дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „In jedem Haus ein Toter“

    „In jedem Haus ein Toter“

    Am 5. Oktober 2023 hat die russische Armee das Dorf Hrosa in der Oblast Charkiw angegriffen. Die Rakete traf eine Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten aus dem Dorf. 59 Menschen kamen ums Leben, alle Opfer waren Zivilisten. Journalist Schura Burtin war am Ort der Tragödie und hat für Cherta eine Reportage über die Toten und Überlebenden von Hrosa geschrieben.

     
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Frühmorgens, mein Kollege und ich gehen gerade in unser Hotel in Charkiw, da gibt es plötzlich einen lauten Knall. Dann einen zweiten, so dicht nacheinander, dass sie fast zu einem verschmelzen. Die Fensterscheiben zittern, wir stürzen nach draußen und sehen unseren Taxifahrer, der ganz benommen neben seinem Auto steht. Wir wissen noch nicht, wo es eingeschlagen hat, also unterhalten wir uns weiter mit der Dame an der Rezeption, frühstücken in Ruhe. Als wir schließlich an die Einschlagstelle kommen, ist die Straße schon mit Polizeiband abgesperrt. Wir sind mitten in Charkiw, in seiner schönen, beschaulichen Altstadt. Auf dem Bürgersteig liegen die zerborstenen Fensterscheiben der umstehenden Häuser.

    Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt vor sich hin

    Rettungskräfte räumen grad die Trümmer aus dem Loch, das die Rakete in das zweistöckige Backsteingebäude geschlagen hat. Das Gebäude und die Häuser daneben wirken ohne Fenster unbewohnt und verlassen. In Wirklichkeit wurden die Opfer bereits mit Krankenwagen weggebracht. Eine ältere Frau steht umringt von Taschen auf der Straße und brabbelt geistesabwesend vor sich hin. In den Taschen sind irgendwelche Sachen. Auf die Frage, wohin sie fahre, sagt sie schluchzend: „Nach Amerika. Sie sehen ja, hier geht es nicht. Gut, dass ich diese Tasche gekauft habe, eine gute Tasche ist das …“ Sie wird offenbar von einem Fluchtinstinkt getrieben. Wenn im Nachbarhaus eine Iskander-Rakete einschlägt, ist man nur noch Instinkt. Während wir mit ihr sprechen, ziehen die Helfer die Leiche eines zehnjährigen Kindes aus den Trümmern.

    Die zweite Rakete hat hundert Meter vom Puschkin-Park entfernt eingeschlagen. Die Autos sind schon ausgebrannt, die Opfer weggebracht, die Iskander-Splitter auf einer Plane ausgebreitet. Die Sonne der russischen Dichtung blickt von seinem Podest in einen Krater von fünf Metern Durchmesser. Von den Balkonen der umliegenden Häuser sind nurmehr Fetzen übrig, wie durch ein Wunder ist niemand ums Leben gekommen. Ein paar Dutzend Bewohner wurden im Schlaf lediglich von Glassplittern getroffen.

    Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten auf einen Berg von Leichen stürzen?

    Als mir am Vorabend ein Freund erzählte, dass in einem Dorf bei Charkiw 50 Menschen getötet wurden, wurde mir übel. Ich dachte daran, hinzufahren, aber dann fragte ich mich, wozu eigentlich. Was hat das für einen Sinn, wenn sich Journalisten wie die Aasgeier auf einen Berg von Leichen stürzen? Wenn jemand imstande ist, schockiert zu sein, dann kann er das auch ohne uns; Reportagen machen das Geschehene nur noch alltäglicher.

    Unser Fixer rast über die Autobahn – wir wollen vor den anderen Journalisten in Hrosa ankommen. Ich erinnere mich daran, wie ekelhaft man sich fühlt, wenn man jemanden mit Fragen löchert, der gerade einen nahen Menschen verloren hat. Soll man sich etwa erkundigen, was der Tote noch gestern gemacht hat? Die Soldaten beim Kontrollposten lassen uns ohne Weiteres passieren: Die Interessen des Präsidialbüros decken sich heute mit unseren.

    Als wir ankommen, sind bereits mehr Kameras als Menschen da. Der Ort ist winzig, es gibt nur drei Straßen. Grüppchen von jungen Psychologinnen in blauen Westen gehen herum und sprechen leise mit den Dorffrauen. Außerdem sieht man: Polizisten, UNO-Mitarbeiter in weißen Jeeps und ein paar Freiwilligen-Brigaden. Die Journalisten versuchen, einander nicht in die Quere zu kommen; wir scharen uns um die nächste verweinte Frau und stellen ihr ein und dieselben dummen Fragen: „Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“, „Warum waren Sie nicht da?“, „Was denken Sie, warum die das getan haben?“ Dabei versuchen wir, uns möglichst so hinzustellen, dass wir nicht in einen fremden Bildausschnitt geraten. Was kann man einen am Boden zerstörten Menschen noch fragen, wenn man ihm aussagekräftige Details entlocken muss?

    Gestern, am Donnerstagmorgen, hatten sich Menschen hier zur Totenfeier für Andrij Kosir zusammengefunden, ein Dorfbewohner, der an der Front gefallen war. Vor den Trümmern sitzen drei alte Männer. Der eine, der am wichtigsten aussieht, hat einen schweren kantigen Kiefer und ein grobes, grimmiges Gesicht. Auf die Frage nach seinem Namen reagiert er misstrauisch: „Kolja …“ – „Und mit Nachnamen?“ – „Fomenko …“ Dann klären uns die drei über die Umstände auf.

    Es war dem Sohn wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden

    „Andrij war in Polen, er war immer irgendwo zum Arbeiten. Als der Krieg ausbrach, sind er und [sein Sohn] Dennis sofort zurückgekommen und [an die Front] gegangen. Sie haben im selben Schützengraben gekämpft. Dann hat es sie erwischt – der Vater war sofort tot, er [der Sohn] hat überlebt. Er ist erwachsen, über zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Andrij wurde in Dnipro beerdigt, sein Sohn kämpfte noch ein halbes Jahr. Als er sein Geld bekommen hat, beschloss er, den Vater herzuholen. Der Vater war also gefallen, jetzt ist auch der Sohn tot, seine Frau auch, und die Schwiegermutter, und sein Schwager Hrib auch, alle tot …“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Dennis hatte den Tod seines Vaters mitangesehen. Vielleicht war es ihm deshalb so wichtig, ihn in der Heimat beizusetzen, ihn würdig zu verabschieden. Um mit der quälenden Frage abzuschließen, ob er alles getan hatte, was in seiner Macht stand. Er steckte den gesparten Kampfsold in die Feier. Die Organisation übernahm Andrijs Schwager Hrib, er kaufte ein, kümmerte sich um die Räumlichkeiten in dem Café, das seit Kriegsbeginn geschlossen war, karrte Gasflaschen heran und engagierte ein paar Frauen, die beim Kochen halfen. Die Vorbereitungen dauerten mehrere Tage, rund einhundert Gäste wurden erwartet. Offenbar sehnten sich in diesen schwierigen Zeiten viele Dorfbewohner nach einem Gefühl von Gemeinschaft, es kamen fast alle.

    „Hrib hat schon vor Wochen eingeladen“, sagt Kolja Fomenko. „Das ganze Dorf, ob Säufer oder nicht. Hrib war leitender Ingenieur hier im Büro, in der ehemaligen Kolchose. Ich hab ihn nie gemocht, diesen Schwager, er hat nie gegrüßt. Darum bin ich nicht hingegangen.“

    „Haben Sie die Explosion gehört?“

    „Was heißt gehört, ich bin plötzlich über den Boden gekugelt wie Tscheburaschka. Ich denk, was ist denn das. Ich wusste ja, dass meine Frau dort war. Ich rannte hin, aber hier lagen nur noch Leichen, Fleischfetzen, eine menschliche Leber, sowas hab ich noch nie gesehen. Die hatten da ja Gasflaschen, zum Kochen. Meine Frau wurde nicht gefunden. Das ist das Schlimmste, wenn man nicht mal was zu beerdigen hat …“ Sein grobes Gesicht wird von einem Heulkrampf verzerrt, wie bei einem kleinen Kind. Und in diesem Moment sehe ich tatsächlich das Kind in ihm, das jeder von uns ein Leben lang bleibt.

    Ich versuche, etwas über sein Leben herauszufinden. Er sagt, dass er nicht von hier stammt, sondern aus Luhansk, dass er früher einen Tanklaster gefahren ist, auch nach Russland, dann zwanzig Jahre lang Taxifahrer war (daher wohl seine grimmige Mine). Als sie in Rente gingen, beschlossen sie, in die Heimat seiner Frau zurückzukehren: „Also sind wir hergekommen, hier gibt es ja Land, man kann für sich selbst sorgen. Ich hab ein paar Schweine gehalten, meine Frau hatte den Garten, sie hat alles eingelegt, lauter Konserven, Marmelade und so, diesen ganzen Mist eben …“

    „Was hat Ihre Frau gestern gemacht?“

    „Morgens hat sie Bliny mit Quark gebraten. Ich sag zu ihr: ‚Was machst du hier für einen Wirbel?‘ Und sie: ‚Ich muss doch gleich zur Feier.‘ Also hat sie sich beeilt und ist mit den Nachbarn los. Mein Nachbar Tolik ist mit, wir wohnen Zaun an Zaun. Sie wollte mich noch überreden, aber ich hatte keine Lust. Ich kannte da keinen, warum soll ich mich da durchfüttern lassen?“

    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Wladimir Kosijenko (links) und Kolja Fomenko, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Offenbar hat diesem Mann die Tatsache das Leben gerettet, dass er sich hier immer noch wie ein Fremder fühlt.

    „Und was haben Sie vorgestern gemacht?“, bohre ich weiter.

    „Na, das Gleiche wie immer, Unkraut gejätet, Tomaten ausgerissen, Äpfel gepflückt, gegessen, ausgeruht vor der Glotze. Nach dem Mittagessen zu den Hühnern, dies und das, gerecht, Laub zusammengefegt.“

    „Und Ihre Frau?“

    „Na, auch das Gleiche wie immer: gekocht, gewaschen, geputzt.“

    „Was war sie von Beruf?“

    „Sie hat vierzig Jahre lang im Lokwerk von Luhansk geschuftet, ihre Rente verdient, jeden Groschen umgedreht. Und jetzt? Alles für’n Arsch, alles umsonst … Ich bin runter in den Keller – alles vollgestopft bis obenhin, wozu? Ich kann das doch nicht essen …“

    Kolja weint wieder. Ich versuche mir vorzustellen, wie das wohl ist für ihn, die Konserven zu sehen, die seine Frau hinterlassen hat, und beim Essen zu wissen, dass sie nie wieder etwas einmachen wird.

    Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen

    „Warum ist das passiert?“, fragt einer der anderen Journalisten.

    „Wahrscheinlich hat jemand weitergetragen, dass sie einen Soldaten beerdigen. Obwohl da gar keine anderen Soldaten waren.“

    Es gibt zwei Versionen. Das ist die erste, die naheliegende: Die Russen haben gehört, dass ein Militärangehöriger beigesetzt wird, und dann beschlossen, ein paar von ihnen zu töten. Die zweite Version ist, dass sie einfach auf eine Stelle gezielt haben, wo es viele Mobiltelefone gab. An ein schreckliches Versehen glaubt hier niemand. Ich habe ja erst heute Morgen mit eigenen Augen gesehen, wie die russische Armee eine Iskander-Rakete dazu benutzt, einen zehnjährigen Jungen im bunten Pyjama und seine Großmutter zu töten. Und gleich danach noch eine, um eine friedliche Straße mitten in Charkiw zu verwüsten.

    ***

    Das ehemalige Café ist ein Haufen Schutt. Ich will da nicht hin. Mein Kollege erzählt, dass unser Fixer einen Arm gefunden hat, den er uns zeigen will.

    „Das war eine Szene – schrecklich und komisch zugleich“, sagt der Kollege philosophisch. „Die Rettungskräfte sammelten die menschlichen Überreste ein und wussten nicht, wohin damit. Also legten sie alles in eine große Bratpfanne, die sie dort gefunden hatten. Und alle machten Fotos davon. Dann fiel ihnen auf, dass das ziemlich makaber aussieht, und baten: ‚Die Bilder, die sie grad gemacht haben, bitte verwenden sie die nicht. Wir legen das woanders hin, dann können Sie neue Fotos machen …‘“

    ***

    Das Gebäude, das den Trümmern des Cafés am nächsten liegt, ist das besagte Büro des Landwirtschaftsbetriebs, der ehemaligen Kolchose. Die Fenster und Türen sind bei der Explosion zerborsten, das Dach ist eingestürzt. Im Vorgarten sehe ich drei Frauen stehen, die die Ruine anstarren, als wollten sie etwas verstehen. Eine der Frauen ist Tamara. Sie ist Buchhalterin im Betrieb und hat überlebt. Ihre beiden Kolleginnen waren bei der Trauerfeier und sind tot.

    Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks

    „Wir waren auf der Arbeit. Ich wollte auch [zu der Feier] gehen, aber ich habe eine bettlägerige Großmutter. Ich war noch schnell bei ihr, um sie umzuziehen – und war dann spät dran“, erinnert sich Tamara.

    „Und ich hab noch die Kuh gemolken. Da fragt meine Nachbarin: ‚Was ist, Valentina, kommst du auch mit?‘ Und ich: ‚Nee, Ira, heut nicht, ich geh nicht.‘ Sie wollte unbedingt hin, das war ja ihr Kollektiv, da muss man zusammenhalten.“

    „Wir hatten eine Betriebsprüfung, ich wollte nachmittags noch was durchrechnen.“

    „Und ich sag noch zu ihr: ‚Olja, bleib doch hier und ruh dich aus!‘ Sie war immer so nervös, so verantwortungsbewusst, was soll man da sagen.“

    Plötzlich merke ich, dass die anderen beiden Frauen Mutter und Tochter sind. Die Tochter, eine füllige junge Frau, bricht in Tränen aus. Ich frage: „War jemand von Ihren Verwandten dabei?“, aber sie schüttelt den Kopf. Ich wundere mich, dass sie so bitter um fremde Menschen weint.

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Die Tür geht wohl nicht mehr zu?“, fragt die ältere Frau Tamara und deutet auf das ramponierte Türschloss.

    „Nein, wir haben den halben Tag rausgeholt, was wir tragen konnten. Da ist ja die ganze Buchhaltung drin, wir sind dafür verantwortlich. Wir sammeln die Papiere ein und weinen: ‚Hrib, Hrib, was hast du nur angerichtet!‘ Einen Menschen wollten wir beerdigen und begraben jetzt das ganze Dorf. Die, die gleich tot waren, wussten zum Glück gar nicht, was da passiert. Aber die, die noch lange im Sterben lagen …“

    „Andrij ist wiedergekommen und hat alle mitgenommen …“

    Ich spüre, dass sich vor den Frauen ein Abgrund aufgetan hat. Die Todespforten haben sich geöffnet, und der zurückgekehrte Andrij Kosir hat ihre halbe Welt dorthin mitgenommen.

    Die Frauen sagen, sie hätten seit gestern nicht mehr geschlafen: „Ich habe einfach Angst zu Hause“, gesteht Tamara. „Ich fühle mich wie ein Tier in einem Käfig, ich weiß nicht, wohin mit mir. Wir werden ja immer weniger, die meisten sind in alle Himmelsrichtungen davon …“

    Deshalb kommt Tamara immer wieder zu ihrem zerstörten Büro, hält sich am Gartentor fest und starrt auf die Stelle, wo früher das Café war.

    Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen

    „Wie hießen die beiden?“

    „Irina und Galina“, antwortet Tamara widerwillig.

    Ich spüre, dass sie sagen will: Was hat das jetzt noch für eine Bedeutung, wie sie hießen? Ich und sie stehen auf unterschiedlichen Seiten des Unglücks. Ich versuche, aus ihr herauszukriegen, wie die Verstorbenen gelebt, was sie gemacht haben.

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Lebten ein ganz normales Leben. Was Buchhalterinnen eben so machen. Auf dem Feld draußen arbeiten Mechaniker, wir sammeln die Berichte ein, teilen Treibstoff zu, je nach dem, wer was braucht.“

    „Könnten Sie von einer konkreten Person erzählen?“

    „Wie, konkret? Alle lebten einfach ihr Leben. Standen am Zaun und unterhielten sich: Was gibt’s Neues, brauchst du irgendwas – so was halt. Die jungen Mädels hatten ihren Freundeskreis, wir hatten unseren. Partys gefeiert haben sie, geträumt, Reisen gemacht, fremde Länder bestaunt und uns dann davon erzählt. Auch die Besatzung haben wir friedlich durchgestanden, niemand war niemandem Feind. Und dann innerhalb einer Minute …“

    „Vielleicht könnten Sie von einer Person genauer erzählen?“

    „Twerdochleb Iryna, Chaibako Tetiana, Pantelejewa Iryna, Taran Halja, Tanja, die Frau von Andjussowytsch Mykola, ist auch dahin … Tut mir leid, ich kann das nicht.“

    „Diese Menschen sind gestorben, ich denke, es ist wichtig, von ihnen zu erzählen.“

    „Das waren einfach ganz normale Leute. Das wird sie nicht zurückbringen. Man kann nicht nur von einem konkret erzählen, man muss von allen konkret erzählen. Aber an alle zu denken, das ist schwer …“

    Offenbar versucht die Frau zu erklären, dass die Menschen nicht getrennt voneinander existieren, und das ganze verlorene Leben in fünf Minuten erzählen, das kann sie nicht.

    ***

    Wir sehen einen Mann mittleren Alters in Jogginghosen und Badelatschen. Er geht leicht wankend auf das Café zu, das es nicht mehr gibt.

    „Ich will mir mal ansehen, wie meine Frau gestorben ist“, lallt er. „Sonst nichts. Sonst einfach gar nichts. Was soll ich denn tun? Mich einfach total volllaufen lassen wie ein Russe …“, er sieht uns an, „wie ein Ukrainer – und drei Tage nicht mehr aufhören …“

    „Wie heißen Sie?“

    „Juri. Meine Frau ist tot, unser Haus ist leer. Und ich kann nichts machen! Ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll! Ich war gerade auf der Arbeit, als mich die Jungs anriefen: ‚Hrosa hat‘s voll abgekriegt, das Café ist im Arsch.‘ Und meine Frau arbeitet dort im Büro. Ich hab sofort gespürt, das geht nicht gut aus. Als ich ankam, lag da meine Frau. Kurz dachte ich, sie ist davongekommen, ist sie aber nicht. Sie hatte ein Loch im Kopf, ihr Bauch war aufgerissen, das Bein … Ach, Jungs …“

    Der Mann umarmt meinen Kollegen und mich und weint. So stehen wir mitten auf der Straße da, zu dritt umschlungen mit einem betrunkenen Fremden. 

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    „Ihr seid also aus Russland? Richtet diesem Putin aus, diesem Idioten, ich komm mit einer MG … Was soll ich tun? Betrink mich eben, ich hab Wodka im Haus, kommt mich besuchen.“

    Ich würde tatsächlich furchtbar gern jetzt trinken.

    „Geht nicht, sind im Dienst.“

    „Ah, ihr seid aus den USA? Richtet diesem Biden aus, diesem Idioten, er soll den Krieg beenden. Als ob wir heiß drauf wären. Also ich geh mal …“

    Der Mann geht zu dem Trümmerhaufen. Wie es aussieht, macht er seit gestern nichts anderes, als sinnlos zwischen den Ruinen und seinem leeren Zuhause hin und her zu wanken.

    ***

    Zwei Frauen stehen abseits der Bar. Eine hübsche junge Dame vom Fernsehen fragt sie:

    „Was meinen Sie, warum haben die das gemacht? Gibt es hier militärische Objekte?“

    „Das wissen wir nicht …“

    Eine von ihnen ist schüchtern, klein, ungefähr 70 Jahre alt. Auf die Frage nach ihrem Namen antwortet sie zögerlich: „Tanja … Lukaschewa.“ Bei der Trauerfeier sind ihre Tochter und ihr Schwiegersohn ums Leben gekommen. Die zweite Frau heißt Alla Sosulja, sie ist Schulbibliothekarin und um die 60. Sie erzählt mir von diesem Schwiegersohn, einem Mathematiklehrer, und was für ein guter Mensch er war. Wie er mit den Kindern wandern war und im Wald, nach Odessa fuhr und nach Swjatohirsk, was für Ausflüge er mit ihnen gemacht hat, „und die Kinder hatten ihn von Herzen gern …“.

    „Einmal ist die Katze auf seinen Schreibtisch gesprungen“, lächelt Tanja. „Er machte gerade Online-Unterricht, am Computer. Da haben die Kinder aus der zweiten Klasse alle angefangen, ihre Katzen herzuzeigen: ‚Ich hab auch eine! Ich auch …‘“ Als sie das erzählt, sieht Tanja glücklich aus, fast selig. 

    Alla sagt, ihr Mann und ihr Sohn seien im Krieg. Sie hätten den Dienst gemeinsam angetreten: Ihr Sohn wurde einberufen, ihr Mann ging mit. Solche Geschichten, wo der Vater an die Front geht, weil er den Sohn nicht alleinlassen will, höre ich oft.

    Ich frage Tanja, was sie von Beruf ist. 

    „Stukkateurin“, sagt sie stolz. „Obwohl ich eigentlich Schweißerin gelernt habe, aber in dem Beruf war ich nicht lange, sondern mein Leben lang Stukkateurin. Mein Mann ist Pflasterer und Fliesenleger, wir waren immer auf den Bahnhöfen im Einsatz. Egal wo man hinfährt – das haben wir gemacht. Meine Enkelin fragt immer: ‚Wie kann das sein, dass ihr das alles gebaut habt?‘“ Tanja lacht glücklich.

    Es wirkt, als befinde sie sich außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht real ist

    Es wirkt, als sei sie komplett aus der Situation herausgefallen, als befinde sie sich irgendwo außerhalb ihres Lebens, wo das, was passiert ist, nicht wirklich real ist. „Ich hab meine Tochter nicht tot gesehen“, sagt Tanja gedankenverloren. „Den Schwiegersohn haben sie gefunden und identifiziert, aber meine Tochter und ihre Schwiegermutter nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist. Zu Hause liegen ihre Sachen herum, Dinge, die sie gemacht hat …“

    Tanjas Verstand kann den Tod ihrer Tochter offenbar nicht fassen. Gerade noch war sie da, und plötzlich ist sie komplett verschwunden.

    ***

    Ein Auto hält an, der Mann fragt nach Walerka. Von Walera habe ich schon gehört; er hat sechs Angehörige verloren: seinen Bruder, seine Schwester, seine Tochter, seinen Schwiegersohn und dessen Eltern.

    Der Mann nimmt uns mit zu ihm. Unterwegs erzählt er, dass heute Morgen Schewtschenkowe beschossen wurde, ein Dorf ein paar Kilometer entfernt von Hrosa. Obwohl die Front weit weg ist, fünfzig Kilometer: „Ich kam gerade aus dem Haus, als sie einschlugen, fünf Stück, Streubomben. Eine ist bei den Nachbarn auf der Pokrowskaja Straße direkt in den Hof geflogen, bei einem Ehepaar mit einer Blumenhandlung, die Frau ist verletzt.“

    Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher

    Walera Kosir ist ein Mann um die 65, mit rundem Kopf, Händen wie Baggerschaufeln und, wie bei Bauern üblich, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Er sitzt auf einer Bank vor dem Haus seiner toten Tochter und ihres toten Mannes. Als hätte er uns erwartet, beginnt er sofort aufgeregt zu erzählen und zu gestikulieren: 

    „Auf einen Schlag, meine Tochter, ihr Mann, seine Eltern, mein Bruder, meine Schwester – sechs Verwandte und die Taufpaten dazu, alle an einem Tag! Mein Schwiegersohn, Tolik Pantelejew, was der für ein Mann war! Ich sag nur eins: Wenn ich mit dem in die Stadt fahre, da grüßen ihn alle, vom Hilfsarbeiter bis zum Polizeichef. Ein einwandfreier Mensch, wenn der zum Laden kommt, um Waren zu liefern und Wodka, fangen die Jungs zu betteln an: ‚Tolja, wir verdursten.‘ Er zieht eine Flasche raus, gibt sie ihnen, geht zur Kasse und bezahlt sie: ‚Eine Flasche hab ich genommen.‘“

    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Waleri und Ljubow Kosir, Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Walera spricht energisch und gestenreich. Er ist nüchtern, fast ungewöhnlich klar.

    „Mein Schwiegersohn, der war ein echter Kracher, hat auch den Tag der Lieferfahrer organisiert, 200 Hrywnja pro Nase hat er eingesammelt und selber 1000 draufgelegt, damit’s für alle reicht. Rund um die Uhr hat er geackert: Schweine angekauft, gekühlt, zerlegt, verkauft. Den ganzen Tag, von vier Uhr früh bis neun am Abend. 20 Schweine hat er gehalten. Sie sind nicht vom Land? Das ist schwere Arbeit, zu Silvester, zu Weihnachten – selber isst er nichts, aber die anderen versorgt er: ‚Ich mach das für die Kinder – sollen ihren Papa in guter Erinnerung behalten, dass sie nicht arbeiten mussten …‘ Wenn beim Töchterchen die Gangschaltung am Fahrrad kaputtging, da kauft er gleich am nächsten Tag eine neue. Und sein Telefon stand nicht still, ein Pfundskerl war das!“

    Waleri kann gar nicht aufhören, von seinem Schwiegersohn zu reden und zu reden. Ich habe den Eindruck, wenn er ihm ein Denkmal setzt, dann braucht er nicht über das Geschehene nachzudenken.

    „So ein schönes Paar, hoch angesehen auf dem Land wie in der Stadt. Alle nannten sie Oletschka, wirklich alle, nicht Olja und nicht Olga – das sagt doch was aus, oder? Vor einem halben Jahr hat Tolja gejammert, da war er beduselt: ‚Ich werde mal sterben, und du, schöne Olja, wirst mit nem anderen anbandeln.‘ Und sie so: ‚Nein, Tolja, sterben werden wir schön zusammen.‘ Und so ist es gekommen, in derselben Sekunde.

    Er wollte gar nicht hingehen, hatte keine Zeit. Musste mit seinem Vater nachts aufs Feld fahren, Wache schieben. Ich sag noch: ‚Geh halt nicht hin, musst ja noch fahren.‘ – ‚Ich trink ja nichts, will nur ein wenig mit den Jungs beisammen sitzen.‘ Sein Vater und ich sind zusammen groß geworden, haben als kleine Bengel unsere Schniedel verglichen. Ihr wisst ja, oft gibt es bei Schwiegereltern diese Streitereien, wessen Kind das Bessere ist oder wer spendabler ist. Wir haben alles zusammen gemacht, die Armee, dann wieder zurück, und so ist es gekommen, dass unsere Kinder geheiratet und uns Enkelchen geschenkt haben.“

    Mit seinem aufgeregten Bericht zeichnet Walera uns das Bild einer wunderbaren Familie, die jetzt nur mehr als Erinnerung existiert.

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf

    „Oletschka war am feinsten rausgeputzt, hatte sich die Haare gemacht. Bei uns gilt ja: Essen musst du nicht unbedingt, aber wenn du unter Leute gehst, musst du was hermachen. Nicht mal in der Stadt sind sie so angezogen wie bei uns auf dem Dorf, wenn Feiertag ist. Hrosa ist diese Art von Dorf, da wird man geboren, getauft, alle halten zusammen, klein aber fein, jeder Zaun ordentlich gestrichen. Erst die letzten zehn, fünfzehn Jahre gibt es Zuzug aus den anderen Oblasten, bis dahin war das Dorf wie fünf Finger an einer Hand. Drum sind auch alle zu der Beerdigung gekommen. Waren erst zehn Minuten drin, die meisten hatten noch nicht mal ein Gläschen, hatten grade mal das Vater Unser gebetet. Unser Kirchendiener sollte singen. Weißt du, hat Kassewitsch gesungen?“

    Waleras Frau Ljuba schaut ins Leere, schüttelt den Kopf.

    „27 Personen konnten sie noch erkennen, den Rest nicht mehr … Ich denk: Vielleicht eine Gedenktafel, ein gemeinsames Grab und ein Grabstein für alle? Na, wie sie halt wollen. Meine halben Kontakte kann ich aus dem Handy löschen, ins Jenseits gibt’s keine Verbindung. Ich wär ja auch dabei gewesen, aber ich musste zur Arbeit. Das ist schon das zweite Mal, dass mich das Schicksal rettet. Ich bin Wächter bei einer Tankerkolonne. Als unsere Gegend noch okkupiert war, habe ich mein Essen nicht mit zur Arbeit genommen, fuhr in der Mittagspause hierher, vier Kilometer. Hatte mir gerade Erbsensuppe genommen, da schlug dort eine HIMARS-Rakete ein. Dann der Anruf: ‚Von deinem Arbeitsplatz ist nichts mehr übrig.‘“

    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Hrosa, 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Es kommen noch mehr Journalisten. Walera wiederholt seine Geschichte: „Wir waren Freunde, und dann haben unsere Kinder geheiratet“, „Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre, hupen alle …“, „Bei meiner Tochter ging die Gangschaltung kaputt, da hat er gleich eine neue gekauft …“, „Sie waren gerade erst angekommen, noch beim ersten Glas …“ Ljuba sitzt schweigend neben ihm auf der Bank und starrt mit leerem Blick durch die Journalisten hindurch.

    „Oma und ich, wir ach egal … Wir wissen nicht, wohin mit uns, versteht ihr? Wenn es einen Ausweg gäbe …“ Walera reibt sich energisch die grauen Stoppel auf dem Kopf. „Ich weiß, es gibt keinen, ich muss da durch! Seht euch meine Hände an.“ Walera zeigt seine Handflächen her, auf einer hat er eine Narbe. „Ich hab zwanzig Jahre lang Gasflaschen geschleppt, hab in den Dörfern Flüssiggas ausgeliefert. Dann bin ich in Rente gegangen, dachte, die Kinder würden für mich da sein … Tja, wir haben keine Wahl, es geht nur noch um die Kleinen.“

    Ich merke, dass die drei Enkelkinder, die seine Obhut brauchen, für ihn eine wahre Rettung sind.

    ***

    Gegen Mittag werden die Journalisten und UNO-Mitarbeiter immer weniger, ein großer Jeep nach dem anderen rumpelt durchs Dorf Richtung Landstraße. Freiwillige verteilen von einer Ladefläche herab Hilfsgüter an die Betroffenen: Bretter, Spanplatten, Decken. Die Dorfbewohner kommen herbei und bilden eine wuselige Schlange. Viele Frauen tragen schwarze Kopftücher, drängeln, drücken, schnattern aber genauso wie alle anderen – es entsteht ein Gewusel, das nicht zur Situation passt. So eng zusammengedrängt sehen die Dorfleute hilflos und mitleiderregend aus. Wenn sie drangekommen sind und dann beim Weggehen wirken sie froh, in ihren Gummistiefeln, ein paar Gratisdecken in den Händen.  

    „Onkel Wassja! Ich hatte Sie im Geiste schon begraben …“

    „Großmutter sitzt zu Hause – drei Kinder tot, das vierte in Russland.“

    „Alinka ist jetzt auch ganz allein, vielleicht haben sie sie weggebracht. Ich wollte ihr Geld bringen, aber das Haus war zugesperrt.“

    „Ach, woher das Geld denn nehmen, und wem geben? In jedem Haus ein Toter.“

    „Halja Chodak konnte sich retten, zwischen zwei Kühlschränken. Als die Decke einbrach, war sie geschützt.“

    „Oxana kam zu sich und hatte was am Bein, am Kopf und am Kiefer. Kam zu sich und schrie immer nur ‚I! I! I ..!‘ Rief nach ihrem Igor, aber der ist tot.“

    Wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht

    „Ja, der lag da, wär er doch dort liegengeblieben, wozu ihn herbringen. Jemand hat darauf abgezielt. Die Polizei kam dann, hat die Handys kontrolliert, angeblich haben sie drei Personen mitgenommen. Vielleicht hatten die russische Nummern drauf oder was weiß ich …“

    „Die heutige Technik eben, Handykontrolle! Sie hatten sich gerade erst zu Tisch gesetzt … Als Erstes müssen die doch die kontrollieren, die nicht dort waren. Ich weiß nicht …“

    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media
    Friedhof in Hrosa. Ukrainische Flagge über Andrij Kosirs Grab. 6. Oktober 2023 / Foto © Alexej Arunjan für Cherta.media

    Eine Frau mit schwarzem Kopftuch lädt mit ihren beiden Kindern Platten und Bretter auf den Anhänger eines uralten Shiguli. Ich frage sie, wen sie verloren hat, sie nennt zwei Namen, die ich mir nicht gleich merken kann. Ich bitte Sie, mir von ihnen zu erzählen, biete an, ihr dafür beim Ausladen zu helfen. Sie stimmt zu. Ich hole meinen Rucksack, aber da sehe ich den Shiguli schon wegfahren, der Alte am Steuer wirft mir einen schiefen Blick zu. Als ich ihnen entschlossen hinterher will, sehe ich an der Kreuzung drei alte Frauen auf einer Bank sitzen.

    „Lasst die Fragerei“, sagt eine, „wir haben alle irgendwen verloren. Euch macht das neugierig, uns nicht.“

    Ich gehe durchs Dorf, schaue in die Höfe. Selbst lackierte Autos stehen vor jedem dritten Haus, hinter den Zäunen blicken mir düstere Minen entgegen. Ich muss an die Reporterin von vorhin denken, die auf ihre rhetorischen Fragen brauchbare Antworten erwartete. Geh doch verfickt nochmal einfach mal durch dieses Dorf, Schnalle.

    Es fängt an zu regnen, ich setze mich zu spanischen Journalisten ins Auto und fahre mit ihnen weg. Am Abend werden alle weg sein und das Dorf sich selbst überlassen bleiben, klein, grau und menschenleer.

    ***

    Zwei Tage später meldete der SBU, der Inlandsgeheimdienst der Ukraine, er habe zwei Verdächtige ausfindig gemacht. Angeblich waren es die Mamon-Brüder, zwei Polizisten aus Schewtschenkowe, die für die Besatzer gearbeitet hatten und nach Russland gegangen waren. Aus den veröffentlichten Chats geht hervor, dass der jüngere Bruder Dmitri, gebürtig aus Hrosa, mit den Dorfbewohnern Kontakt aufgenommen und seinem Bruder dann mitgeteilt hat, dass eine Beerdigung für einen Soldaten geplant war. Wladimir, der selbst nicht im Dorf wohnte, gab die Informationen dann an die Russen weiter. Und die freuten sich, eine Ansammlung von Soldaten plattzumachen.

    „Ich hab klargestellt, dass da Zivilisten sein werden, da werden sie wohl keine Geschenke hinschicken, obwohl wahrscheinlich viele aus der ukrainischen Armee kommen werden“, schrieb Wladimir seinem Bruder. Letzterer machte sich offenbar doch ein wenig Sorgen um seine alten Nachbarn aus dem Dorf. Trotzdem gaben sie Ort und Zeitpunkt der Trauerfeier preis, und den Russen waren die Zivilisten scheißegal, sie schickten sehr wohl ihre „Geschenke“. Ich finde, dieses kleine Wörtchen sagt alles darüber, wie der Krieg die Seelen der Menschen tötet. Alle Opfer waren Zivilisten.

    Weitere Themen

    Russland und die Ukraine

    „Das unbestrafte Böse wächst“

    Die Unsichtbaren

    Bilder vom Krieg #14

    Karrieren aus dem Nichts

    Archipel Krim

  • Die Unsichtbaren

    Die Unsichtbaren

    Demonstrationen sind nicht mehr möglich. Kritische Äußerungen werden mit jahrelanger Lagerhaft bestraft. Unabhängige Nachrichten sind immer schwerer zu bekommen. Selbst auf der Arbeit und im Freundeskreis müssen die Menschen Denunziationen fürchten. Von März 2022 bis Mai 2023 hat die Soziologin Anna Kuleschowa untersucht, wie sich das Leben von oppositionell eingestellten Russinnen und Russen im Laufe eines Kriegsjahres verändert hat. Dazu hat sie über hundert Personen verschiedenen Alters und aus unterschiedlichen Einkommensgruppen befragt. Allen gemeinsam ist die Angst: vor einem Sieg Russlands, vor immer härteren Repressionen, vor einer immer schlechteren Gesundheitsversorgung und davor, dass sie Verwandte und Freunde, die ins Ausland gegangen sind, lange Zeit nicht mehr wiedersehen. Das Portal Cherta hat mit Anna Kuleschowa über ihre Forschung gesprochen und veröffentlicht ein erstes Fazit – wobei die Soziologin Wert darauf legt, dass die Ergebnisse noch vorläufig sind und nicht einfach auf das ganze Land übertragen werden können.

    „Die Menschen leben auf dem gleichen Territorium und haben ungefähr die gleichen Ansichten. Haben jedoch alle vor etwas anderem Angst: Die einen fürchten einen Sieg Russlands; sie meinen, wenn der Krieg auf diese Weise endet, dann wird das derzeitige Regime im Land nur stärker werden. Für sie bedeutet es, dass Perspektiven fehlen, dass ihnen und ihren Kindern das Leben geraubt würde. Sie fühlen sich in diesem System nicht zuhause“. So beschreibt die Soziologin Anna Kuleschowa die Stimmung bei oppositionell eingestellten Russen.

    Es gibt bei denen, die den Krieg nicht unterstützen, aber auch die entgegengesetzte Angst, dass nämlich Russland den Krieg verliert. Diese Menschen sind überzeugt, dass das Regime trotzdem überleben, dann aber nach Schuldigen suchen wird. „Sie haben Angst, dass man sie zu Volksfeinden erklärt. Dass das Regime die Verantwortung für die Niederlage von denen, die die Entscheidungen getroffen haben, auf alle anderen abwälzt, und dass es dann Säuberungen geben wird und eine Neuauflage der Stalin-Zeit“ sagt die Soziologin.

    Optimistische Prognosen für die kommenden fünf bis zehn Jahre waren von den Befragten nicht zu hören.

    Für viele war wichtig, dass man ihnen zuhört. „Bei den Menschen, die sich zu einem Interview bereit erklärten, brachen die Emotionen hervor. Sie erzählten von all ihrem Schmerz; schließlich ist es gewöhnlich so, als existierten sie nicht: Sie sind für ihre Umgebung unsichtbar, weil sie ihre Ansichten verstecken müssen. In der ganzen Welt, so scheint es, gelten alle, die geblieben sind, als Unterstützer des Regimes“, sagt Kuleschowa. Eines der wichtigsten Themen, über die die Respondenten sprachen, war die Angst.

    Einige Respondenten haben Angst vor einem Atomkrieg. Menschen, bei denen Angehörige in den grenznahen Gebieten leben, fürchten, dass der Krieg ihre Verwandten direkt treffen wird. Kuleschowa unterstreicht, dass 2023 eine neue Angst dazugekommen sei: Viele der Befragten haben Angst vor zurückgekehrten Militärangehörigen.

    „Es gibt die Angst, dass kampferprobte Männer mit einem Schaden in die Stadt kommen und hier ihre eigene Ordnung errichten.“

    Die Respondenten berichteten von Ängsten vor den sich verändernden patriarchalen und maskulinen Normen. Solche Befürchtungen seien keine unmittelbare Folge des Krieges, sondern ein Nebeneffekt, meint Kuleschowa. Der Soziologin zufolge haben die Leute Angst, dass die Propaganda von „echtem“ maskulinen Verhalten und Brutalität, mit der neue Kämpfer mobilisiert werden sollen, früher oder später zu einem Anstieg von Gewalt im Alltag und einer schlechteren Lage der Frauen führt. 

    Die Befragten sprachen oft von Repressionen, davon, dass es keine faire Rechtsprechung gibt, von Gewalt durch Sicherheitskräfte, die sie erleben.
    Viele Gesprächspartner Kuleschowas sagen, dass sie durch die massenhafte Unterstützung für den Krieg alarmiert sind. Hinzu kommt angesichts der vorgeblich allgemeinen Unterstützung für radikale Entscheidungen eine generelle Angst um das Überleben des Landes.

    „In den ersten Tagen [des Krieges] war ich überzeugt, dass ich in meiner Umgebung niemanden treffen würde, der den Krieg unterstützt. Als sich herausstellte, dass es sie dennoch gab, empfand ich neben dem schrecklichen Schock zusätzlich Abscheu, eine Art Ekel.

    Ich denke nicht, dass Unterstützer [des Krieges] schlechter sind als ich. Es ist nicht so, dass ich sie nicht mehr für Menschen halte, oder dass sie nicht mehr meine Freunde sind. Aber mir wird übel. Nicht ihretwegen, sondern durch die Situation und durch ihre Haltung dazu.“

    Andere hätten Angst vor einem Zusammenbruch des Gesundheitswesens, vor einem Mangel an Einweginstrumenten im Krankenhaus und Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten, sagt Kuleschowa. Das betreffe vor allem Menschen, die lebenslang Medikamente einnehmen müssen, meint sie. „Für Medikamente, die früher nicht besonders teuer waren, muss man jetzt viel mehr bezahlen. Die Menschen müssen überlegen: ‚[…] wie kann ich behandelt werden, und wie Medikamente bekommen, Falls, Gott bewahre …‘“, berichtet die Soziologin.

    Eine andere wichtige Angst betrifft die fehlenden Möglichkeiten, sich mit engen Angehörigen zu treffen, die Russland verlassen haben. Vor einem Jahr schien es, dass wir „uns in einem Jahr sicher wiedersehen“. Jetzt ist klar, dass das „vielleicht auch nicht“ eintreten könnte, meinen Respondenten.

    Es gibt eine weitere Angst, die sich nicht direkt auf den Krieg bezieht, sondern auf dessen Folgen, nämlich eine mangelnde Sicherheit des öffentlichen Nahverkehrs. „Sie haben Angst vor Verkehrskatastrophen in der Folge der Sanktionen, dass etwa die U-Bahnwagen nicht mehr intakt sind. Sie wissen nicht, ob es jetzt noch sicher ist, mit dem Flugzeug zu fliegen, und ob die billigen chinesischen Autos sicher sind, die jetzt auf den Straßen fahren“, sagt Kuleschowa.

    Oft wird eine große Sorge um die Zukunft der Kinder geäußert: Ob es sinnvoll ist, dass sie in Russland ihre Bildung erhalten, wie ihre Zukunft aussehen wird, welche Perspektiven sie haben, und ob sie ohne ernste psychische Folgen und Konflikte die Schule abschließen können.
    Auch der „Anstieg der Intoleranz gegenüber Leuten, die in die Ecke gedrängt wurden, was sich zu einem echten Bürgerkrieg entwickeln kann“, macht Angst.

    Sich wegducken, um schwierige Zeiten überstehen

    Die Befragten schätzen den Anteil der Kriegsbefürworter in ihrem Umfeld auf 20 bis 30 Prozent. Viele sagen aber, dass sie nicht einmal annäherungsweise eine Zahl nennen können, da sie versuchen, mit Bekannten keine Gespräche dieser Art anzufangen. Schließlich weiß man ja nicht, was dabei herauskommt oder wer einen dann denunziert. Die Soziologin meint, dass die Menschen jetzt Angst vor Provokationen haben: „Es wurde erzählt, dass im Umkleideraum eines Fitness-Studios blaue Spinde standen. Und am 23. Februar lagen in ihnen dann gelbe Schuhanzieher. Die Leute waren verwirrt: „Wie sollte man darauf reagieren? Ist das eine Art Test?“

    Eine Befragte erzählte, wie sie in einem Geschäft war und von einer Verkäuferin über ihre Haltung zum Krieg ausgefragt wurde. „Wenn du schweigst, werdet ihr [Kriegsgegner] noch weniger“, sagte die Frau. „Aber du weißt nicht, wo das hinführt, du kannst kein Vertrauen haben“. „Der Raum für Vertrauen war für Russen nie groß. Fremden zu vertrauen ist eher atypisch für die Menschen in Russland. Jetzt aber ist dieser Kreis des Vertrauens vollkommen kollabiert“, sagt Kuleschowa.

    Viele Respondenten haben Angst, denunziert zu werden, wobei in Russland heute völlig unklar ist, von welcher Seite die Gefahr droht, meint die Soziologin. „Es sind nicht die Zeiten Stalins, als die Denunziationen nicht selten von Bekannten geschrieben wurden, die ein Motiv hatten; etwa weil jemand einen Posten oder mehr Wohnraum in der Kommunalka ergattern wollte. Jetzt ist es eher so, dass irgendwelche Leute andere denunzieren, die sie persönlich gar nicht kennen.“

    Das Problem der ausgewanderten Angehörigen wird ebenfalls als potenzielle Bedrohung gesehen. Unter denen, die ihre Männer oder Söhne ins Ausland geschickt haben, um sie vor der Mobilmachung zu bewahren, sind viele, die das in Gesprächen mit Fremden verheimlichen. Wenn die Frage nach der Haltung zum Krieg aufkommt, hüten sich die Leute davor, als erste zu antworten. Es ist sicherer, zuerst die Position des anderen zu hören. „Die Menschen beginnen ein Gespräch behutsam und versuchen zu verstehen: ‚Sind wir noch auf der gleichen Seite?‘ Wenn nicht, sollte man innehalten und über dieses Thema nicht mehr sprechen“, erklärt Kuleschowa.

    Die Russen, die von der Soziologin befragt wurden, reden nicht mehr über Politik, wenn sie ihre Gesprächspartner nicht gut genug kennen. „Smalltalk am Arbeitsplatz über die neuesten Nachrichten gibt es praktisch nicht mehr. Beim Plausch mit Nachbarn wird das Thema lieber beschwiegen. Man ist auf der Hut, nicht in Hörweite des Hausmeisters darüber zu reden. An U-Bahn-Eingängen, wo Polizisten auftauchen können, unterbricht man lieber das Gespräch und geht weiter, damit man sich keine Probleme einhandelt“, ergänzt sie. 

    „Dieses Schweigen ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt“, sagt Kuleschowa. „Die Strategie sich wegzuducken, um schwierige Zeiten zu überstehen, war für viele annehmbar, solange es nur um ein Jahr ging. Solange die Leute den 281. Tag zählten, den 282. Tag … Wenn die Zählung aber nicht mehr in Tagen erfolgt, sondern in Jahren, wie lange kannst du dann schweigend dasitzen? Wie wirst du damit leben?“

    In den Städten mit Systemen zur Gesichtserkennung versuchen Andersdenkende – den Umfragen von Kuleschowa zufolge – sich neue „Sicherheitstechniken“ anzueignen, also Methoden, um die Beobachtungskameras zu überlisten, etwa mit Hilfe von Brillenrahmen, Masken, und Augen, die auf Mützen oder Hüte gemalt werden. Populär sind neue Vorsichtsmaßnahmen beim Umgang mit Technik: Menschen, die wissen, dass ihre Gespräche abgehört werden können, legen ihr Telefon und ihre Box mit der Sprachsteuerung ins Nachbarzimmer. Andere nehmen während des Gesprächs den Akku heraus oder legen das Handy ins Gefrierfach, um angstfrei sprechen zu können. „Eine Befragte, mit der wir sprachen, hatte meinen Telegram-Kanal abonniert. Sie fragte: ‚Haben Sie denn nicht bemerkt, dass Sie oft einen neuen Abonnenten bekommen, der dann wieder verschwindet? Das bin ich; jedes Mal, wenn ich auf dem Weg zur Arbeit in der Universität durch die Kontrolle gehe und Angst habe, dass sie mich filzen. Für alle Fälle lösche ich alle Kanäle, und melde mich dann wieder an.‘“, berichtet Kuleschowa.

    Seine Leute finden

    Für kriegskritische Ansichten, die man in persönlichen Gesprächen, öffentlich oder in sozialen Netzwerken äußert, kann man ins Gefängnis wandern. Daher suchen die Menschen nach anderen Wegen, um Gleichgesinnte zu finden. Zu Beginn des Krieges dienten als „Hinweis“, dass jemand gegen den Krieg ist, oft die Farben der ukrainischen Flagge an der Kleidung, als Bändchen am Handgelenk oder in den Haaren. Jetzt sei das viel zu gefährlich, sind die Befragten überzeugt.

    Auf der Straße ist niemand mehr mit einer Einkaufstasche zu sehen, auf der „Nein zum Krieg!“ oder andere offene Antikriegs-Parolen stehen. Es werden aber andere, bislang noch nicht verbotene Symbole verwendet: „Einige tragen Buttons mit Antikriegs-Parolen, die aber sehr unauffällig sind, damit sie nicht so leicht zu erkennen sind. Einige gehen zu einer doppeldeutigen Sprache über, damit Aussagen nicht direkt ‚gelesen‘ werden können. Andere verwenden Bilder von Friedenstauben oder Zitate von Orwell oder Remarque. Andere wiederum versuchen, anhand des Kleidungsstils oder am Gesicht auszumachen, welche Ansichten ihr Gegenüber hat. Das ist jedoch riskant, man kann da vollkommen falschliegen.“

    „Ich war einige Male bei Führungen von Memorial zum Projekt Die letzte Adresse. Es war keine Überraschung, dass da niemand für den Krieg war. Dort konnte man frei reden.“

    Ein weiterer, relativ sicherer Weg, seine Haltung zum Geschehen zu äußern, sind Veranstaltungen, auf denen man Gleichgesinnte treffen könnte. Manchmal kommen Leute zu Kulturveranstaltungen, weil ihnen die Haltung der Organisatoren oder der Künstler wichtig ist, sagt Kuleschowa: „Zu einem Konzert von Polina Osetinskaya kommen Menschen nicht nur, weil sie eine bemerkenswerte Pianistin ist, sondern auch, weil sie, so die Befragten, gegen den Krieg auftritt. Also könnte man da am ehesten ‚seine Leute‘ treffen. Nach dem gleichen Prinzip besuchen die verbliebenen Kriegskritiker Underground-Ausstellungen von moderner und Antikriegskunst.“

    Wie wird der Krieg mit Angehörigen diskutiert?

    Unter Kuleschowas Gesprächspartnern gab es auch welche, die die politischen Ansichten selbst ihrer nächsten Verwandten nicht kennen (besser gesagt: Sie haben   Angst, sie zu erfahren). „Die Menschen fürchten, ihre Angehörigen könnten ‚mutieren‘, auf ‚die Seite des Bösen‘ überlaufen, wie sie es nennen. Einige hören auf, sich mit ihrem Umfeld wirklich zu unterhalten, und zwar aus Selbstzensur, weil es in ihrer Wahrnehmung immer weniger Gleichgesinnte gibt“, erklärt die Soziologin.

    „Ich weiß das nicht bei allen Freunden und Bekannten. Manchmal erfahre ich es indirekt, über gemeinsame Bekannte. Da ruft beispielsweise eine Freundin meiner Mutter an, eine Ukrainerin, und erzählt mir empört über eine andere Freundin meiner Mutter, eine Moldauerin: ‚Stell dir vor, sie meint, Russland hat nicht recht‘, ‚Stell‘ dir vor‘, antworte ich, ‚das meine ich auch.‘ So erhalte ich politische Informationen.“

    Vor einem Jahr seien unterschiedliche Einstellungen zum Krieg eher ein Grund für eine Spaltung gewesen, meint Kuleschowa. Jetzt versuche man eher, sich damit einzurichten: „Die Menschen haben schon nicht mehr die Illusion, dass man alles abreißen, abbrechen könne, und dabei einen richtigen Schritt macht. ‚Und dann bricht das zweite Kapitel der Beziehung an, wenn der andere auf Knien angekrochen kommt, weil er erkannt hat, dass er nicht recht hatte‘. Die Leute verstehen jetzt, dass man mit denen, mit denen man in einem Boot sitzt, irgendwie bis zum Ende rudern muss und Konflikte und Streitereien sinnlos sind. Vor einem halben Jahr gab es noch Hoffnungen, dass man jemanden umstimmen könnte, jetzt ist klar: Das funktioniert nicht.“

    Der Soziologin zufolge gibt es nur sehr wenige, die früher den Krieg unterstützten und das jetzt nicht mehr tun. Eher passiere das Gegenteil: Jemand in der Familie beginnt der Propaganda zu glauben. „Heute rettet eine Frau ihren Mann vor der Mobilmachung und bleibt selbst mit den Kindern in Russland. Dann kommt er trotz der Gefahr für seine Sicherheit zurück, weil er die Kinder sehen will, aber seine Frau hat den Kindern schon weisgemacht, dass ihr Vater ein Feind ist, alle verlassen hat und abgehauen ist. Die Kinder sind umprogrammiert und denken genauso.“ Jugendliche wiederum, deren Eltern Z-Patrioten sind, können ihre Haltung gegen den Krieg nicht äußern, weil sie schlichtweg finanziell abhängig sind. Sie können nirgendwo hin, nicht woanders leben.

    „Mir scheint, dass man von hier fliehen muss, doch der Rest der Familie sieht keinen Grund für diese Panik.“

    „Es gab unter den Befragten eine Frau, deren Mann ausgewandert ist. Aber ihr Liebhaber, von dem ihr jüngstes Kind stammt, wollte bleiben“, erzählt Kuleschowa. Der Ehemann hat gesagt: ‚Zum Teufel, ich nehm‘ dich zusammen mit dem Liebhaber auf. Kommt zusammen her [ins Ausland], wenn es für dich anders nicht geht.‘ Sie entschied aber mit ihrem Liebhaber, dass sie ‚die eigenen Leute nicht im Stich lassen‘ dürfe, und blieb in Russland. Letztendlich musste das Paar die Kinder aufteilen. In jeder Familie kann sich alles Mögliche ergeben, und selbst nach zwanzig Ehejahren gibt es Überraschungen. Während der Interviews habe ich gemerkt, was für ein großes Glück es für eine Familie sein kann, wenn alle zugleich verrückt werden.“

    Weitere Themen

    Goliath hat gewonnen. Ein Tagebuch von Xenia Lutschenko

    Wie Nowy Burez lebt – und stirbt

    Wie man mit Z-Patrioten spricht

  • Wie man mit Z-Patrioten spricht

    Wie man mit Z-Patrioten spricht

    Die USA hätten Russland einen Verteidigungskrieg aufgezwungen, Putin gehe gegen eine globale Verschwörung der Eliten vor, die NATO betreibe in der Ukraine geheime Labore zur Herstellung von Biowaffen … Nicht nur in Russland, auch im Westen können solche Erzählungen in Teilen der Gesellschaft verfangen

    Will man sie mit Fakten vom Gegenteil überzeugen, wird man nicht selten selbst zum Teil der Verschwörung und Gehilfen der „Lügenmedien“ abgestempelt. Redet man nicht miteinander, riskiert man weitere Polarisierung.

    Die Redaktion von Cherta versucht, dieses Dilemma aufzulösen und greift auf eine alte britische Rechtspraxis zurück.

    Bei Begegnungen mit Menschen, die den Krieg unterstützen und die Thesen der russischen Propaganda reproduzieren, finden wir oft keine Basis für ein konstruktives Gespräch. Bei aller Überzeugung, es besser zu wissen, stehen wir diesen Thesen, die Fakten und Realität absichtlich verzerren, doch hilflos gegenüber. Aber was, wenn wir mal das Weltbild unseres Gegenübers annehmen und auf Grundlage seiner Realität mit ihm diskutieren?

    Realitäten

    1843 fügte der Glasgower Unternehmer Daniel M'Naghten in London Edward Drummond, dem Privatsekretär von Premierminister Robert Peel, eine tödliche Verletzung zu. 

    Vor Gericht stellte sich dann heraus, dass M'Naghten unter Verfolgungswahn litt. Er glaubte, die Regierung und der Premierminister persönlich wollten ihm auf jede erdenkliche Weise schaden und hätten es auf seine Geschäfte und sein Leben abgesehen. Um sich und sein Unternehmen zu schützen, hatte M'Naghten seinen Feind töten wollen und auf Edward Drummond geschossen, im Glauben, es handle sich um Robert Peel.   

    Das Gericht sprach M'Naghten frei, was in der britischen Gesellschaft für Empörung sorgte. Königin Victoria schrieb zornige Briefe, und das House of Lords machte sogar von dem Recht Gebrauch, eine Erklärung der Richter einzufordern (ein als formal geltendes Recht, das kaum je in Anspruch genommen wurde), ob ein unzurechnungsfähiger Mensch für seine Taten verantwortlich gemacht werden könne und nach welchen Kriterien das Gericht diese Verantwortung beurteilen wolle.

    So entstand ein Dokument, das im Weiteren „M'Naghten rules“ genannt wurde und nicht nur die Theorie und Praxis des Rechtswesens, sondern auch die Entwicklungen in Psychologie und Soziologie maßgeblich beeinflusste.      

    Die Schlüsselfrage der Adeligen an die Richter lautete: „Wenn ein Mensch, dessen Wahrnehmung durch einen krankhaften Wahn beeinträchtigt ist, ein Verbrechen mit schweren Folgen begeht, ist er dann von seiner juristischen Verantwortung befreit?“ Darauf antworteten die Richter: „Wir müssen die Schuld so beurteilen, als wären die der krankhaften Verwirrung geschuldeten Annahmen tatsächlich real.“ Über solche Menschen sei also nicht anhand der realen Fakten zu urteilen, sondern anhand der „Fakten“ ihrer krankhaften Vorstellung. 

    Wenn M'Naghten in seinem Verfolgungswahn glaubte, der Premierminister wolle ihn vernichten und er habe keine andere Möglichkeit sich zu wehren, als ihn zu ermorden – dann kann man das als Notwehr betrachten. Auch wenn Robert Peel nichts dergleichen gemacht und nicht mal von M'Naghtens Existenz gewusst hat. 

    Hätte M'Naghten jedoch Drummond in der Annahme ermordet, dieser schlafe mit seiner, M'Naghtens, Frau, dann hätte man ihn verurteilen müssen, weil es für einen solchen Mord nicht einmal in der imaginierten Realität des Wahns eine juristische Legitimität gebe.

    Raus aus der Komfortzone 

    Wenn wir jetzt mit Z-Patrioten oder einfach mit Menschen, die das Weltbild der russischen Propaganda übernommen haben, diskutieren und in eine Sackgasse geraten, dann liegt das an diesen Diskrepanzen in der grundsätzlichen Beziehung zur Realität. Sie sagen: „Die Ukraine wollte Russland angreifen“, wir antworten: „Wollte sie nicht.“ Damit ist das Gespräch zu Ende oder besteht nur mehr darin, sich gegenseitig sinnlose Versatzstücke um die Ohren zu schlagen. Sinnlos deswegen, weil wir nicht in derselben Realität leben: In der Realität unseres Gegenübers gibt es einfach keine Fakten, die widerlegen, dass die Ukraine Russland angreifen wollte oder dass die USA böse Absichten verfolgen.

    Genauso bestand M'Naghtens Weltbild ausschließlich aus Beweisen dafür, dass der Premierminister sein Leben und sein Unternehmen zerstören wollte.

    Was aber, wenn man nun in Gesprächen mit der gegnerischen Seite die M'Naghten rules befolgen würde? Wenn man also die Rechtmäßigkeit, Angemessenheit und Notwendigkeit des Kriegs auf Grundlage jenes Weltbildes beurteilt, das unser Opponent vertritt?

    Wozu man in Gesprächen mit Opponenten die M’Naghten rules beachten sollte

    Wozu sollte man das tun? Erstens sind wir überzeugt, dass es für die, die diesen umfassenden Angriffskrieg entfesselt haben, in keinem Weltbild eine Rechtfertigung gibt und nicht geben kann. Auch nicht in einem völlig verqueren. Das heißt, am Ende dieses Gesprächs wird unser Opponent entweder völlig aus der Bahn geworfen oder gezwungen sein, sich seine offen menschenfeindliche Logik einzugestehen. Beide Fälle drängen ihn aus seiner Komfortzone heraus. 

    Was uns zum zweiten Grund führt: Spätestens seit Grigori Judin und andere kluge Köpfe uns das klar und deutlich erklärt haben, wissen wir, warum eine große Mehrheit das Weltbild der Propaganda so bereitwillig annimmt. Weil ihnen das nämlich hilft, an ihrem inneren Komfort festzuhalten. Für die Menschen ist es bequem und wohltuend, das Gefühl zu haben, dass das Land, in dem sie leben und arbeiten, die Regierung, der sie sich fügen, immer richtig und gerecht handelt. Äußerst unbequem und unangenehm wäre hingegen die Einsicht, dass das eigene Land ein Aggressor ist, der einen blutigen Krieg ohne Aussicht auf ein Ende angezettelt hat.    

    Versucht man, jemandem mit diesen Grundeinstellungen direkt vor den Kopf zu stoßen, so ruft das nichts als Abwehr hervor. Geht man jedoch nach der Logik der M'Naghten rules vor, ist es durchaus möglich, jemanden aus der Komfortzone herauszuholen und dafür zu sorgen, dass die gewohnten Abwehrmechanismen nicht mehr das schöne Gefühl erzeugen, alles laufe perfekt und geschehe im Dienste des Guten.

    M'Naghten rules im Praxistest 

    Im Sinne der M'Naghten rules versetzen wir uns nun also in das Weltbild unseres Gesprächspartners hinein. Wir verzichten darauf, die Ausgangsposition zu bestreiten: Der Westen verfolgt unter Führung der USA das Ziel, Russland zu vernichten, und zwar mithilfe der Ukraine, die mit Sicherheit unser Land angegriffen hätte.

    „Der Krieg war unvermeidlich. Die Ukraine hätte Russland angegriffen. Wir lassen unsere Leute nicht im Stich.“

    Zu der Logik der Unvermeidlichkeit des Kriegs angesichts des ukrainischen Angriffs kann man Folgendes fragen:

    Wo hätte die Ukraine angegriffen? Es ist völlig klar, dass sie nicht unmittelbar in russisches Territorium einmarschiert wäre. Russland ist eine einflussreiche, gefürchtete Atommacht. Gefürchtet sowohl von der Ukraine als auch von ihren westlichen Herrschern. Sogar jetzt noch, nach eineinhalb Jahren Krieg, lassen sie lieber die Finger von russischem Territorium: ein paar wenige Diversionsgruppen und verirrte Geschosse – mehr nicht. Dabei hätten sie die Krim angreifen können! Da aber unsere Truppen, die von der Krim her anrückten, gleich in den ersten Tagen [des Krieges] ein riesiges Gebiet rund um die Halbinsel einnahmen, fasste die Ukraine nie einen Angriff auf die Krim ins Auge: Sie hatte dort kaum Truppen oder Verteidigungssysteme. 

    Die Ukraine hatte es also offenbar auf Luhansk und Donezk abgesehen, wir aber lassen unsere Leute nicht im Stich.

    Aber Russland hätte doch den Schlag gegen diese Republiken abwehren können, wenn es einfach seine Truppen auf deren Gebiet stationiert hätte. Dafür hätte es ja auch nicht diesen großen Angriffskrieg gebraucht, all diese Todesopfer und Zerstörungen. 

    „Die ukrainische Regierung ist doch so unversöhnlich und hasserfüllt, dass sie trotzdem angegriffen hätte, trotz russischer Truppen.“

    Russland würde dann viel besser dastehen als jetzt. Ist es denn nicht viel besser, einen Verteidigungskrieg zu führen als einen Angriffskrieg? Die Ukraine hat nicht einmal jetzt, nach mehreren Wellen der allgemeinen Mobilisierung, ausgebildet, kampferprobt und mit westlichem Kriegsgerät bewaffnet bis an die Zähne, eine Chance gegen die befestigten Abwehranlagen der Russen. Im Februar 2022 hätte sie einfach innerhalb weniger Wochen ihre ganze Armee dort verpulvert.

    Und ist es etwa nicht günstiger, vor aller Welt nicht als Aggressor dazustehen, der auf fremdes Territorium einmarschiert ist, um Tod und Zerstörung zu bringen, sondern als Beschützer?

    Wir lassen unsere Leute nicht im Stich! Aber eigentlich haben wir durch den Krieg doch die mobilisierten Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk erst recht in den Kampf gegen die befestigten Stellungen der ukrainischen Armee geschickt. In den vergangenen eineinhalb Jahren Krieg sind in diesem Gebiet um ein Vielfaches mehr Menschen ums Leben gekommen als zuvor in acht Jahren Widerstand gegen die Ukraine. 

    „Wir mussten den USA und der NATO einen Riegel vorschieben, die bis an unsere Grenzen vorrückten und uns unmittelbar bedrohten.“

    Natürlich mussten wir das. Aber hat der Krieg dieses Problem etwa gelöst? Ganz im Gegenteil. Finnland und Schweden sahen sich durch den Krieg dazu veranlasst, der NATO beizutreten, und damit sind es von Sankt Petersburg bis zu möglichen Stützpunkten der Allianz nur mehr höchstens 200 Kilometer. Von „Anflugszeiten“ braucht man jetzt gar nicht mehr anzufangen. Noch wurde die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen, aber sie wird bereits mit deren Waffen ausgerüstet, und dieser Prozess ist nicht mehr aufzuhalten. 

    Und was die USA betrifft, die sind mittlerweile eigentlich die größten Nutznießer der russischen Aggression gegen die Ukraine. Noch dazu vor allem der unsympathischste und unverschämteste Teil der Eliten dieses Landes: Die Rüstungsindustrie und die Erdölkonzerne. Die amerikanischen Waffenproduzenten hätten am 24. Februar ein rauschendes Bankett zu Putins Ehren geben müssen – er hat ihnen für viele Jahre im Voraus Milliardeneinkünfte gesichert. Und die Erdölkonzerne haben kurz vor dem Krieg alle Aktiva im Bereich der Schiefergasförderung aufgekauft und unfassbare Gewinne eingefahren, als wegen des Kriegs die Gaspreise durch die Decke gingen. Vielleicht haben sie ja auch wirklich die Ukraine gegen Russland scharfgemacht, aber nie hätten sie so profitiert, wenn Russland nicht selbst diesen vollumfänglichen Krieg begonnen hätte.

    Wie es aussieht, gab es für die militärische Spezialoperation keine Grundlage. Der Krieg war nicht nur nicht unvermeidlich, sondern sogar der schlechteste Ausweg aus der Situation. Weder hat dieser Krieg die USA geschwächt, noch hat er die Bewohner der Volksrepubliken Luhansk und Donezk geschützt, noch Russland vor der NATO bewahrt. Dafür hat er zehntausenden Menschen das Leben gekostet und viele Millionen in die Flucht geschlagen. Und je länger er dauert, desto schlimmer werden die Folgen für Russland.

    „Jetzt, wo der Krieg nun mal begonnen und am Laufen ist, müssen wir unserem Land einzig den Sieg wünschen.“

    Stimmt. Aber was genau verstehen wir unter Sieg? In diesen eineinhalb Jahren hat uns keiner gesagt, was das Ziel dieses Kriegs ist und worin der Sieg bestehen soll. Ständig ertönt das Wort Sieg, ohne dass wir uns Gedanken über die Bedeutung dieses Wortes machen. In Wirklichkeit haben wir keine Ahnung und können nicht beschreiben, was der Sieg ist. Keiner kann das. Weil dieser Krieg keinen Sinn hat und es nicht um Russlands Interessen geht. Nur um Tod und Zerstörung.

    Diese Übersetzung wurde gefördert durch: 

    Weitere Themen

    Leitfäden der Propaganda

    „Ihr seid keinen Deut besser“ – Whataboutism in der Kreml-Rhetorik

    Fake-Satire als Propaganda

    Recht auf Zerstörung

    FAQ #9: Propaganda in Russland – wie und warum funktioniert sie?

    „Ich bin nicht für den Krieg, aber …“