Plötzlich gab es das Karussell in Moskau. Nicht irgendeins. Autor Schura Burtin ist aufgesprungen. Colta zeigt Fragmente eines durchgedrehten Sommers. Das Karussell war auch beim Burning Man 2019 in der Wüste Nevadas. Wann es sich in Moskau das nächste Mal dreht, erfahrt ihr hier.
Gesehen habe ich das Karussell zum ersten Mal im Mai, obwohl ich schon lange davor von ihm gehört hatte. Siggi sagte, Sanjok und er hätten es endlich nach Moskau gebracht, zu irgendeiner Fabrik, ich könne ja kommen und ihnen helfen. Als ich ankam, war das Karussell zerlegt – die beiden Jungs hatten die Hinterachse eines Autos ausgebaut, an der eine Kurbel befestigt wurde, und da schweißten sie Metallringe dran. Von oben aus den Fenstern einer Loft-Bar sahen ihnen angeheiterte Mädchen zu. Siggi überwand seine Verlegenheit und winkte ihnen mit seiner ölverschmierten Hand zu.
Es dämmerte schon, als die Jungs die Kurbelwelle wieder einsetzten und die Schrauben anzogen. Im Halbdunkel holte Sanjok ein rotes Pferdchen aus der Garage, stellte es aufs Karussell und setzte sich drauf. Siggi brachte die große Kurbel in Schwung, und das Karussell begann sich zu drehen. Da war mir plötzlich alles klar – nachdem mir zwei Jahre lang verschiedene Freunde davon erzählt hatten und ich nie verstanden hatte, was auf einmal dieser Heckmeck um ein Karussell soll. Ich kletterte auch aufs Karussell, rundherum drehten sich die erleuchteten Fenster, unten schaukelte Siggis knochiges Gesicht, Sanjok lachte glücklich. Die Welt, die sich langsam um uns drehte, war bunt und verheißungsvoll. Einfach, weil Siggi die Kurbel drehte.
Es waren an die 150 Zuschauer da. Es war schon dunkel, Sanjok hatte die Girlande angeknipst. Andrej Figa, ein Petersburger Sänger, den ich noch nie gehört hatte, sang auf dem Karussell wunderschöne Lieder, zwischendurch bat er lachend um einen Richtungswechsel. Siggi und ich standen auf dem Dach der Garage und sahen, dass Sanjok ein Wunder vollbracht hatte – zu unseren Füßen wurde ein berückendes, faszinierendes, irgendwohin führendes Fest gefeiert. Die Leute wussten nicht, woher das alles kam und dass ich vor einer Stunde noch gedacht hatte, das würde alles nichts. Es war einfach schön, ihre Gefühle füllten den Raum. Dann stieg das Publikum auf das Karussell und tanzte zur Musik des DJs, der in der Mitte mit einem riesigen Sperrholz-Laptop rotierte. An der Kurbel des Karussells standen Freiwillige Schlange. „Ich glaube, ich hab noch nie was Schöneres gesehen …“, sagte mein halbwüchsiger Sohn. Ich dachte, wenn das Karussell elektrisch wäre, dann wäre nichts besonderes dabei: Der ganze Spaß besteht darin, dass die Leute sich gegenseitig drehen. Das ist wie eine Metapher: Hier kannst du ganz konkret, physisch spüren, dass sich ohne dich nichts bewegt. Mitten in dieser Stadt, in diesem Leben, wo alles auch ohne dich wunderbar läuft.
Am nächsten Tag hatte ich ein Mitteilungsbedürfnis. Ich schickte Nachrichten an ein Dutzend Freunde, aber hatte dasselbe Problem wie alle, die versuchten, von Sarja (dt. Abendrot) zu erzählen. Es klang so banal: In einer Toreinfahrt wird ein Karussell aufgestellt, ein Konzert findet statt, dann wird getrunken und getanzt. Ich wusste nicht, wie ich die Freude rüberbringen konnte, die ich erlebt hatte. Wenn man es sich überlegte, war auch der rotierende Mechanismus aus Metall banal. Ich rief Siggi an.
„Du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional“
Siggi, dreht die Kurbel des Karussells: „Ich weiß auch nicht, wie man das in Worte fassen kann. Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Shenja Sergijenko hatte mir ein Ohr abgekaut, dass ich unbedingt hinfahren und es mir anschauen muss. So, wie er es beschrieb, hatten irgendwelche Hippies, mit denen ich ästhetisch nicht viel anfangen kann, irgendein Faschingsdingsbums gebaut. Was geht mich das an? Ich wimmelte ihn immer wieder ab, aber dann hat er mich rumgekriegt. Und dann noch dieses graue, fade Moskau, dieser Halbregen, und ich musste bis nach Tschuchlinka hinaus, und es war spät und ich war schlapp und ich fuhr, schimpfte schrecklich in mich hinein, dass ich nachgegeben hatte, und ich musste lang auf den Bus warten und hasste schon alles, dann verirrte ich mich auch noch in dieser Industriezone. Da stieß ich plötzlich hinter einer Ecke auf das Karussell und dachte: „Meine Fresse.” Weil es mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte, als würde es Zeit und Raum aufbrechen. Weißt du, du blickst in die Welt und siehst sie als flaches Bild. Doch auf dem Karussell siehst du sie plötzlich dreidimensional. Nur kannst du kleiner Depp dir mit deinem zweidimensionalen Bewusstsein nicht erklären, was da los ist – aber du spürst es.“
„Das Karussell ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus“
Sanjok, Erfinder des Karussells: „In Lipezk gab es im Park ein Kino, das Sarja hieß, so eines aus der Sowjetzeit. Meine Eltern erzählten mir, wie sie da in ihrer Jugend hingingen, und ich war später mit Mama oft dort. Dahinter hat man einen wunderbaren Ausblick auf einen Bruch in der Landschaft, weil dort die mittelrussische Platte in die Oka-Don-Ebene übergeht. Der Himmel ist unendlich, der Horizont phänomenal. Na, und das Karussell Sarja ist eben auch eine Insel des romantischen Kommunismus. Das Ding steht und läuft gratis. Ich bin auf die moderne Welt nicht wirklich vorbereitet, das ist einfach nicht meins. Mich zieht es immer eher in die Vergangenheit, mit mehr Analogem, mehr Kontakt, ohne Internet, Artificial Intelligence und alldem, was sich in der Welt so tut. Ich mag gern rostiges Eisen. Außerdem ist mir sehr wichtig, dass es hier um Kindheit geht, um ursprüngliche Erfahrungen, Unmittelbarkeit, Artistik, kindliche Phantasie. Ich kann das nicht konkret formulieren. Für die ästhetischen Grundlagen ist bei uns Jurka zuständig, frag ihn.“
„Es ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür“
Jura, DJ: „Ich lege auf, was sich in den letzten 30 Jahren angesammelt hat. Experimentelle elektronische Musik gab es in den 1990ern und 2000ern massenhaft, in der Zeit habe ich viel aufgestöbert. Nach 2010 dann weniger, weil ich zwei Abschlüsse hatte, Arbeit, Privatleben … Aus den 2010er Jahren hab ich leider nicht so viel Mucke, obwohl ich ab 2013 wieder mehr gesucht habe. Es ist schön, was komplett Neues zu finden, das mit nichts und niemandem in Verbindung steht. Das Karussell ist ein gemeinnütziges Projekt, ich bekomme nichts dafür und nehme es längst als selbstverständlich hin. Was einem taugt, das muss man auch machen – was es kostet, ist eine andere Frage.
Ich frage Jura, ob er zur nächsten Party kommt.
„Nein, ich werde da ja nicht auflegen, und meine ganze Freizeit brauche ich, um Musik aufzustöbern. Die Ausbeute ist derzeit sehr gering. Letztes Wochenende hab ich 20 Gigabyte gehört, aber nur 15 Tracks gefunden. 15 Tracks nach drei Tagen pausenlosem Hören“, seufzt Jura.
Erst bei diesem Satz merke ich, was für ein völlig abgespaceter Nerd er ist.
„Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt“
Olelis: „Ich hasse das Wort Publikum. Und wollte schon lange davon weg. Das Karussell weicht die Grenzen auf. Durch das Drehen kann man sich auf jeden Moment einlassen – den Musiker auf dem Karussell sorgsam, feierlich und sanft drehen. Das erzeugt geradezu einen ehrfürchtigen Schauer des Einbezogenseins. Wenn ich die Musiker drehe, fühle ich mich auf wertvolle Weise an dem Prozess beteiligt, möchte im Einklang mit der Musik kurbeln. Der sichtbarste Effekt: Ich habe zu tanzen begonnen. Vor dem Karussell habe ich nie getanzt. Und dann bin ich auf der Bessonniza plötzlich zu einem Lieblingstrack abgehoben – und hab gecheckt, wie das geht, mit dem ganzen Körper, ohne darauf zu achten, wie man aussieht, ob man es kann oder nicht. Es ist eine Art Trance, der Körper bewegt sich von selbst.
Die Miete zahlt Sanjok aus eigener Tasche – wobei er sehr auf Unterstützung von Freunden hofft. Wenn zum Beispiel jeder, der bei der Eröffnung war, einmal im Monat fünfhundert Rubel [ca. 6 Euro – dek] beisteuern würde, dann würde das Geld für die Miete und die Künstlerhonorare reichen. Und wir hätten den ganzen Sommer lang dieses Zauberding. Von Gewinn kann sowieso keine Rede sein.“
„Ich muss zugeben“, schreibt Siggi, „dass wir gar nicht darauf aus sind, noch eine Konzertbühne in Moskau mit Veranstaltungen, Partys, Facebook-Events und Presseaussendungen zu machen. Wir sind für mehr gedruckte Plakate auf grobem Papier, mehr echte menschliche Stimmen, für Mundpropaganda und einfach Zufälle.
Als Kind träumte ich davon, dass in Moskau ein Meer gebaut würde. Dann wurde ich größer und verstand, dass es hier nie ein Meer geben wird. Aber ein Karussell ist möglich – ein Stückchen romantischer Kommunismus auf einem kleinen Flecken Asphalt. Genau so muss man es sehen.“
Der Begriff soziale Distanz ist heute in aller Munde. In den Sozialwissenschaften beschreibt er unter anderem den Abstand zwischen sozialen Gruppen: zwischen Ethnien zum Beispiel, Milieus oder sexuellen Orientierungen.
In einem ähnlichen Sinn verwendet auch das Lewada-Zentrum den Distanz-Begriff: In einer langjährigen Studie untersucht das unabhängige Meinungsforschungsinstitut unter anderem, was die Gesellschaft über die Menschen denkt, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht. Schon in vergangenen Jahren haben einzelne Stimmen diese Untersuchungsreihe kritisiert, die Ausgabe vom April 2020 provozierte aber einen regelrechten Eklat, mit massiven Vorwürfen aus dem liberalen Lager.
Während sogar einzelne Mitarbeiter des Umfrageinstituts Kritik an der Studie äußern, bricht der russische Poet Dimitri Kusmin eine Lanze für Lewada. Auf Colta argumentiert der bekannte Akteur der LGBT-Bewegung gegen die „nicht totzukriegende hysterische Kampagne gegen das Lewada-Zentrum“.
Sie denken wahrscheinlich, ich will das unabhängige russische Umfrageinstitut Lewada gegenüber dem Kreml verteidigen. Der hatte der Zeitung Vedomosti offenbar verboten, weiterhin Umfragen dieses Instituts zu veröffentlichen.
Aber nein, zu dem Thema habe ich nichts beizutragen. Stattdessen verfolge ich mit Interesse die nicht totzukriegende hysterische Kampagne gegen das Lewada-Zentrum aus einer Ecke, die allem Anschein nach dem Kreml ideologisch exakt entgegensteht. Es handelt sich um eine progressiv eingestellte Öffentlichkeit, die buchstäblich dasselbe Problem mit dem Lewada-Zentrum hat wie die Präsidialverwaltung: Dass die Soziologen das Volk so zeigen, wie diese Öffentlichkeit es nicht sehen will.
Es geht um eine kürzlich durchgeführte Umfrage. In dieser sollten sich die Befragten dazu äußern, ob sie Menschen, die in irgendeiner Weise anders sind, nicht gerne ausrotten oder in die Verbannung schicken würden – wobei unter „anders“ alles Mögliche zusammengefasst war: von Sektenanhängern über Homosexuelle bis hin zu Feministinnen.
„Das Schlimmste dabei ist, dass mit solchen Untersuchungen die öffentliche Meinung nicht nur erfasst, sondern auch geformt wird“, schreibt der Aktivist Karen Schainjan auf Facebook. Der Soziologe Wardan Barsegjan stimmt ein: „Terroristen und Pädophile werden da leichtfertig mit ganz normalen Menschen wie Feministinnen, Schwulen, Menschen mit HIV und Obdachlosen in eine Reihe gestellt.“
Die Öffentlichkeit kritisiert nun einerseits, dass bereits die Fragestellung Homosexuelle und Terroristen unter einem Label vereint – als „Menschen, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht“. Andererseits würden die in den Antwortoptionen vorgeschlagenen radikalen Maßnahmen die Befragten dazu provozieren, eben diese Maßnahmen zu wählen.
Diese Überlegung ist ein hübsches Beispiel für das abstruse Selbstverständnis der Intelligenzija: Würden wir dem Volk nicht einflüstern, dass es den Wunsch haben könnte, jemanden zu strangulieren, der ihnen nicht gefällt, würde es da nie von selbst drauf kommen.
Umfrageergebnisse widerlegen alle Vorwürfe
Man sollte meinen, dass die jüdischen Pogrome zu Zeiten des Russischen Reichs ausreichen sollten, die glühenden Vertreter dieser Theorie etwas herunterzukühlen. Doch viel entscheidender ist die Tatsache, dass bei genauer Betrachtung die Umfrageergebnisse die vorgebrachten Vorwürfe sofort widerlegen.
Erstens: Bei weitem nicht alle „Menschen, deren Verhalten von der gesellschaftlichen Norm abweicht“, lösen bei den Befragten den Wunsch nach radikalen Maßnahmen aus. Obdachlose und HIV-Infizierte wollten beispielsweise nur zwei Prozent der Befragten gerne „liquidieren“, was nur knapp über dem Bereich einer normalen Messunsicherheit von eineinhalb Prozent liegt. Das Nebeneinander von Obdachlosen und Terroristen in ein- und derselben Frage führt also nicht dazu, dass die Menschen eher bereit sind, Obdachlose zu erschießen.
Während 15 Prozent angeben, Drogenabhängige „liquidieren“ zu wollen, sind es bei Alkoholikern nur fünf Prozent. Es liegt nahe, diesen Umstand darauf zurückzuführen, dass Alkoholismus für die meisten Befragten ein „bekanntes Übel“ ist, mit dem sie schon lange und alltäglich zu tun haben, während Drogenabhängigkeit etwas ist, das sie nur aus dem Fernsehen kennen. Es fällt deshalb leichter, diesem Übel die vollständige Liquidation zu wünschen als dem dauerblauen Onkel Wassja von nebenan.
Terroristen und Extremisten dürften wohl die wenigsten Befragten zu ihrem Bekanntenkreis zählen; aber auch was Vorhandensein von Feministinnen unter persönlichen Bekannten angeht, regen sich leise Zweifel. Und zu Schwulen und Lesben existiert eine Statistik, die ebenfalls vom Lewada-Zentrum stammt: In einer Umfrage von 2019 glaubten 89 Prozent der Befragten, weder Schwule noch Lesben persönlich zu kennen.
Zweitens liegt bei dieser Frage eine statistische Tendenz vor: Das Lewada-Zentrum führt diese Umfrage bereits seit 1989 durch. In diesem mich persönlich betreffenden Abschnitt über Schwule und Lesben ist Folgendes wichtig: In der ersten Umfrage von 1989 ist die negative Einstellung [Schwulen und Lesben] gegenüber auf ihrem historischen Maximum. Ein historisches Minimum zeigt die Umfrage von 1999. Danach gibt es einen Rollback, bis sich das Bild zum Jahr 2008 hin insgesamt stabilisiert: Die Zahlen von 2008 und 2020 unterscheiden sich nur minimal, eine leichte Verschlechterung sehen wir jeweils 2012 und 2015 (am deutlichsten ausgeprägt war die Tendenz zur Menschenfeindlichkeit im Jahr 2015, was [der Politikwissenschaftler] Iwan Preobrashenski zurecht auf die Welle aggressiver Propaganda im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zurückführt).
Was sagt uns das? Vor allem: dass eine negative Formulierung eine Umfrage nicht daran hindert, eine positive Tendenz aufzuzeigen, wenn es eine gibt. Bedeutsam ist außerdem, dass die signifikante Verbesserung der Einstellung zu Schwulen und Lesben in die liberale Zeit unter Jelzin fällt und mit dem Beginn der Putinschen Stabilität im Jahr 2000 endet – und nicht etwa mit dem Aufkommen der Propaganda gegen Homosexuelle 2012 und 2013, deren Auswirkung den Umfragewerten zufolge kurzfristig minimal war und langfristig bei Null liegt.
Positive Tendenz – trotz negativer Formulierung
Natürlich müssen wir alle besser arbeiten, auch die Soziologen. Die Meinung von Aktivisten und Vertretern der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen, auch bei der Formulierung von Fragen, ist keine schlechte Idee – aber kein Selbstzweck. 2019 wurde eine Umfrage zur Einstellung gegenüber Schwulen und Lesben durchgeführt, und zwar unter Mitwirkung einer der führenden russischen LGBT-Organisationen, der Gruppe „Wychod“ [„Coming out“]. Was meinen Sie, was dabei herauskam? Negativ äußerten sich immer noch die etwa gleichen 56 Prozent der Befragten. Nur, dass die liberal gesinnten Journalisten nicht darauf abzielten, sondern lieber titelten: „47 Prozent der Russen sprechen sich für die Gleichberechtigung der LGBT-Gemeinschaft aus“ – eine perfekte Täuschung. Die Frage lautete, ob Schwule und Lesben „die gleichen Rechte wie andere Bürger“ haben sollen. (Es ist natürlich lobenswert, dass 47 Prozent dafür waren, aber hier fehlte die nächste Frage: „Dürfen Schwule und Lesben als Lehrer arbeiten?“ Erst damit hätte man ein Bild davon bekommen, welche „gleichen Rechte“ die Befragten im Sinn haben.)
Stockholm-Syndrom der russischen Gesellschaft
Was sagt uns dieses ganze Zahlen-Kaleidoskop? Das, was wir auch ohne die Zahlen bereits wissen: Die Konzentration des Hasses ist in Putins Russland extrem hoch. Dieses Regime ist quasi auf Hass erbaut. Gegen wen er sich richtet, ist dabei fast nebensächlich: In der Umfrage von 2015 waren unter den Personen mit „abweichendem Verhalten“ auch Punks und Goths aufgeführt – welche Punks im Jahre 2015, fragt man sich? Die muss man doch in den Archiven suchen! Aber der Hass hat ein gutes Gedächtnis: Elf Prozent der Befragten wollten sogar die Punks „liquidieren“ („isolieren“ wollten sie weitere 19 Prozent).
Ständig daran zu denken, dass die Aggression der stabile emotionale Hintergrund der Gesellschaft ist, in der man lebt, das ist psychologisch schwer. Wenn man die Menschen daran erinnert, legen sie allmählich Elemente des Stockholm-Syndroms an den Tag: Schuld sind dann nicht mehr die, die hassen oder den Hass als Administrative Ressource benutzen, sondern diejenigen, die dafür sorgen, dass wir den Hass nicht vergessen.
Viele Menschen in Russland wähnen sich derzeit in einem Traum: Iwan Golunow, der am Donnerstag noch wegen angeblichen Drogenhandels festgenommen wurde, ist frei. Wie ist das möglich? Eine gezielte Volte des Kreml? Oder gab er schlicht dem Druck der Straße nach? Die Ereignisse überschlagen sich, und die Gerüchteküche zu den schon zuvor gemutmaßten Gründen für die mögliche Freilassung brodelt nun noch mehr.
Der Name Golunow ist seit vergangener Woche in aller Munde, eine bislang nie dagewesene Welle der Solidarität hat seitdem das Land erfasst. Tausende Menschen demonstrierten, sogar staatsnahe Stimmen stellten sich auf die Seite der Protestierenden. Sie waren von Anfang an überzeugt, dass die Vorwürfe gegen Golunow vorgeschoben sind und eigentlich darauf abzielen, seine journalistische Tätigkeit zu unterbinden. Auch im Ausland war der Fall Golunow Thema: Reporter ohne Grenzen forderte die Freilassung des Journalisten, in Berlin demonstrierten am Samstag dutzende Menschen vor der Russischen Botschaft und auch die dekoder-Redaktion schrieb einen offenen Brief zur Unterstützung von Iwan Golunow.
Vergleichbare Fälle von Festnahmen und Verhaftungen aus fadenscheinigen Gründen gab es in Russland schon vor der Causa Golunow. Doch warum gab es damals keine derartigen Proteste? Warum schwappte die Solidaritätswelle gerade jetzt so hoch? Diese Fragen stellt Katerina Gordejewa auf Colta.
Seit dem Morgen sind an den Zeitungskiosks im ganzen Land die Zeitungen Vedomosti, Kommersantund RBCausverkauft, die Fluggäste von Aeroflot und Fahrgäste im Sapsan reißen einander die kostenlosen Exemplare aus der Hand – auf der Titelseite das Portrait des Investigativ-Ressort-Journalisten von MeduzaIwan Golunow mit dem Slogan Ich bin/Wir sind Iwan Golunow.
Dutzende großer und kleiner Medien im ganzen Land ändern ebenfalls ihre Titelseite und drücken so ihre Solidarität mit dem wegen Verdacht auf Drogenbesitz und -handel festgenommenen Kollegen aus.
Der Schauspieler Konstantin Chabenski erklärt bei der Jubiläums-Eröffnung des 30. Kinotaur Festivals, dass gerade „versucht wird, einen Journalisten auszuschalten“; im Saal bricht tosender Applaus los, der Fernsehsender Kulturaüberträgt die Szene ungekürzt, im Vordergrund des Bildes: Kulturminister Wladimir Medinski.
Die, die früher bei anderen himmelschreienden Anlässen vorgezogen haben, vieldeutig zu schweigen oder „den weisen Schluss zu ziehen“, es gebe „kein Rauch ohne Feuer“, diese demonstrativ apolitischen Schauspieler und Musiker, vorsichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Designer, Kuratoren, Regisseure, Moderatoren des staatlichen Fernsehens – diesmal war es, als könnten sie nicht mehr: Sie haben den Mund aufgemacht und gesprochen.
Die Causa Golunow ist zum Referenzpunkt für eine nie dagewesene Solidarität geworden. Erstmals in einem relativ langen historischen Zeitraum ist die vor den Augen grassierende Ungerechtigkeit wichtiger als Meinungsverschiedenheiten. Es ist ein Präzedenzfall in der neuesten Geschichte.
Kein Peskow kann mehr sagen: „Der Präsident hat davon noch keine Kenntnis.“ Schon jetzt – und das wird nur noch mehr – pfeifen die Spatzen von allen Dächern die Ungereimtheiten des Falles, die polizeiliche Willkür, den Auftragscharakter der ganzen Sache.
Einige tausend Menschen protestierten und protestieren immer noch landesweit in Einzelpikets: Sie nehmen Videos auf, mit denen sie den Journalisten unterstützen, schicken Anfragen und wollen am Tag Russlands zum Protestmarsch gehen. Als ob all diese Menschen gemeinsam das Ventil umgedreht hätten: Und damit den Lügenstrahl ab- und den der Wahrheit aufgedreht haben.
Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens zeigen in Videobotschaften ihre Solidarität mit Iwan Golunow. Hier: Wladimir Posner, Ljudmila Ulitzkaja, Andrej Swjaginzew, Andrej Loschak, Olga Romanowa und Boris Grebenschtschikow
Warum bringt gerade der Fall Golunow alles zum Kochen? Warum nicht Ojub Titijew, Chef des tschetschenischen Memorial? Warum nicht Kirill Serebrennikow, Juri Dmitrijew, Alexander Kalinin? Und warum nicht dutzende junge Leute aus ausgedachten terroristischen Vereinigungen? Wahrscheinlich werden Politologen und Soziologen eines Tages eine schöne und elegante Erklärung dafür liefern. Bislang weiß es aber ganz bestimmt noch keiner.
Die Initiatoren des Ganzen waren Kollegen von Golunow – Journalisten. Es ist nicht unwichtig zu erwähnen, dass der Großteil der Menschen vor dem Gerichtsgebäude oder in den Einzelpikets aus Journalisten besteht, die gegangen wurden oder ihren Beruf aufgegeben haben, weil sie sich darin nicht verwirklichen konnten. Ein Teil der Redaktionen wurde liquidiert, ein anderer überlebt nur dank übermenschlichen Anstrengungen. Bis zu dem Fall Golunow schien es, dass der Beruf quasi ausgestorben sei. Golunow aber hatte weiterhin Journalismus gemacht. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Aber es geht nicht allein darum. Vielleicht hat es auch mit dem kollektiven Schauen der Serie Chernobyl zu tun, deren Hauptgedanke darin besteht, den fatalen physischen und moralischen Schaden zu verdeutlichen, den Lügen auf allen Ebenen hervorrufen.
Oder vielleicht geht es darum, dass Iwan Golunow ein guter, einfacher, bescheidener junger Mann ist, der in einer 30-Quadratmeter-Einzimmerbude wohnt. Vor seiner Verhaftung war er vor allem für seinen tadellosen Ruf und seine einwandfreie Professionalität bekannt. Menschen, die Iwan etwas näher kannten, wissen, dass er im Leben mit größter Leidenschaft verstehen wollte, wie die Dinge funktionieren. Seine Lieblingslektüre war die SPARK-Datenbank, eine Webseite über Staatsverträge, staatliche Register und Datenbanken. Seine Analysen und Schlussfolgerungen legten die Affären und Betrügereien offen, in denen das Land versank.
Der [im Fall Golunow zur Diskussion stehende – dek] Paragraph 228 ist in Russland als „Volksparagraph“ bekannt – auf ihm beruht der Löwenanteil der Urteile, wobei die Rolle der Polizei hier kaum zu überschätzen ist. In einem Land, in dem eine AIDS-Epidemie wütet und Drogen jedem zugänglich sind, der danach sucht, bietet dieser Paragraph eine sehr bequeme Gelegenheit, bei einer beliebigen Person auf der Straße im Rucksack einfach das zu finden, was gesucht – oder besser: was benötigt wird. Genau deswegen sind jetzt in der Causa Golunow jene Stimmen unangebracht, die behaupten, dass sich die Journalisten nur deswegen so ins Zeug legen, da es sich um einen der ihren handelt, während viele andere unter den gleichen Vorwürfen im Gefängnis vor sich hin gammeln. Niemand, egal ob bekannt oder unbekannt, sollte im Gefängnis sitzen, nur weil Polizisten, um ihre Bilanzen zu schönen, offene Fälle zu schließen und einen Stern zu bekommen, jeden ausschalten, um den man sie bittet.
Nun wurde im Fall Golunows ein Teilerfolg erzielt. Am Samstagabend beschloss das Nikulinski-Gericht in Moskau, Golunow unter Hausarrest zu stellen – eine vergleichsweise weiche Maßnahme, jedoch ist das weder ein vollständiger Freispruch im Gerichtssaal noch ist der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt.
Hausarrest statt Untersuchungshaft: Freude bei den Versammelten vor dem Moskauer Nikulinski Bezirksgericht am 8. Juni
Der Slogan Freiheit für Iwan Golunow, der derzeit wohl überall zu sehen ist, kann erst dann als eingelöst gelten, wenn nicht nur der Investigativjournalist von Meduza freigelassen wurde, sondern alle, die die Anklage gegen ihn bestellt, fabriziert und ausgeführt haben namentlich benannt und bestraft worden sind. Dann können wir den Slogan umformulieren: Statt Freiheit für Iwan Golunow hieße es dann Danke Iwan Golunow.
Denn schließlich war er es, war es sein Fall, der uns geholfen hat die in Chernobyl so treffend formulierte Maxime zu begreifen: „Wenn die Wahrheit uns kränkt, dann lügen wir, lügen, bis wir uns nicht mehr daran erinnern, dass es die Wahrheit gibt. Aber es gibt sie.“
Das Haus der Regierung entstand 1931 am Ufer der Moskwa. Yuri Slezkine, Geschichtsprofessor an der Universität Berkeley, erzählt in seinem gleichnamigen Buch die Geschichte des Sowjetkommunismus anhand des Gebäudes und seiner Bewohner. 2018 ist es auf dem deutschen, 2019 auch auf dem russischen Markt erschienen.
Jahrzehntelang hat Slezkine dafür in Archiven recherchiert, entsprechend unterteilt der US-amerikanische Historiker, der 1982 aus der Sowjetunion emigrierte, sein Buch in drei unterschiedliche Stränge: einen biografischen, einen historischen und einen analytischen.
Im Interview mit Maxim Trudoljubow für Colta.ru spricht Yuri Slezkine über das besondere Gebäude und seine Bewohner und darüber, weshalb er den Kommunismus als Sekte begreift.
Yuri Slezkine: Dieses Gebäude ist in der Tat eine Metapher. Das Haus der Regierung wurde gleichzeitig mit der Sowjetunion erbaut und, wenn man so will, gleichzeitig mit dem Stalinismus – in den Jahren des ersten Fünfjahresplans. Die Bewohner errichteten eine neue Wirtschaft, einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten.
Die Bewohner errichteten einen neuen Staat und gleichzeitig ein Haus, in dem sie mit ihren Familien leben wollten
Man redete zwar ständig von Städten und Wohnraum, und es wurde viel darüber geschrieben, wie die Wohnkommunen aussehen sollten. Gebaut wurde allerdings wenig, der Staat hatte andere Sorgen – die Industrialisierung, die Kollektivierung. Baustellen gab es viele, vor allem aber industrielle und metaphorische. Das Haus der Regierung war eines der wenigen Wohnprojekte.
Als ich [Ihr Buch Das Haus der Regierung – dek] zu lesen begann, dachte ich, es würde um das Haus und seine Bewohner gehen. Aber es stellte sich heraus, dass die Protagonisten noch etwas anderes als der Wohnort verbindet. Die zentrale Metapher des Buchs (oder ist es keine Metapher?) ist die Sekte. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Ich hatte nicht die Absicht, über eine Sekte zu schreiben. Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke. Ich war erstaunt, wie oft das Wort Glaube vorkam, wie diese Menschen dachten und worauf sie hofften. Mich verblüffte die Ähnlichkeit dessen, was sie sagten, mit dem, was ich aus ganz anderer Literatur kannte. Ich fing an, Bücher über Millenarismus, Apokalyptik und ähnliche Phänomene zu lesen.
Als ich mit der Arbeit an dem Buch begann, hatte ich keine Ahnung von Sekten. Erst beim Lesen der Briefe, Manifeste, Tagebücher und anderer Dokumente kam mir dieser Gedanke
Eigentlich wollte ich das Haus der Regierung „bauen“, seine Bewohner dort „einziehen“ lassen, zuschauen, wie sie darin leben, um dann Zeuge ihrer Verhaftung und Hinrichtung zu werden. Aber am Ende hatte ich ein Buch, das viel größer war, in seinem Umfang und auch in jeder anderen Hinsicht.
Das bolschewistische Sektentum ist für mich keine Metapher. Ich ziehe keinen Vergleich zwischen den Bolschewiki und religiösen Sektenanhängern. Ich verwende das Wort Religion nicht, weil es das Bild nur verstellen würde. Ich behaupte, dass die Bolschewiki Sektenanhänger waren, ohne Anführungszeichen.
Welche Art von Sektenanhängern?
Der apokalyptische Millenarismus ist der Glaube daran, dass die Welt, die voller Ungerechtigkeit und Unterdrückung ist, noch zu Lebzeiten der jetzigen (oder spätestens nachfolgenden) Generation in einem katastrophalen Gewaltausbruch ihr Ende finden wird. Manche bezeichnen solche Bewegungen als religiös, andere nicht – das hängt ganz davon ab, welche Religionsdefinition man ansetzt. Für mich spielt das keine Rolle. Als mir beim Lesen der Dokumente bewusst wurde, dass die Bolschewiki – ganz egal, welche Definition man benutzt – apokalyptische Millenaristen waren, begann ich sie im Vergleich zu anderen, ähnlichen Bewegungen zu betrachten. Cargo-Kulte, das frühe Christentum, der frühe Islam, die Münsteraner Wiedertäufer, die Roten Khmer, der Taiping-Aufstand – all das sind millenaristische Bewegungen. Die Anhänger- oder Opferzahlen miteinander zu vergleichen ist uninteressant. Wichtiger ist der Kern der Sache.
Lenin nannte sie eine ,Partei neuen Typs’, aber er hätte sie auch ,Sekte gewöhnlichen Typs’ nennen können
Für die Bolschewiki selbst war ihre Partei keine Partei, wie Politiker und Soziologen sie definieren. Es war keine Vereinigung, deren Tätigkeit auf die Machtergreifung im Rahmen eines bestehenden politischen Systems abzielte. Es war vielmehr eine Organisation, die auf den Sturz des bestehenden politischen Systems im Kontext der Zerstörung der gesamten Alten Welt hinarbeitete – einer Welt der Ungerechtigkeit und unauflösbaren Widersprüche. Lenin nannte sie eine „Partei neuen Typs“, aber er hätte sie auch „Sekte gewöhnlichen Typs“ nennen können.
Ihre Protagonisten machen keinen Halt vor Grausamkeit, aber sie leiden auch und weinen immerzu. Lenins Tod lässt Tränenströme losbrechen, die Ermordung Kirows löst eine Schockstarre aus. Warum? Waren sie so unglaublich emotional?
Ich denke, das hat mit ihren Vorstellungen zu tun, mit der Prophetie, an die sie glaubten, mit der Intensität der Erwartungen, der Opferbereitschaft, die ursprünglich zum Bolschewismus gehörte. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es am Anfang des Buches um sehr junge Menschen geht. Um emotionale, ehrfürchtige junge Männer und Frauen, die von fieberhaften apokalyptischen Stimmungen beseelt sind. Sie lebten in konspirativen Wohnungen, in Gefängnissen, in der Verbannung. In ihrem Weltgefühl waren Sehnsucht, Verzweiflung und die inbrünstige Hoffnung auf das Kommen des „rechten Tages“ vereint. Und dann geschah etwas, das in der Geschichte solcher Bewegungen unglaublich selten ist: Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch. Genau, wie es einmal ein anderer Millenarist prophezeit hatte: „Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten und der Vater das Kind, und die Kinder werden sich empören gegen ihre Eltern und werden sie zu Tode bringen“ (Matthäus 10,21).
Ihre Apokalypse trat ein. Der rechte Tag kam. Zumindest erlebten sie seinen Anbruch
Die Briefe aus den Tagen des Bürgerkrieges zeugen von einem beeindruckend intensiven Erleben. Extreme Erfahrungen bringen extreme Emotionen. Alle Millenaristen ereilt früher oder später das, was die amerikanische Geschichte als die „große Enttäuschung“ kennt: Die Zeit vergeht, aber die Prophezeiung tritt nicht ein. Für die Bolschewiki war diese Erfahrung besonders schmerzhaft, weil sie die „Schlacht von Armageddon“ bereits gewonnen hatten. Aber kaum war sie gewonnen, da wurden die Positionen auf dem X. Parteitag auch schon aufgegeben, der charismatische Anführer starb, und in den Häusern der Sowjets wurde nur irgendwelches Zeug gemacht. Die Periode der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) war ihre große Enttäuschung. Das wird deutlich, wenn man die Parteiliteratur der 1920er Jahre liest oder sich ansieht, wie diese Menschen lebten, wie sie weinten, wie sie sich in Sanatorien behandeln ließen.
Kommt das Gefühl der „belagerten Festung“ erst in den 1920er, 1930er Jahren auf? Oder war das ein allgemeiner Wesenszug?
Es war ein Wesenszug. Es ist nicht so, dass ich – nur weil ich einmal beschlossen habe, dass die Bolschewiki eine Sekte sind – ihnen alles zuschreibe, was ich über Sekten weiß. Es zeigte sich einfach, dass vieles von dem, was ich über sie herausfand, mit dem übereinstimmt, was wir über Sekten wissen.
Die Absonderung von der Außenwelt ist eines der Merkmale des frühen Bolschewismus. Und eine Sekte ist, in welcher Definition auch immer, eine Gruppe von Gleichgesinnten, die sich von der feindlichen, sündigen, dem Untergang geweihten Welt lossagt. Die Bolschewiki haben viel darüber geschrieben, was es für sie bedeutete, ein Teil dieser heiligen Bruderschaft zu sein und welch ein Abgrund sie von dem kleinbürgerlichen „Sumpf“ trennt. Das Haus der Regierung war ihre belagerte Festung.
Das heißt, sie fühlten sich auch innerhalb des Landes umzingelt?
Das Haus an der Uferstraße war eine riesige Festung. Bei seiner Eröffnung war im Land gerade die Kollektivierung im Gange. Die Bewohner wussten und wussten gleichzeitig nicht, wie sie genau abläuft. Sie erließen Dekrete und stellten Pläne auf, aber sie diskutierten nicht, welchen Preis sie dafür zahlten. Sie sprachen nicht mit ihren Haushälterinnen darüber, was mit deren Familien passiert war. Es war in dem Sinne eine belagerte Festung, als sie von sowjetischen Menschen umgeben waren, die gar keine waren. Die Sowjetunion war eine belagerte Festung innerhalb einer bourgeoisen Welt, das Haus der Regierung war eine belagerte Festung innerhalb der Sowjetunion, und jede einzelne Wohnung eine innerhalb des Hauses. Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert.
Jeder Bolschewik war in seinen eigenen vier Wänden belagert
Wir sehen, wie sehr sie darunter litten, dass das Leben von allen Seiten an sie herandrängte. Die Kinder wuchsen heran, auf den Tischen breiteten sich Tischdeckchen aus, an den Fenstern Vorhänge; Eltern, Verwandte kamen zu Besuch. Kleine Familien gab es da kaum, die allermeisten hatten eine Großfamilie. Der Schwiegervater – ein ehemaliger Rabbi – kam, die Schwiegermutter betete flüsternd, die Haushälterin vom Land taufte heimlich die Kinder. Der rechtgläubige Bolschewik wurde überwuchert von Sachen und armen Verwandten. Denen, die Zeit zum Nachdenken hatten, war bewusst, dass sie Tag für Tag und Stunde für Stunde ihren Glauben verrieten. Und wenn man sie holen kam, wussten sie deshalb auch, dass sie in gewisser Weise schuldig waren.
Stalin bleibt in Ihrem Buch fast außen vor. War er für [die Bolschewiki] der „Großinquisitor“, eine Dostojewski-Figur, die verstanden hat, dass man nicht auf die „Wiederkunft“ warten darf, sondern ein System errichten muss?
Über Stalin habe ich nichts Neues zu sagen. Und er lebte ja auch nicht im Haus an der Uferstraße. Das ist gut, weil man in historischen Romanen den König normalerweise nicht zur Hauptfigur macht. Im Unterschied zu jemandem, der einen historischen Roman schreibt, konnte ich nichts erfinden, es kam mir also sehr gelegen, dass Stalin auf der anderen Seite des Flusses wohnte. Und es ist auch nicht so wichtig, was er dachte. Ich glaube, dass er ein wahrer Bolschewik war, ein gläubiger Mann. Aber gleichzeitig ein pragmatisches Staatsoberhaupt. Sie waren alle zugleich Gläubige und Staatsbeamte.
Welches Erbe hinterließ die erste Generation von Bauherren der UdSSR? Ist es der nachfolgenden Generation gelungen, dem System Routine zu verleihen?
Der Bau war nicht besonders solide. Wir wissen, wie die Sowjetunion zu Ende ging. Sie ist nie wirklich zur Routine geworden. Das Christentum existiert als Zivilisation schon seit 2000 Jahren. Die Kommunisten sind ausgestorben. Die Entwicklungskader meiner Figuren sind gestorben, und mit ihnen auch der Staat, den sie aufgebaut haben. Das heißt, etwas ist ihnen schon gelungen, und das ist nicht wenig. Sie sind die einzige millenaristische Sekte, die es geschafft hat, die Herrschaft in Babylon an sich zu reißen.
Das Christentum wurde erst vier Jahrhunderte nach dem Tod seines Propheten die offizielle Religion des Römischen Reiches, als kaum noch jemand den baldigen Weltuntergang herbeigesehnt hat. Die Bolschewiki blieben auch nach ihrer Machtergreifung inbrünstig gläubige Millenaristen. So etwas hat es noch nie gegeben. Aber es währte eben nicht lange.
Wer Moskau noch aus den frühen 2000er Jahren kennt, wird staunen: Das Moskau unter Bürgermeister Sergej Sobjanin ist heute ein ganz anderes als damals. Die Kioske vor den Metrostationen sind weg, mitten in der Innenstadt sieht man auch Radfahrer, der Gorki-Park hat sich vom runtergerockten Rummelplatz zum hippen Großstadtpark mit einem Museum für moderne Kunst, Bühnen und mehreren Spielplätzen verwandelt. Unweit vom Roten Platz am Ufer der Moskwa, wo früher das Hotel Rossija war, blühen nun im neu angelegten Sarjadje-Park Blumen und Bäume aus sämtlichen russischen Vegetationszonen.
Ist doch schön? Maria Kuwschinowa spaziert auf Colta durch „eine Stadt der Trugbilder”.
Wenn man spät nachts nach langer Reise und langer Abwesenheit die Twerskaja hinunterfährt, scheint es, als gleite man einen blankgeputzten, weiß schimmernden menschlichen Schädel hinab. Alles Organische – alles, was atmet, duftet, geboren wird, stirbt, alles, was lebt – ist ausgerottet und beseitigt, stattdessen haben sich überall phosphoreszierende Chimären breitgemacht.
Gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht der Sarjadje-Park niedergelassen / Foto: Мos.ru, Wikipedia CC BY 4.0
Unter Sobjanin hat sich Moskau in eine Stadt der Trugbilder verwandelt, wo die halluzinogene experience selbst dem Abstinenzler an jeder Ecke auflauert: Im Minutentakt schießen wie Pilze neue Metrostationen aus dem Boden; gleich kosmischem Staub hat sich über Nacht neben dem Kreml der Sarjadje-Park niedergelassen; die Stadt dehnt sich mit der Geschwindigkeit eines aggressiven Krebsgeschwürs aus. Plötzlich – ein gigantischer Filzstiefel mitten auf einer Hauptstraße, ein Aufmarsch von Kreuzzüglern auf dem Boulevard; in jeder Seitenstraße der Goldenen Meile ein Wachmann, das Passwort, das du sagen musst, lautet: „Es gibt keinen Gott“, denn sie bewachen die Warteschlange vor den Reliquien, damit sich keiner vordrängelt.
Phosphoreszierende Chimären
Die verzweifelte Suche nach einem Parkplatz, das tägliche mehrstündige Manöver zur Verpflanzung der Kinder auf das gegenüberliegende Ufer des Prospekts. Der störungsfrei funktionierende Separator, der den Pöbel mit einem Einkommen unter 200.000 Rubel im Monat [ca. 2.500 Euro – dek] aus dem historischen Zentrum verdrängt. Das alles zusammen heißt: „Seht nur, wie schön Moskau unter Sobjanin geworden ist.” Über den universellen Hauptstadtsnobismus und die spezifischen Arroganz gegenüber den SaMKADowzy hinaus – der neue Moskauer hat sich, selbst wenn er mit den Veränderungen nicht einverstanden ist, mittlerweile daran gewöhnt, sich täglich in einer Situation des Absurden wiederzufinden, die ein Außenstehender kaum ertragen würde. Das Absurde kann nicht anders, als das Bewusstsein zu beeinflussen, es formatiert das Bewusstsein; und schon wird der Blick deines alten Bekannten glasig, und er sagt: „Wieso, die Sachen von WkusWill haben mir die importierten Nahrungsmittel komplett ersetzt.“
Urbanistische Karzinogenese
Es ist bereits festgestellt worden, dass die Testversion unter Kapkow und dann auch die umfassende urbanistische Karzinogenese unter Sobjanin eine Antwort auf die Bolotnaja-Proteste gewesen seien – auf die Unzufriedenheit der Mittelschicht auf die Stagnation der Medwedewschen „Modernisierung“. Als Reaktion auf die Karnevalsproteste wird jetzt das ganze Jahr über fieberhaft und unaufhörlich Karneval gefeiert.
Ihre Bewohner unterhaltend und ablenkend, erfüllt die Stadt, die mit der Zeit neu verpackt und zur Vitrine des putinistischen Russland gemacht worden ist, mittlerweile eine weitere wichtige Funktion für die Bewahrung des Status quo: Moskau, das auf Kosten des gesamten Landes existiert, entzieht den Regionen nicht nur die natürlichen Ressourcen, sondern auch die menschlichen, die ambitioniertesten und talentiertesten – damit deren Energie in die Produktion von blutleeren Chimären einfließen kann. Rein formell ist das noch immer derselbe Deal, den ein gewöhnlicher zentralistischer Staat seinen Bürgern anzubieten hat: ein Umzug in die Hauptstadt im Tausch gegen Geld und Möglichkeiten, die man in der Provinz nicht hat.
Biete Status, verlange Abkehr von der Produktion von Sinn
Doch im Grunde macht das heutige Moskau, das sich im Herzen des heutigen Russland befindet, ein anderes Angebot: Es bietet Status und verlangt dafür die freiwillige Abkehr von der Produktion von Inhalten. Du kannst „Kurator“ werden, „Regisseur“, „Journalist“, „Micro-Influencer“ (jemand, der sein Essen und seine Klamotten, die er von Werbekunden bekommt, fotografiert und in sozialen Netzwerken postet), „Mitarbeiter bei Yandex“, „Drehbuchautor“, „Guest-Manager“ (jemand, der Geld dafür bekommt, dass er seine Micro-Influencer-Freunde persönlich zu Partys einlädt), „Künstler“, „Promoter“ – die Liste ist lang. Du wirst etwas haben, das du auf deine Visitenkarte schreiben kannst, ein Gehalt und eine Krankenversicherung, du wirst von einer Stelle zur nächsten gehen und deinen Triumph auf Facebook teilen, aber Gott bewahre, dass du einen Fuß dahin setzt, wo ein auch nur ein ansatzweise sinnvolles Gespräch über Gegenwart und Zukunft stattfinden könnte.
Kultur in Moskau – das ist, wenn Menschen, die 700 Rubel [9 Euro – dek] Eintritt gezahlt haben, sich auf der Strelka oder im Garash den letzten Hit aus Cannes ansehen, der niemals auf die Leinwände anderer Städte kommen wird, weil die politische und wirtschaftliche Zensur den unabhängigen Verleih zu Grunde gerichtet hat. Aber du kannst zehn mal das Garash sein, nie im Leben wirst du Loznitsas Donbass zeigen dürfen, denn die Frage nach dem Grenzzustand des postsowjetischen Menschen und des postsowjetischen Raums darf weder ernsthaft noch laut gestellt werden.
Moskau fehlt Energie, Kompromisslosigkeit und innere Freiheit
Sobjanins Wahlkampfleiter Konstantin Remtschukow erzählt etwas von einer globalen Konkurrenz der Metropolen, in der die erneuerte russische Hauptstadt auf Augenhöhe mit New York, Paris und London figurieren würde. Und vergisst dabei, dass New York, Paris und London Ideen für die ganze Welt produzieren, während Moskau, umzingelt von eingebildeten Feinden und einem real ausgebluteten Land, nicht einmal hybride Propaganda of international fame produziert, weil die Trolle von Olgino woanders sitzen (in den letzten vier Jahren wurde die russische Staatsbürgerschaft auf Basis der Quote für „gesuchte Fachkräfte“ ganze zwölf Mal erteilt). Das einzig nennenswerte popkulturelle Phänomen der vergangenen Jahre – die Rap-Battles – kam in Krasnodar auf und donnerte durch St. Petersburg; Moskau hatte dafür weder genug Energie noch Kompromisslosigkeit noch innere Freiheit.
Das, was von Zeit zu Zeit aus diesem hermetisch abgeriegelten elektrisch-sauren Universum nach außen dringt – Ausgaben in Millionenhöhe für Sobjakuras (Plastikbäume in Kübeln) oder das Olympiastadion, bis oben hin gefüllt mit Leuten, die das Monats- oder gar Jahresgehalt eines Durchschnittsverdieners für einen Abend in Gesellschaft eines Motivationstrainers zahlen –, ruft im Rest des Landes nur banges Unverständnis hervor. Der einstige Neid auf das Geld und die Möglichkeiten der Hauptstadt weicht nämlich langsam der Angst, man könnte sich noch am Moskauer Wahnsinn infizieren.
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Sie hatten die Gesichter grün bemalt, in Solidarität mit Oppositonspolitikern, die immer wieder mit Seljonka bespritzt werden, hielten Badeentchen in die Höhe: Unter den landesweit tausenden Demonstranten im März 2017 waren auffallend viele Jugendliche. Die Proteste damals waren laut Beobachtern die größten Demonstrationen in Russland seit den Bolotnaja-Protesten 2011/12.
Aufgerufen zur Anti-Korruptions-Demo hatte damals der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny. Zuvor hatte er mit seinem Fonds für Korruptionsbekämpfung Vorwürfe gegen Premier Medwedew publik gemacht. Außerdem hatte der Handymitschnitt von Schülern Furore im Runet gemacht, die ihrer Lehrerin und Direktorin politisch Paroli boten.
Was für eine Generation ging da auf die Straße? Was treibt sie an? Und was sind ihre Ziele? Der bekannte Journalist Andrej Loschak spürt solchen Fragen in der mehrteiligen Filmdoku Wosrast Nessoglassija (dt: „Alter des Nicht-Einverstanden-Seins“) nach, die im unabhängigen TV-Sender Doshd ausgestrahlt wurde. Ein Interview.
Katerina Gordejewa: Wessen Idee war es, eine Serie über junge Nawalny-Anhänger zu drehen?
Andrej Loschak: Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn das ein Auftrag gewesen wäre. Wenn Nawalny vorgeschlagen hätte: „Hör mal, willst du nicht einen Film über uns drehen?“ Ich bin mir nicht sicher, ob ich den angenommen hätte – bei all meiner, sagen wir mal, tiefen Sympathie für diese Gruppe.
Warum hast du beschlossen, das zu drehen?
Wie so viele – ich glaube, auch du – habe ich mich im März 2017 gefragt, was denn da für Leute auf die Straßen gehen. Warum so viele Jugendliche, was das für ein Protest ist, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab. Ich wartete dann auf die nächste Protestaktion, um zu prüfen: Ist das wirklich eine wichtige Geschichte oder eine Ente, die zur Sensation aufgeblasen wird.
Was ist das für ein Protest, der demografisch und inhaltlich so anders ist als das, was es bisher gab?
Am 12. Juni 2017 ging ich auf den Puschkinskaja-Platz. Und war echt baff, dass ich dort keinen einzigen Bekannten traf. Keinen von denen, mit denen ich immer demonstriert hatte. Alles war anders. Alles wirklich junge Leute. Mit guten Gesichtern. Ich war beeindruckt: Wie sie reagierten, wie sie Widerstand leisteten. Sie waren keine Extremisten, wie etwa die Nationalbolschewiken und andere radikale Gruppierungen, die 2012 protestiert hatten. Nein. Vollkommen normale und sehr gesunde Menschen. Viel gesünder als die erwachsene Gesellschaft, die sie umgibt. Wobei es an diesem Tag auf dem Puschkinskaja-Platz gar keine erwachsene Gesellschaft gab. Wir haben diesen Protest nicht unterstützt, nicht demonstriert, nur zugesehen, wie Putin vor unseren Augen voller Selbstvertrauen und unausweichlich seine nächste Amtszeit antritt.
Du springst von der Beobachtung zur Schlussfolgerung: Erstens bist du der Meinung, Veränderungen könne man nur mit Straßenprotesten herbeiführen. Und zweitens: Wenn wir bei diesen Straßenprotesten nicht dabei waren, heißt das, dass nun nicht mehr wir die Welt verändern werden, sondern die Jungen. Uns bleibt nur mehr, auf sie zu hoffen und in der Warteposition zu verharren. So?
Ja. Wir waren und sind nicht dabei, und das heißt, die Entscheidung liegt nicht mehr bei uns.
Aber es gibt noch eine, zudem tragische, Parallele: Sie sind die erste (wieder!) Generation, die keins auf den Deckel bekommen hat. Sie haben 2012 und die darauf folgende bittere Enttäuschung nicht miterlebt, keine Repressionen und Strafen erfahren, sie kennen den scheußlichen Beigeschmack des Bolotnaja-Prozesses nicht und die maßlose Reaktion darauf, die, wie mir scheint, uns alle ertränkt und begraben hat. Erinnerst du dich an die Meme über Moder und Ausweglosigkeit? Mit dieser Stimmung sind wir einfach nicht fertig geworden.
Was wir vor allem nicht gemacht haben: Wir haben die Proteste nicht fortgesetzt. Waren denn viele von uns bei Verhandlungen im Bolotnaja-Prozess? Ich persönlich war auf keiner einzigen. Ich war nur bei einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude, wo etwa 300 bis 500 Leute zusammenkamen. Die haben alle ordentlich was abgekriegt, die OMON hat gewütet.
Wer wusste davon? 99 Prozent von denen, die 2012 auf dem Bolotnaja-Platz waren, haben das lieber vergessen. So sieht bei uns kollektive Verantwortung aus. Dabei hatten die sich Leute aus unserem engsten Kreis gegriffen. Unsere politisch Gleichgesinnten. Und wir haben sie verraten. In Massen hätten wir vor dem Gericht stehen sollen und nicht aufgeben dürfen. Wenn Zehntausende bei Gericht erschienen wären, hätte das für die Situation einen realen Unterschied gemacht.
Glaubst du das?
Wie wir sehen, bewirkt der gesellschaftliche Druck etwas. Ich weiß nicht, ob Dmitrijew ohne diesen Druck nicht doch neun Jahre bekommen hätte. Die Bolotniki hatten keine breite gesellschaftliche Unterstützung. Das ist unser Versäumnis. Meines. Außerdem habe ich Schuldgefühle den Teenies gegenüber, denen wir kein Vorbild waren und die wir jetzt, jung wie sie sind, für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben.
Ich habe Schuldgefühle den Teenies gegenüber, die wir jetzt für das kämpfen lassen, wofür wir selber nicht gekämpft haben
Wären wir verantwortungsbewusster gewesen, müssten sie das nicht machen. Sie könnten sich jetzt friedlich ihrer Ausbildung widmen und an ihre Karriere denken. Wegen unserer Untätigkeit leben sie nun in einem Land, in dem die Notwendigkeit zu kämpfen nur immer dringlicher wird.
Die Jugend braucht doch immer Widerstand. Pubertierende begeistern sich mal für Musik, mal für Kino, und mal eben für Politik. Ich glaube, das ist nichts Besonderes, was nur in unserer Zeit oder in unserem Land so wäre. Und das hat nichts mit unserer Schuld zu tun.
Da bin ich anderer Meinung. Ich habe sehr lange keine politisierte Jugend mehr gesehen. Früher war Politik – auch für uns – uncool, uninteressant, man hatte ein derart infantiles Verhältnis dazu, dass ehrlich gesagt Hopfen und Malz verloren waren.
Die Kindheit deiner neuen Helden aus Wosrast Nessoglassija ist auch kein Honiglecken. Aber sie sind offenbar zu ganz anderen Menschen herangewachsen. Warum?
Sie sind weniger infantil. Erstens sind sie, nach russischem Maßstab, in einer Zeit mit relativ hohem Lebensstandard aufgewachsen. Zweitens sind sie die erste Generation, die mit dem Internet und nicht mit dem Fernsehen großgeworden ist.
Aber doch nicht mit Nawalny!
In gewissem Sinne doch! Als Politiker ist auch er gemeinsam mit ihnen im Internet großgeworden.
Aber es geht nicht nur um ihn. Sie sind mit konkreten Entwicklungen unzufrieden. Weil die, ehrlich gesagt, ziemlich scheiße sind. Und die junge, unverdorbene Seele muss nach dem Ideal streben, eine Abweichung vom Ideal muss Protest auslösen und nicht den Wunsch nach Anpassung. Also sind jetzt Leute da, bei denen das alles eine normale Reaktion auslöst. Nicht wie bei uns. Wir haben unsere Chance verpasst.
Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin
Infantile Volltrottel waren wir. Rückblickend bin ich über mich selbst entsetzt: Wie verantwortungslos ich generell mit Politik umgegangen bin, als wir uns darum hätten kümmern müssen. In den 1990ern hatten wir das Gefühl, wir hätten mehr oder weniger die richtige Richtung eingeschlagen. Dieses ganze Spektakel – die „Familie“, Beresowski, der betrunkene Jelzin – war mir zutiefst zuwider, beeinträchtigte mein Leben jedoch nicht, aber als Putin auftauchte, spürte ich intuitiv, dass jetzt eine irreparable Megascheiße beginnt. So war es auch.
Was meinst du, denkt die Generation von Wosrast Nessoglassija auch so geringschätzig über uns, die wir unsere Chance verpasst haben?
Weiß der Geier. Diese Leute sind sehr viel verantwortungsbewusster. Sie diskutieren wirklich viel über Politik, Geschichte, das interessiert sie. Nawalny könnte sie nicht faszinieren, wenn sie nicht innerlich dazu bereit wären. Es sind fast noch Kinder, die ins Büro kommen, um Sticker abzuholen. Für sie ist die heutige Politik so etwas wie Mode – es ist einfach in. Wie es einer in dem Film ausdrückte: „Ich will nicht im Mittelalter leben.“ Sie beginnen, die Verantwortung für ihre Zukunft zu übernehmen.
Interessanterweise sagen ältere Leute, die die Serie sehen: „Oh, die Armen, was wird bloß aus denen werden.“ Sie geben sie von vornherein auf, projizieren ihre eigene Erfahrung auf sie, die traurige historische Erfahrung des Landes. Auf die Jüngeren wirkt Wosrast Nessoglassija eher ermutigend, es lässt hoffen. Obwohl alle Zuschauer erschrocken und schockiert sind, wie die staatlichen Strukturen Andersdenkende bekämpfen.
Und wie ist das für dich – hast du mehr Angst um sie oder mehr Hoffnung?
Ich würde gern glauben, dass meine Protagonisten Teil einer unvermeidlichen Evolution sind. Also du weißt ja, was im so genannten dritten Sektor passiert. Du siehst ja, wie sich die Gesellschaft zum Besseren verändert. Und dass diese Kids auftauchen, das bringt eine Veränderung zum Ausdruck, das sind die ersten sprießenden Keime des nahenden Frühlings.
Kürzlich wurde bekannt, dass einer der Helden in deinem Wosrast Nessoglassija, Jegor Tschernjuk, von Beamten des Extremismuszentrums festgenommen, in die Musterungsbehörde gebracht und für militärdiensttauglich befunden wurde. Woraufhin ein Strafverfahren wegen Verweigerung des Wehrdiensts gegen ihn eingeleitet wurde. Was geschah weiter?
Weiter fuhr Jegor nach Hause, stopfte seine Sachen in den Rucksack, verabschiedete sich von seinem Vater und reiste aus. Er hatte genau einen Abend, um zu verschwinden – am nächsten Tag war er bei der Ermittlungsbehörde vorgeladen. Der Vorteil eines Lebens in Kaliningrad ist, dass dich das feindliche Europa von allen Seiten umgibt, der Bus nach Vilnius kostet 800 Rubel.
Natürlich schaffte es Jegor nur mit großen Abenteuern raus. Er wurde schon vorher an einer prestigeträchtigen Universität aufgenommen, wird in den USA studieren und ein Stipendium beziehen. Das Extremismuszentrum hat seine Abreise nur beschleunigt, jetzt muss er sein Studentenvisum früher beantragen.
Er hat also mit der Heldentradition der unzufriedenen Generationen vor ihm – im Land zu bleiben und sich selbst zu opfern – gebrochen?
Na ja, von den sowjetischen Dissidenten sind bei weitem nicht alle geblieben – das waren vereinzelte Helden wie Martschenko und Bukowski, der später gewaltsam des Landes verwiesen wurde. Der aktuelle Leviathan ist schäbig und kraftlos, das absolute Böse reizt ihn nicht, er ist einfach „graue Schmiere“. Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man die Möglichkeit hat, Computertechnologien dort zu studieren, wo sie erzeugt und entwickelt werden.
Blöd wäre man, die besten Jahre in einer russischen Strafkolonie abzusitzen, wenn man Computertechnologien dort studieren kann, wo sie entwickelt werden
Jegor hat, finde ich, seinen Beitrag für die Heimat geleistet, indem er ein Jahr lang Nawalnys Mitarbeiter koordinierte und 15 Tage in Verwaltungshaft saß. Soll er doch in Zukunft das normale Leben eines modernen Menschen führen und sich nicht mit einem hinsichtlich seines Erfolgs so zweifelhaften Unterfangen wie der Rettung Russlands abmühen. Sein Verstand und sein Wissen werden, so Gott will, auch hierzulande noch nützlich sein. Nicht unter dieser Regierung natürlich.
Deinem Film nach zu schließen, sind sie bereit, nach ihren Demos ins Ausland zu gehen.
Ganz so ist das nicht. Aber ein gewisser Teil wandert natürlich aus. Weißt du, warum ich gleich zwei Helden reingenommen habe, die nach Amerika wollen? Mir war wichtig zu zeigen, dass Amerika für sie nichts Feindliches ist. Für sie ist es eine logische Möglichkeit, ihre Ausbildung fortzusetzen, sich zu entwickeln, Geld zu verdienen, und sie verstehen, dass Amerika ihnen objektiv gesehen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland.Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht. Sie sind im Internet aufgewachsen, wo es keinerlei Grenzen gibt, sprechen Englisch auf einem Niveau, auf dem sie im englischsprachigen Netz surfen können.
Sie wissen, dass Amerika ihnen tausendmal mehr Chancen gibt als Russland. Alle diese Schauermärchen von wegen der Westen sei unser Feind beeindrucken sie überhaupt nicht
Auch das ist ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und uns, der Generation der 1990er. Wir haben Hollywood-Filme geschaut und uns ein ideales Bild ausgemalt. Aber heute kann sich jeder junge Mensch in sozialen Netzwerken mit Gleichaltrigen unterhalten, sich in Einzelheiten vertiefen und verstehen, was dort tatsächlich Sache ist.
Nach dem Start der Serie Wosrast Nessoglassija gab’s natürlich einen Hype um die Jungs, sie hatten sofort einen Haufen Freunde in der ganzen Welt gefunden; der eine oder andere studiert bereits an einer Hochschule der Ivy League, gibt ihnen Tipps, bietet Hilfe bei der Wohnungssuche.
Aber für sie wie für mich ist das Wesentliche an dieser Geschichte, dass sie konkret im Jahr 2017 versucht haben, etwas zu verändern.
Glaubst du wirklich, dass man, um die Welt zu verändern, unbedingt Nawalny folgen muss?
Im vergangenen Jahr gab es keine anderen Möglichkeiten. Aber auch diese Chance haben wir verpasst und haben uns niemandem angeschlossen. So haben wir uns die kommenden sechs Jahre unseres Lebens von vornherein versaut, einfach weil wir den richtigen Moment verpasst haben. Unsere Skepsis, unser Unglaube, dass man überhaupt etwas verändern kann, dass es Menschen gibt, die etwas verändern können, haben verhindert, dass Nawalnys Kampagne ein neues Niveau erreicht.
Die unerschrockene Jugend ist allein geblieben – und muss jetzt auch allein die Rechnung begleichen: Den einen verweisen sie von der Universität, den anderen stecken sie in Soldatenuniform, der nächste steht überhaupt schon mit einer völlig an den Haaren herbeigezogenen, fabrizierten Anklage vor Gericht.
Ich weiß nicht, ob sie dazu mit allen Konsequenzen bereit waren, jedenfalls haben sie es in Kauf genommen. Und wir sitzen da und sehen zu.
Da tun sich nun auch Leute zu lokalen Protesten zusammen – etwa gegen Mülldeponien in Wolokolamsk, Kolomna und so weiter. Vielleicht ist das für die Mehrheit ein vertretbarer Weg zu Veränderungen?
Ich glaube das nicht. Und lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem!
Ich lege keine Hoffnungen in spontane Proteste. Das ist, als wolle man ein sinkendes Schiff retten, das ständig irgendwo leckt: Man flickt es hier, dann da, aber sinken wird das Schiff trotzdem
Ohne politische, institutionelle Veränderungen wird, scheint mir, nie etwas passieren. Und politische Veränderungen verlangen die Entscheidung eines jeden von uns. Es ist dumm, auf spontane Proteste zu hoffen, darauf, dass der Westen mit immer neuen Sanktionen etwas bewegt, oder dass Putin krank wird: Ich höre oft, wie das jemand mit träumerischer Miene sagt. Sogar auf die besagte Jugend zu hoffen ist dumm. Das ist alles nur die Abwälzung der Verantwortung auf die Schultern anderer. Wenn wir Veränderungen wollen, brauchen wir eine massive, bewusste politische Vereinigung.
In Wosrast Nessoglassija stört mich, dass es die „Leute mit guten Gesichtern“ bei dir nur auf einer Seite gibt – bei Nawalny. Die andere Seite vertreten vom Fernsehen gehirngewaschene Omas. Aber die tun mir eher leid. Hast du keine anderen Gegenüber für deine Protagonisten gesucht?
Diesem Vorwurf stimme ich zu, ich nehme ihn anstandslos an. Obwohl ich der Meinung bin, dass die Omas der Otrjady Putina im Film eine sehr wichtige Linie sind. Vor allem das, was in der letzten Folge mit ihnen passiert, als sie beginnen, über ihre Renten zu diskutieren, wo sie sich endlich an die Kamera gewöhnt haben und sich nicht mehr so wichtigmachen müssen. Andere Putinisten, die sich organisch in die Geschichte eingefügt hätten, hatten wir nicht – die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend.
Die Eltern und Lehrer der Protagonisten trauten sich nicht, Interviews zu geben. Auch das ist sehr bezeichnend
Offen bleibt die Frage: Unterstützen sie Putin wirklich oder haben sie Angst vor ihm? Ich glaube, sie haben eher Angst, als dass sie ihn unterstützen. Leute, die sich im Recht fühlen, würden wohl kaum ein Gespräch zurückweisen. Ich habe viele Audioaufnahmen, die die jüngsten Nawalny-Anhänger gemacht haben, als ihnen die Lehrer auf Befehl von oben die Gehirne wuschen. Wie infantil und erbärmlich klingen doch diese Erwachsenen und wie erwachsen argumentieren die Kinder dagegen!
Wie wichtig ist für deine Protagonisten der Glaube an Nawalny? Gibt es in diesem Umfeld einen Nawalny-Kult?
Ich habe da überhaupt keinen Nawalny-Kult wahrgenommen, von dem oft gesprochen wird, nichts dergleichen.
In deinem Film wird er ständig Alexej Anatoljewitsch genannt. Das fand ich nervig.
Er ist 20 Jahre älter, er könnte ihr Vater sein. Das ist normal. Seltsam wäre, wenn sie ihren Kandidaten Ljoscha nennen würden.
Du und ich, wir sind offenbar die einzigen aus unserem letzten Team bei NTW, die keine Chefs und keine Downshifter geworden sind, nicht in PR oder Business gelandet sind, sondern unseren Beruf beibehalten haben. Ein gewisses Gefühl, keinen Platz im System ergattert zu haben, lässt mich nicht los. Macht dir das Sorgen?
Ich bin kein eingefleischter Fan der Selbständigkeit, ich könnte nicht sagen, dass ich mich damit wohlfühle. Ich habe eine absolut unvergessliche und großartige Arbeitserfahrung mit Namedni hinter mir, danach mit Profrep. Jemandem, der so etwas nie hatte, kann man gar nicht erklären, wie paradiesisch das ist – die Arbeit in einem Team, wo alle Profis sind, wo man auf Tuchfühlung geht, Synergien entstehen. Das vermisse ich. Die Sehnsucht ist da. Aber ich stille sie von Zeit zu Zeit mit so spontanen und interessanten Team-Projekten wie Wosrast Nessoglassija – mit Drive und schlaflosen Nächten während der Postproduction. Das lindert den Phantomschmerz.
https://www.youtube.com/watch?v=TeDHrVN9NQ8
Die Dokuserie „Wosrast Nessoglassija“ gibt es im YouTube-Kanal von Doshd zu sehen.
Kedr Livanskiy ist das neue, weibliche Gesicht des russischen Electro, beim US-Label 2MR records unter Vertrag – und in diesem Sommer in Deutschland auf dem MELT-Festival zu sehen und zu hören. Colta.ruhat die Künstlerin, die mit bürgerlichem Namen Jana Kedrina heißt, zum Interview getroffen.
Dennis Bojarinow: Du hast selbst Journalismus studiert und musstest sicher selbst schon mal Interviews führen. Warum hast du seinerzeit das Studium geschmissen?
Irgendwas muss man ja studieren. Da bin ich an die journalistische Fakultät gegangen, denn ich habe mich schon immer für Literatur, Philosophie und Kunst interessiert. Und es gab dort tolle Dozenten. Im Prinzip habe ich mich da intensiv mit Literatur beschäftigt. Ich wollte aber nie Journalistin werden, ich habe dafür kein Talent, ich kann ganz schlecht Gedanken formulieren. Einmal haben wir als Semesterarbeit eine Zeitschrift gemacht und dafür Interviews mit Studierenden und Jugendlichen gemacht. Sie hatte den schrecklichen Namen JUM, so etwas wie Jugendlicher Maximalismus. Ich stand damals auf Punk-Rock, deshalb gingen mich diese Themen etwas an.
Die Punk-Rock-Gruppe, in der du gespielt hast, war eine Frauenband?
Nein, außer mir waren da nur Jungs. Ich habe gesungen und die Lieder und Melodien geschrieben. Die Lieder handelten von Partys, Drogen und Alkohol, so in dem Stil, worüber jetzt die Gruppe Poschlaja Molli singt. So Pop-Punk, aber nur mit Gitarre, ohne Electro. Ich habe mich an1,5 Kilogramma otlitschnogo Pjure und Blink-182 orientiert. Wir hatten einen total plumpen Sound – nur der Bassist konnte wirklich spielen.
Aufmerksamkeit haben wir bekommen, weil wir auf Russisch gesungen haben – und weil ein Mädel sang. Damals gab es im Punk-Rock wenig Frauen, ja das ist immer noch so. Überall.
Was war das größte, was eure Band zustande gebracht hat?
Eine Tour – vier Städte haben wir abgeklappert in dem Transporter, der als „Todesbus“ berühmt wurde. Das war unsere einzige Tour. Nach solch einer Tour muss man ein paar Monate auf Entzug. Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch, aber deswegen sind sie ja zu den Konzerten gekommen. Ein einziges gemeinsames dionysisches Bacchanal!
Wir waren in der Hölle und die Zuschauer auch
Parallel dazu habe ich mich mit Literatur beschäftigt und der höfischen Kultur hingegeben. Viele meiner Punk-Kumpel haben nichts davon geahnt, haben gedacht, die säuft nur.
Warum ist es für dich vorbei mit dem Punk?
Ich glaube nicht, dass Punk stumpf ist. Aber aus dem Punk, den wir gespielt haben, bin ich rausgewachsen. Es kommt der Moment, da nervt es, wenn du immer außer dir bist. Dann will man etwas Ernsteres. Selbst als ich zu Punk- und Hardcore-Konzerten gegangen bin, habe ich weiter Alternative und Electro gehört, CocoRosie, Xiu Xiu, Boards of Canada.
Wann hast du angefangen, elektronische Musik zu machen?
Mit 23. Ich bin in einem Kreis von Leuten gelandet, die den Club NII betrieben und die Labels Gost Zvuk und John’s Kingdom. Die Zeit forderte einen neuen Schritt. Wir waren alle Musiker. Gingen zu Partys und auf Electro-Konzerte. Zuerst haben wir alles zusammen gemacht, dann sind wir auseinandergegangen – und jeder hat für sich allein weitergemacht.
Moskauer Plattenbau-Meere aus Drohnenperspektive mit „Vtgnike“ von „Gost Zvuk“
Und wie bist du in den Kreis hineingeraten?
(Lacht.) Ich habe einfach mit dem Oberhaupt der Gruppe angebandelt, mit Pascha Miljakowy, der ist jetzt als Buttechno bekannt. Aber der hatte nichts direkt mit dem zu tun, was ich mache. Wir sind zusammen gewachsen, ich glaube, dass unsere Beziehung unseren Projekten in ihrer Entwicklung geholfen hat.
Als ich mit Punk aufgehört habe, wollte ich unbedingt Musik machen. Aber ich kann kein Instrument spielen. Ich habe mal Gitarre gelernt, aber um so zu spielen, um es richtig ordentlich zu können, braucht man viel Geduld. Um elektronische Musik zu machen, muss man nicht unbedingt Instrumente spielen können (lacht).
„Buttechno“-Set bei einer Party von „Boiler Room“. Das Projekt „Boiler Room“ organisiert geheime Electro-Events an verschiedenen Orten der russischen Hauptstadt
Ja, das ist für viele verlockend.
Das Tolle ist – ich mache jetzt vier Jahre Electro, und ich beherrsche das Instrument schon intuitiv; ich weiß, wo was ist, und spüre die Harmonien. Ich schaue immer mal wieder Tutorials auf YouTube. Aber cooler ist, jemanden zu besuchen und dann zusammen Musik zu machen, dann sehe ich wie dieser Mensch die Software benutzt.
Mein Hauptinstrument ist beispielsweise Ableton, aber zehn Leute können das auf zehn verschiedene Arten benutzen. Du schnappst das eine oder andere auf und entdeckst dann für dich etwas Neues. Wenn ich grad mal Geld habe, kaufe ich Instrumente, Synthesizer oder Drum Machines. Aber ich benutze sie nicht bei Konzerten. Meine Musik ist sehr geeignet, um gleichzeitig zu spielen und zu singen.
Du machst zu Hause Musik – bist eine typische Bedroom-Musikerin. Denkst du manchmal, dass du einen Schritt weiter gehen musst in ein professionelles Studio?
So ein professionelles Niveau ist keine unbedingte Voraussetzung für gute Musik. Zum Beispiel Timati und Black Star Burger, die machen das auf so professionellem Niveau, nehmen alles im Studio auf, und? Natürlich muss man sich mit der Materie auskennen, muss mixen und mastern können. Aber du kannst auch zu Hause gute Ergebnisse erzielen, wenn du Studiomonitore hast. Und wenn nicht, dann gehst du zu Freunden, die mehr von Sound Engineering verstehen.
Das ist jedenfalls nicht die Richtung, in die ich strebe. Mir ist schon klar, dass es für ein Massenpublikum einen anderen Sound braucht, glatter, und so. Aber ich habe nicht das Anliegen, ein großes Publikum zu erobern.
Und welches Anliegen hast du dann?
Mehr Musik zu machen, die sich transformiert und entwickelt und mir weiterhin Freude macht. Ich mag es, wenn alles harmonisch geschieht. Ich habe nicht das Anliegen, Ruhm und Ehre zu erwerben, vielleicht würde meine Psyche das gar nicht aushalten.
Vor welchen Electro-Musikern aus Russland hast du ernsthaft Respekt?
Vor allen Musikern bei den Labels Gost Zvuk und RASSVET records, das Pascha Miljakow gegründet hat, auch vor denen vom Samaraer Label Oblast. Die sind zwar nicht sehr berühmt, aber ich sehe, wie diese Jungs und Mädels leben. Nur 200 oder 300 Leute, die ins NIIgehen, kennen sie, aber die sterben für die Musik. Die haben keine Ego-Motive. Das ist geil.
„Lapti“ von „Gost Zvuk“ mit einem Video im Trashpop-Stil
Wie kam es, dass du berühmter geworden bist als sie?
Meine Musik ist einfacher. Sie basiert auf Melodien. Sie ist verständlich und eingängig. Aber einfacher heißt nicht schlechter.
Um experimentelle Musik verstehen zu können, braucht es Erfahrung und Wissen. Man muss sich dahinterklemmen und lernen, Schönheit in anderen Dingen zu sehen.
Derzeit arbeitest du mit dem US-amerikanischen Label 2MR records zusammen. Wie ist euer Verhältnis zueinander? Hast du einen Vertrag?
Ja, ich habe einen Vertrag. Ich bin bei solchen Dingen recht leichtfertig. Erst vor Kurzem wurde mir bewusst, dass ich einen Vertrag über vier LPs unterschrieben habe!
Erschienen ist bisher eine.
Genau. Und noch eine EP, ein Mini-Album, aber das zählt nicht. Und das ist ein bisschen traurig, weil mich auch andere Label anschreiben, echt gute. Aber alles, was ich mache, muss ich 2MR geben oder zumindest mit ihnen absprechen. Und die wollen niemandem was geben. Ich bin also in einer Art Geiselhaft, aber bisher bedrückt mich das nicht.
Ich bin leider keine sehr produktive Künstlerin. Ich kann nicht pro Jahr ein Album machen.
Du schuldest ihnen noch drei Alben, was schulden sie dir? Wie sieht es mit einer Finanzierung aus?
Sie können mir einen Vorschuss zahlen, pro Videoclip kriege ich beispielsweise 1000 Dollar. Aber dieses Geld wird später von der Beteiligung abgezogen, die aus dem Verkauf bei mir landet. Sie leihen mir was. Das sind keine Mäzene, das ist ein Label.
Machen sie dir Vorschläge, wie du deine Musik besser vermarkten könntest, nach dem Motto: Wir müssen jetzt einen Clip drehen, was hältst du von diesem wunderbaren Regisseur hier?
Zum Glück nicht. Nur manchmal schubsen sie mich ein bisschen, schreiben mir zum Beispiel: Dem und dem musst du unbedingt ein Interview geben. Oder sie schreiben: Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen – du musst unbedingt mit einer Single oder einem Clip kommen. Und ich antworte ihnen: Sorry, Leute, später (lacht).
Dir stehen Auftritte auf großen europäischen Festivals bevor: Primavera in Barcelona und MELT in Deutschland. Willst du da irgendwas besonderes machen?
Ich will mit Visuals, also mit Videobegleitung auftreten. Normalerweise ging das immer ohne, aber wenn da mehr als 2000 Leute im Publikum sind, kann ich nicht ganz allein auf der Bühne stehen. Außerdem will ich mich noch mit einem Tonmeister treffen und mit ihm mein Live-Programm durchgehen, vielleicht mischen wir das nochmal neu ab.
Jana, in dieser Welt kann eine Künstlerin nicht drei Monate am Stück schweigen
Ich bin schon in anderen Ländern aufgetreten, aber eher auf Partys, zu dem mein Publikum kommt, für die, die meine Musik kennen. Hier muss ich die Aufmerksamkeit eines Publikums gewinnen, das mich überhaupt nicht kennt. Das ist eine echte Herausforderung!
In der Musik von Kedr Livanskiy steckt eine klare russische Identität, die fehlt fast überall – nicht nur in der elektronischen Musik. Du hast das: russische Texte, sogar russische Lyrik, und das Flair der New Wave aus der Spätperestroika und der Elektronik wie bei NII Kosmetika. Arbeitest du absichtlich in diese Richtung?
Nein, nicht absichtlich. Als ich versucht habe, etwas absichtlich zu machen – Mensch, jetzt mach ich mal so was wie Stuk Bambuka w 11 Tschassow, da kam bei mir gar nichts raus (lacht). Es war einfach nur Zeug.
August 2015, der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow steht im Gitterkäfig eines russischen Gerichtssaals und spricht das letzte Wort des Angeklagten. Er sagt, dass die Behörden ihm schon am Tag seiner Verhaftung 20 Jahre Haft prophezeit hätten.
Senzows Urteil lautet schließlich genau so: 20 Jahre, wegen Terrorismus. Tatsächlich hatte Senzow im Frühjahr 2014 in Simferopol auf der KrimAutomaidan-Proteste organisiert – gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. Vorgeworfen wurde ihm dann jedoch, Terroranschläge auf Brücken und öffentliche Denkmäler vorbereitet zu haben, außerdem sei er Teil des nationalistischen ukrainischen Rechten Sektors.
Beweise gab es dafür keine. Deswegen und auch wegen der Appelle von Filmschaffenden, wie Pedro Almodóvar und Wim Wenders, erregt der Fall des bekannten Regisseurs internationales Aufsehen. Bei Präsident Putin stoßen sie jedoch auf taube Ohren. Auch der Dokumentarfilm The Trial: The State of Russia against Oleg Sentsov, der unter anderem auf der Berlinale 2017 lief, ändert nichts an dem Urteil, das viele Justizexperten als kafkaesk bezeichnen.
Mitte Mai 2018, nach vier Jahren Haft, greift der Filmemacher zur Ultima Ratio des passiven Widerstands: Er tritt in den Hungerstreik mit der Forderung, alle ukrainischen politischen Gefangenen in Russland freizulassen.
Maria Kuwschinowa fragt für Colta.ru, was Kultur – gerade vor dem Hintergrund des Falls Senzow – eigentlich bedeutet.
Am 14. Mai [2018 – dek] hat Oleg Senzow in einem Straflager jenseits des Polarkreises mit einem unbefristeten Hungerstreik begonnen. Seine einzige Forderung ist die Freilassung aller ukrainischen politischen Gefangenen in Russland (laut einer Liste von Memorial sind das knapp über 20 Menschen).
Im August 2015 hatte Senzow 20 Jahre bekommen für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.
Der Schauprozess (nach Muster der Prozesse vom 6. Mai) sollte demonstrieren, dass sich nur ein Häufchen Terroristen gegen das Referendum auf der Krim ausspricht. Wer Widerstand plante, sollte eingeschüchtert werden. Es sollte eine einmalige Operation zur Verängstigung und Unterdrückung sein. Doch zwei Umstände störten die betriebssichere Arbeit der Repressions-Maschine: Erstens gingen die Angeklagten keinen Handel mit den Ermittlern ein und weigerten sich, die Legitimität des Gerichts anzuerkennen. Zweitens erwies sich der Automaidan-Aktivist Oleg Senzow unerwartet als Regisseur, was eine Welle öffentlicher Reaktionen nach sich zog, von Protesten der Europäischen Filmakademie bis hin zu Fragen wie: „Was? Kulturschaffende dürfen Denkmäler sprengen?“
Ein Teil der russischen Kulturszene reagierte auf die Situation herzlos und verärgert: Der ist gar kein Russe und auch kein wirklich großer Regisseur, irgend so ein Computerclub-Besitzer in Simferopol. Der einzige, halb-amateurhafte Film von Senzow, Gamer, wurde auf Festivals in Rotterdam und Chanty-Mansijsk gezeigt, der Start des zweiten Films Nossorog wurde wegen des Maidans aufgeschoben.
Für fast alle unbequem
Für die ukrainische Intelligenzija steht Senzow in einer Reihe mit anderen politischen Gefangenen des Imperiums, wie etwa dem Poeten Wassyl Stus. Dieser hat einen großen Teil seines Lebens in sowjetischen Gefängnissen verbracht und starb im Herbst 1985 im Perm-36, nachdem er eine Woche zuvor zum wiederholten Mal in den Hungerstreik getreten war.
Für die ukrainische Staatsmacht ist [Senzow – dek] – ein Krimbewohner, der gegen seinen Willen die russische Staatsbürgerschaft bekommen und keine Möglichkeit auf einen Gefangenenaustausch hat – nun unbequem geworden. Für die russische Regierung wäre sein Tod kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft eine lästige, eine sehr lästige Unannehmlichkeit.
Senzow ist für fast alle unbequem. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er kein Terrorist, doch im Gefängnis ist er zu einem geworden, denn sein Prozess und seine Heldentat sind eine Zeitbombe, die unter dem nun schon vier Jahre dauernden Post-Krim-Konsens tickt. Senzow ist ein Aufstand gegen die hybride Realität des totalen Kompromisses, in dem sogar Google Maps die Krim als russisch oder ukrainisch anzeigt, abhängig davon, wie es euch gefällt. Zu wem gehört die „unblutig“ angegliederte Krim, wenn auch viele Jahre später noch ein Mensch bereit ist zu sterben und sich weigert, die Angliederung anzuerkennen?
Das Festival-Schicksal des Films Gamer, der Senzow in die Kinowelt brachte, und seine heutige Gefängnisexistenz hinter dem Polarkreis zwingt folgende Frage auf: Was ist eigentlich Kultur, wer schafft sie und aus welcher Haltung heraus? Es gibt darauf verschiedene Antworten.
Kultur ist ein Instrument, das der Reflexion dient, eine Möglichkeit der Selbsterfahrung und Selbstfindung der Menschen und der Gesellschaft; dabei geht es nicht unbedingt um „hohe Kunst“, das kann auch Popmusik sein oder Mode oder Rap. Oder sie ist, für Menschen mit einem bestimmten Einkommensniveau, kurzen Arbeitstagen und langen Wochenenden, eine Art, die Freizeit zu verbringen.
Selbstfindung oder Freizeitspaß?
Es ist offensichtlich, dass die Kultur, die heute in Russland unter der Ägide von Medinskis Ministerium entsteht, nicht zur Kultur des ersten Typs gehört. Die kompromisshaften, zensurfreundlichen „Werke“, die in der Kulturgemeinschaft entstehen, haben gar nicht die Möglichkeit, eine der Fragen zu berühren, vor denen das Land und die Welt heute stehen. Der Donbass und die gesamte Ukraine sind ein großer weißer Fleck – vor fünf Jahren gab es mit ihnen noch umfangreiche und alles durchdringende Verbindungen. Aber man muss ja weiter „arbeiten“. Und was die ganzen schmerzhaften Momente angeht, so ist es leichter zu sagen „das interessiert doch niemanden“ und lieber einen Film zu drehen über die Schwierigkeiten im Familienleben eines trinkenden Arztes und einer nicht trinkenden Krankenschwester.
Wenn wir über den zweiten Typ sprechen – Kultur als Freizeitvergnügen – dann sprechen wir in erster Linie von Moskau, wo es nur so sprudelt vor Premieren, Lesungen und Ausstellungen – viel, viel seltener ist das in den anderen großen Städten Russlands anzutreffen. In den Regionen ist Kultur des Moskauer Typs nur möglich in Form von innerer Kolonisation.
Es gibt noch zwei weitere Antwortmöglichkeiten, was denn Kultur sei: Sie ist Propaganda oder einfach ein Aushängeschild von Unternehmen, um sich Staatsgelder anzueignen. Die Auswahl ist nicht besonders groß, und so entsteht ein Motivationsparadoxon: Wenn du dich heute einverstanden erklärst mit Propaganda, Raspil und unnötigen Freizeitfreuden, zensurfreundlichen Kunstprodukten und innerer Kolonisation zwecks Geld, Status und Zugehörigkeit zur professionellen Gemeinschaft, so befindest du dich als Beteiligter automatisch außerhalb der sinnstiftenden Kultur.
Aus diesem Teufelskreis herauszutreten, und sei es nur als Zeichen des Protests gegen den langsamen Selbstmord eines in einer konstruierten Strafsache verurteilten Kollegen, dazu lässt sich niemand hinreißen, denn das ist nicht praktisch. Obwohl wir durch die Ereignisse der letzten Monate und Jahre schon längst jenseits der Angst hätten landen sollen – das Gefängnis droht heute jedem ohne Ausnahme, Unschuldigen wie Schuldigen.
Unfähig zur Empathie
Der postsowjetische Infantilismus ist ein totaler, er befällt die Intelligenzija nicht weniger als das Volk. Infantilismus bedeutet die Unfähigkeit zur Empathie, die Unfähigkeit sich in die Lage des Anderen zu versetzen, selbst wenn dieser Andere der seit 20 Jahren aufs Genaueste studierte Präsident Putin ist, ein Mensch mit einem klaren ethischen System.
Allem Anschein nach ist die Botschaft, die mit der Festnahme Kirill Serebrennikows versandt wurde, noch immer unverstanden geblieben. Sie besagt: Man darf nicht von Papas Tisch essen und den alten Herrn dann besudeln – das ist gegen die Ponjatija. Willst du ein Dissident sein? Dann nimm den schweren Weg der Festnahmen wegen Ordnungswidrigkeiten und verweigerten Raumanmietungen, der Marginalisierung und Verzweiflung. Willst du ein großes Theater im Zentrum von Moskau? Dann spiel nach den Regeln.
Kulturschaffende, die heute gegen den Arrest von Kollegen protestieren, die offene Briefe unterzeichnen, aber dabei im System bleiben und ihre Worte nicht mit Taten untermauern, bleiben für die Staatsmacht erträglich. Für die Leute außerhalb von Moskau sind sie Mittäter bei Plünderungen und Genozid.
Senzow hat die Wahl getroffen zwischen 16 Jahren langsamen Dahinsiechens in der Strafkolonie und einem demonstrativen Selbstmord, nicht einmal, um Aufmerksamkeit auf sein eigenes Schicksal, sondern auf das von anderen politischen Gefangenen zu lenken. Unabhängig vom Ausgang seines Hungerstreiks hat er einen neuen Maßstab für die menschliche und berufliche Würde geschaffen. Ob man diesen Maßstab annimmt oder nicht – das ist eine Sache jedes Einzelnen. Aber ignorieren kann man ihn jetzt nicht mehr.
Hintergründe:
Im August 2015 wurde der ukrainische Regisseur Oleg Senzow in Rostow am Don zu 20 Jahren Haft verurteilt – für die Organisation einer terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung von Terroranschlägen.
Außerdem wurde in diesem Zusammenhang noch Oleksandr Koltschenko verurteilt – zu zehn Jahren Straflager. Aus den Mitschriften [der Verhandlung, veröffentlicht auf Mediazona– dek] geht hervor, dass als einziger Beweis für die Existenz einer terroristischen Organisation die Aussagen von Alexej Tschirni gelten, der mit Senzow nicht einmal bekannt war. Der Video-Mitschnitt von der Operation der Festnahme Tschirnis mit einem Rucksack, in dem sich eine Sprengsatz-Attrappe befindet, wird von der Propaganda oft als Mitschnitt von Senzows Festnahme ausgegeben.
Aktivist des Automaidan
Vor seiner Festnahme war Senzow Aktivist des Automaidan und organisierte im Frühling 2014 friedliche Proteste gegen die Angliederung der Halbinsel an Russland. „Der gestrige ,Autokorso der Smertniki‘ hat auf den Straßen Simferopols stattgefunden, aber in sehr begrenztem Umfang“, schrieb er am 12. März [2014 – dek] auf Facebook. „Am Treffpunkt versammelten sich bloß acht Autos plus sechs Kameras mit Journalisten plus zwanzig Aktivisten als Beifahrer. Ich hatte auf mehr gehofft, aber leider hat die Mehrzahl der Sofa-Revolutionäre Angst bekommen. Verkehrspolizei und Miliz waren auch am Start und haben eindringlich empfohlen, im Sinne unserer Sicherheit nicht loszufahren. Wir haben gesagt, dass unsere Aktion friedlich ist, dass wir nicht vorhätten, die Verkehrsregeln zu brechen, und haben ihnen vorgeschlagen, uns zur allgemeinen Beruhigung zu begleiten.“
Der zweite Angeklagte, Oleksandr Koltschenko, hat gestanden, dass er beteiligt war an der Inbrandsetzung eines Raums, der in den Akten des Verfahrens als Büro von Einiges Russland bezeichnet wird, obwohl sich dort im April 2014 noch das Büro der ukrainischen Partei der Regionen befand. Die Brandstiftung erfolgte nachts und zielte auf materiellen Schaden, nicht auf menschliche Opfer.
Man hat versucht sowohl Senzow als auch Koltschenko mit dem in Russland verbotenen Rechten Sektor in Verbindung zu bringen. In Senzows Fall ist das nicht bewiesen. Im Falle Koltschenkos, der für seine links-anarchistischen Ansichten bekannt ist, absurd. Gennadi Afanassjew, der zweite Zeuge, auf dessen Aussagen sich die Anklage stützt, erklärte, dass auf ihn Druck ausgeübt und er gefoltert worden sei.
Versöhnung ist Arbeit. Russland und Deutschland waren auf dem Weg schon ziemlich weit – und sind jetzt gerade dabei, das alles wieder aufs Spiel zu setzen, warnt der Historiker Alexej Miller. Während Russland heute dem Tag des Sieges gedenkt, spricht Miller im Interview auf Colta.rueindringlich über Erinnerung als Raum des Streits und Dialogs.
Haben sich die nationalen Narrative geändert? Sind sie früher menschlich gewesen, während sie jetzt ihre Zähne zeigen?
Der Ansatz der Erinnerungspolitik hat sich verändert. Die Erinnerungskultur hat sich verändert. In den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre dominierte in Europa jene alte europäische Erinnerungskultur, die, ganz einfach gesagt, folgenden Kern hat: Das Schlüsselereignis, an dem alles gemessen wird, ist der Holocaust. Daraus ergibt sich, dass die Opfer des Holocaust die wichtigsten Opfer sind. Das bedeutet wiederum, dass sich im Alten Europa niemand zum „Hauptopfer“ erklären kann. Diese Rolle ist schon besetzt. Stattdessen müssen alle schauen, wie und in welchem Maße das eigene Land, das eigene Volk am Holocaust beteiligt war – aktiv, passiv, wie auch immer.
Dieser Prozess hat lange, hat Jahrzehnte gedauert. Jacques Chirac hat erst 1995 offiziell zugegeben, dass die Franzosen am Holocaust beteiligt waren. Das ist das, was man im Grunde als kosmopolitische Erinnerungskultur beschreiben könnte. Und es muss gesagt werden, dass eine solche Erinnerungskultur nach dem Zerfall der Sowjetunion auch in Russland dominiert hat. Die Idee war folgende: Lasst uns mit den Polen über die „weißen Flecken“ reden – über die schwierigen Themen unserer Geschichte. Und weshalb reden wir mit ihnen darüber? Um die ganze Wahrheit zu sagen und uns dann zu versöhnen.
Gab es diesen Wunsch?
Es gab diesen Wunsch. Und generell eine Vorstellung davon, was Erinnerungspolitik ist, nämlich: die Wahrheit zu sagen und Buße zu tun.
War dieser Wunsch nicht zusätzlicher Ballast auf dem politischen Annäherungskurs? Oder war es und ist es ein eigenständiges Ziel?
Das ist gar nicht wichtig. Es gibt da nichts Eigenständiges. Es ist Politik. Wenn wir von Erinnerungspolitik sprechen, ist es wichtig, den Akzent darauf zu setzen, dass es eben Politik ist.
Schauen Sie: 2009 wurde wieder der Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges begangen. Wladimir Putin fuhr auf die Westerplatte und erklärte, dass die Rote Armee keine Freiheit bringen konnte, weil sie selbst nicht frei war. Er sagte, dass es dennoch eine Befreiung vom Nationalsozialismus gewesen sei und dass wir uns sehr für den Hitler-Stalin-Pakt schämen. Das war 2009. Und es war klar, dass er dabei davon ausging, dass auch die anderen Reue zeigen würden. Die anderen hatten [das Abkommen von – dek] München, wir den Hitler-Stalin-Pakt. Wir sind schuldig und ihr seid schuldig, jeder auf seine Art. Stattdessen bekam er zu hören: „Oh, ja! Du hast ganz richtig gesagt, dass ihr Schuld habt, zeigt also Reue. München hat damit nichts zu tun.“ Dann erfolgte eine weitere Verschlechterung der politischen Beziehungen. Und als Folge davon sagt Putin dann 2014: „Hitler-Stalin-Pakt? Das war zutiefst durchdachte, besonnene Politik. Welche Möglichkeiten hätten wir sonst gehabt?“
Das heißt, die Bewertung solcher Schlüsselmomente hängt für ihn in sehr hohem Maße vom realen politischen Kontext ab.
Wenn wir von Erinnerungspolitik sprechen ist es wichtig, den Akzent darauf zu setzen, dass es eben Politik ist
Aus dem Dialogmodus, bei dem davon ausgegangen wurde, dass wir jetzt über Geschichte sprechen, um uns zu versöhnen, sind wir zu einem Modus agonistischer Erinnerung übergegangen.
Da ist die Frage dann nicht mehr, wie wir jetzt Geschichte erörtern und auf welcher Seite es welchen Anteil an Wahrheit gibt (wobei davon ausgegangen wird, dass es auf jeder Seite ein gewisses Stück Wahrheit gibt). Das Ziel ist nun nichtmehrVersöhnung, sondern Konfrontation, die Figur des „Anderen“ wird benutzt.
Der agonistische Ansatz setzt allerdings eine gewisse gegenseitige Achtung der beteiligten Seiten voraus. In Osteuropa aber stürzen wir uns immer mehr in einen antagonistischen Modus, in dem das Gespräch ein anderes ist: Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, zeigt Reue! Das ist kein Dialog, das ist eine lange Geschichte, und eine recht schwierige.
‘Wir sind die Opfer, ihr seid die Täter, zeigt Reue!‘ Das ist kein Dialog, das ist eine lange Geschichte, und eine recht schwierige
Soweit ist es gekommen, und dazu, dass die neuen Mitgliedsstaaten der EU in der modernen europäischen Erinnerungspolitik versucht haben und bis heute versuchen – nicht ohne Erfolg –, das zentrale Thema Holocaust durch das Thema Totalitarismus zu verdrängen. Wobei beim Thema Totalitarismus alles klar ist – das geht an die Adresse von Russland. Und schon ist Russland dann jenes „Fremde“. Die Deutschen haben im Grunde Reue gezeigt, haben, so meint man, ihre Lektion gelernt, und das ist gut so, Gott sei Dank.
Obwohl es immer noch manchmal dazu kommt, dass Polen erneut Reparationen von Deutschland fordert. Doch heute geht es da nicht um die Frage des Dialogs über strittige, schwierige, schmerzliche Themen der Erinnerung, sondern lediglich darum, wie wir, in welcher mehr oder weniger gemeinen, mehr oder weniger groben Form wir die eigene Sichtweise bekräftigen und aus unseren politischen Opponenten Übeltäter machen.
Das heißt, die Konflikte werden zunehmen?
Zweifellos.
Und es gibt keine Alternative?
Nein.
Und die Konflikte werden sich zu einem gegenseitigen trolling entwickeln?
Ja. Die Frage ist nur die Dimension, wie viele Länder sich beteiligen und welche Ressourcen dabei eingesetzt werden. Weil es bis jetzt gleichwohl bestimmte Leistungsträger der „antitotalitären Front“ gab: die baltischen Staaten, Polen, die Ukraine … Und wir wurden unsererseits nicht müde, sie an den Holocaust zu erinnern und in welchem Dreck sie dabei stecken.
Jetzt nimmt das aber ganz andere Dimensionen an, in dem Sinne, dass in Westeuropa das Bild von Russland als Spinne oder Krake auf die Titelseiten der Magazine zurückgekehrt ist: So sei das Regime der Zaren bei uns gewesen, so sei das Stalinsche Regime gewesen, und so sei heute das Regime Putin. Das ist die Sicht der dortigen Karikaturisten.
Russland ist jetzt eindeutig zum „Anderen“ geworden, wieder zum im europäischen Kontext „konstituierenden Anderen“
Und es kommt wirklich zu sehr ernsten Verschiebungen, zu sehr ernsten Verlusten. Ein Beispiel: In der russischen Kultur der letzten Jahrzehnte (auch nach dem Krieg) gab es zwei Bilder – oder zwei Narrative – von den Deutschen. Es gab einerseits den Deutschen in Stiefeln und mit einer Schmeisser. Und andererseits den Deutschen in Apothekerschürze und mit Brille. Da waren sogar komische Rollenwechsel möglich. So oder so dominierte aber das Bild des Deutschen als Träger von Technik und Wissen, als Professor, Akademiemitglied, Apotheker, Arzt, als Partner zur Modernisierung – all diese Figuren. Und vor unseren Augen hat in den letzten drei, vier Jahren dieses Bild einem anderen Platz gemacht, dem Narrativ vom grausamen, dominanten usw. Deutschen.
Es verschlechtert sich an allen Ecken und Enden. Russland ist jetzt eindeutig zum „Anderen“ geworden, im europäischen Kontext wieder zum „konstituierenden Anderen“. Es ist wieder in diese Rolle zurückgekehrt, und die Klischees alter Zeiten sind wieder lebendig geworden.
Diese gegenseitigen Salven Geschichtspolitik, die haben doch einen unmittelbaren Einfluss auf die innenpolitische Agenda und verleihen der staatlichen Erinnerungspolitik innerhalb Russlands einen bestimmten Sinn. Befördert dieser Einfluss die Geschlossenheit und die Eintracht in der Gesellschaft in Russland, oder verschärft er im Gegenteil die Spaltung?
Ich würde die Frage anders stellen. Erinnerung muss keineswegs unbedingt Eintracht fördern. Insbesondere bei sehr schwierigen Fragen. Das Problem bei uns besteht darin, dass ein quasiliberaler Diskurs einen Woodoo-Kult veranstaltet, indem gesagt wird, solange wir Stalin nicht aus seinem Grab holen, habe das Land keine Zukunft. Die Zukunft Russlands hängt in nur ganz geringem Maße davon ab, ob wir Stalin ausgraben oder nicht, ob wir Lenin begraben oder nicht. Das ist meiner Ansicht nach eine höchst mythische Sache. In manchen Fällen sind es einfach nur völlig idiotische Initiativen. Zum Beispiel die „Unsterbliche Baracke“. Die wurde als Antwort auf das „Unsterbliche Regiment“ ins Leben gerufen.
Doch wohl eher als Antwort auf die Verstaatlichung des „Unsterblichen Regiments“…
Wenn Sie gegen die Vereinnahmung des „Unsterblichen Regiments“ durch den Staat kämpfen wollen, dann müssen Sie nicht unbedingt eine „Unsterbliche Baracke“ gründen und die Bezeichnung „Unsterbliches Regiment“ verlachen, sie profanieren.
Es stimmt, dass die Vereinnahmung durch den Staat eine sehr ernste Sache ist. Die Regierung hat allmählich gelernt, wie es die verschiedenen gesellschaftlichen Initiativen unter ihre Kontrolle bringen kann. Und ich denke, dass es die Regierung nicht groß schert, eine einheitliche Geschichtslinie zu vermitteln, weil sie selbst gar keine solche einheitliche Linie hat.
Auch da gibt es keine einheitliche Linie. Wir können sagen, dass wir den Hitler-Stalin-Pakt bedauern, und später dann wieder sagen, dass wir ihn nicht bedauern. Das, was der Große Vaterländische Krieg bedeutet und unser heldenhaftes Volk in diesem Krieg, da gibt es keine einheitliche Linie des Regimes, sondern eine der gesamten Gesellschaft – mit Ausnahme jener, die sich ihr entgegenzustellen versuchen.
Die Meinungsunterschiede beginnen dort, wo es um die Rolle Stalins im Krieg geht. Im Grunde ist die Regierung bestrebt, keine einheitliche Interpretationslinie aufzunötigen.
Die Vergangenheit ist keine Grundlage für Einigkeit. Grundlage für Einigkeit ist die Gegenwart und die Zukunft
Tatsächlich vereint die Vergangenheit die Menschen nicht, sondern spaltet sie. Die Vergangenheit kann keine Grundlage für Einigkeit sein. Grundlage der Einigkeit ist die Gegenwart, und die Zukunft. Wenn Sie Klarheit haben, wie die Zukunft aussehen wird, dann haben Sie auch Klarheit darüber, wie die Vergangenheit zu interpretieren ist. Wenn es keine Klarheit über die Zukunft gibt, von welcher Einigkeit bei der Geschichtsinterpretation kann dann die Rede sein? Die Folge ist nun, dass die Vergangenheit zu einem Raum für gegenseitigen Hass geworden ist.
Es gibt da die Studie der Freien Historischen Gesellschaft mit dem Titel „Welche Vergangenheit braucht das künftige Russland?“, die sehr intensiv erörtert wurde. Was wäre, wenn Alexey Miller eine solche Studie geschrieben hätte …?
Ich würde eine solche Studie nicht schreiben. Auf keinen Fall. Ich habe mich viele Jahre mit Fragen der Geschichtspolitik beschäftigt. Ich versuche nicht, der Gesellschaft zu erzählen, welche Erinnerung sie braucht; ich versuche zu verstehen und der Gesellschaft zu zeigen, wie diese Mechanismen funktionieren und wer daran beteiligt ist. Ich arbeite ja nicht für Medinski. Aber auch nicht gegen Medinski. Das heißt, er gefällt mir nicht. Wenn sie ihn in die Portiersloge versetzen würden, wäre ich nur dafür.
Ich versuche nicht, der Gesellschaft zu erzählen, welche Erinnerung sie braucht
Gleichzeitig stehe ich bei diesem Spiel nicht auf Seite irgendeiner Partei. Eben deshalb, weil ich mir das anschauen und sehen möchte, wer wie spielt. Und ich kann auch keine Partei erkennen, für die ich spielen wollen würde. Deswegen würde ich so etwas nicht schreiben.
Erinnerung, das ist ein Raum des Streits und des Dialogs. Dann ist sie auch lebendig. Andererseits darf es in dieser Erinnerung keinerlei falsche, „ultimative“ Themen geben, nach dem Motto: Wenn wir nicht morgen schon Stalin ausgraben, wird bei uns nichts Gutes herauskommen.
Sie glauben also nicht an Symbole? Ein ausgegrabener Stalin, wäre das nicht ein starkes Symbol?
Das ist ein starkes Symbol. Nur, dass es überhaupt keine Lösung ist. Denn Ihrer Brigade, die Stalin ausgräbt, wird eine weitere folgen, die diese dann vermöbelt und sie zusammen mit Stalin wieder eingräbt. In einem Heldengrab. Dann wird noch etwas Gold der Skythen dazugelegt, um das Bild zu vervollständigen. Wenn wir uns den Film Die Reue, aus dem dieses Bild [des Ausgrabens – dek] stammt, heute anschauen, dann sehen wir, wie aufgeblasen er ist – und wie unklug, im Großen und Ganzen.
Es ist doch normal, dass wir ihn jetzt so beurteilen.
Das ist ganz normal, aber dann kommen Sie mir um Gottes Willen nicht immer mit diesem Ausgraben von Stalin!
Bei uns gibt es in diesem Bereich sehr viele Mythen. Unter anderem diese: Nur bei uns allein klappt es nicht, und bei allen anderen geht alles gut.
Die Deutschen haben Reue gezeigt. Aber begonnen hat es damit, dass die Deutschen nach 1945 sich 15 Jahre lang geweigert haben, überhaupt davon zu sprechen. Mehr noch: Europa hat sich bis in die 1980er und 1990er Jahre geweigert, über seine Verwicklung in den Holocaust zu sprechen – dieses demokratische, schöne, gewaschene, gestriegelte Europa mit sauberen Nägeln, mit einer florierenden Wirtschaft und voller Selbstbewusstsein.
Europa hat sich lange geweigert, über seine Verwicklung in den Holocaust zu sprechen – dieses demokratische, schöne, gewaschene, gestriegelte Europa mit sauberen Nägeln, mit einer florierenden Wirtschaft und voller Selbstbewusstsein
Auf den Bildern waren irgendwelche Leute mit Mützen der französischen Gendarmerie zu sehen, die Juden irgendwohin abführten, aber die Franzosen waren keineswegs an etwas beteiligt! Es war möglich, jahrzehntelang diese Bilder zu sehen, zu sagen, dass man nichts damit zu tun hatte, und es dann 1995 einzugestehen.
Und bis heute wird darüber geredet, wie erfolgreich Europa ist, wie sehr es sich modernisiert, wie besonders und prächtig es ist – und gleichzeitig schafft man es darüber zu schweigen, dass zur Grundlage der Globalisierung, der Modernisierung und all dieser Dinge der Sklavenhandel und der Kolonialismus gehören.
Und die Deutschen, die ja angeblich alles sehr richtig gemacht haben, haben in Wirklichkeit bei weitem noch nicht die ganze Arbeit gemacht. Da reicht ein Blick auf das Rathaus in Bamberg. Es ist das schönste Gebäude der Stadt und steht auf einer Brücke. Dort hängen drei Gedenktafeln. Auf einer steht, dass sie dem Gedenken an den Antifaschisten Claus [Schenk Graf] von Stauffenberg gewidmet ist, der versucht hatte, Hitler umzubringen. Und das macht Stauffenberg zum Antifaschisten. Eine zweite Tafel ist dem Gedenken an Tausende Einwohner der Stadt gewidmet, die den Bombenangriffen zum Opfer fielen – Frauen und Kinder, und an soundso viel tausend Bamberger (bis auf den letzten Mann genau gezählt), die auf den Schlachtfeldern des Krieges gefallen sind, also Soldaten der Wehrmacht, und an soundso viel tausend Vermisste. Und daneben hängt eine weitere Tafel, zum Gedenken an die jüdischen Einwohner Bambergs, die nicht mehr da sind. Bei denen hatte sich niemand die Zeit genommen, sie auch nur zu zählen. Die eigenen Opfer wurden vom ersten bis zum letzten gezählt, die Juden aber, nun, wer zählt da schon nach, die gab es, und jetzt sind sie nicht mehr da. Schade natürlich. Umso mehr, als man uns [Russen – dek] die ganze Zeit vorwirft, dass wir an etwas schuld seien. Wenn man diese drei Tafeln sieht, wird einem einiges klar.
Auch sollte man wissen, dass die Münchener Stadtverwaltung zehn Jahre lang eine Genehmigung für Stolpersteine verweigerte, weil man der Ansicht war, sie würden bei Regen eine Rutschgefahr bedeuten. Daher sollte man nicht erzählen, dass es bei allen erfolgreich läuft.
2012 hab ich den Deutschen und Polen gesagt: Jetzt kommt Kaczyński, und dann ist Ihre ganze Versöhnung für die Katz. Und ich hatte Recht.
Es gab einmal eine Veranstaltung in Moskau, die der deutsche und der polnische Botschafter organisiert hatten, zur Erinnerungspolitik. Die hatten mich aus irgendeinem Grund eingeladen, um als Vertreter aus Russland zu sprechen. Und sie sprachen lange davon, wie die Deutschen und die Polen an einer Versöhnung gearbeitet haben, und boten an, uns beizubringen, wie man sich versöhnen könnte. Das war, wenn ich mich recht entsinne, 2012. Ich sagte daraufhin, dass wir keine Lehren bräuchten, weil wir auch ohne Bischofsbriefe den Deutschen verziehen hätten; dass es mit den Polen allerdings einen Bischofsbrief gegeben habe, der aber nichts genützt hätte. Und dass ich es so formulieren würde: Jetzt kommt Kaczyński, und dann ist Ihre ganze Versöhnung für die Katz. Und ich hatte Recht. Weil ich die Geschichtspolitiken studiere und weiß, wie so etwas strukturiert ist. Dass man an der Versöhnung arbeiten muss. Dass es immer zwei Narrative gibt. Womit wir wieder am Anfang unseres Gesprächs waren.
Jetzt haben wir den Schlamassel
Jetzt zerstören wir – vor aller Augen, gemeinsam mit den Deutschen, mit vereinten Kräften, das, was wir erreicht haben, und verfallen in gegenseitigen Hass. So sieht’s aus. Jetzt wird uns [Russen – dek] schon wieder erzählt, wie ein deutscher [Wehrmachts-] Soldat in eine Hütte kommt, ein Kind weint, der Soldat zertrümmert ihm den Kopf am Türrahmen und er legt sich schlafen. Solche Geschichten sind uns die letzten 25 Jahre nicht erzählt worden. Hat es solche Dinge gegeben? Es hat sie gegeben. Wurden sie die letzten 25 Jahre erzählt? Nein. Nun aber werden sie wieder erzählt. Andererseits ist es auch so, dass sowjetische Soldaten 2,5 Millionen deutsche Frauen vergewaltigt haben …
Mir ist da mal folgende Geschichte passiert: Die BBC rief mich an, das ukrainische Programm, kurz vor dem 9. Mai, und sie sagten: „Wir wollen uns mit Ihnen über den 9. Mai unterhalten.“ Mir war schon klar, worauf das hinauslaufen würde. Sie kamen sogleich auf die Vergewaltigungen als Schlüsselbefund des 9. Mai. Ich sagte ihnen: „Leute, ihr sendet in die Ukraine. Die heldenhafte Rote Armee, die Deutschland befreit hat, bestand zu ungefähr einem Viertel aus Ukrainern. Also besteht die Annahme, dass rund ein Viertel jener deutschen Frauen von Ukrainern vergewaltigt wurden – über eine halbe Million. Bittet eure Hörer, dass sie Reue zeigen, und berichtet dann vom Ergebnis, dann gehen wir dieses Thema auch hier in Russland an.“
Die Sendung wurde nicht ausgestrahlt. Da können wir sehen, wie dieser Raum zerfällt. Niemand will mit dem Anderen reden. Das Gespräch gerät zur Provokation, oder zum Trolling. Jetzt haben wir den Schlamassel.
Das Dossier „Werte-Debatten“ erscheint in Kooperation mit der Körber-Stiftung im Rahmen ihres Arbeitsschwerpunkts Russland in Europa
Mit dem Fokusthema Russland in Europa widmet sich die Körber-Stiftung der Wiederbelebung eines offenen, kritischen und konstruktiven Dialogs zwischen Russland und seinen europäischen Nachbarn.
Der Fall Leonid Sluzki schlägt immer höhere Wellen. Dem Duma-Abgeordneten der LDPR wird vorgeworfen, im Parlament akkreditierte Journalistinnen mehrfach sexuell belästigt zu haben. In einem Fall hat die russische BBC Sluzkis Übergriffigkeit per Audiomittschnitt dokumentiert (siehe auch unsere Debattenschau zum Thema). Am Mittwoch hatte sich nun der Ethikrat der Duma mit der Angelegenheit beschäftigt, konnte jedoch keinerlei „Verletzung von Verhaltensnormen“ feststellen.
Dies sorgte bei vielen Journalisten für große Empörung. Innerhalb kürzester Zeit verkündeten über 20 russische Medien – darunter Kommersant, Vedomosti, Novaya Gazeta, Meduza und viele weitere auf dekoder vertretene – die Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder gar vollständig boykottieren zu wollen: Sekret Firmy beispielsweise schreibt fortan hinter jeder Erwähnung der Duma den Zusatz: „(Staatsorgan, das sexuelle Belästigung rechtfertigt)“,RBC, Echo Moskwy und eine Reihe weiterer Medien haben ihre parlamentarischen Korrespondenten abgezogen, da die Duma „kein sicherer Ort für Journalisten“ sei, wie Echo-Chefredakteur Alexej Wenediktow erklärt.
Olga Beschlej, Chefredakteurin von Batenka, beschreibt in einer Kolumne auf Colta, warum sie bei der Solidaritätsaktion Stolz empfindet auf die Presse in Russland.
Weit über 20 russische Medien verkündeten, ihre Zusammenarbeit mit der Staatsduma einschränken oder boykottieren zu wollen
Hilflosigkeit ist das Gefühl, das wir hier allzu oft empfinden. Ein Gefühl, das uns schon seit allzu langer Zeit aufgezwungen wird.
Ja, eine Gruppe von Menschen versucht ständig etwas zu unternehmen – eine Gruppe, die sogar selbst gar nicht sagen kann, welchen Anteil der Bevölkerung sie ausmacht, weil die Umfragen sie genauso belügen, wie sie den Präsidenten belügen. Diese Menschen – zu denen manchmal auch ich gehöre – unterschreiben Petitionen, machen Einzelproteste, gehen zu Demonstrationen, schreiben Texte, kratzen an den Türen von Diensträumen [hoher Beamter – dek]. Und jedes Mal dasselbe Gefühl: Von uns hängt gar nichts ab, wir können nur bitten und krakeelen, bitten und krakeelen. Und weiter Spiele spielen, deren Regeln von Betrügern gemacht werden.
Aber Hilflosigkeit wird durch aktives Handeln überwunden. Deshalb ist die Geschichte mit dem Abgeordneten Sluzki und jenem Konflikt mit der Duma, auf den sich Journalistinnen, Journalisten und ganze Redaktionen eingelassen haben, weitaus bedeutender als eine Geschichte über einen Rüpel und seine Maßlosigkeit.
Es ist auch ein Aufstehen gegen Machtmissbrauch. Auch ein Aufstehen gegen die Gewalt der Privilegierten und im Grunde auch gegen jedwede andere Gewalt. Es ist ein Aufstehen gegen gegen das herrische, konsumistische Verhältnis der Machthaber gegenüber allen anderen.
Es ist eine Geschichte darüber, dass die Geduld zu Ende geht.
Denn es gab in den letzten 18 Jahren eigentlich genug Gründe, Journalisten aus dem intransparent und unehrlich arbeitenden Parlament abzuziehen. Aus einem Parlament, das Gesetze verabschiedet hat und verabschiedet, die die Meinungsfreiheit beschneiden. Es gab auch so schon genug Gründe dafür, dass das Land aufhört, die Lügen, Rüpeleien, Gewalt und Dieberei zu tolerieren.
Niemand sollte in einem Organ der Staatsmacht arbeiten, das sexuelle Belästigung rechtfertigt. Und genau so sollte man meiner Meinung nach nicht in einem Organ der Staatsmacht arbeiten, das ein Gesetz über die Entkriminalisierung von häuslicher Gewalt verabschiedet hat.
Ich weiß nicht, ob es den Journalisten gelingen wird, im Fall Sluzki hinreichend Druck auszuüben, wenn man bedenkt, dass die Staatsmacht ihre Leute unter dem Druck der Gesellschaft nie im Stich lässt. Aber dass die Journalisten sich auf diesen Konflikt eingelassen haben, lässt einen stolz sein auf die Presse in Russland. Das ist schon keine Hilflosigkeit mehr.
Und auch kein Spiel nach aufgezwungenen Regeln.
Mich befremden die Befürchtungen einiger Menschen, dass wir ohne Journalisten in der Duma eine Informationsquelle verlieren würden. Ein professioneller Journalist – und alle Redaktionen, die ihre Kollegen abgezogen haben, sind zweifellos sehr professionell – findet Wege, um von Gesetzesinitiativen nicht nur in der unteren Kammer des Parlaments zu erfahren. Um so mehr, da die wichtigsten Gesetze nicht von Abgeordneten der Staatsduma geschrieben, sondern von der Präsidialadministration lanciert werden.
Und schließlich: Die hochkarätigste, wertvollste und gesellschaftlich wichtigste Arbeit von Journalisten in Russland findet nicht in den Räumen der Staatsduma statt. Sie findet statt bei Recherchen jener Geschichten, über die die Abgeordneten sich ausschweigen. Wenn daher in meiner Redaktion ein parlamentarischer Journalist gebraucht würde – dann nur, um ihn von dort abzuziehen.