In Fellmantel und dicken Filzstiefeln marschiert Putin an den Reportern vorbei. Mantel und Stiefel abgelegt, taucht er anschließend zu feierlichen Gesängen versammelter kirchlicher Würdenträger und vor laufenden Kameras ins eiskalte Wasser des Seligersees, ein Kreuz über der nackten Brust – nicht ohne sich zu bekreuzigen.
Am 19. Januar feiert die orthodoxe Kirche das Epiphanias-Fest. Das traditionelle Untertauchen im Eiswasser soll dabei an die Taufe Jesu im Jordan erinnern und die Gläubigen von den Sünden reinwaschen. So öffentlichkeitswirksam wie Putin 2018 beging allerdings noch kein russischer Herrscher den orthodoxen Feiertag.
Dass ausgerechnet der Ex-KGBler die orthodoxen Bräuche pflegt – nicht nur an Epiphanias – verwundert manche. Kurz vor dem Epiphanias-Fest am 19. Januar wurde im staatsnahen Fernsehkanal Rossija 1 außerdem eine Doku über das Kloster Walaam ausgestrahlt. Darin verglich Putin die Mumie Lenins mit Reliquien christlicher Heiliger.
Andrej Loschak schimpft auf colta.rudarüber, dass die Staatsführung sehr unterschiedliche Ideologien zusammenmische. Mit diesem Sud würde in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspült. Das ist Loschaks optimistische Prognose. Er hat auch eine pessimistische.
Putin hat die Mumie Lenins mit christlichen Heiligtümern verglichen. Der Vergleich eines blutbefleckten Atheisten mit Märtyrern spiegelt wunderbar die ideologischen Prozesse wider, die in der Staatsführung vor sich gehen. Anders gesagt, er zeigt anschaulich, was für ein höllischer Brei sich da in den Köpfen zusammenbraut.
Höllischer Brei in den Köpfen
Ich kenne keine Kreml-Insider, aber wenn ich die Stimmungen in den oberen Rängen mitkriegen möchte, stöbere ich manchmal einfach auf der Website meines Kommilitonen aus dem Journalismusstudium. Der war mal ein lieber, freundlicher Typ – jetzt ist er einer der Chef-Reporter von RTR. Für ihn und seinesgleichen ist das Thema Liberale schon lange erledigt. Die sind Müll, Dreck unter den Füßen, ihre bloße Erwähnung schon eklig. Ein paar angewiderte Posts, unter anderem homophobes Gewitzel über Serebrennikow, das ist alles, was der Reporter in den letzten drei, vier Monaten auf Facebook zum Thema „Liberasten“ von sich gab.
Viel unterhaltsamer und emotionaler ist der Streit, den er – der überzeugte Stalinist und sowjetische Revanchist – mit orthodoxen Monarchisten führt. Sogar beim Sender Spaswar er dafür. Die Monarchisten regten sich über die Verbrechen des Sowjetregimes auf (schimpften nebenbei natürlich auf den Westen und die Liberalen), und der stalinistische Reporter empörte sich ernsthaft über die „schleichende Ent-Sowjetisierung, bei der die orthodoxe Kirche aus irgendeinem Grund mitmacht“.
Wenn man sich die Polemik auf Spas ansieht, wird einem klar, dass Russland in den nächsten sechs Jahren genau von diesem verkrampften Ringen der Stalinisten und Monarchisten bestimmt sein wird. Aus dem für das 21. Jahrhundert lächerlichen Streit zweier überholter Ideologien will die Staatsmacht neue Klammern generieren. Prozessionen von Verkehrspolizisten, Segnungen von Trägerraketen (die dann abstürzen), neue Stalin-Denkmäler im ganzen Land und Verbote, Verbote, Verbote – so ungefähr wird die Zukunft Russlands aussehen. Mit der Zukunft der restlichen Menschheit wird das nichts zu tun haben – das größte Land der Welt hat einfach nur wieder mal beschlossen, einen Sonderweg zu gehen. Den Preis solcher Alleingänge kennen wir gut aus der Geschichte, aber mit sadomasochistischer Sturheit schlagen wir uns immer wieder am selben Rechen den Schädel an.
Segnungen von Trägerraketen (die dann abstürzen), neue Stalin-Denkmäler und Verbote, Verbote, Verbote – so ungefähr wird die Zukunft Russlands aussehen
Für die Ideologen des Regimes sind all diese Battles von Revanchisten gegen Orthodoxe Balsam für die Seele. Früher gab es eine Religion, die kommunistische, jetzt gibt es zwei – ist doch klasse!
Interessanterweise nimmt keiner von denen, die sich ständig einen auf den Sowok runterholen (ein erstaunlich passender Ausdruck), je das Wort Kommunismus in den Mund. Niemand glaubt an ihn oder erwähnt ihn auch nur. „Mit dem Pflug übernommen, mit der Atombombe hinterlassen“ ist das wichtigste Mantra. Sie huldigen dem Sowok gerade als totalitärem Staat und vergessen dabei ganz, für welche Idee dieser gigantische Gulag eigentlich aufgezogen wurde. Denn die ungeheure soziale Ungleichheit, wenn 25 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben, und daneben eine Handvoll Milliardäre (Freunde des Präsidenten) – das ist so ganz und gar nicht kommunistisch.
Ähnlich ist die Situation mit Putins Orthodoxie. Keiner der Hierarchen und Staatsmänner spricht von der zentralen Botschaft Christi: von Liebe und Vergebung. Das Wort Gottes ist hinter all diesen heiligen Mächten, wundertätigen Ikonen und Kirchenbannern auf pompösen Prozessionen überhaupt irgendwo verloren gegangen. Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen wie im Großinquisitor. Weil er andernfalls umgehend all diese fettgesichtigen Popen verjagen würde, die in Kathedralen Handel treiben und gegen die zehn Gebote verstoßen.
Würde es Jesus einfallen, im gegenwärtigen Russland wiederzukehren, würde ihm hier eindeutig eine Haftstrafe wegen Verletzung religiöser Gefühle blühen
Die Staatsmacht braucht keine frohe Botschaft, sondern ein weiteres Sicherheitsorgan – ein furchterregendes ideologisches Amt, das Gedankenverbrechen ahndet.
Als Folge lässt sich eine interessante Metamorphose beobachten: In vielen Köpfen sind Sowjetwichserei und orthodoxer Monarchismus zu einer bizarren Figur verschmolzen; sowas in der Art haben die Nachtwölfe bei ihrem Festival auf der Krim präsentiert: ein sowjetisches Wappen mit einem zaristischen Doppeladler. Die Apotheose: Sjuganow wünscht alles Gute zu Weihnachten – „dem Fest der Zukunft“. Vor unseren Augen entsteht eine rot-orthodoxe Ideologie.
Der Film Walaam, in dem unter anderem berichtet wird, wie gut die Rotarmisten mit den Kirchendienern umgingen, ist ein Meilenstein auf diesem Weg: „Spirituell, stark, heiter“ – mit diesen Schlagwörtern kündigten kremlfreundliche Websites den Filmstart an. Diese neue Richtung lässt sich mit Besonderheiten in der Biografie und mit persönlichen Vorlieben unseres Präsidenten leicht erklären. Einerseits entstammt er dem KGB, besucht aber andererseits an Feiertagen den Gottesdienst und bekreuzigt sich vor laufender Kamera. Das muss man ja irgendwie vereinen – und so vereinen sie es so gut es geht. Eine Dekonstruktion von Bedeutungen läuft da, eine Verwandlung von für sich genommen starken Ideen in einen postmodernen Trash-Zirkus, das Lieblingswerk von Putins Ideologen. Und mit diesem elenden Sud wird man offenbar in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspülen. Das wäre die optimistische Prognose.
Es passiert eine Verwandlung von für sich genommen starken Ideen in einen postmodernen Trash-Zirkus. Und mit diesem elenden Sud wird man in den nächsten Jahren der Bevölkerung das Hirn durchspülen
Die pessimistische Prognose ist im Film Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben beschrieben. Wie alle Geächteten von Weltrang greift Putin immer häufiger zur Waffe und fuchtelt damit als einzigem Argument dem verehrten Publikum vor der Nase herum. Der ganze militaristische Schaum, der nach der Annexion der Krim geschlagen wurde, schien sich im letzten Jahr wieder aufzulösen. Putin wird kaum Lust darauf haben, zur Karikatur eines Bösewichts à la Kim Jong-un zu mutieren, der die Welt mit Atomwaffen terrorisiert; andererseits lässt er sich selbst keine andere Wahl. Der Krieg mit der Ukraine wird schwelen, solange Putin an der Macht ist. Daher werden sich zum Kalaschnikow-Denkmal bestimmt noch andere Symbole dazugesellen, daran besteht kein Zweifel. Aber hoffentlich zumindest keine neuen Kriege. Dann doch lieber den orthodoxen Sowok als Nordkorea.
Moskau, Sommer 2013. Eine Autoexplosion hier, ein Mord da: Über ein Netz von kaltblütigen Geheimagenten will die CIA die Lage in Russland destabilisieren, doch der FSB ist ihnen auf der Spur. „Konfrontation der Geheimdienste, Intrigen und echte Liebe“ – als „TV-Event des Jahres“ kündigt der staatliche Erste Kanal in Russland seine neue Serie Die Schläfer an, dessen Handlung „auf wahren Begebenheiten“ basiere.
Die vom Kulturministerium geförderte, aufwändig produzierte Thriller-Serie sorgt insbesondere in unabhängigen Medien für heiße Diskussionen. Sogar die jüngste Messerattacke auf Tatjana Felgengauer, die stellvertretende Chefredakteurin von Echo Moskwy, wird in Verbindung gebracht mit der Folge, in der eine Journalistin durch einen Messerstich in die Kehle ermordet wird.
Zusätzliche Brisanz gewinnt die Serie durch eine Stellungnahme des Regisseurs auf Vkontakte: Juri Bykow, der sich mit Filmen wieMajor auch im liberalen Lager einen Namen gemacht hat, erklärt darin seinen Rückzug aus dem Filmgeschäft, und wirft sich selbst vor, mit der Serie „die gesamte progressive Generation verraten“ zu haben.
Natalja Issakowa hat die acht Folgen der Schläfer angeschaut und erklärt in einer kritischen Rezension auf Colta.ru, warum sie die Serie gefährlich findet – noch gefährlicher als Propaganda-Nachrichten.
https://www.youtube.com/watch?v=mC6CBqRoDwA
„Wie man Russland in acht Folgen zerstört und keiner merkt, dass es total irre ist.“ So in etwa stelle ich mir die Kernidee der Schläfer als Pitch bei einem Filmmeeting vor. Die TV-Serie Die Schläfer, ausgestrahlt im Ersten Kanal, hätte durchaus das Potenzial zu einer fabelhaften schwarzen Komödie im Stil von Borat gehabt, in der die wesentlichen Mythen und Ängste des kollektiven Unterbewussten ausgeschlachtet werden. Aber nein: Das Ganze ist völlig ernst gemeint. Wie viele Kritiker bereits festgestellt haben, unterscheiden sich Die Schläfer ideologisch kaum von Informationssendungen des staatlichen Fernsehens. Sehen wir uns an, warum die TV-Serie Die Schläfer dennoch gefährlicher ist als die Nachrichten. Aber zunächst ein paar Worte zur Handlung.
Der CIA-Agent mampft Hamburger
Die Amerikaner träumen davon, Russland zu zerstören. Ein dämonischer CIA-Agent (Alexander Rapoport) fühlt sich in Russland wie der Boss. Er mampft Hamburger, und zwischen den Morden spielt er Tennis oder Schach (offenbar eine Anspielung auf das Buch The Grand Chessboard des Politologen Zbigniew Brzeziński, in dem, so heißt es oft, der Plan der USA, Russland zu vernichten, beschrieben ist). Nach seiner Pfeife tanzt sogar der amerikanische Botschafter (ein stämmiger Blondschopf, dem ehemaligen US-Botschafter in Russland Michael McFaul recht ähnlich).
Der CIA-Mann hat überall in Russland seine Agenten, die seinerzeit von einem produktiven MGIMO-Dozenten angeworben wurden. Im nötigen Augenblick bekommen sie die Nachricht: „Wach auf“, und beginnen der Heimat Schaden zuzufügen. In den meisten Fällen tun sie das noch nicht einmal aus Angst oder Geldgier, sondern weil sie irgendwann einmal ihr Wort gegeben haben, zu intrigieren und alles ins Wanken zu bringen.
Um Russland zu zerstören, muss die Abmachung zwischen Russland und China über den Bau der Pipeline Sila Sibiriplatzen. (Wie Russland bis heute überleben konnte, wenn doch alles an dieser Pipeline hängt, bleibt ein Rätsel.) Dafür müssen die Chinesen aus dem Konzept gebracht werden, dann werden sie sich von dem unruhigen Partner schon lossagen. (Aus irgendeinem Grund haben die Macher der Serie die Vorstellung, Chinesen seien prüde und schreckhaft. Wie eine viktorianische Jungfrau brechen sie bei jeder kleinen Anspielung einen Skandal vom Zaun.)
Korruption? Bei uns klaut die Regierung nicht
Streng geheime Unterlagen über ein schreckliches Geheimnis werden dem Blogger Asmolow zugespielt, der sich mit Korruptionsbekämpfung beschäftigt (Gruß an Nawalny). Diese Unterlagen sollen Informationen über illegale Absprachen bei der Auftragsvergabe zum Bau der Pipeline enthalten, hinter dem Schattensystem des Geldtransfers steht der FSB. Aber das ist natürlich nicht wahr – denn bei uns klaut die Regierung nicht, und schon gar nicht der Teil der Regierung mit Schulterklappen.
Nach einer sensationellen Pressekonferenz von Asmolow über ein Anwesen und, sorry, eine Pipeline mit Entchen (c) jagen die Amerikaner das Auto des Bloggers in die Luft. Das ganze Jean-Jacques (in der Serie ist es das Café Herzen) trauert. Und eine Trollfabrik, natürlich vom State Department finanziert, trichtert dem Volk ein, der FSB würde Oppositionelle umbringen. Die schreckhaften Chinesen versuchen abermals abzuspringen. Aber ein alter sowjetischer General mit erhaben ergrautem Haar beruhigt sie – erschöpft, aber voller Nachdruck.
Grausamer CIA, tapferer FSB
Ein einfacher Skandal genügt den CIA-Leuten jedoch nicht. Sie wollen Tausende Unzufriedene auf die Straße bringen und eine Revolution anheizen – Hauptsache die Chinesen machen sich in die Hose und unterzeichnen den Vertrag mit Russland nicht. Doch der Plan geht nicht auf. Ein Nachwuchsblogger filmt den Anschlag auf Asmolow und verkauft das Video an oppositionelle Journalisten. Um Spuren zu verwischen, arbeitet eine russische Verräterin gewissenhaft eine Liste ab und bringt ohne mit der Wimper zu zucken alle um – auf Befehl des CIA, versteht sich.
In einer heiklen Situation alle umbringen: Das ist das Lieblingsverfahren der Amerikaner. Um an die geheimen Dokumente über den Bau der Sila Sibiri zu kommen, setzen sie sogar den ihnen gegenüber handzahmen IS auf die russische Botschaft in Libyen an – damit beginnt die Serie. Mehr als 20 Mitarbeiter der russischen Mission sterben, es bricht ein richtiger Krieg aus – und all das nur, damit Uncle Sam einen Aktenkoffer mit ein paar Unterlagen bekommt. So grausame Menschen sind das nämlich.
Ganz anders dagegen unsere tapferen Agenten des FSB. Manchmal würden sie dem Feind sogar gern symmetrisch antworten, aber sie können einfach nicht. Sie sind doch Offiziere. Menschen mit schneeweißer Weste. Sie schimpfen nie Matund lassen ihre Leute nicht im Stich.
Der Verräter trägt schicke Anzüge
Du schaust einem von ihnen ins Gesicht, beispielsweise Andrej Rodionow (Igor Petrenko), und weißt: Er könnte keiner Fliege was zuleide tun. Sein ganzes Leben liebt er eine einzige Frau, die seine Gefühle nicht erwidert, und dient seiner Heimat. Zugegeben, den einen oder anderen Verräter gibt es auch bei den Organen, aber die erkennt man sofort an ihren modischen Haarschnitten aus dem Barbershop, den schicken Anzügen und den unangenehmen Stimmen.
Worin besteht also die Gefahr dieser Serie? Als wüssten wir nicht schon aus den Nachrichten, dass Russland von Feinden umringt ist und Oppositionelle sich selbst umbringen, nur um dem Staat eins auszuwischen. Doch in den Nachrichten werden die Emotionen nicht so angeheizt. Eine Serie dagegen bietet die Möglichkeit, ideologische Maximen unterm Deckmantel von Küssen ins Herz des Zuschauers zu meißeln.
Die schädlichen, liberalen Ideen vertritt selbstverständlich der Bösewicht. Über seine Argumente braucht der Zuschauer gar nicht groß nachzudenken – was soll man schon von einem Menschen erwarten, der ein Agent des State Department ist und, schlimmer noch, seine Frau mit der Frau des Darstellers Fjodor Bondartschuk betrügt. Wenn allerdings der gute FSBler mit dem sanften Bariton seiner Geliebten die Weltverschwörung gegen Russland erklärt, weiß jeder: Nur er und seine Kameraden können das Land vor der Katastrophe bewahren.
Alles wäre gut, wären da nicht diese Yankees
Der Zuschauer bekommt mit den Schläfern ein aufrichtiges Melodram zu sehen, in dem die verwirrte Heldin (Natalia Rogoschkina) hin und hergerissen ist zwischen dem guten FSBler, gespielt von Igor Petrenko, und ihrem schlechten Ehemann, Dimitri Uljanow, der sich ihr zufolge zu den global russians zählt. Die Ideologie wirkt dabei wie ein leichtes, einlullendes Schneegestöber im Hintergrund, das sich sanft im Unterbewusstsein absetzt und den Zuschauer überzeugt: Russland ist ein großartiges Land, und bei uns wäre alles gut, wären da nicht diese Yankees [im Original pindossy – dek].
Der Regisseur der Serie Juri Bykow beharrte in der Late-Night-Show Wetscherni Urgant darauf, er habe eine Serie über die Liebe gedreht. In jeder Folge gibt es einen programmatischen Monolog, der wirkt, als sei er den Glaubenskriegen aus den Sozialen Netzwerken entnommen. Mit einem wesentlichen Unterschied: Die Liberalen werden in der Serie immer von Verrätern und Bösewichten vertreten. Alles Übel hängen die Macher der Serie den Bloggern und Journalisten an.
Das war tatsächlich nur eine Frage der Zeit – die Verfilmung von Nachrichten, all dieser Geschichten über gekreuzigte Jungen und vertilgte Dompfaffen. Die Krim (seit September im Verleih) und nun Die Schläfer sind künstlerische Umsetzungen von Propaganda.
Russland ist umzingelt von Feinden, aber der FSB wird Russland retten
Für Die Schläfer musste erstmal der Boden bereitet werden: auf neuem Wege zur alten Doktrin: „Russland ist umzingelt von Feinden, aber der FSB wird Russland retten.“ Das gute alte sowjetische Muster musste man wiederbeleben, das nie ganz vergessen war. Das Bild des FSBlers hat sich allmählich gewandelt: vom ehrlichen Mitarbeiter, den es in diesen Strukturen nur selten gibt und der mit den blutigen Henkern aus der Serie Es war einmal in Rostow (2015) hadert, bis zum intelligenten Typen mit den stählernen Muskeln aus Geheimnisvolle Leidenschaften (2016), ohne dessen Hilfe die sowjetischen Dichter ihr Liebesleben nicht auf die Reihe kriegen und weder ein Spiegelei braten noch Verse schreiben können.
Eine Neubewertung der jüngsten Vergangenheit ist noch im Gange, bislang ist nicht alles eindeutig geklärt. Es kann noch nicht in Fernsehserien verwertet werden. So gibt es beispielsweise noch keine feste Meinung darüber, wie Gorbatschow zu beurteilen ist. Aber das eine oder andere hat sich mittlerweile herauskristallisiert und wurde auf Hochglanz poliert. Längst ist klar, dass die Sowjetunion unser verlorenes Paradies ist.
Die Sowjetunion, das verlorene Paradies
Ein Problem bei der Verfilmung von Nachrichten ist allerdings, dass der Dreh einer Serie sehr zeitaufwändig ist. Während der Entstehung der Schläfer hat sich einiges verändert. Ein Typ wie der Filmemacher mit dem Basecap, eine Mischung aus Vitali Manski und Kirill Serebrennikow, über dessen dramatische Textkraft der Tschekist Rodion sich in der Serie köstlich amüsiert, steht heute unter Arrest. Und unsere tapferen Kämpfer in Syrien lässt das Vaterland mittlerweile in Gefangenschaft umkommen.
Der Regisseur Bykow, dem mit Der Idiot oder Major noch gelungen war, etwas Wichtiges zu sagen, äußerte sich kurz vor der Premiere auf Facebook in etwa so: Sogar wenn das Land im Unrecht ist, würde er es im Krieg immer unterstützen, weil es sein Land ist. Danach gab er seinen Austritt von Facebook bekannt – man müsse darüber nachdenken, auf wessen Seite man steht. Ich glaube, nach so einer Serie gibt es nicht mehr viel nachzudenken.
Für ein bisschen Optimismus sorgen nur die Zahlen: Die Quoten der Schläfer lagen etwa bei 13 Prozent (beim vorangegangenen Schnüffler zur selben Sendezeit im Ersten waren es um die 19 Prozent). Vielleicht entscheidet sich der Sender bei einem Blick auf diese Zahlen dafür, von Nachrichtenverfilmungen abzusehen und sich Experimenten im reinen Entertainment-Sektor zu widmen? Immerhin gibt es zwischen Propaganda und Unterhaltung nicht umsonst einen gewaltigen Unterschied: Hier schinden wir unser Hirn, dort legen wir Heilkräuterchen auf.
„Schau mich gefälligst an!“ Rüde und duzend fuhr der russische stellvertretende UN-Botschafter Wladimir Safronkow seinen britischen Kollegen Mitte April an, als es im UN-Sicherheitsrat um den Giftgasangriff auf die syrische Stadt Chan Scheichun ging.
Andrej Archangelski nimmt diese jüngste Verbalattacke zum Anlass, um auf Colta.ru den Umgangston mit dem Westen genauer anzuschauen.
„Wage nicht, Russland weiter zu beleidigen! // Ihr tut alles dafür, dass ein Zusammenwirken (zwischen Russland und den USA) // untergraben wird. Grade deshalb … Schau mich gefälligst an! // Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen! // … Genau deswegen hast du heute nichts gesagt über den politischen // Prozess. Hast absichtlich beim Vortrag von Mistura nicht hingehört … “ (0:17 bis 0:52)
„Schau mich gefälligst an! Was fällt dir ein, einfach wegzuschauen!“ Das ist also die besagte „neue Aufrichtigkeit“, die Russland der internationalen Gemeinschaft anbietet. Bei der Übersetzung ins Englische oder Deutsche geht die Intonation verloren – übrig bleibt nur ein „Wir haben recht und ihr unrecht, weil ihr immer unrecht habt“.
Das Argumentationsschema ist auch schon lange bekannt: „Wenn ihr dürft – dann dürfen wir erst recht.“ Und deswegen war das externe Publikum (internationale Agenturen und Medien) nicht sonderlich erstaunt über diesen Auftritt, der eigentlich nur eine Wiederholung aller vorangegangenen ist.
Warum reden die so?
In Russland wird Safronkows Rede von der Mehrheit aufgefasst als „er hat’s ihnen gezeigt“, „hat ihnen eins reingedrückt“, sie „bestraft“. Russland putzt alle runter und macht sich über alle lustig, herrlich! Dass das der Intelligenzija aufstößt, umso besser: Dann kriegen die auch gleich eins rein. Nun denn, diese Ausdrucksweise zeigt in verschiedenen Milieus unterschiedliche Wirkung – und erzielt überall den gewünschten Effekt.
Die Antwort auf die Frage „Warum reden die so?“ ist: Weil es sich lohnt und leicht geht. Kulturelle Normen – was soll’s, man wird’s überleben, und der Kreml gibt mit seinem Lob für Safronkow zu verstehen, Normen seien jetzt nicht so wichtig, es gehe vor allem darum, „die Interessen Russlands zu behaupten“. Bleibt nur die Frage: Warum gefällt das ihnen, den Diplomaten? Wie rechtfertigen sie das vor sich selbst, außer dass es „fürs Vaterland“ ist? Was für eine „neue Denkart“ steht dahinter? Was für ein Weltbild?
Ein solches Gebaren ist heute die Norm, die sozialen Erfolg garantiert
Oleg Kaschin hat die Psychologie der neuen Eliten wohl am besten beschrieben – nämlich, dass weder eine Maria Sacharowa noch, sagen wir, der Abgeordnete Degtjarjow schon immer so waren. Sie haben nur begriffen, dass ein solches Gebaren heute die Norm ist, die sozialen Erfolg garantiert. Du fällst sofort auf und wirst als ranghoch vermerkt.
Diese neue Stilistik entspringt aber weder einem Gossenjargon noch einer „Verhörsprache“, wie viele annehmen. Der Autor geht vielmehr davon aus, dass das eine relativ junge Sprache ist, entstanden an den sonnigen Stränden der 2000er Jahre – damals hatten Reisen von Russen in den Westen Hochkonjunktur. Und da entwickelte sich auch eine seltsame Tradition: Nach der Rückkehr wurde über alles geschimpft. Es ist dreckig, die Leute sind bösartig, zu viele Migranten, da fahren wir nicht mehr hin, und das soll euer hochgelobter Westen sein.
Ablehnung dieses „überzogenen Lächelns“
Leute, die zehn bis 15 Jahre davor von so einem Urlaub nicht mal hatten träumen können, taten so, als hätten sie ihre ganze Kindheit in Miami Beach verbracht – warum? Meine Hypothese: Die Leute nahmen viel Geld mit – der Ölpreis war gerade am Zenit – und dachten, wie es in der sowjetischen Zeitschrift Krokodil hieß, „im Westen kann man für Geld alles kaufen“. Und waren auf einmal damit konfrontiert, dass man, um sich wohl zu fühlen, noch etwas anderes mitbringen muss als Geld. Diese oftmals verlachte westliche „Fähigkeit zu lächeln“ bedeutet in Wirklichkeit einfach, für Kommunikation und eine freundliche Atmosphäre zu sorgen.
Damit diese Kommunikation gelingt, muss man andere Menschen und Verschiedenheit an sich wenigstens ein bisschen mögen. Das gehörte aber erstens nicht in die Psychologie der neuen Herren, und zweitens galt es als demütigend, sich „anzupassen“.
Aus diesem Schock heraus entstand ein Abwehrmechanismus: das aggressive Auslachen und eine Ablehnung dieses „überzogenen Lächelns“. Zur Selbstberuhigung braucht man diese Welt nur als scheinheilig und verlogen zu bezeichnen: Die sind deshalb höflich, weil sie Weicheier und Gauner sind. Diese Erklärung macht aus der eigenen Grobheit eine spezielle Art Anstand.
Wir haben recht, weil wir recht haben
Dann bekam diese Position einen existenziellen Stützpfeiler in Form von Stolz auf die Siege Russlands. Die patriotische Propaganda prägte uns schnell ein, wir seien die Besten, die ganze Welt sei uns verpflichtet. Dadurch erlangen wir das eigentümliche Recht, im Namen absoluter Legitimität zu sprechen.
Die Strandphilosophie hatte plötzlich eine moralische Grundlage, und jeder Kampf um eine freie Liege wurde zum Kampf um die Wahrheit auf Erden. Als psychologischen Schutz legte man sich diese verächtlich-spöttische Intonation zu, die sich dann endgültig im propagandistischen Diskurs etablierte.
Ein Sprechen im Namen absoluter Legitimität bedarf keiner Beweise: Wir haben recht, weil wir recht haben. Diese Idee wurde schon in den Filmen Brat und Brat-2 formuliert, mit der Formel „in der Wahrheit liegt die Macht“, bei der unklar bleibt, was zuerst da ist: Die Wahrheit oder die Macht? Und genau diese Unklarheit birgt die versteckte Drohung „Wir können das wiederholen“ in sich, die eben allen recht ist.
Wichtig ist, dass diese Sprache jegliche Komplexität leugnet und die Welt ignoriert. Das Gegenteil dieser gewaltsamen Sprache ist der Dialog.
Bei den Begriffen „Dialog“ und „Kommunikation“ denkt der gebildete Mensch sofort an das Zauberwort „Habermas“.
In den frühen 2000er Jahren war der deutsche Philosoph bei uns vorübergehend ein Star. Bezeichnend ist, dass im Endeffekt nur ein verdrehtes, unanständiges Sprichwort über sexuelle Orientierung im kollektiven Gedächtnis hängengeblieben ist. Das Hauptwerk von Habermas, die Theorie des kommunikativen Handelns, ist bis dato nicht ins Russische übersetzt.
Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann
Sehr vereinfacht besagt diese Theorie: Der Dialog ist nicht das Reden, nicht das Mund-Aufmachen, sondern vor allem die Bereitschaft, den anderen wahrzunehmen, oder sich auf den anderen einzulassen, wie der Philosoph Paul Ricœur meinte.
Die Bereitschaft zum Dialog selbst ist wichtiger als das Sprechen; es geht darum, „die Welt anzunehmen“, sich auf die Welt einzustellen. Genau das ist Kommunikation: Der einzige Weg, den unvermeidbaren kulturellen Graben zwischen den Menschen wenigstens irgendwie zu überbrücken.
Reden muss man, selbst wenn man sich auf nichts einigen kann; man soll nicht darauf fokussieren, den Streit zu gewinnen, sondern darauf, das Gespräch selbst zu erhalten, die Gesprächspartner.
Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis
Unser Dialog ist die Abkehr vom anderen, und dass man ihm diese Abkehr auf jede erdenkliche Art und Weise vorführt, vor allem im Unterton. „Ich hör dich nicht, ich huste dir was, du bist ein Niemand“, das ist die Kurzform unserer Antwort auf Habermas.
Die Dialogverweigerung ist unser Glaubensbekenntnis. Wir werden uns wehren bis zum Letzten, aber geben dem anderen nicht die geringste Chance. Dieses „Schau mich gefälligst an!“ ist eine symbolische Ausformung dieser „Kultur der Dialogverweigerung“.
Im Gefolge ihres Obersten Befehlshabers verweigern sie (unsere Diplomaten) bewusst die Sprache des Dialogs. Das bedeutet zugleich eine Lossagung von menschlicher Selbstbeherrschung, von der gesamten modernen Kultur, ein Ausscheiden aus der Welt. Diese Lossagung wird sofort über die Kapillaren auf die ganze Gesellschaft übertragen – und von ihr als Norm verinnerlicht.
Wir beobachten das bereits am Beispiel skurriler Dialoge zwischen Lehrern und Schülern, die nach dem 26. März im Netz auftauchten – so etwas kann man schon als umfassenden „Disconnect“ bezeichnen. Abwärts geht immer leichter als aufwärts, und wundern muss einen dieser beschleunigte Fall nicht.
Der wunde Punkt: die Moral
Aber es gibt bei dieser Begebenheit am 12. April vor der UNO noch einen Aspekt. Was hatte Großbritanniens UN-Vertreter, Matthew Rycroft, denn eigentlich gesagt, was hat unserem Vertreter so zugesetzt? Er hatte das Gespräch auf eine universelle Ebene gebracht, es in die Sprache der Ethik übersetzt – die Handlungen Assads moralisch bewertet und den Gegenüber dazu aufgefordert, sich auf dieselbe Ebene zu begeben. Das ist unerträglich, hier hat Rycroft einen wunden Punkt getroffen.
Im aktuellen Russland wurde die Moral nicht erdacht, nicht durchdacht, nicht durchformt. Jedes Mal, wenn du unsere Vertreter hörst, willst du fragen: Welche universellen Werte vertreten Sie? Aus welcher menschlichen Position heraus? Wie auch immer man die sowjetische Diplomatie dreht und wendet, sie appellierte an universelle Werte – an Ideen des Internationalismus oder die Solidarität der Werktätigen. Doch der aktuellen Ideologie Russlands fehlt dafür der Begriffsapparat; für die Artikulation einer moralischen Position gibt es dort schlicht keine Wörter.
Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan
Und deswegen kommt die Phrase „vom moralischen Standpunkt aus sprechen“ als Beleidigung an, als Schlag in die Magengrube. Zwecks Abwehr greift man dann zu dem Postulat, Moral sei bloß Druckmittel, Spekulation, PR. „In der Welt betrügt jeder jeden, und Moral ist nur ein Wort.“ Diese negative Ethik ist uns auch wohlbekannt.
„Guck her! Schau mich gefälligst an!“, ist auch eine Sprache der Moral, aber auf einem anderen Niveau. Das ist die Position einer apriorischen Schuld des Gegenübers.
Als letztes Argument fliegt dann nur noch Porzellan – aber so weit wird es hoffentlich nicht kommen.
In Russland ist es üblich, von einer „konservativen Mehrheit“ zu sprechen – einer Mehrheit der Gesellschaft, die das Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ gutheißt, für mehr Internetkontrolle plädiert und geschlossen hinter dem selbsterklärt-konservativen Präsidenten Putin steht. All das ermitteln Soziologen nämlich in Meinungsumfragen. Was bedeutet es aber für diese Umfragen, wenn die erdrückende Mehrheit sich davor sträubt, an ihnen teilzunehmen? Man sollte sie dann zumindest hinterfragen, meint der Soziologe Grigori Judin im ersten Teil seines Interviews auf Colta.ru. Hinterfragen solle man laut Judin allerdings auch das Attribut dieser angeblichen Mehrheit – ihren Konservatismus.
Denn weshalb Konservatismus nicht immer gleich Konservatismus ist, sondern sehr unterschiedliche Formen annehmen kann, das erklärt er in Teil 2 des Interviews.
Gleb Naprejenko: Du hast das soziale Bewusstsein in russischen Kleinstädten untersucht – allerdings nicht mittels Meinungsumfragen. Zu welchen Ergebnissen kommt eure Feldforschung im Hinblick auf Konservativismus – und das Verhältnis der Menschen zu Politik und Geschichte?
Grigori Judin: Die Fragestellung unserer Untersuchung war zwar eine etwas andere, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Konservativismus kann in sehr unterschiedlichen Formen auftreten. Außerdem sorgt der Begriff eher für Verwirrung als für Klarheit.
Beispielsweise erwächst von unten vor allem eine lokale, regionale Agenda – und die ist teilweise konservativ. Offenbar sind es zumeist Heimatkundler, die versuchen diese Agenda umzusetzen. Das sind Menschen, die sich mit der Geschichte ihrer Region befassen, oft Lehrer oder Bibliothekare. Sie treten als Hüter der Erinnerung auf, sehen sich sozusagen als ihre Agenten.
In der Regel sind das Menschen fortgeschrittenen Alters oder zumindest Nachfolger von ortsansässigen Heimatkundlern aus der Sowjetzeit. Und weil die Heimatgeschichte mit Beginn des Stalinismus, sprich seit den 1930ern, massiv eingeschränkt wurde, stehen die Heimatkundler der Sowjetzeit sehr skeptisch gegenüber. Zwar ließ Chruschtschow die Heimatgeschichte wieder zu, denn er hoffte damit, einen Lokalpatriotismus zu schaffen, der sich wie eine Matrjoschka in den gesamtsowjetischen Patriotismus einfügen würde. Aber natürlich wurden die Heimatkundler nie völlig loyal. Sie hatten ihr eigenes Programm und nach dem Zerfall der Sowjetunion auch die Möglichkeit es umzusetzen.
Jeder von ihnen ist ein Lokalpatriot, dem die lokale Geschichte am Herzen liegt. Das ist eine lokale Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde.
Die Heimatkundler sind Lokalpatrioten, eine Gemeinschaft, die allen globalen und imperialen Tendenzen mit großer Skepsis begegnet. Nicht zuletzt, weil sie weiß: Sie ist es, die von einem Imperium als erstes unterdrückt würde
Zweifellos ist darin ein an der Gemeinschaft orientiertes konservatives Programm erkennbar, das mit der Wiederherstellung einer lokalen Identität einhergeht. Übrigens sieht die lokale Geschichtsschreibung, auf der diese Identität gründet, nicht selten recht merkwürdig aus: Sie ist bruchstückhaft und verzerrt. Doch dieser Konservativismus unterscheidet sich klar von jenem, mit dem wir es heute in der Staatspropaganda zu tun haben.
Sehen wir uns zum Beispiel das Geschichtsbild an, das der Staat seit Mitte der 2000er Jahre zu vermitteln versucht: Geschichte meint hier die Geschichte des Staates, kein anderes Subjekt ist denkbar.
Es ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage. Eigene, innere Konflikte hat es selbstverständlich nie gegeben – sie sind seit jeher Projektionen von außen. Die inneren Feinde sind Agenten der äußeren. Der Sieg über sie ist ein Sieg über den äußeren Feind. Alle Konflikte, Umwälzungen oder revolutionären Ereignisse, vor denen die russische Geschichte geradezu überquillt, werden geglättet oder ignoriert.
Das staatliche Geschichtsbild ist eine Geschichte des ewigen Sieges ohne jegliche Niederlage
Wir beobachten eine seltsame Idee unverbrüchlicher Kontinuität zwischen Iwan dem Schrecklichen, den Romanows, der Sowjetmacht in all ihren Ausprägungen und Wladimir Putin am Höhepunkt dieser Geschichte. Als hätte jeder von ihnen dem nächsten auf die Schulter geklopft und gesagt: „Lass uns nicht hängen, altes Haus!“
Das ist Geschichte ohne Geschichtlichkeit. Denn Geschichtlichkeit und die historische Methode beruhen seit den Anfängen der deutschen Geschichtsphilosophie auf der Idee, dass sich Dinge verändern und dass das, woran wir uns gewöhnt haben, seinen Anfang und sein Ende hat.
Dass auf dem Gebiet des heutigen Russlands regelmäßig Konflikte darüber aufgeflammt sind, aufflammen und aufflammen werden, wie das Land überhaupt beschaffen sein sollte, wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen.
Wer wir eigentlich sind, wie unser Staat beschaffen sein sollte, was das für ein Staat ist und ob es ihn überhaupt geben sollte – darüber herrscht Schweigen
Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander „zu versöhnen“, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten, nur eben auf leicht unterschiedliche Art und Weise. Deswegen hätten sie sich ein bisschen gestritten und für drei, vier Jahre diesen kleinen Bürgerkrieg angezettelt. Aber im Prinzip seien das alles gute Leute gewesen, die nur die Stabilisierung des Staates gewollt hätten.
Dabei wird bereitwillig ausgeklammert, dass ein bedeutender Teil derer, die an diesen Ereignissen beteiligt war, meinten, dass es überhaupt keinen Staat geben sollte. Andere meinten, dass der neue Staat nichts mit dem Russischen Kaiserreich gemein haben sollte… Das war also ein echter handfester Streit, im Zuge dessen das Subjekt der Geschichte ein völlig anderes geworden ist.
Zum Jahrestag der Revolution beobachten wir Versuche, die Roten und die Weißen miteinander ‘zu versöhnen’, weil doch beide für Russland nur das Beste gewollt hätten
Diese staatliche Idee von einem sich über den Lauf der Geschichte erstreckendes Subjekt der Geschichte zeugt von einem konservativen Weltbild. Jedoch einem grundlegend anderen als dem der lokalen Konservativen.
Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Zwar steckt in jedem Konservativismus ein Element der Angst, doch im Fall der modernen russischen Elite beobachten wir geradezu blanke Panik vor einer Revolution. Und diese geht in eine Angst vor jeglicher Veränderung über. Man fürchtet jede selbstständige Bewegung von unten und jede Aktivität in der Bevölkerung. Genau daher rührt das Bedürfnis nach der Erfindung jenes Mythos, dass sich in Russland nie etwas verändert habe.
Der staatliche Konservativismus ist ein ausgesprochen verängstigter Konservativismus. Im Fall der modernen russischen Elite herrscht geradezu blanke Panik vor einer Revolution
Bemerkenswert ist, dass diesen Mythos auch Leute geschluckt haben, die sich in Russland gemeinhin als liberal bezeichnen. Von ihnen hören wir nämlich exakt dasselbe, nur mit entgegengesetztem Vorzeichen: Es gebe irgendeine besondere russische Mentalität, einen besonderen russischen Archetyp, einen Weg, den Russland einst beschritten habe und nicht verlassen könne.
Wann das gewesen sein soll und warum, bleibt völlig unklar. Offenbar anno dazumal. Doch man beharrt darauf, dass gerade dieser Sonderweg uns daran hindere, Teil einer sagenumwobenen westlichen Welt zu werden.
Wie steht man in diesem lokalen Kontext zu möglichen radikalen politischen Veränderungen?
Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor potenziellen Veränderungen geschürt. Aber man muss hier zwischen Angst und Vorsicht unterscheiden.
Der konstruktive Konservativismus begegnet allem Neuen mit Vorsicht. Er muss dieses Neue zunächst daraufhin befragen, ob es dem entspricht, was wir bereits haben. Sogar, wenn Veränderungen für notwendig erachtet werden, wird geprüft, ob und wie sie sich in die bestehende Ordnung integrieren lassen.
Es überrascht also nicht, dass diese Konservativen Revolutionen besonders misstrauisch gegenüber stehen, denn über Revolutionen lassen sich keine Vorhersagen machen. Dafür passieren sie viel zu schnell.
Der Staat hat sehr erfolgreich Angst vor Veränderungen geschürt
Für den verängstigten Konservativismus hingegen ist die Übertragung von Angst typisch. Angst wird zum Schlüssel-Gefühl und ermöglicht damit eine zentralisierte absolute Macht.
Willst du deine Macht behalten? Dann jage allen um dich herum Angst ein, dass jeden Moment der Feind einfällt und alle vernichtet. Dann hast du es schon geschafft, denn du bist der Einzige, der sie beschützen kann.
Angst geht immer mit fehlendem Vertrauen und und fehlendem Schutz einher. Also mit etwas, das für den normalen, gemäßigten Konservativismus untypisch ist. Dieser wähnt sich nämlich auf festem Boden und weiß die Tradition hinter sich und die gibt ihm Halt. Im Gegensatz dazu fehlt dem verängstigten Konservativismus jeglicher Halt.
Aber, meine Herren, wenn ihr solche Angst vor einer Revolution habt, dann glaubt ihr ja wirklich, es gebe hier nichts, was euch vor einer Revolution bewahren könnte, außer dieser einen Person an der Spitze des Staates? Wir haben also einen absoluten Mangel an Verlässlichkeit. So empfinden es für gewöhnlich auch unsere Mitbürger: Wir haben keinerlei Halt, wir können uns auf niemanden außer uns selbst verlassen, wir verspüren Unsicherheit und versuchen, unsere Angst durch Privatleben und persönlichen Erfolg zu kompensieren. Wir leben in dem ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte.
Wir leben im ständigen Gefühl, dass morgen eine Katastrophe hereinbrechen könnte
Dabei ist die Angst vor einer Revolution auf keinen Fall etwas, dass eine Revolution verhindert. Eher im Gegenteil: Ein aufgeregter, emotional instabiler Zustand, der Menschen anheizen kann, ist typisch für eine Mobilisierung – auch für eine revolutionäre.
Das bedeutet natürlich nicht, dass morgen eine Revolution ausbricht. Doch zu behaupten, es könne keine Revolution geben, weil Meinungsumfragen belegten, dass die Menschen vor ihr Angst hätten, ist ein absoluter logischer Fehlschluss.
Seit der Angliederung der Krim ist Russlands Präsident im Umfrage-Hoch: Seine Beliebtheitswerte liegen bei über 80 Prozent. Doch wie zuverlässig sind solche Zahlen? Nicht sehr, meint Grigori Judin. Der Sozialwissenschaftler forscht an der renommierten Moskauer Higher School of Economics. Ein etablierter Name in der Wissenschaft ist er noch nicht, sein Interview auf Colta.ru aber verspricht frischen Wind für die russische Soziologie – es erfuhr recht große Aufmerksamkeit und wurde auch über Soziale Medien viel geteilt. dekoder bringt es in zwei Teilen.
Im ersten spricht Judin über trügerische Aussagekraft von Meinungsumfragen – selbst wenn sie von so renommierten Instituten wie dem Lewada-Zentrum kommen.
Gleb Naprejenko: Heutzutage ist in Russland die Vorstellung verbreitet, es gäbe eine konservative Mehrheit, die Putin und seine Politik unterstützt. Diese Vorstellung basiert auf soziologischen Umfragen, die uns, so wird behauptet, eben jene Mehrheit dokumentieren. Was aber zeigen uns diese Umfragen tatsächlich?
Grigori Judin: Wir haben irgendwie nicht bemerkt, wann soziologische Umfragen in Russland zur zentralen Institution politischer Repräsentation wurden. Das ist eine spezifisch russische Situation, obwohl Umfragen im Prinzip weltweit immer wichtiger werden. Aber speziell in Russland konnte das Modell der Meinungsumfragen das Publikum leicht in seinen Bann ziehen, weil es einen Anspruch auf demokratische Teilhabe verkörpert, darauf, die unverstellte Stimme des Volkes zu sein.
Es hypnotisiert das Publikum mit seinen Zahlen. Wäre das Publikum weniger hypnotisiert und würden wir unterscheiden zwischen dem demokratischen Prozess als Selbstbestimmung des Volkes auf der einen und Umfragen als Institution der totalen politischen Repräsentation auf der anderen Seite, dann würden wir schnell ein paar Dinge feststellen, die allen klar sind, die mit Umfragen zu tun haben.
Erstens ist Russland ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen – als würde man über etwas Unanständiges reden. Es ist also kein Wunder, dass nur eine verschwindend geringe Minderheit Fragen beantwortet – erst recht zum Thema Politik. Deshalb entbehrt der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, in der Realität jeder Grundlage.
Russland ist ein völlig entpolitisiertes Land. Es gehört zum schlechten Ton und hat etwas Peinliches, über Politik zu sprechen – als würde man über etwas Unanständiges reden
In den Umfragen gibt es einen technischen Kennwert – die Ausschöpfungsquote: Sie zeigt an, wie viele der insgesamt Befragten auf die Fragen geantwortet haben, also wie viele überhaupt zu einem Interview bereit waren. Je nach Methode bewegt sich der Anteil zwischen 10 und 30 Prozent.
Das ist nicht sehr viel, oder?
Das bedeutet einfach nur, dass wir über die restlichen 70 bis 90 Prozent nichts wissen. Daraus folgt wiederum eine zähe Diskussion, in die uns die Meinungsforschungsinstitute immer wieder zu verstricken versuchen, darüber, dass wir ja keine Beweise hätten, dass sich diese 10 bis 30 Prozent von den anderen 70 bis 90 unterscheiden würden.
Natürlich haben wir keine Beweise. Beweise hätten wir nur, wenn es uns gelingen würde, diese 70 bis 90 Prozent zu befragen, von denen wir wissen, dass sie sich nicht an Umfragen beteiligen wollen.
Der Anspruch der Umfragen, das Volk zu repräsentieren, entbehrt jeder Grundlage
Aber unsere allgemeinen Beobachtungen bestätigen die Annahme, dass die Weigerung, an solchen Umfragen teilzunehmen, eine Form des passiven Widerstands ist. Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Das alles geschieht aus denselben Gründen.
Seit wann ist das so?
Es gab ein Aufflammen des politischen Enthusiasmus Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, und genau in dieser Zeit, 1987, wurde das erste Meinungsforschungsinstitut gegründet, das WZIOM. Meinungsumfragen waren ein neues Instrument der Repräsentation, das die sowjetische Gesellschaft nicht gekannt hatte. Sie kamen auf mit der Welle der postsowjetischen Demokratie-Begeisterung in den Jahren der Perestroika.
Schon Ende der 1990er flachte diese Begeisterung wieder ab, die in den 2000er Jahren in Politikverdrossenheit mündete. Deshalb bekamen wir in den 2000er Jahren diese ganzen Polittechnologien, die bewusst auf Entpolitisierung abzielten, darauf, die Politik als eine Witzveranstaltung darzustellen, wo absurde Clowns gegeneinander antreten, die kein vernünftiger Mensch jemals wählen würde.
Das alles schadete auch den Umfragen.
Denn Umfragen sind keineswegs nur eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung der öffentlichen Meinung, wie das allgemein angenommen wird, sondern auch eine Institution der politischen Repräsentation. Als solche wurden sie nämlich von George Gallup erdacht, und genau so haben sie immer funktioniert. Deshalb war die Enttäuschung über die politischen Institutionen unter anderem auch eine Enttäuschung über die Meinungsumfragen.
Die Leute gehen nicht wählen, die Leute nehmen nicht an politischen Diskussionen teil. Beides geschieht aus denselben Gründen
In letzter Zeit kommt außerdem hinzu, dass Umfragen ganz gezielt als Technologie zur Unterdrückung politischer Partizipation eingesetzt werden. Der Staat hat sich die Meinungsforschungs-Branche praktisch angeeignet.
Obwohl es heute drei Hauptakteure im Bereich der Meinungsumfragen gibt – FOM, WZIOM und das Lewada-Zentrum (und wir wissen, dass das Lewada-Zentrum eine regierungsferne Position einnimmt und ständigen Attacken durch den Kreml ausgesetzt ist) –, so arbeiten diese drei Unternehmen doch alle fast innerhalb ein und desselben Diskurses.
Nachdem es nun dem Kreml gelungen war, dieses Feld unter seine ideologische Kontrolle zu bringen, wurden auf einmal genau die Ergebnisse produziert, die der Kreml brauchte.
Von welchem Diskurs redest du?
Wie funktioniert die Umfrage-Industrie heute? Man bezichtigt die Organisatoren von Umfragen derzeit oft der Fälschung, aber das ist fern der Realität. Die brauchen gar nichts zu erfinden oder zu lügen, sie nehmen einfach die Abendnachrichten und befragen am nächsten Morgen die Menschen, ob sie mit diesem oder jenem Gedankenkonstrukt einverstanden sind, das am Vorabend verbreitet wurde. Und weil das komplette Nachrichtenprogramm vom Kreml diktiert wird, begreifen diejenigen, die zu einem Interview bereit sind (und das sind, wie gesagt, die Wenigsten), schnell, was von ihnen erwartet wird.
Warum bewegt sich sogar das Lewada-Zentrum innerhalb dieser Logik, obwohl es, zumindest scheint es so, oppositionell-liberal eingestellt ist?
Weil es in genau denselben konservativen Rahmen existiert, mit dem einzigen Unterschied, dass die Staatspropaganda Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg zeichnet und sagt, wie toll das sei. Das Lewada-Zentrum dagegen bezeichnet Russland als einzigartiges Land mit seinem eigenen historischen Weg – und sagt, wie schlimm das sei. Im Hinblick auf die Sprache, mit der sie die Welt beschreiben, unterscheiden sie sich meistens nicht sonderlich voneinander.
Wird eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen, so antworten die Menschen sofort anders
Obwohl das Lewada-Zentrum manchmal Umfragen bringt, deren Fragestellungen nicht aus den Nachrichten vom Vortag stammen. In diesem Fällen zeigen sich dann übrigens ziemlich unerwartete Ergebnisse – eben weil man anders mit den Menschen spricht.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Ein gutes Beispiel dafür war, als der Militäreinsatz zur Unterstützung Assads in Syrien gestartet wurde. Gleich zu Beginn, als die Möglichkeit solch einer Operation erstmals im Raum stand, hat das Lewada-Zentrum die Menschen befragt, ob Russland Assad direkt militärisch unterstützen und Truppen nach Syrien verlegen sollte. Die Reaktion war wenig überraschend: Im Grunde wollte kaum jemand, dass Russland sich in diese kriegerische Auseinandersetzung einmischt.
Gerade mal zwei Wochen später, als die Intervention schon im Gange war, hatte die Regierung eine Nachrichtensprache dafür entwickelt, und das Lewada-Zentrum griff genau diese Sprache in seiner Fragestellung auf: „Wie stehen Sie dazu, dass Russland Stellungen des Islamischen Staates (eine in Russland verbotene terroristische Vereinigung – Red.) angreift?“
Hier wurde also, grob gesagt, ohne jegliche Zitatkennzeichnung eine Formulierung aus den Abendnachrichten übernommen. Die Menschen reagierten sofort anders. Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung der Menschen zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen.
Umfragen fördern nicht irgendeine tiefschürfende Meinung zu Tage, sie funktionieren eher assoziativ: Das, was den Leuten in den Sinn kommt, wenn sie diese oder jene Begriffe hören, das sind sie auch bereit zu sagen
Wichtig ist außerdem, dass die reale Produktion der Umfragen nicht den Moskauer Instituten obliegt, die sich die Umfragen ausdenken, sondern den konkreten Interviewern und Befragten in ganz Russland.
Gerade erst haben wir eine Interviewreihe mit solchen Interviewern durchgeführt, und die sagen für gewöhnlich zwei Dinge. Erstens: Die Menschen wollen nicht über Politik sprechen. Das ist ein großes Problem. Wenn eine Umfrage zum Thema Politik kommt, versuchen [die Interviewer – dek] sie nach Möglichkeit loszuwerden, weil es sehr schwer ist, die Menschen dazu zu bringen, über politische Fragen zu sprechen.
Das Zweite hängt mit der Kluft zwischen Stadt und Land und zwischen Jung und Alt zusammen. Junge Leute sprechen besonders ungern über Politik; und was die Städte betrifft – je größer die Stadt, desto weniger wollen die Leute auf Fragen über Politik antworten.
Also bleibt uns eine sehr spezifische Bevölkerungsgruppe, die mehr oder weniger bereit ist, nach folgenden Regeln mitzuspielen: Ihr stellt uns Fragen aus den Abendnachrichten von gestern, und wir zeigen euch, dass wir die Nachrichten verinnerlicht haben.
Man könnte also sagen, dass wir es mit einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Politik zu tun haben. Aber gleichzeitig würden Sie nicht von einer konservativen öffentlichen Meinung sprechen, sondern eher davon, dass die Meinungsforschungsinstitute in ihren Methoden selbst konservativ sind?
Konservativ ist die Sprache, in der sie mit den Menschen zu sprechen versuchen. Die öffentliche Meinung ist etwas, das von Umfragen produziert wird. Umfragen sind performativ. Von Pierre Bourdieu stammt der berühmte Aufsatz Die öffentliche Meinung gibt es nicht, der von vielen leider missverstanden wurde. Bourdieu sagt, dass es zweifelsfrei eine öffentliche Meinung als Produkt der Tätigkeit von Meinungsforschungsinstituten gibt. Wir könnten sogar sehen, dass sie eine immer größere Rolle in den Polittechnologien spielt. Sie existiert nur in dem Sinn nicht, als dass es keine unvoreingenommene, unabhängige Realität gibt, die man mittels Umfragen einfach nur neutral misst und abbildet.
Ethnomusik – das sollte nicht nur was für „Leute, in T-Shirts mit Wölfen“ sein. Findet Lucidvox. Die Mädchen-Band aus Moskau will die Klischees aufbrechen. Am 3 Mai spielen sie in Hamburg und am 4 Mai in Berlin. Das unabhängige Internetmagazin Colta.ru hat die Band schon 2017 vorgestellt: Alina (Gesang), Galla (Gitarre), Nadja (Drums) und Anja (Bass). Und weil die vier gut vernetzt sind, ist aus dem Gespräch ein kleines Audio-Kaleidoskop der musikalischen, russischen Ethnoszene geworden:
Denis Bojarinow: In eurer Musik verwendet ihr gezielt russische Klangfolgen, russische Texte und slawische Stilistik. Warum?
Nadja: Ein gewisser Ethnocharakter ist von selbst entstanden; teilweise auch durch die jakutische Kultur, die Anja in die Band hineingebracht hat, und anscheinend fasziniert uns alle das Düstere, Geheimnisvolle, Verbindende – jetzt muss ich gerade an die Musik von Huun-Huur-Tu denken.
Galla: Für mich ist wichtig, dass alles mit Geist gefüllt ist. Geschichte trägt viel davon in sich, und mir ist der Geist unserer Kultur sehr nah. Wenn du in einem ganz stillen verschneiten Wald bist oder im Nebel Sommerbeeren sammelst, an einem düsteren See, bei Sonnenuntergang – da kann man ihn immer noch finden.
Alina: Wegen des slawischen Stils denken viele wahrscheinlich, dass wir Musik für Leute in T-Shirts mit Wölfen machen. Diese Symbolik ist ziemlich klischeebehaftet. Ich glaube, dass unsere Musik das aufbricht.
Beschäftigt ihr euch auch mit Musik, die vor euch versucht hat, russische Wurzeln mit Rock-n-Roll zu verbinden? Habt ihr Idole in der russischen Rockmusik?
Galla: Mir fällt da ehrlich gesagt nichts wirklich Beachtenswertes ein. Als Erstes kommt mir noch die Band Grashdanskaja oborona in den Sinn. In dem Frontmann Jegor Letow geisterte wirklich so eine schaurige russische Mystik. Heute wird diese Linie aus meiner Sicht von Shortparis fortgeführt.
Nadja: Mir gefallen die russischen Wurzeln in der Musik von Lovozero und Tikhie Kamni. Galla und ich lassen uns von russischen (und nicht nur russischen) Chören inspirieren, außerdem hören wir auch Bands wie Goat, Flamingods, Lightning Bolt, Ty Segall, Show Me The Body. Aus alldem entsteht dann schließlich etwas Eigenes.
Was müssen wir über das neue Minialbum Dym [dt. Nebel] wissen? Was habt ihr bei den Aufnahmen Neues für euch gelernt?
Galla: Was man wissen muss? Nichts, denke ich, seid unvoreingenommen. Alles, was wir zu sagen hatten, haben wir im Grunde gespielt.
Alina: Ich habe gelernt, dass Duduk ein sehr schwieriges Instrument ist. Und wenn du mich ernsthaft fragst, dann haben wir gelernt, dass man die Arbeit am Material ohne Eile angehen muss.
Ihr fahrt zur Tallinn Music Week. Welche der Bands, die bei dem Festival Russland repräsentieren, sind euch bekannt, welche findet ihr interessant?
Nadja: Wir kennen viele der Teilnehmer, aber am meisten und von ganzem Herzen drücke ich natürlich der Band Spasibo die Daumen. Vor Kurzem war ich mit ihnen beim slowenischen Festival MENT, und sie waren eine der wenigen Bands, die das Publikum von Anfang bis Ende völlig entfesselt zum Tanzen brachten.
Besonders interessant finde ich die Band Shortparis, und zwar nicht nur unter den russischen Teilnehmern der Tallinn Music Week, sondern generell in unserer Szene.
Alina: Mich interessieren weniger die Bands selbst, sondern wie die russischen Interpreten beim Festival aufgenommen werden. Ich fahre zum ersten Mal zu einem Festival ins Ausland, und ich finde es sehr spannend, wie die Bands in diesem etwas anderen Kontext klingen werden.
Text: Denis Bojarinow Übersetzung: Andrej Steinke (gekürzte Version) Veröffentlicht am 22.03.2017
Arkady Ostrovsky wurde in der Sowjetunion geboren. Heute lebt er mit seiner Familie in London, schreibt für den Economist und die Financial Times über Russland und Osteuropa. Für sein Buch The Invention of Russia erhielt er 2016 den renommierten Orwell Prize. Nun erscheint das Werk, das sich mit dem postsowjetischen Russland im Allgemeinen und mit Medienmanipulation im Besonderen auseinandersetzt, auf Russisch. Anlass für Colta.ru den Autor zum Interview zu bitten.
Ostrovsky spricht über Fake-News, Trump und eine neue Weltordnung – und warum das alles vor allem mit Russland zu tun hat.
Arnold Chatschaturow: Vorbei ist er, der Honeymoon von Donald Trump und dem Kreml – der Name des US-Präsidenten taucht in den russischen Medien inzwischen deutlich seltener auf, der Ton ist abgekühlt. Kann die Rückkehr zu einer feindseligen Rhetorik gegenüber den USA für die russischen Machthaber von Vorteil sein?
Arkady Ostrovsky: Zunächst muss man sagen, dass der Antiamerikanismus für Russland nichts Althergebrachtes ist. In der russischen Kultur ist Amerika eher Traum und Zukunftsbild gewesen, Jenseits und Neue Welt.
Meines Wissens taucht Amerika als Ballung des Bösen erstmals bei Gorki in der Stadt des gelben Teufels aus dem Jahr 1906 auf. Wobei aber Gorkis Briefe über Amerika äußerst wohlwollend sind. Das Bild von Amerika als Zukunft zieht sich durch die Dichtung der 1910er und 1920er Jahre. Und Stalin schrieb in seiner Arbeit Über die Grundlagen des Leninismus, der Leninismus sei die Vereinigung von revolutionärem Geist und amerikanischer Geschäftstüchtigkeit.
In den 1970er und 1980er Jahren gab es in der UdSSR dann eine Karikatur des Antiamerikanismus – allen war vollkommen klar, wie sehr der Westen tatsächlich „am Verfaulen“ war.
Das ‚böse Amerika‘ ist für den Kreml Erklärung und Rechtfertigung für alles, was im Land geschieht
Doch heute ist der Antiamerikanismus für den Kreml eine der tragenden Säulen und der wesentlichen ordnenden Konstruktionen geworden; das „böse Amerika“ ist Erklärung und Rechtfertigung für alles, was im Land geschieht. Der Gedanke, diese Konstruktion einzureißen, macht natürlich Angst. Erstens ist unklar, was an ihre Stelle treten sollte. Zweitens könnte bei der Bevölkerung eine erhebliche kognitive Dissonanz auftreten – bisher leuchtete nämlich allen ein, weshalb man fest zusammenhalten und sinkende Löhne akzeptieren muss. Insofern ist es für die Ideologie des Kreml weitaus günstiger, die USA zum Feind zu haben als zum Partner.
Die anfängliche Euphorie des Kreml nach der Wahl Trumps hatte nicht nur mit Schadenfreude zu tun (seht mal, bei denen bröckelt alles, die haben sich ihren eigenen Maidan organisiert), sondern auch mit der Freude, sich selbst im anderen wiederzuerkennen.
Für den Kreml ist es günstiger, die USA zum Feind zu haben als zum Partner
Zwar sind sich Putin und Trump vom Persönlichkeitstyp her nicht besonders ähnlich, es ist jedoch absolut bemerkenswert, dass Trump tatsächlich genau dieselben Techniken verwendet – zum Beispiel wenn er die Presse von Briefings ausschließt und sie als Fake-News bezeichnet. Alle im Fernsehen lügen – das war ja einer der Schlüsselsätze Putins im Jahr 2001, als er mit den Angehörigen der Kursk-Opfer sprach. Und Trumps Hauptlosung Make America great again? ist natürlich ein Abklatsch von Russland von den Knien erheben.
Kann man sagen, dass das Konstruieren von gefakter Wirklichkeit für politische Zwecke gewissermaßen eine russische Technik ist?
In Russland hat dieses Phänomen tatsächlich immer eine wichtige Rolle gespielt. Die russischen Medien haben die Wirklichkeit stets konstruiert anstatt sie zu beschreiben. Das gilt sowohl für die sowjetischen als auch für die postsowjetischen Medien. In diesem Sinne ist die Rede davon, dass „wir jetzt hier mal ordentlich was aufbauen“ eine ausgesprochen russische Sache, das fing schon bei den Bolschewikian, wenn nicht noch früher.
Und in den 1990er Jahren ging dieses Konstruieren munter weiter. Selbst das profilierteste und fähigste Presseorgan jener Zeit, die Tageszeitung Kommersant, beteiligte sich an der Konstruktion der Wirklichkeit: geschrieben wurde nicht über das Land, das existierte, sondern über das Land, das man sich wünschte.
Später, in den 2000er Jahren, übernahm dies die Hochglanzsparte – [das trendige Moskauer Stadtmagazin – dek] Afischa etwa beschrieb eine europäische Stadt, die es noch gar nicht gab. Solche futuristischen Entwürfe sind immer gefährlich.
Sowjetische und postsowjetische Medien haben die Wirklichkeit stets konstruiert, anstatt sie zu beschreiben
In der Politik hat man nach den Wahlen von 1996 begonnen, mit Fakes zu arbeiten, bis später die Politik endgültig durch Polittechnologie ersetzt wurde. Man kann über die Wahlen von 1996 sagen, was man will, aber immerhin war Jelzin eine reale historische Figur, er war nicht dem Fernsehen entsprungen. All das, was danach losging – die idiotischen Spiele der Oligarchen, die 1997 die Regierung demontierten, dort ihre Silowiki unterbrachten und so weiter – diese Entwicklung gipfelte in der Olympiade 2014, als herauskam, dass die Medaillen-Erfolge der russischen Sportler gar nicht echt, sondern gedopt waren. Und dann stellt sich heraus, dass die Krim genau so ein Dopingmittel ist.
Meinen Sie, dass die Ereignisse in den USA vielleicht in einem komplexeren Sinne mit Russland zu tun haben? Also jenseits der mutmaßlichen Versuche des Kreml, Einfluss auf die US-Wahlen zu nehmen?
Richtig, ich meine nicht die Hackerangriffe, wenngleich es die bestimmt gab, davon bin ich überzeugt. Das hat es immer gegeben: Die Sowjetunion hat sich auch 1984 in die US-amerikanischen Wahlen eingemischt.
Ich glaube, die Verbindung ist in der dringenden Notwendigkeit einer neuen Agenda zu sehen, eines einfach gestrickten Narrativs, das mit der Geschichte zu tun hat.
Warum ist in beiden Ländern von Fake-News die Rede? Wenn man sich mit der Gegenwart befasst, braucht man Fakten, wenn man aber nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhängt, stören Fakten nur.
Wenn man nostalgischen Erinnerungen an die Vergangenheit nachhängt, stören Fakten nur
Trump ist ein Symptom der weltweiten Verschiebungen, die bis zu einem gewissen Grad mit dem Ende des Kalten Krieges zusammenhängen. Die Konfrontation mit der UdSSR hielt alle in Spannung. Danach setzte die große Entspannung ein, ja eine gewisse Faulheit.
Lange Zeit herrschte überall der Eindruck, das postsowjetische Russland sei eine Geschichte für sich: Das Land war mit sich selbst beschäftigt, irgendwelche Prozesse waren dort im Gange, die keinerlei Ähnlichkeit mit dem hatten, was man im Westen kannte. Und mit einem Mal stellt sich heraus, dass Russland überhaupt keine Ausnahme ist, sondern im Gegenteil – ein Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert. Nur haben sich diese Probleme in Russland früher und heftiger offenbart.
Russland ist zum „Pilotprojekt“ einer neuen Weltordnung geworden?
Ja, und dieses Projekt hängt mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der UdSSR zusammen.
Eine Weile ging man davon aus, Russland werde sich, nachdem es sich von der kommunistischen Herrschaft befreit hatte, zu einem normalen westlichen Land entwickeln. Doch die sogenannte russische Elite setzte ihre Macht nicht für den Aufbau von Institutionen und die Schaffung einer politischen Basis ein, sondern für die Vermehrung von Macht und Geld. Und bald wurde klar: eine Idee muss her. Russland ist so gesehen ein ideenzentriertes Land, mit einer besonderen Mission und einem Ziel, wie auch die USA.
Mit einem Mal stellt sich heraus, dass Russland überhaupt keine Ausnahme ist, sondern im Gegenteil – ein Vorreiter dessen, was heute in der Welt passiert
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre war Jelzin besessen davon, eine russische Idee zu finden, herauszufinden, wie wir uns selbst definieren können, wenn nicht über das Imperium oder die Konfrontation mit dem Westen. Er rief sogar spezielle Kommissionen zu dieser Frage ins Leben, wofür man ihn damals allerdings belächelte.
Als er zum dritten Mal die Amtsgeschäfte übernahm, stand es schlecht um die Wirtschaft, dazu kamen die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz. Es wurde offensichtlich, dass nun die ideologische Agenda oberste Priorität hatte.
Putin und Trump haben gemerkt: Wenn es an ökonomischen Siegen mangelt, ist es deutlich effektiver, wieder in den Kampfmodus zurückzukehren. Wir leben im Zeitalter der Postmoderne: Es reicht, den Anschein einer Mobilmachung zu erzeugen, was ihnen auch bestens gelingt. Putin mit den Olympischen Spielen und der Krim, Trump mit seiner mexikanischen Mauer und dem Kampf gegen den Islam. Ein solcher Medienkrieg erfordert keine so großen Mittel. Eine andere Sache ist es, dass in diesem Krieg reale Menschen sterben.
Wie wir sehen, versucht Trump, sich von der messianischen Rolle der USA als Verfechterin liberal-demokratischer Werte loszusagen, stattdessen setzt er auf Pragmatismus und nationale Interessen. Was geschieht in dieser Hinsicht heute in Russland?
In Russland haben noch die Bolschewiki Anspruch auf das vierte Rom erhoben. Die UdSSR war in gewissem Sinne wirklich das Zentrum der Komintern, die Wiege einer zukünftigen weltweiten proletarischen Revolution. Heute wird Russland zum Symbol für die geistige Klammer, die traditionellen Werte und den Nationalismus.
Putin und Trump haben gemerkt: Wenn es an ökonomischen Siegen mangelt, ist es deutlich effektiver, wieder in den Kampfmodus zurückzukehren
An symbolischer Aufladung mangelt es dem Regime nicht: Selbst der letzte Diktator beeilt sich heute Putin zu preisen, und die amerikanischen Ultrarechten sagen, Russland sei das Zentrum traditioneller Zivilisation. Russland ist dabei, für viele europäische Politiker so etwas wie ein ideologisches Leuchtfeuer zu werden.
Die USA haben sich tatsächlich von dieser Rolle verabschiedet, haben ihren Status einer besonderen Nation, der für das Land lange Zeit sehr wichtig war, abgegeben.
Äußerst bezeichnend war Trumps Antwort auf eine Frage des Senders Fox News, wie er es mit Putin halte, der sei doch ein Mörder? – „Ach, wissen Sie, wir haben auch viele Mörder.“ Im Westen war man davon allenthalben schockiert, schließlich bedeutet das, wir sind alle gleich, von einer moralischen Überlegenheit der USA kann nicht mehr die Rede sein.
Auf der anderen Seite des Atlantiks wird George Orwells 1984 gerade wieder gern zitiert. Die Dystopie als Abschreckung erlebt ihre kleine Renaissance. In der Moskauer Theaterlandschaft erfüllt derzeit Vladimir SorokinsDer Tag des Opritschniks diese Funktion. Dem postmodernen Roman aus dem Jahr 2006 wird seit der Angliederung der Krim und der Roll-back-Politik des Kreml eine neue Aktualität zugeschrieben. Deshalb und mit Blick auf eine Fülle an Schimpfwörtern erscheint es vielen als ein Wagnis, diesen Stoff im gegenwärtigen Russland aufzugreifen.
Nun ist es ausgerechnet Mark Sacharow, der Der Tag des Opritschniks auf die Bühne bringt. Schon zu Sowjetzeiten war Sacharow als Filmregisseur erfolgreich, seine Literaturverfilmung von Dwenadzat Stuljew (dt. Zwölf Stühle) ist längst ein Klassiker. Seit Jahrzehnten leitet er außerdem das Lenkom, eine der wichtigsten Bühnen in Moskau. Für seine Arbeit wurde Sacharow mehrfach ausgezeichnet, unter anderem als Volkskünstler der UdSSR. Präsident Putin überreichte ihm 2013 den Verdienstorden für das Vaterland.
Sacharows Opritschnik ist nicht ganz der Opritschnik Sorokins: Im Original spielt die Handlung im Jahr 2027, Sacharow hat sie auf einen Tag „hundert Jahre nach der Premiere“ verlegt. Bei Sacharow gibt’s auch, anders als im Original, ein Happy End. Kritiker werfen ihm das vor.
Das multimediale Kulturmagazin Colta.ru hat Sacharow getroffen zu einem Gespräch über Sorokin, Putin, Trump, Grusel und Gehirnverknöcherungstendenzen.
Jelena Kowalskaja: Ich gratuliere zur Premiere, Mark Anatoljewitsch. Der Tag des Opritschniks ist ein Theaterereignis, es ist aber auch ein Akt großer Courage. Sie spotten über die reaktionäre russische Politik; das Anti-Mat-Gesetz [das die Verwendung „obszöner Lexik“ in den Medien unter Strafe stellt – dek] hat für Sie keine Relevanz, kurzum, Sie benehmen sich wie ein freier Mensch. Aber vielleicht täusche ich mich und Sie haben bei der Arbeit an Sorokin doch auch Ängste überwinden müssen? Was haben Sie riskiert?
Mark Sacharow: Die Frage kann ich so eigentlich gar nicht beantworten. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich hier einen todesmutigen Akt hingelegt habe. Das Buch ist veröffentlicht und bekannt. Vladimir Sorokin steht dafür mit seinem Namen – dem unsere rechtgläubigen Aktivisten zu rechtem Ruhm verholfen haben, nachdem einst einige Jugendorganisationen angefangen hatten, seine Bücher zu vernichten.
Der Name Sorokin ist weithin bekannt, auch ich habe so einiges gelesen. Mit der Lektüre des gesamten Sorokin kann ich nicht glänzen; ich gebe zu, dass es einen bei manchen seiner Bücher graust. Ich habe meine Nerven geschont. Aber den Tag des Opritschniks habe ich gelesen, und ich fand dieses Buch ausgesprochen scharfsinnig, es hat eine ganz eigene humoristische Haltung. Sorokin lacht ein ganz besonderes Lachen, das hat nichts mit Entertainment zu tun. Dabei gibt es auch bei ihm ein paar kleine Witzeinlagen.
Mit der Lektüre des gesamten Sorokin kann ich nicht glänzen. Ich habe meine Nerven geschont
Zum Beispiel?
„Ein Mensch, der zwölf Jahre lang ununterbrochen Geige spielt, wird automatisch zum Juden.“ Seine Haltung gegenüber den Dingen, sein Humor ist oft ironisch oder sarkastisch, und häufig ist dieser Humor bei ihm versteckt in Provokation oder Krawallgetöse. Aber Gogol, der Sorokin meiner Meinung nach beeinflusst hat – beziehungsweise führt Sorokin die Gogolsche Tradition in einer neuen Situation fort – Gogol ist auch manchmal ganz schön gruselig, bei ihm sind es andere Dinge, die einen zusammenzucken lassen. Ich würde Sorokin als Komödienschreiber bezeichnen. Denn die Texte, die ich besonders mag, zeichnen sich durch einen starken Sinn für das Komödiantische aus, das bei ihm ziemlich tief verborgen liegt und sich mit den dunklen Seiten der menschlichen Natur vermischt.
Wann haben Sie Sorokin zum ersten Mal gelesen?
Gelesen habe ich ihn schon früher, aber mich richtig in ihn vertieft und etwas verstanden habe ich wohl so vor sieben, acht Jahren. Damals hatte ich mir auch zum ersten Mal den Tag des Opritschniks vorgenommen, das war der erste Anlauf. Ich zeigte Sorokin meine Bühnenfassung, er fand sie gut, und wir kamen sogar so weit, dass ich mit den Proben anfing. Für die Rolle des Gossudar wurde der Komiker Gennadi Chasanow engagiert. Dann verlor ich das Vertrauen in das, was ich da tat, aus mehreren Gründen, die hier aufzuzählen langweilig wäre. Ich nahm mir eine Auszeit.
Als ich später wieder weitermachen wollte mit dem Tag des Opritschniks, meinte Sorokin, die Zeit dafür sei vorbei. Nach dem Motto, damals sei es interessant und zeitgemäß gewesen, jetzt müsse man etwas anderes spielen. Da wurde ich dann leicht demagogisch und trug ein wenig dicker auf, wie man das als Regisseur zuweilen ja tut. Ich sagte zu ihm: Wissen Sie, der Gogol, der hat damals die Toten Seelen geschrieben. Die kamen 1842 heraus und wurden als ein talentiertes, überraschendes Werk gewertet. Und dann vergehen sechs Jahre, und das Buch soll tatsächlich seine Aktualität eingebüßt haben? Wenn man bedenkt, dass uns die dahinfliegende Ptiza-Troika noch heute in Bann zieht und dass Tschitschikows Kunden uns immer noch zum Lachen bringen.
Heute wird Sorokins ungereimtes Zeug plötzlich zum Widerschein unserer Zeit, zum Spiegel unserer Propaganda und unserer Polit-Phrasen
Sorokin begriff, dass es keinen Zweck hat, sich in solchen Diskussionen mit mir anzulegen. Er erklärte: „Ich vertraue Ihnen, machen Sie, was Sie wollen.“ Wir besorgten uns die Aufführungsrechte, und ich schrieb meine Bühnenfassung. Ich arbeitete ziemlich lange daran, es war nicht leicht, aber dann war das Kollektiv wie immer bereit, mir zu vertrauen – in den letzten Jahren haben sie angefangen, mir zu vertrauen, und wir haben die Sache zu Ende gebracht. Die Premiere hat stattgefunden.
Zu der Zeit hatten Sie dann auch schon Telluriagelesen.
Ja, Sorokin meinte zu mir: „Schauen Sie sich mal meine neuen Bücher an, Telluria zum Beispiel.“ Es gibt da so einen herrlichen Monolog, der stammt aus Telluria, den verwenden wir bei uns in der Vorstellung ganz am Anfang und dann noch einmal nach der Pause. Da tritt so eine kryptische Figur auf, die die ganze Zeit ungereimtes Zeug redet. Zuerst wirkt es wie eine Aneinanderreihung sinnloser Wortverbindungen, aber sobald sich die Leute auf das Vergnügen des absurden Humors einlassen, fällt einer nach dem anderen in das Gelächter ein.
Der absurde Humor verfolgt uns seit den Zeiten von Mrożek und Ionesco. Meine Generation jedenfalls hat sich immer zu ihm hingezogen gefühlt, aber in Russland war es unmöglich, die absurden Dramatiker zu inszenieren. Und heute wird Sorokins ungereimtes Zeug plötzlich zum Widerschein unserer Zeit, zum Spiegel unserer Propaganda und unserer Polit-Phrasen.
Sorokins Roman ist eine Antiutopie. Wo er voller Pessimismus in die Zukunft blickt, bleiben Sie indes optimistisch. Sie geben Sorokins Opritschnik die Chance, ein Mensch zu werden, und dem Land die Chance, sich zu besinnen, bildlich gesprochen. Denken Sie wirklich, dass das, was derzeit in Russland passiert, keine Sache von Dauer ist? Die globale Entwicklung legt das Gegenteil nahe. Die reaktionäre Wende ist weltweit zu beobachten: Polen, Ungarn, der Brexit und nicht zuletzt Donald Trump.
Trump, der Brexit, na gut. Aber es ist ja nicht so, dass hier irgendjemand ein Loblied auf Mussolini anstimmen oder für Hitler, Göring und Goebbels schwärmen würde. Die werden genau studiert. Aber gepriesen werden sie nicht. Die Deutschen haben uns wunderbar vorgemacht, wie man mit den dunklen Seiten der Geschichte umgehen muss. Was uns nicht gelingt.
Die Gehirnverknöcherungstendenzen setzen sich möglicherweise durch und bringen unser Land an den Rand der Katastrophe
Bei Sorokin gibt es, wenn man seine Grundidee vereinfacht, eine Warnung: Wenn alles so weitergeht, stehen wir bald am Rande einer neuen Katastrophe. Jetzt haben sie Iwan dem Schrecklichen ein Denkmal gesetzt, ein Held unserer Zeit, der Biker Chirurg, hielt eine öffentliche Lobrede auf ihn. Wie die Motten zum Licht waren allerhand Leute herbeigeflogen gekommen, darunter auch hochrangige Beamte. Und einer von denen stellt sich also hin und erklärt: „Iwan der Schreckliche hat seinen Sohn gar nicht erschlagen. Er wollte ihn bloß nach Petersburg zum Arzt bringen.“ Und dabei fällt ihm nicht einmal auf, dass es damals noch gar kein Petersburg gab.
Die Gehirnverknöcherungstendenzen setzen sich möglicherweise durch und bringen unser Land und die öffentliche Stimmung an den Rand der Katastrophe. Denn wer ist der größte Held unserer Geschichte, wenn man der öffentlichen Meinung glauben will? Stalin. Er ist unsere große Lichtgestalt, nahezu ein Heiliger. Okay, er hat getötet, aber schließlich nicht einfach so – das war doch im Namen des Guten. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat auch nach so langer Zeit weiterhin unheilvollen Einfluss auf das gesellschaftliche Bewusstsein.
Und Sorokin warnt uns: Wenn wir unsere slawophile Gesinnung und die Tendenzen, die uns die Denkmäler fürIwan den Schrecklichen und Stalin eingebracht haben, weiter bis zum Irrsinn treiben, werden wir in ein neues Mittelalter abgleiten.
Wird das noch lange so gehen? Was sagt Ihnen Ihre Intuition, die Erfahrung eines langen Lebens?
Ich glaube, es geht bis zu dem Augenblick, in dem die politische und wirtschaftliche Konstruktion unseres Staates abgelöst wird – kluge Menschen sagen, diese Veränderung ist unabdingbar, sonst droht dem Land der Verfall.
Meine Güte! Dem Menschen ist das Gehirn gegeben, damit er seine Ansichten korrigieren kann
Ihr naturgegebener Optimismus wird von anderen Optimisten genährt.
Wissen Sie, ich bin Optimist, aber ich glaube nun auch nicht, dass eines schönen Tages von heute auf morgen alles anders sein wird. Ich glaube daran, dass der Mensch mit seinen kleinen grauen Zellen dazu in der Lage ist, seinen Lebensweg und seine Ansichten zu überdenken. Leute, die voller Stolz verkünden, dass sich in ihrem ganzen Leben noch nie etwas an ihren Überzeugungen verändert hat – „wie ich vor sechzig Jahren dachte, so denke ich heute noch“ – die kann ich nur bedauern. Meine Güte! Dem Menschen ist das Gehirn gegeben, damit er seine Ansichten korrigieren kann, denn die Wirklichkeit verändert sich doch ständig!
Als die russische Führung 2012 den rückwärtsgewandten Kurs einschlug, stellte sich die Frage: Welche Fehler hat die Gesellschaft in den 1990er und den 2000er Jahren begangen, wie war es möglich, dass die Staatsmacht das Rad der Geschichte zurückdrehen konnte? Was haben wir damals versäumt? Die Toten zu begraben? Eine Lustration durchzuführen? Was wurde unterlassen?
Wahrscheinlich haben wir eine Art Defekt in unserer Mentalität, dessen sollte man sich bewusst sein. Unser Nationalcharakter ist nicht ideal. Sollte das, von dem Sorokin erzählt, in uns triumphieren, kann es sein, dass es für uns in einer künftigen Zivilisation – sofern unser Planet weiter besteht – keinen Platz mehr gibt.
Sie haben eben beim Sprechen mit dem Finger eine vertikale Linie auf den Tisch gezeichnet. Sehen Sie unseren Defekt in dieser Richtung?
Das habe ich nicht gesagt, aber ich stimme Ihnen zu.
Wissen Sie, ich bin Optimist, aber ich glaube nun auch nicht, dass eines schönen Tages von heute auf morgen alles anders sein wird.
Gerade ist Lew Dodins Hamlet herausgekommen, wo pauschale Aussagen über Russland gemacht werden: Bei uns trete das Alte und Tote in junger Gestalt wieder ins Leben.
Mir scheint, eine russische Eigenschaft – und ich wünschte, sie würde sich durchsetzen – ist der Zweifel. Heutzutage müssen wir zweifeln. So wie die großen russischen Schriftsteller gezweifelt haben und zwar bis hin zu den Staatsdienern unter ihnen, Saltykow-Schtschedrin zum Beispiel. Zweifeln und sich Gedanken machen. Der Mensch bedarf der schwankenden Ungewissheit eines Hamlet, er muss geneigt sein, den eigenen Weg – die eigenen Vorhaben und das eigene Handeln neu zu bewerten.
Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: „Es geht darum, sich klarzumachen, welche Dinge man selbst getan hat und welche einem widerfahren sind.“ Das ist nicht leicht. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, kann ich das nicht immer mit letzter Sicherheit sagen. Manches von dem, was mir in meinem Leben später sehr geholfen hat, hatte sich zufällig ergeben, darauf hatte ich keinerlei Einfluss. Andere Schritte waren wohlüberlegt. Und hatten damit zu tun, dass ich etwas von mir selbst verstanden habe. Zum Beispiel habe ich begriffen, dass ich ein lausiger Schauspieler bin und auf der Bühne nichts zu suchen habe.
Ich erinnere mich, wie Sie in der Zeit der Perestroika Ihr Parteibuch verbrannten. Später haben Sie diese Geste bedauert. Warum?
Ich fand diese Geste ziemlich exaltiert. Dem konnte man sich nur schwer entziehen damals. Es waren die Besten, die aus der Partei austraten, vernünftige Leute – Jelzin, Sobtschak. Jelzin besaß diese phänomenale Fähigkeit, die auch uns Theaterleuten eigen ist: Er konnte die Leute mitreißen. Er verkündete die Niederlegung seiner Parteiämter und legte das Parteibuch auf das Podium, bahnte sich den Weg durch die Menge und sah den Menschen in die Augen, dabei wurden sie alle ganz klein, doch sobald er sie in seinem Rücken hatte, fingen sie an zu pfeifen und zu buhen. Mir fiel das wieder ein, als ich aus dem Satire-Theater ins Lenkom wechselte und der Leiter des Theaters, Valentin Plutschek, mir sagte: „Mark, kehre niemals Schauspielern den Rücken zu. Das ist gefährlich, sie können beißen. Schau ihnen in die Augen.“
Wie konnte es Ihrer Meinung nach zu der Kehrtwende unseres Landes kommen?
Mein Freund Gawriil Popow (ich nenne ihn Freund, wenngleich wir uns selten sehen), der erste Oberbürgermeister von Moskau, der später die Amtsgeschäfte an Lushkow übergab, hat einmal gesagt: „Wir haben keine Ressourcen, auf eine neue Art zu arbeiten, jetzt und auch künftig werden auf den neuen Stellen weiterhin die alten Beamten des staatlichen Verteilungssystems sitzen, alte Parteifreunde, und vermutlich wird aus der allumfassenden demokratischen Umgestaltung, von der wir in den Neunzigern geträumt haben, nichts werden.“
Ich weiß ja nicht. Wenn ich mir Ihre Generation anschaue, haben Sie den jungen Leuten in Sachen Courage einiges voraus.
Danke für die freundlichen Worte. Mitunter beschleicht mich aber doch eine gewisse Zurückhaltung. Und zu den acht Menschen, die auf dem Roten Platzgegen den Einmarsch unserer Truppen in die Tschechoslowakei protestiert haben, hätte ich mich wahrscheinlich nicht gesellt. Das Einzige, was ich damals gemacht habe (und das war mein spektakulärster Akt als Bürger), das war, als bei uns im Satire-Theater Belegschaftsversammlung war und der Direktor fragte: „Wer ist dafür, Panzer in die Tschechoslowakei zu schicken?“ Als ich das hörte, machte ich mich in leicht gekrümmter Haltung auf den Weg zum Ausgang – so als müsste ich mal. Ich wurde nicht weiter beachtet, aber danach war ich stolz auf mich. Obwohl das natürlich lächerlich ist. Was für eine Heldentat!
Was werden Sie denn jetzt nach dem Opritschnik machen, haben Sie Pläne?
Zwei Tage nach der Premiere erkundigte sich der Mann, von dem ich dachte, ich hätte ihm wirklich gerade das Äußerste abverlangt, Viktor Rakow [der den Opritschnik spielt – dek], bei meiner Tochter: „Was will dein Vater eigentlich als nächstes machen?“ So sind Schauspieler gestrickt. Dieses „Was kommt als nächstes?“ ist der Alptraum für einen Regisseur. Welches Stück werde ich machen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es etwas ganz anderes sein muss als der Tag des Opritschniks.
Fünf Jahre sind vergangen, seit zehntausende Menschen im ganzen Land auf die Straße strömten, Unzufriedene, die vehement Wahlfälschung anprangerten. Massenproteste – einen ganzen Winter lang. Heute wirkt das wie aus einer anderen Welt. Viele Analysten sehen den Willen, sich politisch zu betätigen, in Russland inzwischen an einem Tiefpunkt angelangt. Einen etwas anderen Blick auf den Zustand des Landes hat Gleb Pawlowski.
Pawlowski galt einst als eine der grauen Eminenzen des Kreml und ist mit seiner früheren Nähe zur Macht eine gewichtige Stimme für die russische Medienlandschaft. Sowohl Jelzin als auch Putin half er als Polittechnologe jahrelang, hohe Zustimmungswerte zu bekommen, fiel später jedoch in Ungnade und wandelte sich zu einem zynisch-kritischen Kommentator seiner Zeit. Einer, der nie aufgehört hat, die Putinsche Politik als inszenierte Welt, als Theater zu sehen und in kühlen strategischen Kategorien zu denken.
Im Interview mit dem Webmagazin Colta.ru erklärt er nun, warum er ausgerechnet dem Jahr 2017 eine neue Politisierung der Gesellschaft prophezeit, was er darunter versteht und was das für ihn mit Putins jüngster Rede zur Lage der Nation zu tun hat.
Beginnen wir mit den jüngsten Ereignissen. Die Rede des Präsidenten vor der Föderalversammlung wird allgemein als „versöhnlich“ eingeschätzt. Worauf ist Ihrer Meinung nach diese demonstrative Neutralität seiner Ansprache zurückzuführen?
Die Programmrede enthielt nichts von dem, was man angstvoll erwartet hatte; sie wurde als versöhnlich und beruhigend empfunden. Es war aber auch keine Rede zur Lage der Nation. Wenn der Präsident die Situation nicht eskalieren lassen will, wendet er sich nicht an sein Land, sonst würde seine Rede extrem ausfallen. Putin möchte vorerst dem populistischen Expansionstrend, den er selbst vorgegeben hat, nicht mehr folgen. Also hören wir am Rednerpult eine „Botschaft seines Redenschreibers“.
Da erinnert er plötzlich an das Exportpotential der Landwirtschaft, obwohl dieses Thema schon zehn Jahre alt ist. Ich hatte früher schon, 2010 war das wohl, geraten, in der Propaganda auf Russland als neuen Agrarexporteur zu setzen, doch hatte der Kreml sich das damals nicht getraut. Oder er spricht ausführlich von der High-Tech-Branche. Das ist gut, wenn man nicht vergisst, dass die digitale Wirtschaft und Kommunikation schon seit fünf Jahren staatlicherseits bombardiert wird. Die hätte man einfach nur nicht stören dürfen. Jetzt braucht man wirklich viel Haushaltsmittel, um dem Verwundeten wieder auf die Beine zu helfen.
Putin sucht Themen, die niemandem wehtun, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss. Denn in der Politik gibt es keine wichtigen Themen, die konfliktfrei wären, und das ist auch ganz normal: Das Land politisiert sich. Aber dann fragt man sich: „Worüber schweigen wir heute eigentlich?“
Mussten die Eliten beruhigt werden, angesichts der „Korruptions-Show“?
Ja, die Rede sollte den Grad ihrer Politisierung reduzieren. Es politisieren sich ja gerade die Eliten – über repressive Injektionen und das Gezeter bezahlter Aktivisten. Wem aber gibt Putin die Anweisung, sich zu beruhigen? Jenen, die provozieren, oder jenen, die schon provoziert wurden? Auf jeden Fall hat der Präsident keine einzige direkte politische Direktive ausgegeben, die einen Kurswechsel verlangen würde. Über die Rede verteilt gab es eine Menge Andeutungen, ohne dazugehörigen Adressaten. Im derzeit bestehenden Block-System des Regimes sind alle steuernden Zwischenelemente zerstört worden; für alles ist Putin zuständig. Wie soll er sich da verhalten? Also versucht er, die Politik Russlands diskursiv zu korrigieren, wobei er lediglich das Repertoire der Termini und Timbres seiner Phrasen ändert. Das ist eine sehr schwache Einflussnahme. Dafür wird die Zuständigkeit der höchsten Instanz auch dort gewahrt, wo es an der Zeit wäre, andere entscheiden zu lassen.
Der hellen Aufregung nach zu urteilen ist der Fall Uljukajew das wichtigste Ereignis der politischen Saison. Wie interpretieren Sie die Verhaftung?
Wir erörtern endlos nicht-politische Ereignisse als politische Zeichen. Noch trauriger ist, dass wir ausgerechnet jene Bilder diskutieren, die man uns auf dem monopolisierten Markt des Verkäufers aufschwatzen möchte. Wir trauen uns nicht, sie nicht zu kaufen, wir schlucken oder kauen sie, jeder was er kann. Worum geht es denn im Fall Uljukajew? Schauen Sie: Der Fall wurde von Anfang an wie eine Premiere im Theater vorbereitet, was der Präsident auch völlig unzweideutig über seinen Pressesprecher erklärt hat. Die Vorbereitung lief ganz nach den Regeln des Theaters: Bühnenbild, Inszenierung und Reaktionen der Kritiker wurden im Vorfeld genau durchdacht. Wenn wir über solche Sachen reden, reden wir in Wirklichkeit von nichts Politischem. Das sind sklavische Diskussionen. Inhaltsleerer Tratsch über das Leben der Herrschaften.
Putin sucht Themen, die nicht ins Fleisch schneiden, die nicht spalten – und dabei stellt sich heraus, dass er fast alles umschiffen muss
Wir hoffen wie immer, dass uns das etwas über den inneren Aufbau und Zustand des Kreml sagt.
Die erklären uns nur, was sie erklären wollen. Wenn Sie im Theater sitzen, erfahren Sie auch nichts über das Leben hinter den Kulissen. Die Dramaturgen des Kreml betreten nicht die Bühne. Es gibt hier auch kein gesellschaftliches Interesse, da es ja keine öffentliche Politik gibt. Die Sache ist nach dem gleichen Prinzip aufgebaut, wie die Politsendungen im Fernsehen: Da hat man ein Fenster, in das man zwar reinschauen, in dem man aber nichts ändern kann.
Andererseits lässt sich die Technik diskutieren, mit der das bewerkstelligt wurde. Wie der Präsident und Oberste Befehlshaber des Landes über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg aus irgendeinem Grund die Abhörprotokolle der Telefongespräche seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen hat. Das allein vernichtet das Vertrauen in die Angelegenheit, ganz gleich, wieviel Schmiergelder Uljukajew genommen hat. Diese Falle, die nach allen Regeln des Theaters gebaut wurde, macht die ganze Geschichte rechtlich gesehen irrelevant. Wir diskutieren, was Uljukajew bei Rosneft gemacht hat, obwohl die Bedeutung dieses Konzerns bis ins Absurde hochgespielt wird. Rosneft heute, das ist einfach ein staatliches Super-YUKOS.
Auf welche Weise ändert die weltweite Wende zum Rechtspopulismus die Lage Putins auf der außenpolitischen Bühne? Schließlich hat er als einer der ersten diesen Trend aufgegriffen, als er nach den Ereignissen um die Krim begann, „im Namen des Volkes“ zu regieren.
Der Erste ist nicht unbedingt auch Herr der Entwicklung. Putin war gut, solange das liberale Establishment den Mainstream in der Welt bildete. Wenn Trump zum Mainstream wird, dann ist Putin überflüssig.
Es ist ja schön und gut, ein krasser Macher zu sein, wenn rundum nur Warmduscher zu finden sind. Aber was soll man tun, wenn auch alle anderen Machos sind – und du nicht mehr alle mit deinem Geld beeindrucken kannst. Das ist wie mit unserer Ukraine-Politik, wo nur raffgierige Gruppen geblieben sind, die alle dringend Geld haben wollen. Bezeichnend ist auch der Präsident der Philippinen, der sich mit Liebesgestöhn an uns schmiegt, wo doch klar ist, dass er einfach nur Kredite braucht.
Mit Trump öffnet sich ein Fenster der Möglichkeit, unsere Politik, die im Sumpf feststeckt, zügig wieder auf Kurs zu bringen. Populismus als Trend eröffnet die Gelegenheit, eine Sache schnell durch eine andere zu ersetzen. Aus der Ukraine-Geschichte sollten wir möglichst herauskommen, doch wird uns das nicht leicht gemacht. Es gibt nichts, womit wir ein Spiel zwischen den USA und der EU beginnen könnten, weil wir uns auch mit Europa zerstritten haben und Asien uns nur ausnutzt. Wenn wir mit Maria Sacharowa weiterhin das Universum verlachen und den Nationen ins Gesicht spucken, wird man wohl kaum mit uns verhandeln wollen. Das europäische Establishment wird nicht verschwinden – es wird von einer alten Kultur und einem System gut regulierter Volkswirtschaften getragen und sich weder Putin noch Trump beugen.
Der Präsident hat über ein halbes oder ganzes Jahr hinweg die Abhörprotokolle seines Ministers gelesen, ihn aber nicht entlassen. Das vernichtet Vertrauen in den Fall Uljukajew
Also ist der Sieg von Trump gar nicht so sehr ein Triumph für Putin?
Im Kreml war man lange nicht mehr so glücklich wie nach dem Sieg von Trump. Diesen armen Würstchen kommt der Sieg wie der ihre vor, doch beweist das nur, wie inadäquat sie sind. Denn wer Trump auch immer sein mag, er bleibt der Anführer der stärksten Volkswirtschaft und der Oberbefehlshaber der stärksten Armee der Welt. Er wird uns nicht folgen, nicht hinter uns hergehen, sondern über uns hinweg. Leute wie Trump wenden sich schnell ab, sobald jemand nicht mehr von Nutzen ist.
Trump hat Russland als Symbol gebraucht, um die Präsidentenwahlen zu gewinnen. Er hat sein Spiel gegen das gesamte Establishment in D.C. gespielt. Da brauchte es ein Symbol, das ihn als Feind Washingtons kenntlich machen würde und dabei den Wählern gleichgültig wäre, sie nicht spalten würde. Russland ist dem amerikanischen Wähler völlig egal. Trump wusste aber sehr wohl dass er die Demokraten in Washington mit Russland reizen würde wie eine klappernde Konservendose am Schwanz einer Katze – so hat er hat die Demokraten aufgeregt, zur Freude seiner Wähler.
Wenn der Kreml aber unvorsichtig wird und anfängt, andauernd die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wird er wieder zu einer bequemen Zielscheibe der Weltöffentlichkeit. Dann würde Russland wieder die gleiche Rolle zuteil, die es im amerikanischen Wahlkampf hatte, nur eben für alle – inklusive der Populisten. Das wäre eine sehr gefährliche Lage. Es würde uns selbst von jenen wenigen Freunden und Verbündeten isolieren, die noch geblieben sind.
Wenden wir uns wieder der Innenpolitik zu. Selbst wenn die Verhaftung Uljukajews ein vereinzeltes, gut inszeniertes Schauspiel ist, so haben wir doch in letzter Zeit eine ganze Reihe von Strafverfahren gegen Gouverneure, hochgestellte Mitarbeiter der Sicherheitsbehörden und so weiter erlebt. Werden gerade die Spielregeln verschärft?
Beginnen wir damit, dass ein Vergleich mit der Zeit vor 2012 sinnlos ist. Die dritte Amtszeit Putins stellt eine Verletzung seiner eigenen, selbst auferlegten Regeln dar. Er hat jene Erwartungen enttäuscht, die er selbst formuliert hat. Das erfolgte ab Sommer 2012. Der Prozess gegen Pussy Riot begann, das Dima-Jakowlew-Gesetz wurde verabschiedet; so etwas wäre zuvor unmöglich gewesen. In der gleichen Zeit gab es auch den ersten Versuch, ein Antikorruptions-Theater aufzuführen, den Fall Serdjukow. Es wurde allerdings schnell klar, dass man nicht jeden X-beliebigen als Zielscheibe nehmen kann. Das Motiv der Gaunerei hätte die gesamte Führungsschicht mit hineingezogen; dazu war Putin aber noch nicht bereit.
Dann ging es weiter bergab. Eine grundlegende Veränderung gegenüber der Situation von 2012 bestand – insbesondere nach der Geschichte mit der abgeschossenen Boeing – in dem Aufkommen einer komplexen, nun schon auf ein weltweites Publikum ausgerichteten Medienmaschinerie. Plötzlich gab es das Ziel, mit den inneren Angelegenheiten auf eine internationale Bühne zu treten. Im Kreml begann man, weltweit um Publikum zu kämpfen. Sie spielten dafür auf sämtlichen verfügbaren Klaviaturen: Russia Today, Soziale Netzwerke, eine affilierte Klientel in westlichen Parteien von unterschiedlich starkem Gesindel. Das ist der Testlauf einer strategischen Maschine, die bereits nicht mehr „intern“ bleiben konnte. Die Wirtschaft wurde dem Aufbau eines globalen Mega-Einflusses geopfert.
Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft. Schnitt und Montage werden fortgeführt, mit dem Content wird es allerdings, soweit ich das absehen kann, Probleme geben.
Die Anti-Korruptions-Verfahren sind eines der Content-Programme jener Maschine, die um eine innere Mehrheit kämpft
Die politische Aufgabe besteht heute darin, eine Bevölkerungsgruppe zu erfassen und sie danach zur entscheidenden zu erklären. Bei uns redet man gern von „Mehrheit“, dabei haben doch die Wahlen im September gezeigt, dass die Krim-Mehrheit nicht einmal wirklich zu den Wahlen geht und umso weniger zu weiteren Schritten bereit ist. Die sind nicht willens, Krieg zu führen, ja nicht mal als Statisten wollen sie agieren. Die Mehrheit wird heute von Schauspielergruppen dargestellt, Bikern, Kosaken und Experten im Fernsehen. Das sind alles eindeutig Minderheiten. Es gibt überhaupt keine Mehrheit. Und je kleiner die Mehrheit, umso wichtiger sind diese Aktivisten, die vorgaukeln, dass es sie gebe.
Aktuelles politisches Moment ist, dass die Regierung versucht, den Grad der Aggression im Land zu reduzieren, weil es schwieriger geworden ist, es zu steuern. Und dann erscheint es dem Regime aber wichtiger, Uljukajew hinter Gitter zu bringen, als das Land mit Signalen zu beruhigen, dass man in Sicherheit sei. Dabei ist nicht einmal die Regierung in Sicherheit, und sie regiert auch nicht, sondern wartet einfach ab, wie das alles enden wird.
Und inzwischen wird das Land kollektiv von Rosneft, dem FSB und dem Sicherheitsrat regiert?
Nicht im Kollektiv. Jeder für sich, und nicht das ganze Land. Je nach Zuständigkeiten der Apparate hat jeder seinen Kontrollbereich. Insgesamt ist es ein kunterbuntes, fragmentiertes System. Sogar der Duma fällt etwas zu: Sie ist kein Parlament, kein Repräsentationsorgan, überhaupt keine Macht, und doch beschließt sie die Gesetze. Von denen einige mit der Konstruktion einer Maschinerie zu tun haben werden, die der Bevölkerung Geldstrafen abpressen soll, um dem Staatshaushalt die Erdöleinnahmen zu ersetzen.
Das besagte neue Wirtschaftsmodell.
Eher ein neues Fiskalmodell. Die Speisung dieses Modells funktioniert auf dieselbe Weise wie früher. Einen unfertigen Staat, in dem den Bürgern unternehmerisches Engagement und Sicherheit genommen und das Privateigentum in den Untergrund abgedrängt wurde, können Sie nicht auf Steuereinnahmen umstellen. Die Bürger können Ihnen keine Haushaltsgrundlage über Steuern verschaffen, das sind einfach Mittel um Haushaltslöcher zu stopfen. In reichen Regionen wie Moskau ist das Prinzip einfach: Sie haben eine gewisse Summe vor uns verheimlicht? Macht nichts – dann nehmen wir halt 200 Rubel [etwa 3 Euro – dek] fürs Parken. Das geht, solange es massenhaft verborgene Einkünfte gibt, die die Bürger nicht deklarieren.
Was kann das System tun, um den Druck zu verringern und die Steuerbarkeit zu erhöhen?
Der Druck im System steigt, es wird zunehmend schwächer. Man kann sich verschiedene Entwicklungsszenarien vorstellen. Eine erste Variante wäre, den Druck mit Mitteln des Systems selbst zu senken, und zwar über die formal verfassungskonformen halbautoritären Strukturen.
Zum Beispiel bei den Wahlen – könnte man nicht wenigstens auf Gemeindeebene die Ventile öffnen? Nein, nicht mal das, dem kommt die irrationale Angst vor Wahlen in die Quere. Eine Regierung, die aus einer Fügung bestimmter Umstände hervorgeht, behält diese für immer in Erinnerung und fürchtet sich vor deren Wiederholung. Die Sowjetmacht hat nie das bekämpft, woran sie zugrunde ging, sondern die ohnehin zahlenmäßig irrelevanten antisowjetischen Untergrundorganisationen – weil sie selbst aus dem Untergrund kam. Die heutige Regierung ist aus Wahlen hervorgegangen – zwar aus populistisch moderierten, aber öffentlichen. Also hat sie Angst vor Wahlen und agiert mit Verboten, Filtern und Sperren ohne Ende. Aber es gibt Wahlen – und Möglichkeiten, die Interessen bestimmter Gruppen in Szene zu setzen, gibt es ebenfalls.
Eine zweite Variante wäre, eine fieberhafte Wirtschaftsaktivität in Gang zu bringen. In irgendwelchen Branchen einen Aufschwung mittelgroßer Betriebe zu erzeugen, mit Steuerbefreiungen und bereitgestellten Kreditsystemen. Hier stellt sich dann sofort die Frage: Und wer kontrolliert das? Und wenn etwas schiefgeht?
Als Versicherung scheint unserer Staatsmacht der durchschaubare Mensch zu dienen. Wenn kein durchschaubarer Mensch im Plan vorkommt, dann hält man den Plan für gefährlich. Wobei der durchschaubare Mensch selbst absolut nichts durchschauen muss.
Das jüngste Beispiel dafür ist die Ernennung von Jewgeni Sinitschew vom FSB zum Gouverneur von Kaliningrad. Dieser Mann erklärte aufrichtig, er habe von Amtsführung keine Ahnung, das sei ihm zuwider. Er plagte sich lange damit, scharenweise rannten sie ihm die Tür mit irgendwelchen Handelsprojekten ein, mit Schmiergeldern, und er bekam es mit der Angst zu tun, hielt alles für Provokation. Man erbarmte sich, er wurde abgelöst.
Dasselbe bei Nawalny: Einmal zum durchschaubaren Menschen erklärt, und der Kreml hält an ihm fest. Sollte das System ihn verlieren, befürchtet es, überhaupt nicht mehr zu durchschauen was passiert. Wobei ich überzeugt bin, dass Nawalny keine geheimen Abmachungen mit dem Kreml hat.
Wir befinden uns in so einer Übergangszeit, wo eine Möglichkeit zu politischem Handeln entsteht. Wer als erstes auf diese öffentliche Fläche hinaustritt, riskiert zwar viel, kann dafür aber einen Platz darauf einnehmen. Der Kreml beeilt sich, der erste zu sein. Stellt sich die Frage: Wessen Interessen kann er vertreten? Nach 20 Jahren gibt es nach wie vor keine Antwort darauf. Über Fürst Wladimir den Heiligen kann man endlos philosophieren, aber wessen Interessen sind das bitte? Wenn das System auf diese Frage keine Antwort findet, wird es nach Putins Abgang einfach fortgeblasen. Bis zu einem gewissen Grad ist ihnen das klar.
Es braucht eine Koalition von Interessen, keine erschlagende Fernseh-Mehrheit. Das wird ein schwieriger und gefährlicher Übergang, und er hat schon begonnen.
Für die Beantwortung dieser Frage muss man verstehen, welche Interessen man im Spezialoperations-Modus überhaupt vertreten kann, wie im Fall von Rosneft.
Ja, die Technik der Spezialoperationen sind ein Störfaktor. Eine Spezialoperation darf von den anderen nicht durchschaut werden – sobald jemand dahinterkommt, ist es vorbei. Unverständliches kann keine breite Koalition um sich versammeln. Uljukajew wurde verhaftet, und die Beliebtheitswerte stiegen um drei Prozent, hurra. Und weiter? Wo wollt ihr euch diese drei Prozent hinstecken? Wächst dadurch das BIP um drei Prozent oder gehen drei Prozent als Freiwillige nach Syrien? Nein, das ist einfach eine Selbstbeweihräucherung der Staatsspitze. Ich sah, frohlockte und wies mit dem Zeigefinger durch den Bildschirm: „Pass bloß auf, Alter – ich hab 90 %!“ Dieses alte Schema des Mythos hat bis auf einen kurzfristigen Kitzel keine Wirkung mehr.
Das russische Regime ähnelt in gewisser Weise der Antike: Es ist eine Welt der Mythen. Wie konnten erwachsene Menschen, die Griechen, die mathematische Überlegungen anstellten, an Zeus glauben? Genauso wie wir jetzt an Putins Beliebtheitswerte glauben. Es gibt ein mythisches Band: Umfragen und Wahlen. Auf keines von beiden kann man verzichten.
Die Wahlen demonstrieren, dass es keine Alternative gibt, und zwischen den Wahlen gibt es Umfragen, das sind ja mythische Wahlen, und die zeigen, dass es auch keine Alternative geben wird. Vom Volk ist das völlig losgelöst, so ist die Struktur des Mythos. In die kann man reingezogen werden, aber irgendwann funktioniert sie nicht mehr.
Es würde reichen, Fragen zu stellen, die den Mythos durchkreuzen. Nur ein Geisteskranker kann behaupten, es gäbe keine Kandidaten auf die Präsidentschaft. Gibt es etwa keine Minister im Land, keine Gouverneure, keine Führungspersönlichkeiten auf nationaler Ebene? Sogar Setschin, Belych oder Kirijenko könnten genauso gut wie Putin regieren. Selbst auf der kürzesten Liste ließen sich auf Anhieb fünfzig Kandidaten finden. Dass es keine Alternative zu Putin gibt, ist ein Märchen aus der entpolitisierten Welt.
Angeblich gibt es das Bedürfnis nach einer starken Hand, deren Rolle Putin übernommen hat.
Das ist kein Mythos mehr, sondern Propaganda. Was ist das für eine starke Hand, und was kratzt sie? Hat sie etwas importsubstituiert? Hat sie das gespaltene Volk der Ukraine irgendwohin geführt? Sehen Sie sich den unglückseligen Donbass an – da sehen Sie die Taten der starken Hand. Schluss mit den Luftschlössern. Putin ist tatsächlich kein untalentierter Leader, aber er hat ein Problem: Er hat sein Programm, den ihm möglichen Teil erfüllt, komplett. Er hat gemacht, was er konnte, und jetzt denkt er sich aus, was er noch tun könnte. Und wenn er noch 20 Jahre an der Macht bleibt, denkt er sich weiter irgendwas aus, solange es noch materielle Ressourcen gibt.
Worin bestand denn das Programm, mit dessen Umsetzung er die ganze Zeit beschäftigt war?
Ein Minimum an fiskaler und polizeilicher Ordnung im Land. Die Wiederherstellung des Vertrauens der Bevölkerung in den Staat, freilich auf sehr niedrigem Niveau. Der Kaukasus. Seine Macht fußt auf einer Entpolitisierung bei gleichzeitigem „bonapartistischen“ Manövrieren zwischen Eliten und Volk. Die Entpolitisierung war die Basis von allem, ein Konsens zwischen der Bevölkerung und allen Kräften, die im Jahr 2000 zur Mannschaft gehörten.
Entpolitisierung des Landes bedeutete die Entfernung von Konflikten aus der Öffentlichkeit. Sie haben einen Konflikt mit jemandem? Kommen Sie bitte in unseren Empfangsraum, zur Besprechung. Putin war Moderator unzähliger solcher Geschäfte, bis er genug davon hatte. Dieser Ansatz war für etliche Dinge bequem, stieß aber gegen eine Wand zunehmender Komplexität. Das Land war zu komplex geworden und die Konflikte zu kompliziert. Sollen wir denn bis in alle Ewigkeit damit beschäftigt sein, zu entscheiden, welche Interessen die richtigen sind und welche nicht? Die Antwort ist durch die Abschaffung unabhängiger Parteien und politischer Kräfte von der öffentlichen Bühne bereits gegeben. Dann zog sich alles in die Länge. Zerstört hat diesen Konsens Putin selbst – durch die Rochade und dann durch die Krim, indem er im Land eine Atmosphäre des Kampfes für eine mobilisierte Mehrheit und der Suche nach virtuellen Feinden schuf.
Dieses Jahr wird, glaube ich, die Frage nach den Aufgaben des politischen Moments aufwerfen. Das bisherige Spiel Staat jenseits der Politik haben wir eindeutig hinter uns gelassen. Insofern befinden wir uns wieder in einer politischen Zeit. Es läuft ein Prozess des Auftauens, der Politisierung einer Welt nicht anerkannter Interessen. Dazu gehören neue Subjekte, die wir einfach nicht kennen. Als politisches Subjekt kennen wir nicht mal Setschin: Bisher ist er ein latenter Player, ein Gesicht, das auf einen Sack Dollar gemalt ist. Aber sie alle werden unweigerlich an die Oberfläche gelangen.
Und die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, lautet: Wo ist das Programm der nächsten Präsidentschaft? Damit sollten wir uns das ganze nächste Jahr auseinandersetzen, nicht mit Putin. Es sind keine Debatten in Sicht, obwohl sie nicht verboten sind. Die Frage geht also an die Gesellschaft. Die Politiker können sich nicht durchringen, auf die Bühne einer Übergangszeit zu treten. Die denken: Wenn Putin geht – dann beginnt die Übergangszeit. Aber das ist eindeutig ein Fehler. Der Zug ist schon losgefahren, wir müssen herausbekommen, wohin die Reise geht.
Ich hatte erwartet, dass wir das früher herausbekommen würden, rund um die Wahlen im September. Hätten wir auch, wenn in der Duma ein oder zwei neue Fraktionen entstanden wären, aber das war nicht der Fall. Also schlägt der Prozess einen anderen Weg ein. Wer tatsächlich als erster die Bühne des Übergangs betreten und sich, ohne vernichtet zu werden, ihrer bemächtigen wird – ich weiß es nicht. Aber wir treten in eine Periode ein, in der wir nicht nur nicht umhinkommen, politisch rechts und links zu definieren, was bisher kaum etwas bedeutet, sondern auch die Sprache zu verfeinern, auf der wir sprechen.
Das politische Feld wurde all die Jahre niedergebrannt, und jetzt …
Jetzt rollt eine Menge mit Verbrennungen davongekommener politischer Krüppel heran, die wir inzwischen geworden sind. So, wie die Debatten geführt werden, ist es nicht möglich, eine Seite zu finden, der man sich anvertrauen kann.
Es gibt Bürgergemeinschaften – die konnten nicht völlig zerstört werden, weil sie nicht allzu eifrig in die Politik drängten, mal abgesehen von Menschenrechtsorganisationen. Aber ob die Zivilgesellschaft als Repräsentant der Nation auftreten kann, weiß ich nicht. Auf dem vergangenen Allrussischen Bürgerforum wurde erstmals anerkannt, dass die Zivilgesellschaft nicht nur eine Liste von NGOs ist und kein Ghetto für eine Handvoll Wohltäter und Umweltschützer. Jetzt ist klar, dass die Zivilgesellschaft gleichbedeutend mit der politischen Nation ist. Sie besteht aus lauter Gemeinschaften. Russland besteht aus lauter Minderheiten, die sich zu Interessensbündnissen zusammenschließen werden. Daher wird es Konflikte unterschiedlicher Intensität geben, nicht nur mit der Regierung.
Wird die Post-Putin Ära noch unter dem jetzigen Präsidenten beginnen?
Ja, sie läuft schon. Deswegen ist es ja so schwierig, derzeit politisch und historisch den eigenen Standpunkt zu bestimmen. Die Post-Putin-Ära zeichnet sich durch einen Zuwachs an Unbestimmtheit aus. Sogar Putin versucht, in ihr seinen Platz zu finden.
Es sind, so sagt die Redaktion, „Geschichten aus ihrem und unserem Leben“, die die Autorin und Journalistin Olga Beschlej (dekoder-Leser kennen sie schon) ab Ende Mai regelmäßig auf dem unabhängigen Online-Portal Colta.ru erzählt.
Schon der erste Text ihrer Reihe hatte Tausende Leser: Olga Beschlej fängt die Atmosphäre russischer Studentenwohnheime, die Unsicherheiten junger Erwachsener und die Unzulänglichkeit aller Schwarz-Weiß-Raster so gut ein wie kaum jemand sonst. Viel Spaß beim Lesen.
„I don’t mind saying hello at stations, but I don’t like saying good-bye.” Career Girls, Mike Leigh
I.
Meine Mutter hatte mich im Wohnheim abgesetzt mit einer großen Frischhaltebox voll hausgemachter Bouletten, Pfannen und einem Bademantel von derart ätzender Farbe, dass ich damit bei einem Wettbewerb der penetrantesten Damenbademäntel mit Sicherheit auf einem der vorderen Plätze gelandet wäre.
Meine neuen Zimmergenossinnen – zwei dicke, rotwangige Soziologiestudentinnen im dritten Studienjahr – beobachteten schweigend, wie ich meinen Koffer auspackte und unbeholfen das obere Stockbett mit dem Bettzeug von zu Hause bezog.
„Will jemand eine Boulette?“
Keine Antwort.
Insgeheim war ich froh, dass sie keine wollten. Die Bouletten würden nach meinen Berechnungen für drei Tage reichen.
Alles in allem war es ganz schön mies von meiner Mutter und meinem Vater – erst jahrelang auf Zehenspitzen herumzuschleichen und irgendwas zu murmeln von wegen „lass das Kind ruhig lernen“, und dann dieses Kind einfach in eine fremde Stadt zu karren und es dort mit irgendwelchem Haushaltszeug von unklarer Bestimmung sich selbst zu überlassen.
Ich konnte nichts.
Ich hatte noch nie einen Boden gewischt oder Geschirr gespült. Ich hatte noch nie ein Bett bezogen. Noch nie Wäsche gewaschen. Nie gekocht. Ich wusste nicht, wie lange ein Ei braucht, welches Wasser man zum Würstchen-Warmmachen nimmt und wie man Fleisch einkauft. Der Anblick des Wischlappens in der Gemeinschaftsküche ließ mich schaudern, und von glitschigen Makkaroni in fremden Töpfen bekam ich Magenkrämpfe.
Als ich am zweiten Tag hörte, dass in der Waschküche Ratten lebten, schwor ich mir, diese niemals zu betreten, und ich blieb diesem Schwur die folgenden fünf Jahre treu. Meine Wäsche transportierte ich alle zwei Wochen zum Waschen in meine hundert Kilometer von Moskau entfernte Heimatstadt.
Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei
Meine Mutter erklärte später, mein Schulabschluss, dann mein 17. Geburtstag im Juli, und dann der Beginn meines Studiums – das alles sei damals allzu plötzlich gekommen. Als ich am dritten Tag anrief und fragte, was ich denn essen solle, wenn die Bouletten alle wären, geriet meine Familie in Panik. Doch mein erster Einkauf verlief einwandfrei – auf Anhieb erstand ich für ein Drittel des gesamten mir überlassenen Geldes eine große Flasche kaltgepressten Orangensaft und war damit äußerst zufrieden. Mein neues Leben kam mir sogar mit einem Mal gar nicht mehr so schrecklich vor. Bis meine Zimmergenossinnen von mir verlangten, ich solle den Boden wischen.
„Wieso, gibt es denn hierfür keine Putzfrau auf der Etage?“, erkundigte ich mich.
„Nee. Aber du kannst ja deine Mutti rufen“, meinte die eine und lachte höhnisch. Ich sah auf den Eimer mit dem angetrockneten Lappen. Dann auf meine finster dreinblickenden Mitbewohnerinnen. Und dann trat ich auf den Gang hinaus, stapfte zur diensthabenden Etagenfrau und bat sie, mich umzuquartieren, weg von den garstigen Soziologinnen.
„Was hacken die bloß immer alle auf euch Journalisten rum“, knurrte die Diensthabende. „Im ersten Stock ziehen zwei Erstsemestlerinnen ein, die eine studiert auch Publizistik. Ich werd mal fragen, ob du nicht bei denen mit reinkannst.“
Am nächsten Tag stand ich in der Tür zu dem anderen Zimmer – mit meinem Koffer, der leeren, dreckigen Frischhaltebox, Pfannen und dem Bademantel, den die eine meiner neuen Zimmergenossinnen – eine dürre, finstere Blondine – prompt kommentierte:
„Echt krasses Farbdesign.“
Das war Latyschka, „die Lettin“, so nannte ich sie.
II.
Latyschka war am 9. Mai geboren. Eine sich selbst und anderen Menschen gegenüber derart schonungslose Person ist mir noch nie begegnet.
Eigentlich hieß sie Olga – wie ich. Ich fand es aber immer schon befremdlich, jemand anderen mit meinem eigenen Namen anzusprechen, deshalb hatte sie bei mir praktisch vom ersten Moment an ihren Spitznamen weg.
Geboren und aufgewachsen war sie in Riga. Sie hatte die russischsprachige Schule mit Bestnoten absolviert, es locker an die Wirtschaftsfakultät der führenden lettischen Universität geschafft, dort ein Jahr durchgezogen und war, unzufrieden mit der Qualität der dortigen Lehre, nach Russland gegangen.
Latyschka verfügte über beängstigende Leistungsfähigkeit und physische Stärke. Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in der gleichen Sekunde in Schlaf, und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. Ihre Angewohnheit, ins Zimmer zu stürmen, machte mich wahnsinnig, und an den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich noch genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches.
Alles, was Latyschka tat, war ideal. Sie gab ihre Hausaufgaben rechtzeitig ab, lernte fleißig, hatte vom ersten Studienjahr an einen Job und versäumte keine Lehrveranstaltung. Ich flog wegen Spickens aus den Vorlesungen und bekam Stress wegen Schwänzerei. Morgens schlug ich die Augen auf, sah eine Minute lang zu, wie Latyschkas kornblumenblauer Bademantel durchs Zimmer wirbelte, machte den Wecker aus und zerfleischte mich, bis sie das Zimmer verließ. Mir schien, wenn man nicht in der Lage war, so zu lernen wie Latyschka, lohnte sich die Mühe erst gar nicht.
Ich war in allem schwächer als sie, träumte aber dennoch davon, ihr es einmal richtig zu zeigen und zwar bei zwei Dingen: Wenigstens ein einziges Mal wollte ich in Literatur besser abschneiden und wenigstens einmal einen politischen Disput gegen sie gewinnen.
Ich sage es gleich: Weder das eine noch das andere ist mir gelungen.
Innerhalb der Universitätsmauern war Latyschka unbesiegbar.
Alles an ihr funktionierte wie eine Maschine: Abends legte sie sich hin und sank noch in derselben Sekunde in den Schlaf und morgens sprang sie aus dem Bett, sobald der Wecker schrillte. An den Klang ihrer Schritte auf dem Flur erinnere ich mich genau – sie nahte heran wie etwas Unausweichliches
Das erste Mal stritten wir uns gleich zu Beginn des Studiums. Wir kamen aus einer Vorlesung. Vermutlich politische Geschichte. Ich hatte irgendeine Bemerkung über die despotischen Neigungen unseres Präsidenten losgelassen, da sagte Latyschka plötzlich, ich würde Müll reden.
„Jetzt sag bloß, du stehst auf ihn.“ Ich lachte laut auf.
„Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel zu verdanken habe“, erwiderte Latyschka gemessen. „Ich kann eben dankbar sein.“
„Was meinst du damit – viel zu verdanken?“
„Ich bin aus Lettland hierhergekommen und habe keine russische Staatsbürgerschaft. Man hat mir die Chance gegeben, bei den Prüfungen gleichberechtigt mit den russischen Studenten die Aufnahmeprüfungen zu machen und umsonst an einer der besten Unis zu studieren, ich kann im Studentenwohnheim wohnen und ich bekomme ein Stipendium.“
„Ja schön, und was willst du mir damit sagen?“
„Dass du genauso Grund hättest, dankbar zu sein.“
Diese Argumentation haute mich derart um, dass wir eine Weile schweigend nebeneinander hergingen. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir nie über Politik diskutiert, aber ich war aus irgendeinem Grund fest davon ausgegangen, dass Latyschka meine Ansichten teilte. Oder vielmehr die Ansichten meiner Familie. Die Küchenbetrachtungen meines Vaters waren mir immer derart logisch, zutreffend und zwingend erschienen, dass ich mir einfach nicht vorstellen konnte, in Moskau, zumal an der Moskauer Universität, könnte jemand anders argumentieren.
Dabei hatten Latyschkas Worte mich nicht bloß überrascht. Ich bekam regelrecht Schiss, ich hatte es nämlich nicht gelernt zu streiten. Die paar jämmerlichen Male, die einer meiner Klassenkameraden von seinen Sympathien für den Präsidenten gesprochen hatte, hatte ich die Betreffenden einfach voller Geringschätzung angesehen und gedacht, was kapieren die schon. Aber Latyschka voller Geringschätzung ansehen ging gar nicht. Erstens schien sie mir ungeheuer klug. Zweitens sah sie mich schon voller Geringschätzung an.
„Ich soll also dem Präsidenten dankbar dafür sein, dass ich umsonst studieren darf?“, fragte ich schließlich. „Aber das ist doch … also ist doch eigentlich gar nicht sein Verdienst. Das ist sowas wie unsere Vereinbarung mit dem Staat, oder? Dass Bildung nichts kostet, war außerdem schon zu Sowjetzeiten der Fall. Das hat sich doch nicht Putin ausgedacht.“
„Ausgedacht nicht“, stimmte Latyschka zu. „Aber dank Putin kann der Staat dafür aufkommen.“
„Zu Jelzins Zeiten hat das Studieren auch nichts gekostet.“
„Zu Jelzins Zeiten waren die Menschen damit beschäftigt zu überleben. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar noch unter würdigen Bedingungen.“
„Naja, unsere Uni ist einfach ziemlich reich. Das ist ja nun nicht überall so.“
„Aber immerhin bist du an dieser Uni genommen worden. Und deine Eltern bezahlen dafür keinen Rubel.“
„Was meinst du, was die für meine Repetitoren abdrücken mussten!“
„Na gut, aber das ist eine Frage deiner persönlichen Fähigkeiten. Ich habe kein Geld für Repetitoren ausgegeben.“
Ich kochte vor Wut.
„Wir studieren doch Publizistik! Und Putin schafft die Meinungsfreiheit ab!“
„Freiheit ohne Kontrolle geht nicht. Und er hat Maßnahmen ergriffen, die notwendig waren. Ich sehe nicht, dass die Presse hier ernsthaft drangsaliert würde. Es gibt die Novaya Gazeta, Echo Moskvy, den Kommersant, Vedomosti, das ganze Internet.“
‚Ich habe große Achtung vor dem Präsidenten des Landes, dem ich so viel verdanke‘, erwiderte Latyschka gemessen. ‚Ich kann eben dankbar sein. Unter Putin kannst du nicht nur irgendwie studieren, sondern sogar unter würdigen Bedingungen. Du hättest genauso Grund, dankbar zu sein‘
Sämtliche Argumente, die ich in der elterlichen Küche gehört hatte, zerschellten an der unerschütterlichen Überzeugtheit in Latyschkas Stimme in tausend Stücke. Ich bedauerte auf einmal, dass ich meinen Vater nicht einfach aus der Manteltasche ziehen konnte.
„Und was ist mit dem Mord an Politkowskaja?“, fiel mir endlich noch ein. „Nach der Sache können wir uns in unserem Beruf wohl kaum noch sicher fühlen!“
Latyschkas Gesicht verfinsterte sich. Sie hatte [damals vor Anna Politkowskajas Haus – dek] in der Lesnaja Uliza Blumen niedergelegt.
„Für das Material, das sie geliefert hat, hätte die Politkowskaja auch in jedem anderen Land der Welt ermordet werden können. Journalismus ist einfach gefährlich, Beschlej. Aber du hast bisher nichts zu befürchten. Wenn du eine Politkowskaja werden willst, hör zuallererst mal auf, dich vor dem Küchenlappen zu fürchten.“
III.
Heute heißt es auf der Homepage des Studentenwohnheims, in das ich 2006 einzog, die 14,5 Quadratmeter großen Zimmer seien mit jeweils zwei Studierenden belegt, auf jeder Etage gebe es zwei Duschräume mit Einzelduschen und die Küchen seien rund um die Uhr offen. Sei‘s drum, zumindest weiß ich jetzt, was sich in den letzten zehn Jahren alles zum Besseren verändert hat.
Ich erinnere mich an keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten
Zu unseren Zeiten wohnte man jedenfalls zu dritt, und ich erinnere mich noch gut an die stickige Luft morgens in unserem Zimmer und an den Geruch des Waschschwamms aus der Schüssel unter meinem Bett. In den ersten drei Jahren gab es einen einzigen Duschraum – riesig und gnadenlos ohne Vorhänge oder Kabinen, dank dem mir die anatomischen Besonderheiten meiner Kommilitoninnen heute besser in Erinnerung sind als ihre Nachnamen. Die Küchen schlossen die Etagenfrauen nachts immer ab. Warum sie das taten, wusste keiner, aber es wollte sich auch keiner mit ihnen anlegen.
Mit Latyschka und Katja – unserer dritten Zimmergenossin, einer Psychologiestudentin – habe ich ein Fünftel meiner Lebenszeit verbracht. Wenn ich heute jedoch versuche, diese Jahre im Detail zu rekonstruieren, entsteht in meinem Kopf eine Art Ansammlung von Episoden, die zusammengenommen wahrscheinlich eine Zeitspanne von einigen wenigen Tagen ergeben. Vielleicht eine Woche.
Also, ich stehe morgens auf oder ich stehe nicht auf, sondern schlafe bis mittags. Ich trödele in der Gemeinschaftsdusche rum. Ich ziehe mich an, komme immer und überall zu spät. Ich gehe zur Uni. Oder gehe nicht zur Uni, sondern zwei Treppen runter in den gelb gekachelten Raucherraum und lasse dort lange Zeit Ringe an die verqualmte Decke steigen. Oder ich gehe raus, Richtung Kirche. Es ist grauer Herbst. Oder Frühling. Aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht an Winter erinnern. Ich rauche. Der Weg den Hügel hinauf. Das goldene Schild der Universität. Erster Stock, zweiter Stock. Die Plastiktüren. Die engen Bänke.
Ich erinnere mich an nichts. An keine einzige Vorlesung. Doch, ich erinnere mich, wie ich in Westlicher Literatur Würstchen mit Ketchup gegessen habe. Und wie Latyschka und ich in Makroökonomie einen Streit wegen des lettischen Präsidenten hatten.
Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch
Es war im zweiten Studienjahr. Ich hatte die Vedomosti mit in die Vorlesung gebracht, und Latyschka hatte sie mir natürlich prompt abgeknöpft. Bei uns galt damals als chic, Wirtschaftszeitungen dabeizuhaben, doch im Unterschied zu den meisten anderen las Latyschka die gesamte Presse auch tatsächlich durch. Rasch überflog sie die Spalten, schlug die Zeitung auf der Pultbank auf und fing an, auf dem Foto des damaligen lettischen Präsidenten Valdis Zatlers herumzukritzeln.
Die Dozentin – eine stramme Kommunistin, die uns in Makroökonomie unterrichtete -, schritt gemächlich vor der Tafel auf und ab.
Ich flüsterte:
„Auf den stehst du nicht so oder wie?“
„Stimmt.“
„Und wieso?“
Latyschka bedachte mich mit einem abfälligen Blick.
„Der Typ ist einfach ein Niemand“, entgegnete sie nach einer Pause.
„Wie meinst du das?“
„Ich weiß gar nicht, wer er ist. Zwei Wochen vor seiner Ernennung haben sie ihn uns vorgestellt. Ein Arzt, Traumatologe. Nicht mal ein Programm hatte er vorzuweisen.“
„Naja, also so viel besser ist die Lage ja bei uns nun auch nicht“, hob ich zaghaft an. „In dem Land, das du dir ausgesucht hast, wird der Präsident auch nicht gewählt.“
„Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie wenig er in Lettland gewählt wird. Er wird von den Parlamentsabgeordneten bestätigt, nicht vom Volk.“
„Aber das Parlament, das wählt ihr doch.“
„Und ihr wählt sowohl das Parlament als auch den Präsidenten!“
„So ein Schwachsinn. Wir wählen hier überhaupt niemanden!“ Langsam war ich echt genervt. „Es geht doch die ganze Zeit nur um den ‚Erben‘. ‚Nachfolger-Wahlen‘. Wenn ich das schon höre! Stößt dir an der Formulierung nichts auf?“
„Putin habt ihr selber gewählt. Ihr, das russische Volk, seid zur Wahl gegangen und habt für ihn gestimmt. Und für seinen Nachfolger werdet ihr auch stimmen.“
„Bei uns ist die große Mehrheit einfach nicht ganz dicht, das ist alles.“
„Da musst du dich jetzt mal entscheiden: Sind die Leute bei euch nicht ganz dicht oder stimmt was mit Putin nicht?“
„Die haben hier alle einen an der Waffel. Ganz Russland hat einen an der Waffel.“
„Nicht Russland hat einen an der Waffel, du bist es, die hier einen an der Waffel hat. Du hast doch alles, deine Familie hat alles, was willst du denn noch? Wenn’s dir hier nicht gefällt, kannst du ja auswandern.“
„Was weißt du denn bitte über meine Familie? Meine Eltern haben einen kleinen Laden. Aber früher, da hatten sie drei kleine Läden. Jetzt haben sie nur noch den einen, die Steuern, die Miete, ständig steht der Brandschutz auf der Matte.“
Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln
„Die Situation der Kleinunternehmer ist mir nicht so geläufig, aber ich sehe das große Ganze. Das Bruttoinlandsprodukt steigt, die Einkommen steigen, meine Oma in Lettland bekommt inzwischen eine russische Rente ausgezahlt. Kann sein, dass es speziell deine Familie nicht so gut getroffen hat, aber das heißt ja nicht, dass allgemein alles schlecht ist. Aber wenn du nicht bereit bist abzuwarten, dass das Land sich entwickelt, wenn du nicht bereit bist, deinen Beitrag zu leisten, dann hau doch ab! Ich bin dazu bereit. Ich will die Staatsbürgerschaft, ich will hier leben und arbeiten. Und du haust eben ab! Niemand hindert dich. Setz dich irgendwo ins gemachte Nest.“
„Und wie ich abhauen werde, da kannst du Gift drauf nehmen“, knurrte ich.
Latyschka vertiefte sich demonstrativ in ihre Aufzeichnungen, während ich noch etwa fünf Minuten brauchte, um meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Ich kochte vor Wut. Wut auf sie – weil sie so selbstsicher und so überzeugend war, und auf mich selbst – weil ich angefangen hatte zu zweifeln.
Mehr als alles auf der Welt wünschte ich mir in diesem Augenblick – wie auch später nach jedem unserer Streits wieder – die Zukunft möge jetzt sofort anbrechen und sich als derart furchtbar herausstellen, dass selbst Latyschka mir nicht mehr würde widersprechen können.
IV.
Mit der Zeit hörte ich auf, mit ihr zu streiten. Latyschkas Autorität hatte sich in meinen Augen mit jedem Jahr weiter gefestigt. Außerdem lebte ich in der ständigen Angst, sie könnte mir die ungewischten Böden vorhalten.
„Ich will leben wie in Europa!“
„Aber du hast seit drei Jahren den Boden nicht gewischt!“
Doch Latyschka hielt einem nichts vor. In regelmäßigen Abständen nahm sie demonstrativ den Schrubber zur Hand, wischte damit zwei Minuten lang grimmig über den Boden – wobei man sagen muss, dass es im Zimmer davon nicht sauberer wurde – und setzte sich wieder an ihr Notebook. Wirklich gewischt hat den Boden lediglich Katja – jedoch derart leidend und still, dass niemand von uns ihre Mühen würdigte oder überhaupt nur zur Kenntnis nahm.
Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant
Was mich betraf, war jedoch durch Latyschkas Bemühungen bereits zu Beginn des zweiten Studienjahres das Bild einer faulen dummen Gans aus reichem Hause fest verankert. Und – ich kann es nicht verhehlen – ich entsprach diesem Bild von Jahr zu Jahr mehr.
Latyschka machte Karriere beim staatlichen Rundfunksender. Ich schleppte mich einmal die Woche zum Praktikum in der Wirtschaftsredaktion des Kommersant, tat dort absolut nichts, was irgendeinen Nutzen gehabt hätte, ging dem stellvertretenden Chefredakteur der Abteilung auf die Nerven und sah dafür selbstredend kein Geld.
Im dritten Studienjahr hielt es Latyschka nicht mehr aus und sagte mir ganz direkt:
„Ich kann keinen Respekt vor dir haben, Beschlej. Du bist neunzehn Jahre alt und hängst deinen Eltern am Hals. Ich würde das ja alles noch verstehen, wenn du wenigstens studieren würdest. Aber du studierst nicht. Du schläfst bis mittags, machst das Zimmer nicht sauber, hängst stundenlang im Raucherraum rum und verfrisst irre viel Geld. Zur Zeitung gehst doch du bloß für den äußeren Schein. Oder wo sind deine Artikel? Na?“
Ich hatte ihr eigentlich eine von mir entworfene Grafik aus der letzten Ausgabe zeigen wollen, auf die ich sehr stolz war. Aber unter Latyschkas eisigem Blick kam sie mir mit einem Mal farblos und armselig vor.
Ich machte mich auf die Suche nach einem neuen Job und fand schnell was bei einer neu gegründeten Wirtschaftszeitung. Dort wurde ich die ganze Zeit angeblafft und runtergeputzt, von früh bis spät schlug ich mich mit irgendwelchen Zahlen herum, brachte alles durcheinander und machte mir große Sorgen, dass sie mich feuern würden. Dafür schien Latyschka sehr zufrieden mit mir und ersetzte zeitweise ihren herablassenden Ton durch freundschaftliche Anteilnahme.
Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte. Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr
Im vierten Studienjahr wurde mir das Leben vollends zur Qual. Zu dem umfangreichen Arbeitspensum kamen die Vorbereitungen auf die Prüfungen und das Diplom. Wir schliefen so gut wie gar nicht mehr. Latyschka verwandelte sich endgültig in einen Roboter und ich mich in ein zutiefst unglückliches, nölendes Wesen.
Manchmal schlich ich mich früh morgens hinunter in den Raucherraum, stellte mich an das Fenstergitter, blies Rauch durch die Stäbe und dachte an die Zeit, wenn das alles vorbei sein würde. Wenn es kein Studium mehr gäbe. Ich nicht mehr eine kleine dumme Reporterin wäre. Ich mich bis zur Redakteurin hochgedient hätte und selber alle anblaffen würde. Ich mir eine eigene Wohnung mieten und in meiner eigenen Küche rauchen würde.
Ich konnte mir nur beim besten Willen nicht vorstellen, dass es in dieser Zukunft keine Latyschka mehr geben sollte.
Sie stand für alles, wovon ich träumte. Und ich hoffte auf Anerkennung von ihr.
V.
Inzwischen weiß ich, dass auch Latyschka ein ganz ähnliches Gefühl – das Gefühl einer unerträglichen Schwere des Erwachsenenlebens – hatte. Uns fehlte in allem, was mit uns geschah und was wir erlebten, Freude und irgendetwas Menschliches.
Um der Tristesse des Wohnheims und einer bestimmten kaum zu ertragenden Stallatmosphäre des Bürolebens zu entfliehen, verliebte ich mich in einen Unidozenten und erklärte von nun an alles mit meinem Liebeskummer. Ich rauche zu viel – denn ich leide. Ich lerne schlecht – denn ich leide. Ich hab den Küchendienst verpennt – ich leide. Ich bin zu spät – habe wieder die ganze Nacht gelitten. Von meinem Leiden wurde mir leichter ums Herz.
An die Wahrhaftigkeit dieser Liebe glaubte Latyschka keine Sekunde, doch schwang sie sich nicht auf, sie mir abzusprechen. Lügen konnte ich noch nie und so litt ich tatsächlich, mit Heulen, hysterischen Szenen, Verzweiflung und Alkohol. Unbeholfen versuchte sie mich zu trösten, aber Gespräche über meine Gefühle fielen ihr nicht leicht – man konnte merken, nicht, dass sie für solche Situationen keine Worte gehabt hätte, aber ihr fehlte irgendwie eine bestimmte Art von Reaktionen.
Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin
Nie werde ich den Tag im vierten Studienjahr vergessen, an dem ich mich fürchterlich blamierte.
Der Dozent – der besagte – stellte im Seminar die Frage nach der Definition der Verfassunggebenden Versammlung. Die gesamte Seminargruppe schwieg hartnäckig und ich entschloss mich, die Situation zu retten. Ich würde aufstehen und diese ausgesprochen einfache Frage beantworten. Ich stand auf. Öffnete den Mund. Und bekam mit einem Mal kein Wort heraus. Ich stand eine Zeitlang da und setzte mich wieder hin.
Abends nahm mich Latyschka, die zu einer anderen Seminargruppe gehörte und die Szene nicht miterlebt hatte, ins Verhör:
„Das heißt also: Du warst vor lauter Liebe nicht imstande, die Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist? Wie ist so etwas möglich?“
Sie sah mich mit einer Mischung aus Besorgnis, Verärgerung und Neugier an. Als würde ich ihr gleich ein lebenswichtiges Geheimnis offenbaren. Ich war verheult, verquollen und konnte ihr keinerlei schlüssige Auskunft geben.
„Ich weiß nicht. Ich bin aufgestanden, habe ihn angesehen, und meine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt, so ein Druck auf der Brust, weißt du.“
„Vor lauter Liebe?“
„Ich weiß nicht … ich denke schon, ja, vor lauter Liebe.“
Latyschka ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, setzte sich dann und hob in bedeutendem Ton an zu sprechen – so hatte sie mit mir noch nie gesprochen. Beinahe auf Augenhöhe.
„Nur etwas wirklich Großes kann einen Menschen daran hindern, die einfache Frage zu beantworten, was die Verfassunggebende Versammlung ist, Beschlej. Ich wünschte, ich würde so etwas empfinden.“
VI.
Ich denke nicht, dass die Veränderungen, die in Latyschka vorgingen, durch mich und meine alberne Verliebtheit ausgelöst wurden, mit der ich unser ganzes Zimmer nervte. Ich denke, irgendetwas in ihr war schon vorher in Gang gekommen.
Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen
Mir fällt zum Beispiel ein, dass sie von Jahr zu Jahr mehr über die Arbeit klagte. Irgendwann war sie auf die Idee gekommen, sie könne bei dem Radiosender, bei dem sie arbeitete, eine Art Fortschrittsmotor werden. Sie sprach von Reformen, träumte davon, den schwerfälligen Koloss von Staatsorgan Schritt für Schritt in Richtung einer besonnenen Effizienz zu manövrieren. Sie entwarf neue Programme und Formate. Schrieb fortwährend irgendwelche Konzepte. Machte Präsentationen. Arbeitete Wohltätigkeitsprojekte aus. Jedes Mal endete es mit einer Enttäuschung. Und jedes Mal hatte diese Enttäuschung etwas von kindlichem Erstaunen. „Ich verstehe nicht“, sagte sie dann, „ich verstehe nicht, warum die sich nicht verändern wollen. So würde es doch allen besser gehen.“
Immer häufiger schickte sie mir Meldungen, über die sie sich aufregte. Sie redete von der Schwäche der russischen Wirtschaft, der Erdölabhängigkeit, der Ineffizienz der Staatsmacht, der schlechten Qualität der Ausbildung. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir ihre Einbürgerung und ihren ersten russischen Pass gefeiert hätten.
Nachdem wir den Bachelor abgeschlossen hatten (sie – mit Rotem Diplom, ich – mit Mühe und Not), begannen wir gemeinsam den Master. Ihre Uni-Verdrossenheit nahm rasant zu. Sie begann Vorlesungen zu schwänzen, lieferte schlechte Klausuren ab. Und verkündete kurz vor den Sommerprüfungen, sie werde das Studium schmeißen. In ihrer üblichen schroffen Art erklärte sie, das Masterstudium habe ihre Erwartungen nicht erfüllt und es gebe außer dem Studieren noch so viel anderes Wertvolles im Leben. Eines Tages packte sie ihre Sachen und weg war sie.
Latyschkas Entschluss erschütterte mich. Mehre Tage war ich vollkommen in Aufruhr. Latyschkas leeres Bett mit der meerwellenfarbenen Synthetikdecke darauf versetze mich in größte Unruhe. Nachts bog sich das Metallfedernetz ihres Bettes nicht mehr durch, es blieb ganz still. Da oben war niemand mehr.
Mir grauste.
Ich überlebte mit Mühe und Not die Prüfungen, aber noch im selben Sommer wurde mir klar, dass ich das zweite Masterjahr nicht mehr weitermachen würde. Ohne Latyschka hatte das Studium vollkommen seinen Sinn verloren – mir war mein Bezugspunkt abhandengekommen.
Die nächsten beiden Jahre trafen wir uns hin und wieder, blieben in Kontakt.
Sie machte weiter Karriere und bekam immer wieder neue Stellen. Doch bereits damals sagte sie mir bei jedem unserer Treffen, sie sehe keine Perspektive. Fühle sich oft kraftlos und apathisch. Sie war genervt von ihren Chefs und der Zensur. Nach der Verkündung der Präsidenten-Rochade im September 2011 hörte ich Latyschka zum ersten Mal etwas murmeln wie „Zeit die Zelte hier abzubrechen“.
‚Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt haben sie Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan gehört. Das war eine ganz schön subversive Aktion.‘ Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an
Sie legte sich Hobbys zu, die man keinesfalls von ihr erwartet hätte – Fengshui, Psychologie, Horoskope. Sie probierte verschiedene Extremsportarten aus und hatte sich einen merkwürdigen Typen angelacht, der, wie sie behauptete, mit bloßem Blick Schlösser knacken konnte. Dann fing sie an, sich mit östlichen Praktiken zu beschäftigen und liebäugelte mit verschiedenen Religionen. Sie machte Urlaub in Tibet und als sie zurückkam, tötete sie keine Mücken mehr.
Ihr Interesse an der uns umgebenden Wirklichkeit flackerte auf in der Zeit der Proteste 2011/2012. Sie stürzte sich aufs Neue kopfüber in ihre Arbeit. Nur dass sie dieses Mal diejenige sein wollte, die alles von innen heraus ins Wanken bringt. Sie triumphierte jedes Mal, wenn es ihr gelang, in einer Nachrichtenmeldung inoffizielle Zahlen zur Anzahl der Kundgebungsteilnehmer einzuschleusen, wenn sie Zitate von den Protestanführern oder auch einfachen Teilnehmern unterbringen konnte. Doch mit der Zeit wurden die Protestnachrichten abgelöst durch eine regelrechte Welle von Verhaftungsmeldungen, später waren es Berichte von den Gerichtsverfahren. Latyschkas Enthusiasmus erlosch. Ihre letzte Heldentat war eine Rede Alexej Nawalnys nach einer seiner Verurteilungen, die sie persönlich auf Sendung schaltete.
„Mann, du bist echt cool“, sagte ich damals zu ihr.
Latyschka wirkte nicht glücklich.
„Du darfst nicht vergessen, dass unsere Sendungen in der gesamten GUS laufen, Beschlej. Jetzt hat man Nawalny in Tadschikistan, Usbekistan und Kirgistan hören können. Das war eine ganz schön subversive Aktion.“
Ich bin aber bis heute der Meinung, dass sie damals mutig gehandelt hat.
Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert
Kurz darauf fing sie plötzlich mit den Massage-Kursen an. Ich dachte, dieses Hobby würde ebenso schnell wieder verschwinden wie die übrigen. Doch kaum hatte Latyschka einen Kurs absolviert, fing sie schon den nächsten an. Und dann noch einen. Bald knetete sie mir und meinen Freunden regelmäßig den Rücken durch. Binnen kurzem hatte sie ihren eigenen Kundenstamm. Die Arbeit beim Radio wurde mittlerweile bloß noch als Störfaktor thematisiert.
„Weißt du, das ist … das ist so ein Glück, wenn deine Arbeit darin besteht, jemandem etwas Gutes zu tun“, erklärte mir Latyschka. „Darüber habe ich früher nie nachgedacht. Ich wusste nicht, wie wichtig das ist – nicht einfach nur nichts Böses, sondern etwas Gutes zu tun, etwas Richtiges und Notwendiges.“
Sie nahm sich alles sehr zu Herzen. Als klar war, es würde darauf hinauslaufen, dass sie die Arbeit beim Sender aufgab, brach bei ihr eine offensichtliche Krise aus. Ihr Job war gut bezahlt, sie hatte eine gute Wohnung, einen hohen Posten. Und schließlich war da ihre Mutter in Lettland, so stolz, dass ihre Tochter in die „historische Heimat“ zurückgekehrt und dort so erfolgreich war.
„Wie kann ich das alles aufgeben, Beschlej? Was sage ich meiner Mutter? Und was werden all die anderen Leute sagen? Unsere Kommilitonen? Meine Kollegen?“
Und ich, die ich ihr mehr als irgendjemand sonst sagen konnte und wollte, gab zur Antwort:
„Weißt du was, die können dich alle mal. Na gut, alle bis auf deine Mutter.“
Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können
Beim Sender kündigte sie kurz nach den Krim-Ereignissen von 2014. Und machte dann eine Pilgertour auf dem Jakobsweg, bis nach Santiago de Compostela.
Ihre Reiseberichte schickte sie an die Zeitschrift, bei der ich damals arbeitete. Ich redigierte ihre Texte, las grollend von dem WEG, den „jeder für sich finden sollte“, während ich ihre Fotos betrachtete, die so farbenfroh waren und so surreal in meinem staubigen Büro.
„Okay“, dachte ich, „früher oder später wird sie ja zurückkommen.“
VII.
Latyschka ging zurück nach Lettland.
Der Umzug zog sich quälend lange hin. Immer wieder hatte sie irgendwelche Sachen vergessen, derentwegen sie noch einmal wiederkam. Wir hatten uns bestimmt schon dreimal verabschiedet.
Im Februar endlich war es so weit.
Sie hat sich in Riga eine Wohnung gemietet. Ihr eigenes Geschäft angemeldet. Sie massiert jetzt legal, zahlt Steuern. In Moskau war das aus irgendwelchen Gründen äußerst schwierig und vollkommen unrentabel gewesen.
Der Käse sei in Lettland jetzt viel besser als damals, als sie wegging, schrieb sie.
Ende Mai will sie die Aufnahmeprüfungen für die Medizinische Universität ablegen. Mit dem europäischen Diplom in der Tasche hofft sie dann später irgendwo in Europa arbeiten zu können.
Ich denke oft daran, wie ich ihr eines Nachts, kurz vor den Abschlussprüfungen, meinen Gedanken vorstellte, dass irgendwo schon jetzt die Zeit und der Raum existieren, wo alles, was jetzt ist, bereits hinter uns liegt:
„Nehmen wir mal an, es sind zum Beispiel fünf Jahre vergangen. Es ist Nacht wie jetzt. Du liegst im Bett. Wo liegst du da?“
„Ich habe keine Ahnung. Aber ich hoffe, es wird nicht allzu weit bis zum Meer sein. Ich vermisse das Meer. Und du, Beschlej?“
„Ich weiß es auch nicht. Aber ich hoffe, ich habe dann eine gute Matratze.“