidigungslinie nach der Woche ein Rückschritt. Aber was soll man machen? Man muss ja irgendwie leben. Ein Haufen talentierter Leute finden für sich beim Fernsehen keinen Platz mehr, wie zum Beispiel Roman Super oder Andrej Loschak, der kürzlich in einem Interview gesagt hat: „Vielen jungen Journalisten sagt mein Name vielleicht nichts mehr, weil ich vom Bildschirm verschwunden bin.“ Und Wadim Kondakow ist zu einem beschissenen Wirtschaftsforum gefahren, um dort Werbung zu drehen. Ich habe Angebote von den Sendern LifeNews und Swesda gekriegt, aber damit will ich gar nichts zu tun haben.

        Bei TWZ muss ich mich nicht verbiegen. Aber mir passt es nicht, dass im Umfeld unserer Arbeit zweifelhafte Sachen ausgestrahlt werden – keine regelrechte Propaganda, aber mit einem deutlichen Beigeschmack. Für mich ist das Fernsehen nicht mehr kreativ. Das betrifft vor allem die Themenwahl. Es gibt eine Zensur unter dem Deckmäntelchen: „Das Thema bringt keine Quote.“ Ich habe vorgeschlagen, darüber zu berichten, wer an den Bändchen und Schirmmützen zum 9. Mai verdient hat. Die haben teilweise 300 Rubel pro Stück gekostet – bei 100.000 Käufern sind das 30 Millionen Rubel. Also lasst uns einen Film darüber machen, wie man mit dem Patriotismus Geschäfte macht. Nein, das bringt keine Quote. Wir machen lieber was über eine russische Wanga, irgendein altes Mütterchen, das Vorhersagen macht. Bei TWZ werden von einem Dutzend Themen, die dich reizen, bestenfalls ein oder zwei genehmigt, ansonsten muss man an Sachen arbeiten, die man nicht mag.

        Vor REN TV war ich zusammen mit Katja Gordejewa und Andrej Loschak bei Beruf – Reporter auf NTW. Wir haben dort aufgehört, als sie nach unserem Film über die Proteste 2011–2012 die Daumenschrauben angezogen haben. Die Sendung ist praktisch gesprengt worden. Geblieben ist nur die Marke – sie wird zwar immer noch gesendet, aber gemacht wird sie von der NTW-Leuten aus der Kriminalabteilung. Wir hatten gehofft, dass die Demonstrationen, die Welle der Empörung den Niedergang aufhalten würde, dass sie den Damm brechen würde und daraus ein freies Fernsehen entsteht. Damals hatten die Leute noch zwischen NTW als Sender und der Sendung Beruf – Reporter unterschieden. Doch einer der letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten, war ein Gespräch auf der Kundgebung Beerdigung von NTW am Ostankino-Gebäude. Ich wurde gefragt, wie ich mich als anständigen Menschen betrachten kann, wenn ich da arbeite, wo Anatomie des Protests gemacht wird. So ein Gefühl wie „Wem haben wir da nur den Sender überlassen?“ kam gar nicht erst auf – es war schon klar, wem.

        Wer beim Ersten Kanal und bei Rossija 24 richtige Propaganda macht, dem ist alles sonnenklar. Hypotheken, Schulden, Probleme zu Hause. Trotzdem kann ich das nicht nachvollziehen. Ich bin in einer ähnlichen Lage: Ich lebe in einer Mietwohnung, im Herbst werde ich einen Kredit für eine Wohnung aufnehmen, aber ich begreife nicht, wie man den Leuten Scheiße in die Ohren kippen kann. Ich muss in solchen Fällen immer an meine Mutter denken. Sie ist sowieso schon so gehirngewaschen, dass ich manchmal nicht weiß, worüber ich mit ihr reden soll, außer über Haushalt. Bei ihr läuft dauernd der Fernseher, Kisseljow schwadroniert, Mamontow orakelt, und ich denke mir: „Wie kann ich bloß meine eigene Mutter belügen?“ Ich merke, dass ich auch mein Scherflein dazu beitrage.

        Früher haben wir über die Leute gelacht, die die Kriminalsendungen bei NTW machen. Es war widerlich, wenn ein irgendein Korrespondent unter irgendeinem Vorwand in eine Wohnung eindrang und das dann landesweit ausgestrahlt wurde und die Mitkowa allen eine Mail schickte: „Schaut mal, Leute, was für coole Arbeit die Kriminalabteilung abgeliefert hat!“ Wir dachten: Das geht nicht – Sicherungen rausdrehen, damit die Leute dir die Tür aufmachen, und dann alles mit versteckter Kamera aufnehmen. Aber die, die so etwas nicht fertigbrachten, wurden von einer Welle skrupelloser Journalisten schlichtweg verdrängt.

        In dieser Zeit jetzt denkt man nicht so sehr an Status als vielmehr ans Gewissen. Wie kann man sich in die Augen schauen? Wenn man in den Spiegel blickt. Du wachst morgens auf und denkst: „Gestern habe ich ja ganz schön Blabla produziert, was?“ Und kannst du damit weiterleben? Aber die meisten tun das natürlich.


        Diese Gespräche mit Mitarbeitern russischer Fernsehsender wurden aufgezeichnet und für Colta zum Druck vorbereitet von Dimitri Sidorow.

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        Die Propagandamacher (Teil 1)

        Russland informiert sich aus dem Fernsehen, doch das Fernsehen liefert nicht nur Information. Das Kulturportal Colta.ru veröffentlichte im August eine Serie von Berichten aus dem Inneren der staatlichen TV-Sender, in denen Mitarbeiter schildern, wie Nachrichten in Propaganda verwandelt werden. Wir bringen Teile dieser Serie auf dekoder.

        Die folgenden Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK wurden aufgezeichnet von Alexander Orlow und Dimitri Sidorow. Orlow war stellvertretender Chefredakteur der Fernsehsender Rossija 24 und Rossija 2 und wurde im Juli 2013 wegen facebook-Postings entlassen, die Alexej Nawalny unterstützten. Er plant nun ein Buchprojekt zu den Arbeitsumständen bei den Staatssendern und hat uns [dem Internetprojekt Colta, Anm. dek.] einen Teil seines Materials im Voraus zur Verfügung gestellt.

        Ein ehemaliger Mitarbeiter der Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft WGTRK berichtet:

        Im Februar 2014 gab es eine Besprechung, bei der der Chefredakteur sagte, der Kalte Krieg fängt an. Nicht der Informationskrieg – der lief schon längst, darüber wussten sowieso alle Bescheid. Sondern so ein richtiger Kalter Krieg, etwas, das den meisten wie ein Atavismus vorkam. Er sagte, es beginnt eine Epoche, gegen die die 70er und 80er Jahre Kinderkram waren. Deshalb sollten sich die, die da nicht mitmachen wollten, besser gleich ein anderes Betätigungsfeld suchen, außerhalb des Nachrichtensenders. Und für alle anderen gilt: Welcome to the Club. Gegangen sind nur ein paar und auch nicht sofort, allmählich, nach und nach, ohne groß Porzellan zu zerschlagen oder ein Drama draus zu machen. Respekt für ihre Haltung und ihren klaren Kopf. Alle anderen sind geblieben.

        Die Leute im Top-Management waren ja nicht dumm. Alle heiklen Fragen wurden im engsten Kreis besprochen und nicht auf den großen Redaktionskonferenzen mit 25–30 Ressort- und Abteilungsleitern. Nach den Freitags-Briefings im Kreml kamen die Chefs zurück in den Sender, holten ihre engsten Vertrauten zusammen und hielten Besprechungen ab, zu zweit oder dritt. Sie legten die Kernthemen fest. Dann wurde alles nach unten weitergegeben. Die Politik im Sender war völlig undurchschaubar. Auch das war Teil des Kalten Krieges – alles lief extrem verschlossen ab, keinerlei offene Diskussionen.

        „Junta“, „Ukropy“ oder „Banderowzy“: Diese Begriffe sollten die Moderatoren benutzen – die, die vor der Kamera stehen. Extra für sie wurden solche Formulierungen bei den Treffen im engen Kreis zurechtgeschnitzt. Aus dem Mund des Chefredakteurs habe ich sie nie als Vorgabe gehört. Auf den Redaktionskonferenzen wurde eine Agenda formuliert. Es war klar, dass die Berichterstattung zur Ukraine voll aufgedreht werden sollte – unbedingt je eine Geschichte pro Tag von der Krim, aus Donezk und aus Kiew. Im März 2014, nach dem Referendum, war die übliche Ansage: jeden Tag mindestens ein neues Thema von der Krim, möglichst mehr. Jeden Tag musste berichtet werden, wie die Krim sich entwickelt, wie Wissenschaft und Gewerbe florieren und wie der Wohlstand und die Freude unserer neuen Mitbürger wachsen.

        Die Frage, von welcher Seite man das beleuchten sollte und ob man diejenigen erwähnt, die unzufrieden sind, stellte niemand, das war sinnlos, wäre reine Zeitverschwendung gewesen. Das Gleiche mit den Korrespondenten. Sie erfüllten eine rein technische Funktion – der richtigen Person das Mikro hinhalten, das richtige Statement aufnehmen, die richtige Info rausbringen.

        Die, die im Kriegsgebiet waren, die Kriegsberichterstatter, konnte man menschlich verstehen. Erstens wurden sie von ihren großen und kleinen Chefs mit massiver Propaganda zugedröhnt. Zweitens: Wenn du an der Front bist und auf dich geballert wird, dann hasst du nach ein, zwei oder drei Wochen die, die auf dich schießen – und die Jungs hockten dort anderthalb bis zwei Monate ohne Pause. Klar, dass sich in ihren Berichten die Akzente verschoben. Es gab aber moderate Korrespondenten, die aus einer Mücke keinen Elefanten machten. Wenn eine Granate fiel, sprachen sie auch von einer und nicht von einem Bombenteppich.

        Wie schon gesagt, alles wurde von Hand kontrolliert. Als die ersten Minsker Gespräche liefen und es hieß, dass wohl irgendein Frieden kommt,  gab es ein Verwendungsverbot für die Wörter „Faschisten“, „Banderowzy“ oder „Junta“. Danach schwang das Pendel zurück und alles ging von vorn los. Als Strelkow anfing, Städte einzunehmen, standen ihm sämtliche Kanäle offen, er wurde rauf- und runtergesendet. Später musste er dann weg aus dem Scheinwerferlicht, und wir haben ihn einfach nicht mehr so oft gezeigt.

        Die Propagandamaschine brachte es im Zusammenhang mit diesem Krieg zu unglaublichen Zuschauerzahlen. Die Quoten von Rossija 24 stiegen immer weiter – auf das Anderthalb-, Zwei- und Dreifache der Zeit vor dem Krieg. Wir beide wissen ja, Fernsehleute sind Adrenalinjunkies. Plötzlich ist Krieg. Richtiger Krieg – mit Blut, zerfetzten Eingeweiden und Einschlaglöchern von Geschossen im Boden und den Häusern. Kann sein, dass manche das als Spiel sahen, so was Postmodernes. Andere hatten einfach begriffen, dass sich damit richtig Kohle machen lässt – nicht mit dem Krieg als solchem, sondern damit, ihn im richtigen Licht darzustellen: Dass man so letztlich neue Hebel in die Hand kriegt und neue Finanzströme anzapfen kann. Und die setzen alles daran, ihr Ziel zu erreichen.

        Es tauchten auch sofort eine Menge Freelancer auf, die uns zugearbeitet haben, ein Haufen kleiner Produktionsfirmen. Sie haben Videos gemacht, keine besonders guten: Jemand schickte einen 45-minütigen Film über Donezk, in dem einfach Milizen hin- und herlaufen und rauchen, mit schlecht verständlichen Livepassagen und Synchronisierungen. Absolut wertlos, selbst unter Propagandagesichtspunkten, einfach verworrenes Zeug à la schlechtes Autorenkino. Und das wurde zur Primetime gesendet und am Wochenende viermal wiederholt. „Was soll dieser Mist?“, habe ich gefragt und kriege als Antwort: „Alter, du kapierst das nicht, das bringt Riesenquoten.“

        Anders als beim Krieg mit Georgien war das perfekt vorbereitet, ganz systematisch. So eine Vorbereitung ist nicht innerhalb von drei Tagen oder bei einer einzigen Besprechung zu machen. Das waren Wochen, Monate und Jahre.

        Einen Krieg der Sender untereinander, also einen Wettbewerb, gab es schon nicht mehr. Aus der Präsidialverwaltung kam die Anweisung: Schluss. Jetzt geht’s nicht mehr darum, wer hier der Tollere ist und mehr Exklusivmaterial hat. Exklusivbeiträge gingen nur dort, wo der eine die Großmutter von jemandem gefunden hat und der andere den Großvater von jemand anders. Alles andere floss zusammen in einen einzigen massiven Strom. Alle haben wild alles untereinander ausgetauscht – Bildmaterial, Sprecher, Kontakte. Alles wurde ein großes Ganzes. Aus unterschiedlichen Holdings, unterschiedlichen Aktionären, unterschiedlichen Medienstrukturen entstand ein gemeinsamer Propaganda-Organismus.

        Im Sender kamen keinerlei Diskussionen auf. Manchmal emotionale Ausbrüche im Raucherzimmer – aber auch das nur zwischen Leuten, die sich einigermaßen vertrauten. Nicht jeder redete mit jedem. Ein Klima des Misstrauens – die ständige Möglichkeit, dass jemand denunziert. Aber alle wussten eh alles voneinander. Der Chefredakteur kannte meine Überzeugungen, lud mich zu Besprechungen gar nicht erst ein, ihm war klar, dass ich da etwas nicht mögen würde. Mir war das absolut recht.

        Von den wirklich überzeugten Leuten, wie Mamontow oder Semin, die das alles tatsächlich glauben, gibt es nicht so viele. Im Grunde genommen sind alle so ähnlich wie Dimitri Kisseljow, Stufe-50-Trolle oder wie auch immer er sich da nennt. 40–50 Prozent von ihnen waren auf dem Bolotnaja-Platz, ihnen war das Ganze absolut zuwider. Aber gekündigt haben sie nicht, aus ganz trivialen Gründen – die Familie, Kredite. Außerdem war allen klar, dass man nirgendwohin wechseln kann. Manche haben ihren Kummer im Wein ersäuft, andere Drogen genommen. Oder sie haben sich stattdessen in die innere Emigration begeben, am Wochenende Bücher gelesen und versucht, alles von Montag bis Freitag zu vergessen. Für mich selbst war das alles – ich scheue das Pathos nicht – eine Tragödie. Mir war klar, dass ich mich seit anderthalb Jahren mit ziemlich beschämenden Sachen beschäftigte.

        Aber 25 % waren überzeugt und glaubten, dass sie das Richtige taten. Ich und meine Freunde – die echten, nahen, von denen die allermeisten nichts mit dem Fernsehen zu tun haben – wir haben uns sofort darauf geeinigt, über dieses Thema einfach nicht zu sprechen. Allen ist klar, in welcher Scheiße wir stecken, was im Land vor sich geht. Da muss man nicht noch weiter Salz in die Wunden streuen. Aber wenn du das Zeug selbst produzierst und innerlich nicht so stark bist, dann fängst du womöglich nach einer Weile an, es zu glauben. Die 86 % Zustimmung für Putin sind ja schließlich real.

        Meine persönliche, nur durch meine Gefühle belegte soziologische Analyse ist: 50 % der Leute im Sender waren ähnlich wie ich, 25 % waren überzeugt und den restlichen 25 % ist einfach alles komplett egal. Wenn Chodorkowski an die Macht käme und seinen Sender aufbauen würde, würden sie dort arbeiten – und wenn ein Faschist an die Macht käme, dann eben für den … Diese Leute wären, wenn sich die Lage mal grundsätzlich ändert, nicht in der Lage, zu einem normalen Journalismus und zu normalen Standards zurückzukehren – einfach deshalb, weil sie sie gar nicht kennen. Irgendwann wird man die alle durchsortieren müssen, aus dem Beruf werfen. Man muss völlig neue Leute auswählen und sie anders ausbilden.

        Ehemaliger Mitarbeiter im Nachrichtenbereich der WGTRK:

        Freitags um 12 Uhr mittags gab es ein Briefing im Kreml, zu dem alle Chefredakteure kamen. Der Chefredakteur unseres Senders erhielt einen gedruckten Plan, in dem alles stand: Wie und was und wer als Experte eingeladen werden sollte. Praktisch eine Anleitung, ein Stapel A 4-Blätter, 1 Zentimeter dick. Bei dieser Besprechung notierte der Chefredakteur Anmerkungen, die Korrekturen wurden direkt mit Bleistift eingetragen. Ich erhielt einen Teil dieses Stapels und arbeitete danach wie nach Plan.

        Die Besprechungen im Kreml wurden von verschiedenen Leuten geleitet. Ganz früher war das Alexej Alexejewitsch (Gromow – Anm. der Red.). Bei Surkow bin ich mir nicht sicher. Dann hat Dimitri Sergejewitsch (Peskow – Anm. der Red.) sie abgehalten. Als er anfing, war das zunächst ganz in Ordnung. Aber später kam man nicht mehr einfach so an ihn heran – hier per Brief, dort mit extra Anmeldung. Es entstand eine Art Kult um Peskow, er verhielt sich à la Putin – das bin ich. Er hat das nie gesagt, aber es wirkte so. Alexej Alexejewitsch hat dagegen immer gesagt: „Leute, wendet euch an mich, ich helfe bei allem, was nötig ist.“

        Jetzt gab es plötzlich „Telefonkonferenzen mit Peskow“, morgens und abends. Ich weiß nicht, ab wann. Ich glaube, es war frühestens zwei Wochen nachdem Putin zuerst verschwunden und dann triumphal zurückgekehrt war. Die liefen über die direkte Regierungsleitung, das gelbe Wählscheibentelefon. Da geht etwas vor sich. Keine Ahnung, was, ich bin zum Glück nicht dabei.

        Früher gab es bei unserer Arbeit keine großen Veränderungen. Man hatte das Gefühl, alles ist ruhig und friedlich, und dann kamen plötzlich ohne Ende Instruktionen von oben. Inzwischen gibt es immer Anrufe von oben oder nach oben, wenn im Sender solche Entscheidungen und derartige Fragen besprochen werden. Der Chefredakteur kann frei entscheiden, ob über einen Unfall im Moskauer Umland berichtet wird oder nicht. Aber was die große Politik, Krieg und Frieden, angeht, hat er keine Freiheit.

        Zum Beispiel war da diese Parade in Serbien. Nicht direkt zu Ehren von Putin, zu Ehren des Sieges [im Zweiten Weltkrieg; dek.]. Aber Putin war, sagen wir mal, anwesend, auch wenn er sich etwas verspätete. Die Parade war wirklich flott, wahnsinnig schön. Rossija 24 nahm das Signal vom serbischen Fernsehen auf und übertrug es nach Moskau. Die Serben hatten alles organisiert, wir nur eine Dolmetscherin für den Moderator der Parade besorgt. Es gab lediglich eine kleine Beschwerde, weil die Dolmetscherin eine Frau war. Der Chefredakteur war gerade nicht da, aber sein Stellvertreter. Der Chefredakteur hatte ihm vorher gesagt: „Wir zeigen die Parade so und so lange, dann gehen wir raus und machen Bild im Bild weiter.“ Offenbar hatte er diese Frage nicht abgestimmt, und es passierte Folgendes: Die Parade läuft, sie ist wirklich gewaltig, niemand hätte das erwartet. Und dann macht der stellvertretende Chefredakteur, was sein Chef ihm gesagt hat: Er lässt die Parade eine Zeitlang übertragen und verlegt sie dann in ein kleines Fensterchen.

        Da bricht die Hölle los, Dobrodejew ruft drei oder vier Mal an und brüllt wie von Sinnen, dass die Parade sofort wieder gezeigt und bis zum Ende übertragen werden soll. Zugleich regt er sich über die weibliche Dolmetscherin auf – warum übersetzt kein Mann? Es gab einen derartigen Zirkus wegen dieser Parade … Wir haben natürlich alles rückgängig gemacht und die Parade bis zum Schluss übertragen. Danach gab es wieder Anrufe: „Wie konntet ihr nur, was macht ihr da eigentlich für Mist?“ Die Festreden waren lange vorbei, er (Putin – Anm. der Red.) war längst nach Mailand weitergeflogen, und wir übertrugen immer noch. Bitte sehr, die Entscheidung hat der Chefredakteur getroffen – und obwohl er eigentlich Herr über den Sender ist, hatte er falsch gelegen und kriegte aufs Dach.

        Einmal haben wir über ein Arbeitstreffen zwischen Putin und dem kirgisischen Präsidenten berichtet, das noch gar nicht stattgefunden hatte. Die Sache ist die: Früher gab es die Richtlinie, dass wir Veranstaltungen, an denen der Präsident teilnimmt, nicht ankündigen, mit Ausnahme bedeutender und internationaler oder wichtiger nationaler Anlässe, zum Beispiel mit der Botschaft an die Föderalversammlung. Bei regulären Arbeitstreffen wird weder die Region bekannt gegeben, in der sie am Folgetag stattfinden, noch irgendetwas anderes. Solche Treffen wurden nur äußerst selten und auf besondere Weisung vorher angekündigt. In der Regel haben wir am gleichen Tag darüber berichtet, und fast immer im Nachhinein. Es hatte einmal ein Riesenproblem gegeben, als der Korrespondent während einer Liveübertragung sagte, dass das Flugzeug gelandet sei, obwohl es noch gar nicht gelandet war. Es ging um einen Unterschied von fünf Minuten, aber es war ein höllischer Skandal. Bei der Sache mit Kirgisistan war die Dame, die im Sender darüber berichtete, ohnehin keine große Leuchte. Sie schreibt selbst kaum Texte, sondern beschäftigt sich lieber mit ihrem Make-up. Die Regel, dass nichts vorab angekündigt werden darf, hatte sich ihr mit den Jahren fest eingebrannt, nachdem sie deshalb früher schon Ärger gehabt hatte. Und nun sah sie plötzlich die im Futur formulierte Meldung, dass das Treffen voraussichtlich nächste Woche stattfinden wird und sagte aus alter Gewohnheit „stattgefunden hat“. Und als es weiter unten im Text hieß „sie werden besprechen“, machte sie daraus in Gedanken „haben besprochen“.

        Die manuelle Kontrolle erstreckte sich sogar auf die Wettervorhersage, es gab dazu direkte Anweisungen. Zum Beispiel, dass sofort der führende Meteorologe Wilfand eingeladen werden muss, damit er sagt, dass ein furchtbarer Winter bevorsteht und wir alle frieren werden. Man fragt: „Und was, wenn kein kalter Winter kommt?“ Denn es sieht eher nach einem milden Winter aus. Aber es gibt die allgemeine Tendenz, auf der Abhängigkeit der anderen herumzureiten. „Wartet nur, bald drehen wir euch den Gashahn ab, und ihr werdet alle frieren.“ Also war die ständige Leier: „Uns steht ein kalter Winter bevor.“

        Auch bei den Briefings hieß es ständig: „Veranstaltet mehr Höllenzauber!“ Da kommt zum Beispiel von oben die Anweisung, dass eine Kamera gebraucht wird, bei irgendeiner Veranstaltung, und die Leute in der Besprechung fragen: „Was sollen wir denn da machen? Das ist doch ziemlich öde.“ Ein Kulturzentrum einer Botschaft organisiert eine Lesung – natürlich fragt man sich: Wozu braucht es da eine Kamera? Weil dort bestellte Leute hinkommen und eine Show inszenieren. So kann etwa irgendein passender Historiker auftauchen und losbrüllen: „Sie versuchen, unsere Geschichte umzulügen!“ Man trommelt arme alte Leutchen zusammen, die seit Jahren zu solchen Anlässen gehen und schickt eine Kamera und eine bestimmte Person, faktisch einen Provokateur.

        Die TV-Fragestunde des Präsidenten wird überwiegend von der WGTRK organisiert. Vom Ersten Fernsehprogramm, von der WGTRK, jeder kriegt seinen Anteil. Eine Abordnung fährt vorher zur Präsidialverwaltung und durchläuft mehrere Instruktionsrunden – zum Was und Wie und dazu, welche Regionen und Städte ausgewählt werden. Dort fahren dann Kamerateams hin, eine Menge verschiedener Leute sind vorher da, laufen mit den Gouverneuren und anderen herum, organisieren Treffen mit den passenden Leuten, wählen Themen aus, alles wird hundert- und tausendfach abgestimmt. Es gibt eine sogenannte Voraufführung, wie beim Theater für die Mamas und Papas. Eine komplette Durchlaufprobe. Putin nimmt nicht daran teil, aber Peskow. Er beantwortet natürlich keine Fragen an Putins Stelle, aber er kontrolliert alles. Ein Aufnahmeteam stellt den Ablauf ungefähr nach. Leute, die dabei waren, haben mir gesagt, dass sie wie vor den Kopf geschlagen waren. Sie seien regelrecht vor Scham gestorben, weil alte Leute mit ihren Fragen zum Aufnahmeteam kamen und gar nicht daran zu denken war, diese Fragen in die Sendung aufzunehmen.

        Die Sache ist die, dass es das Fernsehen als solches nicht mehr gibt. Selbst wenn du im Kulturressort arbeitest, sagen sie dir: „Diesen Regisseur unterstützen wir, aber den da nicht“. Du kannst dich entweder damit abfinden und lächeln oder nicht mehr arbeiten und weggehen – wenn das Niveau endgültig in den Keller geht und dir klar wird, dass du nicht mehr bleiben kannst.

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      • Kaliningrader Bundesflagge

        Kaliningrader Bundesflagge

        Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Aktivisten will mit der deutschen Bundesflagge ein ironisches politisches Statement setzen, aber der Ablauf der nächtlichen Aktion gerät durcheinander, die Flagge landet am denkbar ungeeignetsten Gebäude und auch das Gerichtsverfahren wegen „Beleidigung der politischen Grundfesten aller Bürger Russlands“ läuft bald ein wenig aus dem Ruder. Ein Einblick in die Graswurzel-Schicht des russischen politischen Lebens. 

        Alles begann am 11. März 2014: Die Krim war noch nicht unser, aber viel fehlte nicht mehr dazu, an den Gebäuden der Stadtverwaltungen im Südosten der Ukraine hingen russische Flaggen über Flaggen. „Begonnen hatte alles mit einem Scherz. Einer von uns sagte: Was wäre wohl, wenn man in Kaliningrad die deutsche Flagge raushängen würde?“, erzählt der Angeklagte Oleg Sawwin dem Richter. Er und Michail Feldman sind örtliche Bürgeraktivisten. Dimitri Fonarjow ist ein Freund von ihnen aus Moskau.

        Auf dem Weg zur Aktion irgendwie verlaufen

        Die Aktion ging ziemlich daneben, es ist verwunderlich, dass überhaupt etwas dabei rauskam. Die Aktivisten sagen, ihr Plan sei eigentlich gewesen, eine Flagge an einem Baum in der Nähe eines Verwaltungsgebäudes zu befestigen: „Wir wollten zeigen, dass Russland haargenau so viel Recht auf die Krim hat wie die Bundesrepublik Deutschland auf die Kaliningrader Oblast." Sie hatten dafür heimlich eine Leiter zusammengenagelt und sie im nahegelegenen Park versteckt. Aber als sie im Morgengrauen mit der Leiter zu dem Gebäude kamen, merkten sie, dass sie unter dem Gewicht eines Menschen zusammenbrach. „Mischa zimmert sogar Plakatlatten so schief zusammen, dass man sie hinterher geraderichten muss – ich kann mir schon vorstellen, was das für eine Leiter war“, sagt Anna Marjassina vom Komitee für öffentliche Selbstverteidigung (KÖS), der Organisation, der auch Feldman und Sawwin angehören.

        Im Dunkeln, als es noch ruhig auf den Straßen war, hatten sich die drei auf den Weg gemacht. „Wir waren ungefähr zwei Stunden unterwegs, hatten uns irgendwie verlaufen, inzwischen wurde es hell und es waren mehr Leute unterwegs. Ich sagte, wir müssten das ein andermal machen, dann eben ohne Fonarjow“, führt Sawwin aus. Fonarjows Zug nach Moskau fuhr bereits in ein paar Stunden. Sie waren schon auf dem Weg zur Bushaltestelle, da fielen dem Moskauer leere Flaggenhalter an einem einstöckigen Gebäude mit einem Garageneinfahrtstor ins Auge. Er nahm Feldman die Stange mit der Flagge aus der Hand und sprang, mit einem Fuß auf den Mauervorsprung gestützt, in die Höhe und steckte sie in den Flaggenhalter. Seine Freunde wussten nicht, wie ihnen geschah. Fonarjow sei gekränkt gewesen, dass die Aktion ohne ihn durchgeführt werden sollte, so erzählt Sawwin. Der Moskauer wusste nicht, dass diese Garage ohne Schild oder sonstige Erkennungszeichen dem FSB gehörte.

        In der ersten Version der Anklageschrift hieß es, die drei hätten „die politischen Grundfesten aller Bürger Russlands beleidigt“. Diese Formulierung war offenbar sogar der Staatsanwaltschaft seltsam erschienen, sie schickte den Fall zweimal zur Nachermittlung. Im Endeffekt werden die Aktivisten nun beschuldigt, Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs beleidigt zu haben – ungeachtet dessen, dass es nicht die Flagge des Dritten Reichs, sondern die der Bundesrepublik Deutschland war, die an der Garage gehisst wurde, und das morgens um sieben für ungefähr drei Minuten.

        Es gibt auch einen Betroffenen in der Sache: den gekränkten Vorsitzenden des örtlichen Veteranenrats (geboren übrigens 1947, also nach Kriegsende). Der Vorsitzende will sich gegenüber der Presse nicht äußern und war auch schon zur ersten Sitzung nicht erschienen.

        Im März 2014 war der Strafrechtsparagraf zum Separatismus noch nicht in Kraft getreten. Also drückte man ihnen den Paragrafen Rowdytum aufs Auge: Der Artikel 213 ist einer der dehnbarsten Artikel des russischen Strafgesetzbuchs, deshalb wird er gern bei politischen Prozessen verwendet. Pussy Riot wurden nach ihm verurteilt, die Greenpeace-Leute wurden für ihre Aktion auf der Arktis-Plattform Priraslomnaja auf seiner Grundlage verfolgt. Feldman, Sawwin und Fonarjow droht nun ein siebenjähriger Freiheitsentzug.

        Wer wurde eigentlich beleidigt, die kämpfenden Frontsoldaten oder die an der Heimatfront?

        Die Anklage schreibt den drei Angeklagten Hass und Feindseligkeit gegenüber der sozialen Gruppe der Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs zu. Die Angeklagten erwidern, auch ihre eigenen Großväter hätten im Krieg gekämpft und seien gefallen, von welchem Hass denn hier eigentlich die Rede sein könne. „Was soll das heißen, ‚soziale Gruppe der Veteranen’? Wer ist denn damit gemeint, die Frontsoldaten oder die an der Heimatfront? Nur diejenigen, die in der Kaliningrader Oblast leben, diejenigen in ganz Russland oder alle Veteranen in allen Ländern des postsowjetischen Raumes? Sicher haben sie alle unterschiedliche Blickwinkel auf die Sowjetmacht: Der eine ist vielleicht Kommunist geblieben, ein anderer, wie z. B. Solschenizyn, geht hin und schreibt Archipelag GULAG“, sagt Sawwin vor Gericht. Immer wieder hört die Sekretärin auf zu tippen und blickt vorwurfsvoll in Richtung des Angeklagten. Oleg Sawwin ist 27, er ist ein wenig beleibt und sehr pedantisch. Seine detaillierten Ausführungen zum Geschehen dauern zwei Stunden. Genauso hatte er kurz nach seiner Festnahme über den Rechtsanwalt seinem Vater eine akribische Nachricht zukommen lassen, in der er genaueste Anweisungen gab, wie seine Spinnen, die er als Haustiere hielt, versorgt werden müssten. Auf keinen Fall dürften sie tote Fliegen bekommen, er solle auf jeden Fall die Spezialnahrung kaufen!  „Die kleinen Spinnlein sind wohl inzwischen ohne mich groß geworden“, schreibt Sawwin in Briefen aus dem Gefängnis.

        Die rätselhaften „politischen Grundfesten“ stehen jedenfalls nach wie vor in der Akte. Der Anwalt Dimitri Dinse, den die Organisation Agora stellte, befragt die Angeklagten: „Wissen Sie, was das bedeutet: ‚politische Grundfesten’? Hat der Ermittler Ihnen erklärt, wen oder was Sie beleidigt haben?“

        „Ich verstehe nicht, wie Bürger in einer demokratischen Gesellschaft überhaupt einheitliche politische Grundfesten haben können“, erwidert der hochaufgeschossene, magere Michail Feldman leicht stotternd. Die Ermittlungen schreiben ihm die führende Rolle bei dieser Aktion zu: In den Akten wird angeführt, dass es Feldman gewesen sei, der die Flagge gehisst habe, nachdem er auf die zur Räuberleiter ineinander verschränkten Hände seiner Mitstreiter gestiegen sei. Den Ermittlern war es dabei egal, dass Feldman durch die Bewegungsstörung ICP nur über eine eingeschränkte Koordinationsfähigkeit verfügt, so dass es mehr als unwahrscheinlich erscheint, dass er dieses Kunststück hätte ausführen können.

        Die Sache ist die, dass Feldman als Erster gefasst wurde. In dem Moment, als er am Morgen des 11. März die Flagge an der Garage fotografieren wollte, wurde er von Männern in Zivil mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt gestreckt, seine persönlichen Gegenstände wurden ihm abgenommen. In seinem Rucksack wurde später Hexogen gefunden, somit sind es bereits zwei Paragrafen, die Feldman gegen sich hat, da nun auch noch der Besitz von Sprengstoff hinzukommt. Sawwin und Fonarjow gelang es zu flüchten, doch den Zug nach Moskau schaffte Fonarjow nicht mehr: Sie wurden am Bahnhof festgenommen. Es folgten lange Tage im Untersuchungsgefängnis, angeblich wegen obszönen Fluchens in der Öffentlichkeit. Anschließend waren sie 20 Tage auf freiem Fuß. Danach folgte die Inhaftierung, diesmal bereits in einer Strafsache.

        „Lernen Sie öfter Männer über das Internet kennen?“

        „Sawwin redet sich heraus und schwärzt Fonarjow an. Ich beantrage daher, Rechtsanwältin Bonzler von der Verteidigung eines der beiden Angeklagten zu entheben“, fordert plötzlich der Staatsanwalt. Feldman und Sawwin beharren schon den ganzen Prozess über darauf, dass es Fonarjow gewesen sei, der die Flagge aufgehängt habe, zudem aus eigener Initiative. Und Fonarjow selbst, ein hübscher blasser Junge von 24 Jahren, sitzt die ganze Zeit mit abwesendem Blick da und schaut aus dem Fenster, als ob ihn all das überhaupt nichts anginge. Aber jetzt steht er auf und erklärt ganz ruhig, er habe der Rechtsanwältin nichts vorzuwerfen, im Übrigen stimmten seine Aussagen mit denen Sawwins überein. Damit wird klar, dass er wissentlich alles auf sich nimmt. Im Unterschied zu seinen Mitstreitern gesteht er seine Schuld teilweise ein. Dass er den Arm zu einem „Sieg Heil“, erhoben habe, leugnet er jedoch. Die Anklage bleibt hartnäckig dabei, der Aktivist habe Hitler unter der Flagge des heutigen Deutschland, wo die Nazi-Symbolik verboten ist, die Ehre erwiesen. Fonarjow war früher einmal Nationalist (aber niemals Nazi). Im Gegensatz dazu bezeichnet er sich jetzt als Weltbürger, als Kosmopoliten im Sinne Kants. Im Gefängnis ist es einsam, an Verwandten hat er nur seine Mutter (der Bruder starb, während er im Untersuchungsgefängnis saß), und die wohnt in Moskau und konnte bisher nur einmal zu Besuch kommen, es fehlt an Geld. Sie schickt dem Sohn Päckchen mit dem von ihm geliebten Tee, Halwa und Zucker. Fonarjow ist, was Essen angeht, sehr wählerisch und isst von dem, was es im Gefängnis gibt, fast nichts. Die Rolle der Mutter übernimmt vor Ort die geschäftige Anna Marjass1ina. Im Gerichtssaal erkundigt sie sich hastig bei den Angeklagten, wem sie was bringen soll, bis der Gerichtsvorsteher sie laut brüllend unterbricht: „Sprechen verboten!“

         „Lernen Sie öfter Männer über das Internet kennen?“, wird Fonarjow spöttisch vom Staatsanwalt gefragt. Tatsächlich hatten er und Sawwin sich in Vkontakte, dem russischen Facebook, kennengelernt: aufgrund gemeinsamer politischer Interessen. Fonarjow war dann einige Male nach Kaliningrad gekommen. Beim letzten Besuch hatte ihn Sawwin in Feldmans geräumiger Wohnung einquartiert, dort entstand auch die Idee zu der Aktion, von dort waren sie im Morgengrauen zu dem Verwaltungsgebäude aufgebrochen.

        Feldman ist 43 Jahre alt, er ist deutlich älter als seine Tatgenossen, dennoch fanden sie zusammen. Er ist Meeresbiologe, hat 11 Jahre lang im Institut für Ozeanographie AtlantNIRO gearbeitet und war auf die Buchten und Küsten des Baltikums spezialisiert. Aber später verließ er die Wissenschaft und jobbte als Journalist, verfasste Werbeartikel, getreu dem Motto: Wenn die Politik deine Arbeit behindert, schmeiß sie hin. Während Sawwin darüber klagt, dass er schlecht schlafe, da er sich über den Krieg in der Ukraine Sorgen mache, wobei er nicht die geringste Möglichkeit habe, irgendwie auf das Geschehen einzuwirken, betrachtet Feldman sogar seinen eigenen Strafprozess ironisch. „Wann hat man schonmal die Chance, mehrere Bände eines Fantasy-Romans auf einmal zu lesen, und dann noch über sich selbst, den liebsten aller Helden“, scherzt er in Briefen. Feldman schreibt selbst und hatte bereits im Untersuchungsgefängnis einen Auftrag für eine Serie von Fantasy-Erzählungen erhalten, worüber er sich diebisch freut: „Die Möglichkeit, im Gefängnis Geld zu verdienen, verschafft einem ein ungeahntes Gefühl von Freiheit.“ Es war der umtriebige Feldman, der Sawwin mit dem historischen Wikingerkram ansteckte. In Kaliningrad waren sie zu dritt, drei Wikinger, Feldmann, Sawwin und die schwarzhaarige Wika. Sie fuhren zusammen auf Festivals, bastelten skandinavische Schwerter, Äxte und Bögen. Nun ist die Bogenschützin Wika auf sich allein gestellt und kommt ins Gericht, um den Freunden von der anderen Seite des Gitters aus zuzulächeln. Für Politik interessiert sich Wika gar nicht, aber im Gericht fasst sie sich besorgt an ihren Sonnenrad-Anhänger: „Wer weiß, vielleicht gilt das bei denen auch schon als Verbrechen." Als Sawwin zum zweiten Mal in der Strafsache festgenommen wurde, war sie dabei: Die Freunde waren auf dem Weg zu einem Bekannten, als neben ihnen ein Auto anhielt, aus dem Männer in Zivil heraussprangen, die nichts sagten außer: „Sie kommen mit.“ Sawwin konnte gerade noch Wika darum bitten, seinen Freunden Bescheid zu sagen, dann war es aus mit der Freiheit.

        Die Fäuste des Antimaidan und der Mandarinen-Jahrmarkt

        Das Komitee für öffentliche Selbstverteidigung (KÖS), das jetzt eigene politische Gefangene hat, kann nun nicht mehr ruhig an Flaggen anderer Länder in der Stadt vorbeigehen: vor Hotels, auf Schildern, an Bars. Man fotografiert alles und stellt es ins Internet, nach dem Motto: Schaut her, ihr Leute, Verbrechen am helllichten Tage! Über ihre Aktion mit der Flagge hatten die drei sich mit ihren Kollegen nicht abgesprochen, darüber ist man dort verstimmt. „Man hätte zum Beispiel in der ganzen Stadt Flyer kleben können, sodass viele Leute sie hätten lesen und etwas erfahren können. Aber das wäre wohl keine solche Heldentat gewesen“, meint Anna Marjassina dazu.

        Unabgestimmte Aktionen, so etwas macht das KÖS nicht, Flaggen aufhängen oder Leuchtraketen anzünden, das ist nicht sein Stil. Sie agieren nur innerhalb des rechtlichen Rahmens, ihre Aktivisten wurden schon oft auf Versammlungen festgenommen, nur dass eben das Gericht bisher stets zu ihren Gunsten entschieden hatte. Die Leute vom KÖS hatten zäh und hartnäckig jedes Mal Anzeige wegen unrechtmäßiger Festnahme erstattet. Innerhalb einiger Jahre erstritten sie sich so vom Innenministerium eine Summe von 302.000 Rubeln [etwa 5000 Euro]. Aber dennoch war diesmal dem an Festnahmen gewöhnten Feldman das Versäumnis unterlaufen, die Stückliste der Dinge aus seinem Rucksack zu unterschreiben, ohne sie vorher durchgelesen zu haben. Nun ist das Gericht nur noch schwer davon zu überzeugen, dass das Hexogen in seinem Rucksack nicht von ihm stammte.

        Das KÖS versammelt sich allwöchentlich auf einem der zentralen Plätze. Man steht im Kreis auf dem Platz, Anna Marjassina spielt auf der Flöte die ukrainische Hymne als Zeichen ihrer Solidarität mit dem Brudervolk – das ist das Einzige, was man sich noch traut. Früher organisierte man Mahnwachen und Demonstrationen, zur Unterstützung der Demos auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau, für Pussy Riot, gegen den Fall vom 6. Mai, gegen den Krieg in der Ukraine … Aber am 21. September wurde der örtliche kleine Friedensmarsch von kompakten Burschen mit Georgsbändern umringt. Der Antimaidan begann in Kalinigrad früher als im übrigen Russland: Diese Leute überschrien die Demonstration und bewarfen und bespritzten die Oppositionellen mit Eiern und Brilliantgrün, aber das war noch nicht alles. Nach der Demonstration lauerte jemand zwei Teilnehmern, Alexander Gorbunow und Andrej Bogdanow, auf und verprügelte sie. Das waren die ersten Schwalben. Zwei Monate später wurden nach dieser allwöchentlichen Mahnwache des KÖS Wassili Adrianow und Jewgeni Grischin überfallen, letzterer verlor infolgedessen auf dem einen Auge fast das ganze Sehvermögen. Wiederum einige Tage später wurde Dimitri Irkitow zusammengeschlagen. Der aufgrund eines schweren Lungenleidens ohnehin bereits Schwerbehinderte erlitt derartige Schläge im Brustbereich, dass er operiert und ihm Teile des einen Lungenflügels entfernt werden mussten. Jetzt demonstriert das KÖS nicht mehr. Zeit und Ort der allwöchentlichen Versammlungen werden vorsichtshalber ständig geändert. Schweigend lauschen die Aktivisten der ukrainischen Hymne, danach gehen sie auf den Markt, um Lebensmittel für die Gefangenen zu kaufen. Gleich neben dem Markt sammeln unter der Flagge Neurusslands andere, feindliche, Aktivisten materielle Unterstützung für die Lugansker Separatisten. Übrigens halten selbst die ideologischen Gegner den Strafprozess für Unfug: Ein Mitglied der Bewegung Neurussland, Jewgeni Labudin, stand dem Kaliningrader Friedensmarsch mit einem Plakat zur Fünften Kolonne gegenüber, aber sogar er hat schon einmal ein Päckchen zu Fonarjow gebracht: „Die Fünfte Kolonne heizt die Lage an, aber die müssen es ausbaden!“

         „Sie brauchen Obst, es ist Frühling, Vitaminmangel“ Alexander Schidenkow, ein Mitaktivist, kauft Granatäpfel – er scherzt, es seien ja keine explosiven Granaten – und Orangen auf dem Markt. Im Winter brachte man den Gefangenen der Flagge immer Mandarinen mit, diese Frucht hat zudem eine ideologische Bedeutung. Im Jahr 2010 gab es die zahlenmäßig größte Demonstration in der jüngsten Geschichte der Stadt: den Mandarinen-Jahrmarkt, einen Protest gegen den Kaliningrader Gouverneur Boos (und seine Partei Einiges Russland). Das, was für Moskau die Bolotnaja-Proteste im Jahr 2011 bedeuten, ist für Kaliningrad der Mandarinen-Jahrmarkt. Die örtlichen Behörden verweigerten die Genehmigung einer Protestdemonstration unter dem Vorwand, der Platz sei bereits belegt, dort fände der allwinterliche Mandarinen-Jahrmarkt statt. Aber die Leute kamen dennoch: Viertausend Menschen hielten Mandarinen in die Höhe als Zeichen ihres Protests. Gerade an diesem Tag waren Feldman und Sawwin zum ersten Mal bei einer Demonstration dabei, bald wurden sie Mitglieder des KÖS und vier Jahre später politische Gefangene.

        gekürzt – dekoder

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      • Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

        Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

        Russische Wissenschaftler, Philosophen und Intellektuelle antworten auf die wichtigste Frage des Jahres.

        Oleg Aronson, Philosoph

        Was dieses Jahr geschehen ist, hatten viele bereits auf die eine oder andere Weise vorhergeahnt. Dennoch ist es nicht leicht, über die Veränderungen im Jahr 2014 zu reden. Meiner Meinung nach betreffen sie nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Umstände, sondern vor allem etwas, das ich unser moralisches Gespür nennen würde. Man kann zwar kaum sagen, dass dieses Gespür selbst nun ein anderes wäre als vorher, aber es war im vergangenen Jahr intensiven Attacken ausgesetzt, Attacken auf die Emotionen und das Bewusstsein: 2014 war ein Kriegsjahr, mit allem, was dies mit sich bringt.

        Der Krieg in der Ukraine ist in keiner Weise ein lokaler Konflikt und auch nicht einfach nur eine politische Rivalität unter Staaten oder eine banale Aggression. Die globale Welt, in der wir leben, hat die Epoche der Eroberungskriege bereits hinter sich, heute rennt niemand mehr geopolitischen Phantasmen hinterher. Welche Kriege in einer globalen Welt möglich sind, können wir uns bislang überhaupt nur begrenzt vorstellen: Wir wissen das eine oder andere über die Einsätze der USA im Irak oder in Afghanistan, aber diese Erfahrungen kann man nicht übertragen, denn bei diesen Kriegen wird der Feind noch im klassischen Sinne verstanden. Der Krieg in der Ukraine ist etwas anderes, er hat eher Ähnlichkeit mit einem Bürgerkrieg, allerdings mit einem, der nicht innerhalb der Ex-UdSSR vor sich geht, sondern auf dem Territorium der globalisierten Welt als ganzer.

        In diesem Krieg offenbart sich, wie vollkommen unangemessen sich Russland derzeit politisch gesehen verhält. Mehr als alles sonst fällt ein vollkommen unverhohlener Zynismus ins Auge. Je mehr die Politiker über Frieden sprechen, desto mehr entsteht der Eindruck, dass der Frieden an sich unmöglich ist.

        Ich denke, dass in einer wirtschaftlich globalisierten Welt alle Kriege die Tendenz haben, zu Bürgerkriegen zu werden, also zu Kriegen, in denen es keinen politischen Freund oder Feind gibt, oder es sie nur der Bezeichnung nach gibt, und in denen das Politische sich überhaupt als eine Fiktion erweist. Diese Art von Kriegen findet sozusagen im  Mass-Media-Modus statt. Die Kriegshandlung selbst ist dabei nur eine besondere Art von Effekt – wenn auch ein besonders dramatischer. Wir alle wissen, dass es Opfer gibt. Aber der eigentliche Krieg wird mit den Waffen der Medien geführt, und mit diesen Waffen wird im Grunde auch getötet. Beenden kann man solch einen Krieg nur, indem man die Medien radikal depolitisiert. In Russland sehe ich dafür bislang keine Anzeichen.

        In der globalen Welt braucht Krieg keinen konkreten Feind mehr. Der Krieg selbst verdrängt an Wichtigkeit den Gegner. Auch die Ukraine ist eigentlich ein zufälliger Feind. Im Grunde spielt die Trennung in politische Freunde und Gegner keine Rolle mehr, der Gegner kann jeder sein. Für die Politik ist nur wichtig, dass der Krieg weitergeht.

        Michail Gelfand, Professor für Bioingenieurwesen und Bioinformatik an der Lomonossow-Universität Moskau

        Der Krieg in der Ukraine, den Russland angezettelt hat, hat ausnahmslos alles verändert. Alle weiteren Ereignisse dieses Jahres sind Folgen dieses Krieges.

        Ljudmila Petranowskaja, Psychologin

        Die wichtigste Veränderung, was Russland angeht, besteht darin, dass von staatlicher Seite der Gesellschaftsvertrag annulliert worden ist. Dieser Vertag war bisher seinem Wesen nach ein Handel: Die Bürger verzichteten auf jegliche Kontrolle der staatlichen Machtausübung und erhielten dafür ein Grundmaß an Wohlstand und Stabilität. Im vergangen Jahr wurde den Bürgern dann gesagt, der Posten „Stabilität“ sei auszutauschen gegen den Posten „Großmacht“. Das sah für viele erst einmal verlockend aus. Aber schon gegen Ende des Jahres stellte sich heraus, dass von der Stabilität so gut wie gar nichts mehr übriggeblieben ist, der Wohlstand von Tag zu Tag dahinschmilzt, und mit der Großmacht hat es auch nicht so recht geklappt. Russland hat sich mit der ganzen übrigen Welt zerstritten, eine Menge alter Freunde verloren und seine Ziele nicht erreicht – mit Ausnahme desjenigen der Krim vielleicht. Aber auch da ist derzeit alles andere als klar, wie es weitergehen soll. Es wurde viel versprochen, aber nichts vollbracht. Faktisch gibt es jetzt überhaupt kein irgendwie greifbares Abkommen zwischen der Bevölkerung und der Staatsmacht mehr. Und das ist eine einschneidende Veränderung, denn zuvor gab es über 15 Jahre hinweg solch ein Abkommen und praktisch immer in der gleichen Form. Wie diese Situation sich weiterentwickelt, werden wir im nächsten Jahr erleben.

        Olga Sedakowa, Lyrikerin und Übersetzerin

        Das Jahr 2014 war nach meinem Empfinden eine Katastrophe. Wir (damit meine ich unser Land) haben eine ganz bestimmte Linie überschritten, und es gibt keinen Weg mehr zurück. Oder wenn es ihn gibt, dann ist er sehr schwierig zu finden. Zu Gorbatschows Zeiten sprach man von „allgemeinen menschlichen Werten“: Humanismus, Achtung vor dem Gesetz, eine generelle Vernünftigkeit, historische Zurechnungsfähigkeit … Dagegen ist das ganze abstoßende Gerede, das wir stattdessen jetzt als unsere angebliche nationale Identität serviert bekommen sollen, wirklich nichts als Schwachsinn. Es ist eine Mischung aus Protonazismus und Neostalinismus. (Neu ist in diesem Stalinismus allerdings die totale Gewissenslosigkeit: Zu Stalinzeiten hat man die Grausamkeit und Gemeinheit des Regimes versteckt oder wenigstens verschwiegen, nun aber zeigt man sie stolz herum). Hass und bisher nie dagewesene Dreistigkeit – das ist die Tonart der Musik, die jetzt gespielt wird.

        Ich habe in meinem ganzen langen Leben noch nie solch einen Unsinn gehört, wie man ihn jetzt überall zu hören bekommt. Und nicht nur in den Medien, obwohl die natürlich den Ton angeben. Auch unsere Mitbürger greifen das alles freudig mit auf! Man hört diese Obszönitäten heute selbst vom Nachbarn, den man noch vor einem halben Jahr für einen anständigen Menschen gehalten hat.

        Der kalte Krieg mit der Welt um uns herum hat begonnen. Und es beginnt auch ein (bisher noch) kalter Bürgerkrieg. Unsere Einschätzung davon, wer auf unserer Seite steht, wer unser nächster ist, hat sich ganz entschieden geändert. Es bricht überall etwas auseinander. In den Familien, im professionellen Umfeld, sogar in den Kirchengemeinden. Und es geht da nicht einfach um einen vorübergehenden Streit, sondern um eine tiefgehende Spaltung. Man hat sich so weit voneinander entfernt, dass eine Kommunikation nicht mehr möglich ist. Alles was bleibt, ist einander zu beschimpfen.

        Das ist natürlich alles nicht von heute auf morgen so gekommen, sondern hat eine Vorgeschichte. Aber was wir jetzt erleben, ist eine Stunde der Wahrheit. Dadurch wird die Lage nicht einfacher. Aber wir können immerhin die Augen nicht mehr davor verschließen, dass eine neue Zeit anbricht und wir uns ihr stellen müssen.

        Alexej Zwetkow, Schriftsteller und Essayist

        Es gibt diese Neujahrstradition, dem auslaufenden Jahr Flüche hinterherzuschicken und darauf zu hoffen, dass das neue Jahr besser wird. Es ist dabei schon fast unwichtig, was im scheidenden Jahr eigentlich gewesen ist, weil wir in jedem Fall etwas Besseres wollen. Dieses Mal ist es allerdings so, dass das vergangene Jahr tatsächlich Flüche verdient und 2015 sich schon sehr anstrengen müsste, um in die gleichen Niederungen abzustürzen. Aber auch das kann geschehen.

        Wer hätte je gedacht, dass 100 Jahre nach dem Beginn eines Krieges, in dem drei Imperien zu Grunde gegangen sind und die ganze damalige Weltordnung dazu, jemand den Versuch unternehmen würde, ein viertes solches Imperium zusammenzuschweißen, und mit derart tragischen Folgen für die Nachbarn. Und tragisch ist das natürlich nicht nur für die Ukraine, die hoffentlich noch die Chance hat, aus diesem ganzen Schlamassel heil herauszukommen. Es ist auch ein Drama für Russland selbst, denn vor uns selbst können wir nirgendwohin fliehen. Und auch die Hoffnung auf die Generation, die nach dem Zerfall der UdSSR aufgewachsen ist und die hätte freier und glücklicher sein sollen als wir, ist auch erst einmal dahin. Wenn es vielleicht auch einem Teil dieser Generation gelingen wird, sich wie Schiffbrüchige irgendwie zu retten. 

        Das Schlimmste ist der Verlust von Freunden – oder von denen, die man für Freunde gehalten hat. Wenn es nur Missverständnisse wären – Missverständnisse kommen nun einmal vor, und es gibt fast immer einer Möglichkeit, sie aufzuklären. Aber jetzt sieht es so aus, als würde sich die gemeinsame Welt, in der man zu leben glaubte, auf immer spalten. Das ist sehr schmerzhaft. An die Toten kann man wenigstens gute Erinnerungen behalten, viel schlimmer ist es, Lebende aus seinem Gedächtnis zu streichen.

        Allerdings sind diejenigen, die man in diesen Zeiten als Freunde behalten hat, dann umso wertvoller. Ganz zu schweigen von denen, die neu dazugekommen sind, zusammen mit der Ukraine, in der diese neuen Freunde leben und aus der ich ursprünglich komme und wo ich nun längst vergessene Kontakte wiedergefunden habe.

        Michail Jampolski, Philosoph

        Im Jahr 2014 hat Russland die Zone von Berechenbarkeit und Rationalität, ja überhaupt die von sinnvollen Kausalitäten verlassen. Alle Normen sind zerstört und das Land ist in eine politische und wirtschaftliche Krise gestürzt. Das soziale Gefüge besitzt keine stabile Konfiguration mehr, es befindet sich in einer Turbulenzzone. In der Systemtheorie nennt man dies ein instabiles Metasystem. In solch einem Zustand kann sich der geringste Einfluss ungeheuer verstärken und zu vollkommen unvorhersehbaren Resultaten führen. Anstelle vorausschauender Planungen kann es jetzt nur noch kurzfristige Überlebensstrategien geben. Man findet in Russland heute keinen einzigen Menschen mehr, der in der Lage wäre, langfristig zu investieren, und das nicht nur, was Geld, sondern auch, was die eigene Kraft angeht. Die Institutionen, welche die Gesellschaft hätten stabilisieren können, sind in ihren Strukturen geschwächt oder überhaupt hinfällig geworden. Das Gefühl, dass sich das ganze politische System nur an einem Menschen festhält – dem Präsidenten – wird immer stärker. Dieses Gefühl hat einen neuen Personenkult hervorgebracht, aber zugleich die Schwächen der Fundamente der russischen Gesellschaft offenbart: Es gibt keine Gerichte, keine politischen Parteien, keine soliden staatlichen Institutionen, keine funktionierende Wirtschaft … Das alles ändert das Bewusstsein der Menschen radikal. Und es bringt alle Maßstäbe von Zeit durcheinander. Eine mögliche 10-jährige Haftstrafe für den Oppositionspolitiker und Blogger Alexej Nawalny entspricht dann fast schon einer lebenslangen Haft – oder nur einer dreimonatigen, man kann es überhaupt nicht sagen. Die Perspektive von Zeit ist überhaupt verschwunden. Es entsteht und verbreitet sich eine Vorahnung des absoluten Systemkrachs. Und diese Transformation der Zeitperspektive und der Erwartungen wird selbst wiederum zu einem gewaltigen Destabilisierungsfaktor. Kurz gesagt, es sieht so aus, als ob das Jahr 2014 das Ende einer ganzen Epoche gewesen ist.

        Alexander Etkind, Philologe und Historiker

        Für Europa und für den Rest der Welt war 2014 das Jahr Russlands. Bei sehr vielen Menschen hat dieses Jahr ihre bisherige Vorstellung über den Charakter des russischen Staates verändert, über seine Legitimität und Lebensfähigkeit. Ich denke, in Russland selbst wird eine solche Neubewertung auch noch stattfinden, vielleicht sogar schon im nächsten Jahr.

        Anna Jampolskaja, Philosophin

        Ein großer Teil meiner Bekannten gehört zu denen, die man in Europa als Linke bezeichnet und in Russland als Liberale. Sie alle sind in eine Art Depression verfallen, ja in Verzweiflung. Es ist klar geworden, dass unsere soziale Gruppe, die sich lange Jahre als intellektuelle Avantgarde der Gesellschaft bezeichnet hat, mit der Mehrheit der Bevölkerung keine gemeinsame Sprache mehr hat. Wir haben keinen Traum mehr, den wir dem Menschen auf der Straße anbieten könnten. Das Wort haben jetzt die Traditionalisten, und sie verkünden: „Vorwärts in die rosige Vergangenheit!“ Und so befinden sich die europäischen ultrarechten und Putinisten derzeit im Aufstieg, und die ehemaligen Revolutionäre und Modernisten können nur wie ein Mantra wiederholen: „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ … Diese Worte haben aber durch übermäßigen Gebrauch ihre beschwörende Kraft längst verloren.

        Niemand, auch wir selbst nicht, glaubt noch daran, dass man eine gerechte, freie Gesellschaft erschaffen kann. Wir sind nicht in der Lage, uns selbst, geschweige denn den anderen, ein positives Bild von Zukunft aufzuzeigen. Wir haben keine Hoffnung mehr. Ich denke aber, dass unsere Niedergeschlagenheit, unsere Verzweiflung und intellektuelle Kraftlosigkeit nichts mit einer tatsächlichen oder eingebildeten Besonderheit Russlands zu hat. Sie ist ein Zeichen unserer Zugehörigkeit zum europäischen Schicksal. Und deswegen ist es so wichtig, die Herausforderungen anzunehmen und diese Zeit mit erhobenem Haupt zu überstehen.

        gekürzt – dek.

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