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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Knast mit Kaviar – wie geht das?

    Knast mit Kaviar – wie geht das?

    Sona, Zone, das ist ein russisches Synonym für Gefängnis, Lager. Der Jargon-Begriff geht zurück bis in die Zeit der Stalinschen Gulags, er beinhaltet die Abgeschlossenheit dieser Gefängniswelt, die eine Welt für sich ist, abgekoppelt vom restlichen Leben der Gesellschaft und mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Rund jeder vierte Mann aus Russland hatte oder hat derzeit Gefängniserfahrung.
    Kaum jemand außerhalb der Sona kennt diese Welt so gut wie Olga Romanowa. Die ehemalige, renommierte Journalistin ist Leiterin der Gefangenen-Hilfsorganisation Rus Sidjaschtschaja. Die Organisation unterstützt auch den Regisseur Kirill Serebrennikow. Als sie 2017 befürchtete, selbst unter falschen Vorwänden belangt zu werden, so erzählt sie in einem Interview mit Zeit-Online, verließ sie Russland und ging nach Berlin. Derzeit hält sie sich in Russland auf. Dort wird am 25. Januar ein Prozess wegen „Verleumdung“ gegen sie fortgesetzt: Romanowa weist die Anschuldigungen als fingiert zurück.

    Auf Carnegie.ru schreibt sie über die besonderen Gesetzmäßgkeiten in der Sona

    Wer ist wohl auf die Idee gekommen, dass ein Mensch, der in Schmutz, Kälte, Hunger und Erniedrigung versinkt, zu einem verantwortungsvollen Bürger und einer ausgeglichenen Persönlichkeit wird? Der populäre Spruch „das Gefängnis ist kein Sanatorium“ indes legt genau das nahe.
    Man reißt einen Durchschnittsbürger (der sich vielleicht einen Fehltritt geleistet, eine Straftat begangen hat, vielleicht aber auch unschuldig ist – bei dem aktuellen Zustand des russischen Gerichtssystems ist alles denkbar) aus den Durchschnittsbedingungen des russischen Lebens und Alltags heraus und steckt ihn in die Hölle. Einen Ort, an dem er nie für sich sein kann, an dem nie das Licht ausgeht, an dem es keinen Kontakt zu seinen Angehörigen gibt, an dem man ihn permanent erniedrigt und er schnell versteht, dass er keine Zukunft mehr hat.

    Man reißt einen Durchschnittsbürger aus dem Alltag und steckt ihn in die Hölle

    Dabei sehen die strafrechtlichen Maßnahmen im Prinzip die Einschränkung von nur einigen Rechten und Freiheiten des Bürgers vor, zum Beispiel dem Recht zu wählen und gewählt zu werden. Das Recht auf Leben, Arbeit, Erholung und sogar auf freie Meinungsäußerung ist ihm durch niemanden genommen. Aber nur in der Theorie. In der Praxis gerät er in eine höchst geschlossene Gesellschaft, in der man ihn seiner Individualität beraubt und ihm maximal eine Funktion zuweist: als Aktivist, Blatnoi, Gefallener. Oder als Milchkuh – ein Objekt, das man melken kann, eine zuverlässige Quelle der Schattenfinanzierung.
    Alle versuchen, unter den Bedingungen der hausgemachten Hölle zu überleben, die erschaffen wird, damit du dich wie ein Wurm fühlst. Jeder kann dich zerquetschen. Oder dich den Fischen zum Fraß vorwerfen. Oder mit dem Spatenende zweiteilen und beobachten, wie du dich windest.
    Aber man kann sich auch einigen. Auf erträgliche und besondere Haftbedingungen, auf VIP-Behandlung und überhaupt auf alles. Natürlich spielt Geld dabei eine wichtige Rolle, aber bei weitem nicht die wichtigste. 

    Die wichtigste Rolle spielen die Beziehungen zur organisierten Kriminalität, zur Wirtschaft und in die Politik.

    Die kriminelle Welt

    Zunächst einmal: Wer kann sich überhaupt einigen? Einigen können sich nur ernstzunehmende Leute über ernsthafte Dinge. Ein hochrangiger Dieb kann sich mit Hilfe von Mittelsmännern von draußen mit dem Leiter der Strafkolonie über fast alles einig werden.
    Er kann sich in einem stillen Winkel der Kolonie eine freistehende Datscha mit Garten bauen und dort leben, samt Gärtner, Koch und Bediensteten, die er aus den Mitgefangenen rekrutiert (das habe ich mit eigenen Augen gesehen in der Besserungskolonie (IK) in Talizy, Gebiet Iwanowo). Er kann sich einen Krankenausweis ausstellen lassen und in einer Sanitätsstelle eine Kur machen (so wird es in den meisten Gefangenenlagern praktiziert). Er kann sich in einem Zimmer für Langzeitbesuche einquartieren und seine Hetären empfangen (auch das ist bei Weitem kein Einzelfall).
    Im Laufe der Verhandlungen (bei schwieriger Verhandlungslage) demonstrieren sich die hochrangigen Parteien gegenseitig ihre Möglichkeiten: Zum Beispiel kann der Kolonieleiter beschließen, seinen Kontrahenten in die Einheit mit verschärften Haftbedingungen stecken (SUS, ein Gefängnis im Gefängnis); doch da geht das SUS plötzlich in Flammen auf. Für einen Sonderstatus braucht es nämlich andere schwerwiegende Argumente – Geld allein genügt nicht. Der Leiter demonstriert also, auf welche Art und Weise er einer Autorität das Leben vermiesen kann (ihn ins SUS stecken), die Autorität demonstriert ihrerseits, wie sie damit umgeht (Brand im SUS).

    Besondere Bedingungen dank besonderer Dienste

    Man kann sich besondere Haftbedingungen auch durch besondere Dienste verdienen. Was will der Leiter einer Strafkolonie? Er will Ruhe und Frieden. Er will keine Beschwerden, keine Briefe an die Staatsanwaltschaft, keine herumschnüffelnden Kommissionen.
    Wie lässt sich das bewerkstelligen? Man muss sich mit dem Blat-Komitee einigen, das mit der Aufsicht über die Zone betraut ist und die höchste Autorität mit stabilen Verbindungen zur organisierten Kriminalität darstellt. Das Blat-Komitee ist in der Lage, für die Abwesenheit von Beschwerden zu sorgen: Wer sich beschwert, wird so hart bestraft, dass er im Leben keinen Stift mehr in die Hand nehmen will, er wird bei jeder Überprüfung auf seine Mutter schwören, dass ihn der Teufel höchstpersönlich geritten hat, als er diese ehrlichen Menschen und die fürsorgliche Führung durch den Dreck ziehen wollte.
    Aber das erfordert natürlich Gegenseitigkeit. Die Leitung wird dem Blat-Komitee uneingeschränkten Zugang zu Mobilfunk, Drogen, Alkohol und Kartenspielen gewährleisten. Mit wem es diese Freuden teilen will, entscheidet das Blat-Komitee selbst. Wenn es das Blat-Komitee nach schwarzem Kaviar, Hummer und Mädchen gelüstet, ist das nur eine Frage der Kosten. Wenn die Partnerschaft verlässlich und effektiv ist – warum nicht.

    Die Verflechtung von Interessen von Menschen mit Abzeichen und dem Blat-Komitee ist überhaupt ein typischer Wesenszug unserer Zeit. Wenn man sich einige der Leute so ansieht, die seinerzeit den amtierenden Präsidenten umgaben (den Geschäftsmann Roman Zepow zum Beispiel), oder das, was man über den Freund des Präsidenten Jewgeni Prigoshin schreibt, wird schnell klar, warum viele diese Situation nicht weiter verwundert.
    Es liegt auf der Hand, dass die Affäre um Wjatscheslaw Zepowjas, der in einer Kolonie im Amur-Gebiet bei einem Festmahl mit Kaviar und Hummer abgelichtet wurde, ein spezieller Fall von genau dieser Art von Partnerschaft ist.

    Die Wirtschaft

    Verurteilte, die zwar über nennenswerte finanzielle Ressourcen verfügen, nicht aber über Beziehungen und Unterstützung in der kriminellen Welt, verstehen schon bei Inkrafttreten der Haftstrafe sehr gut, in welcher Situation sie sich befinden.
    Sie haben höchstwahrscheinlich schon unter unhaltbaren Bedingungen, die man künstlich erzeugt hat, in U-Haft gesessen. Meistens bitten die Ermittler um solche Haftbedingungen, ohne dass es laut ausgesprochen wird (oft müssen sie das auch gar nicht, es ist sowieso allen alles klar), damit der Inhaftierte die nötigen Aussagen schneller liefert – im Tausch gegen das Versprechen, ihm das Gefängnisleben erträglicher zu machen. Oder aber es ist die Leitung der Haftanstalt, die die Situation unerträglich macht und damit Verhandlungen über die Erleichterung der Haftbedingungen einleitet. Die Verhandlungsführung wird meist den Staatsanwälten überlassen. In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel [etwa 13.000 Euro – dek] im Monat aufwärts, pro Kopf.

    In Moskau kostet eine gute Vierer-Zelle ab einer Million Rubel im Monat aufwärts, pro Kopf

    Was ist eine VIP-Zelle in einer Moskauer U-Haft? Nichts Besonderes: Es wird nicht geraucht, man hat oft Hofgang, es gibt einen guten Fernseher und einen Kühlschrank, frische Bettwäsche und eine saubere Toilette mit Tür. Man darf warmes Essen aus dem Restaurant bestellen (das ist übrigens laut den U-Haft-Richtlinien erlaubt, doch nicht jedem gelingt es), fast unbegrenzt Pakete erhalten, und die Anwälte haben erleichterten Zutritt. Und natürlich gibt es Mobilfunk (aber damit kann man im Gefängnis kaum jemanden beeindrucken: Der Telefonzugang ist die billigste der verbotenen Dienstleistungen).
    Nach Erhalt des Geldes werden die Abmachungen erfüllt oder nicht – der Kunde kommt sowieso nicht wieder, da kann man ihn getrost vergessen. Dafür behält so ein Kunde auf ewig (das heißt für die Zeit in Haft) den Status einer Milchkuh.

    Häftling mit Status einer Milchkuh

    Gewöhnlich finden sich in dieser (relativ zahlreichen) Kategorie wohlhabende Leute wieder, die vielleicht sogar Beziehungen im Zivilleben haben, aber keinen Stand im kriminellen Milieu: verurteilte Bänker und Unternehmer. Meistens sind sie es, die folgenden Status bekommen: Sie wandern vom Untersuchungsgefängnis ins Haftlager, als Freundschaftsgeschenk des einen Gefängnisleiters für den anderen; dann werden sie den professionellen Geld-Abpressern aus dem Blat-Komitee zum Fraß vorgeworfen; sie werden gezwungen, neue Baracken zu errichten, die Verlegung von Straßen oder Glasfaserkabel zu bezahlen, der Führung eine Datscha zu bauen und Aufträge aus ihrem Unternehmen in die Zone umzuleiten.
    Unabhängig davon, ob die verurteilte Milchkuh noch Geld hat oder nicht, ist es für diese Kategorie extrem schwer, vorzeitig auf Bewährung freizukommen. Man wird es ihnen natürlich versprechen, wird Belohnungen liefern (nicht umsonst), aber im letzten Moment kommt jemand und macht mit einer negativen Beurteilung oder einer Strafe alles zunichte. Wozu auch jemanden vorzeitig entlassen, der dir Baracken baut, die Renovierung bezahlt, der Kolonie Aufträge verschafft und mit seinem Geld für Wärme sorgt.

    Die Politik

    Wenn die Politik involviert ist, helfen weder Beziehungen noch Geld. Vor allem, wenn es um einen aufsehenerregenden Fall geht, auf dem die öffentliche Aufmerksamkeit ruht. Weder Nikita Belych noch Alexej Uljukajew werden je besondere Haftbedingungen haben. Aber auch besondere Torturen drohen ihnen nicht. Das Wissen darum, dass diese Verurteilten immer unter verschärfter Beobachtung stehen werden, dass sie Besuch von Anwälten und Familienangehörigen bekommen werden, bewahrt sie vor den sadistischen Anwandlungen der Mitarbeiter und Mitinsassen.
    Dasselbe gilt für Verurteile, die offiziell als politische Gefangene gelten (zum Beispiel, wenn Memorial sie als solche anerkennt).

    Verschwiegenheit und ein garantiertes informationelles Vakuum sind die Bedingung dafür, dass die Mitarbeiter des FSIN für einen Verurteilen mit Geld und Beziehungen besondere Haftbedingungen einrichten. Deshalb ist die Reaktion der FSIN-Leitung auf den Skandal um Zepowjas charakteristisch: Zusätzliches Essen ist bei uns erlaubt, heißt es dann, zu fotografieren und die Bilder zu veröffentlichen aber nicht. 
    Das ist auch der Grund, warum der russische Strafvollzugsdienst einen so erbitterten Kampf gegen die öffentliche Kontrolle führt: Für das System ist nicht der Fakt der Korruption entscheidend, sondern dessen Bekanntwerden. Übrigens haben sie das Gleiche auch im Falle der Folterungen gesagt.

    Es fällt auf, dass sich in den jüngsten Skandalen um den FSIN nie auch nur jemand daran erinnert hat, dass dieses System dazu da ist, auf die menschliche Natur einzuwirken und sie zu verbessern. Und dafür gibt es eine Erklärung: Besserung war nie vorgesehen. Das System heißt ja auch „Föderaler Strafvollzugsdienst“. Von „Besserung“ ist da nirgendwo die Rede.

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  • Die Honigdachs-Doktrin

    Die Honigdachs-Doktrin

    Die außenpolitische Strategie Russlands scheint aufzugehen: Der Syrien-Konflikt ist ohne Russland nicht lösbar, der Westen zerbricht sich den Kopf an der Ukraine-Frage, und alle Welt hat Angst vor russischen Hackern. Bereits vor über einem Jahr bemerkte der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew, dass Russland neben Öl und Gas vor allem eines exportiere: Angst. Mit diesem Exportgut erscheine das eigentlich schwache Land im westlichen Ausland allmächtig.
    Dem kann der Journalist Michail Krostikow auf Carnegie.ru allerdings nur sehr wenig abgewinnen. 

    Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick nicht anlegen sollte – Löwen, Tiger und sogar Alligatoren / © Matěj Baťha/Wikipedia
    Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick nicht anlegen sollte – Löwen, Tiger und sogar Alligatoren / © Matěj Baťha/Wikipedia

    Gegen die russische Außenpolitik der letzten Jahre wettern häufig sogar diejenigen, die die Postulate grundsätzlich teilen. Bemängelt wird vor allem das Fehlen eines strategischen Kalküls, eines Plans wenigstens für die nächsten zehn Jahre. Russland, so die Kritiker, handele situativ und taktisch, es reagiere bloß auf hereinbrechende Schicksalsschläge und verliere allmählich an Kraft.


    Im Grunde jedoch hat Russland über die letzten drei Jahre eine vollwertige außenpolitische Strategie entwickelt, die man fürs Erste als Honigdachs-Doktrin bezeichnen könnte.


    Der Honigdachs merkt sich, wer ihn beleidigt, und macht ihm das Leben schwer

     


    Die kleinen Tiere zeichnen sich vor allem durch eine für ihre Größe unglaubliche Kraft, Zähigkeit und Rachsucht aus. Honigdachse werden dank noch nicht vollständig erforschter regenerativer Eigenschaften sogar mit dem Gift der Kobra fertig – der tödliche Biss setzt sie nur für eine Stunde außer Gefecht. Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick, in Anbetracht der Gewichtsklasse, nicht anlegen sollte: Löwen, Tiger und sogar Alligatoren. Es gelingt ihm natürlich nicht, sie zu töten, aber sie aus dem eigenen Revier zu vertreiben – das schafft es meistens, wovon man sich leicht in zahlreichen YouTube-Videos überzeugen kann. Nicht zuletzt hat der Honigdachs ein hervorragendes Gedächtnis: Er merkt sich genau, wer ihn beleidigt hat, und macht demjenigen noch lange auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer.


    Die Außenpolitik soll zeigen, dass Russland international in der Schwergewichtsklasse spielt

     


    Das Verhalten dieser Tiere lässt sich leicht auf die russische Außenpolitik der letzten drei bis vier Jahre übertragen. Diese erfüllt fünf grundsätzliche Aufgaben: Erstens, zu zeigen, dass Russland auf dem internationalen Parkett in der Schwergewichtsklasse spielt, in einer Liga mit den USA und der EU, und sogar noch vor Ländern wie zum Beispiel China.


    Moskau kann eine eigene Wirtschaftsunion bilden (die Eurasische Union), einen Konflikt auslösen (die Ukraine), eine Schlüsselrolle in einem bereits bestehenden Konflikt einnehmen (Syrien), und es scheut nicht vor der Konfrontation mit den heftigsten Gegnern zurück. 


    Dabei ist Russlands Staatshaushalt (2016 rund 233 Milliarden US-Dollar) lächerlich klein im Vergleich zu dem der USA (3,3 Billionen Dollar, also 14 Mal so viel) und geradezu absurd im Vergleich zum Gesamtbudget der EU-Länder (6,4 Billionen Euro, also 32,3 Mal so viel). Beim Verteidigungsbudget sind die Unterschiede zwar geringer, aber immer noch bezeichnend: Das der USA lag 2016 nach Angaben des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) bei rund 611 Milliarden Dollar, das der EU (2015, laut der European Defense Agency) bei 199 Milliarden Euro, und das russische bei rund 69 Milliarden Dollar.


    Alles unwichtig, sagt die russische Führung. Wenn’s drauf ankommt, schlagen wir euch nicht mit Dollars und Euros, sondern mit TOS-1 „Buratino“-Geschossen. Finanzielle Kennziffern hätten keinerlei Bedeutung, das militärisch-politische Potential Russlands liege bei weitem über dem ökonomischen.


    Wir werden euch das Leben schwermachen …


    Die zweite Aufgabe ist zu zeigen, dass Russland, wenn es will, jedem das Leben schwermachen kann. Die USA möchten Assad entmachten? Tut uns leid, aber nein. Die EU will den Ukraine-Konflikt zugunsten Kiews lösen? Und wieder nein, sorry.


    Stattdessen wird Geld in rechts- und linksradikale Parteien gesteckt, die angesichts der anhaltenden Krise ohnehin genügend Zulauf haben. Ist es möglich, dass sie an die Macht kommen? Wohl kaum. Lässt ihr Erfolg die traditionellen Politiker nervös werden? Ohne Frage.


    Falls ihr uns in die Quere kommt, will Moskau sagen, dann stellt euch schon mal auf jahrelange Kopfschmerzen ein. Wir werden euch das Leben schwermachen, eure Initiativen behindern und die innenpolitische Lage zerrütten, indem wir uns die Verwundbarkeit der Demokratie zunutze machen. Wenn ihr das wollt – nur zu, aber wollt ihr das wirklich?


    Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland!

     


    Drittens soll innerhalb der internationalen Beziehungen eine eigene Linie aufgebaut werden, und das tut Moskau fürwahr. Lange hat man der russischen Außenpolitik vorgeworfen, passiv zu sein, nur auf das Handeln der anderen zu reagieren, aber jetzt hat sie offensichtlich zum Gegenangriff ausgeholt.


    Die reale oder mutmaßliche Einmischung Moskaus in politische Prozesse in einem Dutzend Länder ist zum wichtigsten medialen Ereignis in Europa und Nordamerika geworden. Die praktischen Auswirkungen dieser Einmischung, dort wo sie tatsächlich stattgefunden hat, mögen verschwindend gering sein. Doch die Hysterie der westlichen Politiker erweckt den Eindruck, als wäre der Kreml allmächtig und könnte leicht das politische Geschehen in Ländern beeinflussen, die ihm wirtschaftlich weit überlegen sind.


    Als Ergebnis protestieren in den USA Menschen auf Anti-Trump-Demos mit Plakaten, auf denen auf Russisch zu lesen ist: „Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland.“ Wer hätte das noch in den 2000er Jahren zu träumen gewagt? Wenn das mal keine eigene Linie ist.


    Die allmächtigen russischen Hacker im Cyberspace


    Viertens will man zeigen, dass Russland ganz weit vorne ist, wenn es um die Mittel der modernen Kriegsführung geht: den Informationskrieg und den Krieg im Cyberspace. Das Jahresbudget des Fernsehkanals RT wirkt geradezu lachhaft, verglichen mit dem der westlichen Kollegen: 323 Millionen gegen zum Beispiel 6,6 Milliarden bei der BBC (Jahresumsatz 2015/2016). Analytiker werden nicht müde, die minimale Reichweite von RT zu unterstreichen (in keinem Land der EU erreicht der Sender mehr als zwei Prozent der Zuschauer), doch wozu gründet man dann auf EU- und Länder-Ebene laufend „Arbeitsgruppen zur Bekämpfung von Desinformation“?


    Im Cyberspace ist alles noch schlimmer: Die allmächtigen russischen Hacker haben angeblich die US-Wahlen geknackt, den Bundestag, das dänische Verteidigungsministerium, und, wenn man den jüngsten Berichten glauben darf, auch beim Brexit nachgeholfen. Die Namen der angeblich von GRU und SWR betriebenen Hackerkollektive Cozy Bear und Fancy Bear sind in aller Munde. Der Effekt, den Russland mit geringstmöglichem Aufwand erzielt, ist phänomenal.


    In Moskau geht man auf die Straße? Uns doch egal


    Und schließlich Aufgabe Nummer fünf: Moskau will demonstrieren, wie vollkommen unempfindlich es gegen Reaktionen aus der eigenen Bevölkerung ist. Der Konflikt mit der Ukraine macht Geschäftsleuten und Menschen, die dort Verwandtschaft haben, schwer zu schaffen? Interessiert uns nicht.
    In Moskau geht man gegen Wladimir Putin auf die Straße? Uns doch egal. 
    Staatsgesellschaften und zahlreichen Unternehmen, die sich anboten, wurde der Kredithahn abgedreht? Selbst schuld, wer Feindesgeld annimmt.


    Der Kreml will uns zeigen, dass ihn die Sanktionen als  Phänomen nicht tangieren: Die Kosten werden auf die Bevölkerung umgelegt, und die ist vom politischen Prozess ausgeschlossen. Die Staatsbeamten aus den Sanktionslisten leben auch weiterhin wie arabische Ölscheichs und kaufen ihren Wein bei Tschitschwarkin in London.


    Die Honigdachs-Strategie verfolgt zwei Ziele: Erstens will man alle Konkurrenten Moskaus davon überzeugen, dass der Nutzen eines Eingriffs in seine existenziellen Interessen viel geringer ist als der potentielle Schaden. Russland vergisst nicht, verzeiht nicht, setzt seine begrenzten Ressourcen äußerst geschickt ein und hat keinerlei Angst vor Gegenangriffen.


    Zweitens will man zeigen, dass es völlig sinnlos ist, auf die russische Innenpolitik Einfluss nehmen zu wollen, schon gar nicht über ein „Sponsern der Demokratie“. Das Volk ist in Russland vom Staat getrennt, und deshalb muss man sich mit den Eliten einigen. Die mögen einem gefallen oder auch nicht – „Geografie ist Schicksal“, und ergo ist der einzige Weg, Moskau eine Reihe von Interessen zuzugestehen und sich um konstruktive Beziehungen zu bemühen.


    Die Strategie verspricht bei minimalem Einsatz enormen Nutzen


    Außenpolitisch betrachtet ist die Honigdachs-Strategie äußerst effektiv: Mit – im internationalen Vergleich – minimalem Einsatz (Geld haben wir keins, und alle wissen’s) wird eine enorme und langfristige Wirkung erzielt. Zudem bekommt Russland Hilfe von den westlichen Medien, die nach Traffic gieren, den die „russische Bedrohung“ bringt: Belanglose Geschichten werden aufgebläht zu echten James-Bond-Comics.


    Und so bekommt die politische Klasse in Russland nach und nach, was sie schon lange will: die Anerkennung als äußerst gefährlicher Gegner. Es ist leicht, Hussein oder Gaddafi mit Krieg zu drohen. Viel schwieriger ist es im Falle des riesigen, mit den modernsten Mitteln der Kriegsführung ausgestatteten Russland – dessen Führung bereit ist, die „nationalen Interessen“ bis zum letzten Russen zu „verteidigen“.

    Die Honigdachs-Doktrin hat aber auch Schwächen. Es ist eine Überlebensstrategie, keine Strategie der Entwicklung. Sie hat nichts zu tun mit dem Anlocken von Investoren, mit einer Verbesserung des Geschäftsklimas, mit dem Schaffen eines positiven Russland-Bildes, mit der Modernisierung der Wirtschaft oder anderen langweiligen Dingen. Sie ist einzig dazu da, die „Souveränität zu gewährleisten“, was nichts anderes heißt als die völlige Autonomie der Elite von äußeren und inneren Einflüssen.


    Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus muss Russland mit dem Westen kooperieren, doch dafür sind gewisse Zugeständnisse nötig. Und das wiederum hieße, die absolute Autonomie bei Entscheidungen zu verlieren. Es gefährdet den Status der russischen Elite, ergo ist es inakzeptabel.


    Die Kontrahenten erkennen mittlerweile die Spielzüge Moskaus


    Darüber hinaus basiert der Erfolg vieler Elemente der Honigdachs-Doktrin auf dem Kriegsnebel-Effekt, das heißt dem gegnerischen Mangel an Informationen über die Ziele, die Russland verfolgt, und die Handlungen, die es auszuführen gedenkt. Leider lichtet sich der Nebel nach und nach; die Kontrahenten lernen, Moskaus Spielzüge zu erkennen und sogar vorauszusagen, die Effektivität der Methode sinkt. Für die westlichen Geheimdienste wird es zur Routine, Trolle und Hacker aufzuspüren, Politiker, denen Verbindungen zu Moskau vorgeworfen werden, scheiden immer früher aus dem Rennen aus und erhalten immer weniger Stimmen.


    Die Honigdachs-Doktrin mag Russland durchaus in die Lage versetzen, seinen Partnern Respekt abzuringen. Aber echten Aufschwung kann sie dem Land nur als Teil einer weiter gedachten Strategie bringen. Die Angst, die die russische Außenpolitik aktuell sät, müsste sich in Achtung verwandeln, nicht in den Wunsch, eine Quarantänezone um die Russische Föderation zu errichten und so wenig wie möglich mit den Russen zu tun zu haben.

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  • Was hat Myanmar mit dem Nordkaukasus zu tun?

    Was hat Myanmar mit dem Nordkaukasus zu tun?

    In Deutschland hört man nur sehr wenig davon. Unter anderem im russischen Nordkaukasus erhitzt dagegen die Gewalt gegenüber den muslimischen Rohingya in Myanmar die Gemüter.

    Während die myanmarische Friedensnobelpreisträgerin und faktische Regierungschefin Aung San Suu Kyi die Kritik der internationalen Gemeinschaft scharf zurückweist, hatte Tschetschenen-Oberhaupt Ramsan Kadyrow am Wochenende dazu aufgerufen, auf die Straße zu gehen: aus Protest gegen die gewaltsame Verfolgung der Rohingya. Nach offiziellen Angaben folgten dem Aufruf eine Million Menschen (eine Zahl, die unabhängige Beobachter allerdings anzweifeln). Auch in Moskau gab es eine nicht genehmigte Kundgebung vor der Botschaft Myanmars, weitere sind angekündigt.

    Mit seiner Kritik an Myanmar stellt sich Kadyrow gegen die bisherige außenpolitische Linie Moskaus, das gute Beziehungen zu dem südostasiatischen Land pflegt – unter anderem auch mit Blick auf China, das Myanmar zu seiner Interessensphäre zählt. Noch im März hatten Russland und China eine UN-Resolution zum Schutz der Rohingya blockiert.

    Was hat die Situation in dem südostasiatischen Land mit dem russischen Nordkaukasus zu tun? Was will Kadyrow erreichen? Und welche innenpolitische Lehre sollte Moskau aus den Protesten ziehen? Diese und weitere Fragen beantwortet Nordkaukasus-Experte Sergei Markedonov in seiner Analyse auf Carnegie.ru.

    Dem ersten Anschein nach lassen sich nur schwerlich zwei Themen finden, die weiter auseinanderliegen als Myanmar und der Nordkaukasus. Im Frühherbst 2017 allerdings haben sie sich auf wundersame Weise verwoben. Die Meldungen über die Verfolgung der muslimischen Rohingya in einem fernen Land in Südostasien haben die nordkaukasischen Republiken wachgerüttelt. In Moskau wie auch im Nordkaukasus, etwa in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala, gab es nicht genehmigte Demonstrationen zur Unterstützung der Glaubensbrüder.

    Nicht nur im Kaukasus - auch in Moskau protestierten Muslime am 3. September gegen die Verfolgung der Rohingya / Foto © Gennadiy Gulyaev/Kommersant
    Nicht nur im Kaukasus – auch in Moskau protestierten Muslime am 3. September gegen die Verfolgung der Rohingya / Foto © Gennadiy Gulyaev/Kommersant

    Im Kontext Russlands wirft das eine ganze Reihe drängender Fragen auf: Wie unabhängig sind die regionalen Führer, wie stark ist der Partikularismus im Nordkaukasus und wie heftig prallen staatliche und religiöse Loyalität aufeinander? Wobei Letzteres im Übrigen nicht nur den Nordkaukasus betrifft, sondern auch viele andere Regionen Russlands.

    Aktionen zur Unterstützung der Muslime auch in Moskau

    Es ist kein Zufall, dass die Aktionen zur Unterstützung der Muslime in Myanmar am 3. September nicht nur in den Republiken des Nordkaukasus, sondern auch in der russischen Hauptstadt stattfanden. Die Einbindung Tschetscheniens, das haben die Ereignisse der letzten 15 Jahre gezeigt, besteht nicht nur darin, dass Moskau in Grosny, sondern auch darin, dass Grosny in Moskau Einzug hält.

    Können wir aber wirklich davon sprechen, dass die tragischen Ereignisse in Südostasien den russischen Teil der Kaukasusregion aufgerüttelt haben? Und in welchem Maße werden die regionalen Führer im Nordkaukasus künftig Einfluss auf die Außenpolitik Russlands haben?

    In gewissem Sinne kam die heftige Reaktion auf die Verfolgung der muslimischen Rohingya unerwartet. Seit 2014 war der Nordkaukasus in den Schatten der Krim, des Donbass und Syriens getreten.

    Bei genauerer Betrachtung ist der aktuelle Ausbruch gesellschaftlicher Aktivität (samt Protesten) jedoch keine Überraschung. Es geht hier nicht nur um Autonomie bei diesen oder jenen Entscheidungen oder um die Nichteinmischung Moskaus in viele menschliche Belange. Sondern es geht auch um die Freiheit, den ideologischen und auch (bis zu einem gewissen Grade) den außenpolitischen Weg selbst zu wählen.

    Tschetschenien – eine völlig abgeschlossene Region?

    In der westlichen Literatur wird üblicherweise von Tschetschenien als einer völlig abgeschlossenen Region gesprochen. Doch diese Abgeschlossenheit gegenüber westlichen Experten und Menschenrechtlern bedeutet keineswegs Abgeschlossenheit gegenüber einflussreichen Politikern und religiösen Akteuren aus den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. In den Jahren 2015 bis 2017 hat Ramsan Kadyrow Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrаin besucht; und zu seinen Gästen zählte der bekannte afghanische Politiker und General Abdul Raschid Dostum.

    Nachdem das Oberhaupt Tschetscheniens auf Instagram die Lage der Dinge in Myanmar äußerst scharf kritisiert hatte, sprachen Blogger und Publizisten davon, dass der Nordkaukasus nun den Anspruch erhebe, an der Gestaltung der russischen Außenpolitik mitzuwirken. 

    Ganz so stimmt das nicht: Denn der Nordkaukasus ist praktisch seit dem Zerfall der Sowjetunion daran beteiligt. Und während er anfangs eher als ein Objekt betrachtet wurde, als eine Art Indikator für die Stärke beziehungsweise Schwäche des postsowjetischen Russlands, so nimmt diese Region, die bei den Vereinten Nationen über keine eigene Vertretung verfügt, allmählich bestimmte Züge eines außenpolitischen Subjekts an.

    Das Volk zeigt gegenüber der ganzen Welt: Wir lassen nicht zu, dass mit dem Islam gescherzt wird

    „Indem sich das Volk im Zentrum von Grosny versammelt hat, zeigt es gegenüber der ganzen Welt, dass wir es nicht zulassen, dass mit dem Islam gescherzt wird, dass wir es nicht zulassen, dass die Gefühle der Muslime beleidigt werden.“ Diese Worte sind aus Ramsan Kadyrows Rede vom 19. Januar 2015 bei einer Aktion anlässlich der Geschichte um die französische Zeitschrift Charlie Hebdo. Seinerzeit war die Hauptstadt Tschetscheniens eine Art Plattform für die Haltung Wir sind nicht Charlie. Und man kann nicht behaupten, dass eine solche Position ausschließlich im Nordkaukasus auf Sympathie stieß.

    Kadyrow hat in seiner Zeit an der Macht Erfahrung als Politiker gewonnen, der in der Öffentlichkeit steht, schnell reagieren kann und in der Lage ist, nicht nur seine Interessen deutlich zu machen. Vielmehr artikuliert er auch die Positionen des Teils der russischen Gesellschaft, der eine konsequent antiwestliche Haltung vertritt. Also die Haltung jener, die nicht einfach nur in Opposition zum Kurs der USA und der EU stehen, sondern auch für eine umfassende Mobilisierung im Landesinneren und einen „besonderen zivilisatorischen Weg“ eintreten. Und das ist eine der Folgen des Sonderstatus, den diese Teilrepublik Russlands genießt.

    Kadyrow: Sowohl „Verteidiger der Muslime“ wie auch ein Feind des IS

    Dieses „Besondere“, dieses „Eigene“ Tschetscheniens könnte nützlich sein. Schließlich verfügt Russland als multiethnisches und polykonfessionelles Land über Möglichkeiten, seine Außenpolitik nicht nur über die Strukturen des Außenministeriums zu verwirklichen, sondern auch über andere Kanäle. Ramsan Kadyrow hat sowohl das Image eines „Verteidigers der Muslime“ wie auch das eines Feindes des IS – Kadyrow bezeichnet letzteren als „Iblīs-haften“, also satanischen Staat. Insofern genießt er – als Partner bei Gesprächen mit einem afghanischen General oder arabischen Scheich – größeres Vertrauen als ein Absolvent einer Moskauer Hochschule, der aufgrund bürokratischer Notwendigkeiten für den Nahen Osten zuständig ist.

    Wie wundervoll dieser Aspekt auch erscheinen mag – die Widersprüche zwischen allgemeinstaatlichen und konfessionell-regionalen Interessen sind nicht zu übersehen.

    Die Stärkung der Beziehungen zu Peking fordert ganz offensichtlich eine zurückhaltende Reaktion Moskaus gegenüber Myanmar. Russland kann dabei nicht so vorgehen, wie es in Tschetschenien oder Dagestan populär wäre; es bedarf großer Flexibilität und komplexer Handlungen. So kommt die äußerst wichtige Frage auf: Wie kann man das Vertrauen aufrechterhalten – nicht nur das der eigenen Bürger, sondern auch das der regionalen Führer, die auf die Politisierung der Religion setzen?

    Im Übrigen wäre es falsch, die Aufregung, die im Nordkaukasus wegen der tragischen Ereignisse in Südostasien herrscht, allein mit dem Phänomen Kadyrow und dem besonderen Status Tschetscheniens zu erklären. Unter den Bloggern und Aktivisten, die ein aktives Vorgehen Russlands gegen die Regierung in Myanmar fordern oder Moskau vorwerfen, eine Resolution des UN-Sicherheitsrates blockiert und chinesischen Ansprüchen nachgegeben zu haben, waren nicht nur Leute aus Tschetschenien allein, sondern auch aus anderen Republiken des Nordkaukasus.

    Re-Islamisierung im Nordkaukasus Ende der 1990er Jahre

    Die religiöse Identität des Nordkaukasus beruht nicht auf Kadyrow. Anfang der 1990er Jahre hat es in dieser Region hinreichend Konflikte gegeben. Aber der Faktor „Religion“ hatte damals nirgendwo eine erhebliche Rolle gespielt. Ende der 1990er Jahre änderte sich die Situation. Im Nordkaukasus erfolgte seinerzeit eine „Re-Islamisierung“ (so die treffende Formulierung des Kaukasus-Experten Achmet Jarlykapow), die auch jene Teile der Region erfasste, in denen die Religion traditionell eine geringere Rolle gespielt hatte (Kabardino-Balkarien, Karatschai-Tscherkessien, Adygeja, Stawropolski Krai).

    Wie unabhängig sind die Republiken des Nordkaukasus? / Foto © Don-kun, Jeroencommons/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0,
    Wie unabhängig sind die Republiken des Nordkaukasus? / Foto © Don-kun, Jeroencommons/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0,

    Hinzu kommt, dass die Verwurzelung der religiösen Identität in den verschiedenen Variationen – von Loyalität gegenüber der Regierung bis hin zu extremistischen Formen – nicht von selbst geschah. Sie erfolgte vor dem Hintergrund eines Niedergangs der weltlichen Institutionen (Polizei, Justiz) und einer Krise der gesamtstaatlichen Ideologie.

    Die Re-Islamisierung hat eine Vielzahl widersprüchlicher Aspekte. Russland muss sich als ein Land, das im postsowjetischen Raum und im Nahen Osten eine aktive Rolle spielt, nicht nur als ein Staat der ethnisch russischen Welt positionieren, sondern auch als einer der, sagen wir mal, turksprachigen und der islamischen Welt. Aber Russland hat auch eine buddhistische Dimension, die nicht weniger wertvoll ist als alle eben genannten. Und so sind Versuche, die Politik der Regierung von Myanmar mit dem Buddhismus gleichzusetzen, äußerst gefährlich.

    Somit ist die Situation in Myanmar und deren Echo im Nordkaukasus nicht allein das Problem einer einzelnen, für sich stehenden Region Russlands. Die Republiken des Nordkaukasus sind kein Ghetto und kein ethnographisches Refugium, sondern ein Gebiet, in dem die Probleme, unter denen das ganze Land leidet, besonders deutlich zutage treten. 

    Im Nordkaukasus treten die gesamtrussischen Probleme deutlich zutage

    Dass die Muslime in Russland aufgerüttelt sind, ist ein ernstzunehmendes Signal an Moskau. Solange man kein effektiver Schlichter ist, kein Vermittler zwischen den diversen Völkern und Regionen, solange man keine klaren Spielregeln und Grenzen des Erlaubten festgelegt hat, wird es nicht gelingen, einen starken Staat aufzubauen.

    Bislang haben wir von den Amtsträgern in Russland keine schlüssige Erklärung dazu vernommen, welche Folgen der Konflikt in Südostasien haben wird, und auch nicht zu dem Umstand, dass unser Land oder Teile davon involviert sind. Es gibt auch keine Erklärungen, welche Interessen Russland verfolgt. Dieses Schweigen erzeugt ein Vakuum, das bald von anderen Ideologien gefüllt werden dürfte.

    Das Gespenst von Myanmar im russischen Kaukasus ist eine Mahnung, dass es für Moskau an der Zeit ist, sich ungeachtet der wechselseitigen Sticheleien mit Washington und Brüssel den innenpolitischen Problemen zuzuwenden. Und zwar substantiell – nicht nur im Vorfeld von Wahlen oder beim Direkten Draht.

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  • Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

    Die Geburt des Politischen aus dem Geist der Propaganda

    Oppositionspolitiker Alexej Nawalny hat gerufen und Tausende sind ihm auf die Straßen gefolgt, landesweit, am vergangenen Montag bereits zum zweiten Mal. Es ist dabei nicht nur der Unmut über Korruption, der die Leute auf die Straßen treibt. Sondern es sind ganz unterschiedliche Motive, von der Forderung nach mehr Demokratie und Menschenrechten bis hin zum regime change

    In Moskau wiederum protestieren viele Bewohner seit Monaten gegen den geplanten Abriss ihrer Wohnhäuser, zumeist Chruschtschowki aus den 1950er Jahren, die die Stadt in einem gigantischen Bauprojekt abreißen und durch Neubauten ersetzen will. Unlängst brach eine Debatte darüber aus, ob es einen unpolitischen Protest überhaupt geben kann – auf den allerdings viele der Demonstrationsteilnehmer bestehen.

    Ein politisches Empowerment in der russischen Gesellschaft jedenfalls diagnostiziert Andrej Archangelski auf Carnegie.ru – und sieht die Ursachen dafür, ausgerechnet, in der Propaganda.

    Die Ukrainer sagen gerne, Russland habe mit seinem Handeln im Jahr 2014 mehr zur Herausbildung einer ukrainischen Identität beigetragen als die ukrainischen Institutionen in 25 Jahren Unabhängigkeit. Das Gleiche kann man nun in Russland auch von der eigenen Regierung behaupten.

    Massenpropaganda ist von der Taktik her berechenbar (Aggressivität, Befeuerung des Irrationalen, Neurotisierung der Gesellschaft), aber strategisch vorhersagbar sind die Auswirkungen nicht. 

    Wer hätte 2014 gedacht, dass drei Jahre später auch diejenigen zu Massenprotesten gegen Korruption auf die Straße gehen würden, die ihr ganzes Leben unter Putin gelebt haben, jene Generation, von der man annahm, sie bestünde aus lauter Loyalisten des Post-Krim-Konsens?

    Da ist Nawalny mit seinen Nachforschungen, ja; aber viel wichtiger ist, dass eine psychologische Schwelle überschritten scheint. Und paradoxerweise wurde die politische Sprache im „Kisseljow-TV“ vermittelt.

    Nachdenken über Politik – dank Propaganda

    Es waren nämlich die Propaganda-Figuren und Klischees in den Medien, die geholfen haben, dass sich eine politische Massensprache in Russland herausbildete. Genauer gesagt hat die Propaganda – und das ist einer der unvorhergesehenen Effekte – das Nachdenken über Politik zu einem Teil des täglichen Lebens gemacht.

    Unsere Propaganda ist darauf angewiesen, die Zuschauer mit den Einzelheiten des amerikanischen, ukrainischen oder französischen Systems bekannt zu machen; die Konzentration auf die politischen Antagonisten und verschiedenen Einflussgruppen enthüllte vor dem russischen Durchschnittsbürger plötzlich die ganze Komplexität des politischen Lebens.

    Aufgerufen, Geschichte zu schreiben

    2014 wurde der Bürger dazu aufgerufen, Geschichte zu schreiben – das heißt, zum handelnden Subjekt der Geschichte zu werden. Aber man kann nicht an den außenpolitischen Grenzziehungen ein Subjekt sein und gleichzeitig passives Objekt im Hinblick auf die inneren Angelegenheiten bleiben. 

    Der Sowjetmensch konnte nicht politisch über sich selbst bestimmen, die Möglichkeit einer solchen Selbstermächtigung bestand für ihn nicht – er war nur möglich als „Teil eines Ganzen“, „die Eins ist Null”, wie es damals hieß. 

    Heute, so stellt sich plötzlich heraus, wird man zum Subjekt am einfachsten über die Politik. Wobei man politische Identität und Subjekthaftigkeit erlangen kann, indem man eine fremdbestimmte, aufgezwungene Sprache ablehnt (siehe den Konflikt zwischen Schülern und Lehrern), oder indem man sich selbst plötzlich als Eigentümer begreift (siehe die Reaktion der Moskauer [auf den geplanten Abriss ihrer Häuser]), oder auch in Form einer Reaktion auf „große Ereignisse“, wie die von 2014.

    Die Vertuschung des Politischen

    Die Regierenden haben mit diesem Effekt nicht gerechnet; ihr Ideal ist das einer gleichgültigen und indifferenten Bevölkerung. Aber die „Konsolidierung der Nation“ im Jahr 2014 war nicht möglich ohne eine Aktivierung des politischen Instinkts, und einmal aktiviert, ist dieser Instinkt schwer zurückzunehmen.

    Das war tatsächlich ein schwerwiegendes Zugeständnis seitens der Putin-Administration. Denn die gesamte Geschichte der Putin-Periode ist der Versuch, die Politik vor dem Volk zu vertuschen.

    Erstens ist da die Ebene des Begriffsaustauschs: In Russland wurde „Politik“ durch das Wort „Macht“, bzw. „Regierung“ ersetzt, wie Gleb Pawlowski feststellt. „Politik ist der Kampf um die Macht“, das sagt Ihnen, eine pseudo-objektive Position einnehmend, jeder Kreml-Politologe. 
    Aber auch das ist eine Finte: Die Opposition in Russland kämpft nicht um die Macht, sondern um die Politik, um das bloße Recht auf eine andere Meinung.

    Patriotismus – kein Ruf des Herzens

    Auch das Konzept des Patriotismus (du bist „für unsere Leute“, ganz gleich, was sie anstellen) sollte dazu dienen zu verbergen, dass die Unterstützung der Regierung weder ein Instinkt noch ein Ruf des Herzens ist, sondern im Rahmen des normalen politischen Verhaltens stattfindet (Loyalität).

    Sogar der Begriff der Geopolitik, der nach 2014 besonders aktiv eingesetzt wurde, verfolgte dasselbe Ziel: den Menschen nicht als politisches Subjekt gelten zu lassen.
    „Wir sind die Geiseln unserer geografischen Position und haben deshalb keine Wahl; das ist unser Schicksal, man kann ihm nicht entfliehen und deshalb muss man sich ihm fügen …“ 
    Roland Barthes bemerkte zu Zeiten des Algerienkrieges: Wenn die Zeitungen schreiben, „das Schicksal will es so“, heiße das übersetzt, „so will es die französische Regierung“.

    Die Sowjets 2.0

    Und zum grandiosesten Mittel, die Politik zu vertuschen, wurde der Sowjetsprech. Aber die Bestäubung mit Sowjetnostalgie hatte einen weiteren unvorhergesehenen Effekt: Diese Propaganda erschuf einen neuen Sowjetmenschen.
    Er ist zu unterscheiden von dem, der der UdSSR passiv nachtrauert. Die Aktiven – nennen wir sie Reanimatoren – sind die, die heute die Abschaffung des Kapitalismus, die Rückkehr zur UdSSR und einen Wechsel des Wirtschaftsmodells fordern. 

    Gepäppelt von Fernsehen und Regierung, wandeln sich die Sowjets 2.0 im Grunde von Loyalisten in eine konservative Opposition. Das Sowjetische ist mittlerweile Teil der eigenen politischen Identität. Was dem Sinn des Terminus widerspricht, denn das Sowjetische bedeutet eigentlich die Abwesenheit von eigenen Ansichten. 

    Das heutige Sowjetische ist zum Label geworden, zu einer Marke, die bloß noch – aber immerhin – auf eine politische Position verweist.

    Der Zwischenraum 

    Ein totalitäres System sieht keine Opponenten vor. Ein solches System verweist dich bei Widerspruch automatisch auf eine Position außerhalb des Legitimen, macht dich zum Feind. Die russische Propaganda allerdings ist gezwungen, rein formal demokratische Prinzipien zu wahren. Das ist ein wesentlicher Unterschied – und er erzeugt einen interessanten Zwischenraum. Einen Zwischenraum zwischen den Kauleisten des Leviathan, sozusagen. 

    Die heutige Propaganda appelliert, und sei es nur formal, an einen freien Menschen. Deshalb muss sie so tun, als verfüge sie über ein stabiles System von Argumenten und Beweisen. Es geht gar nicht darum, wie (wenig) überzeugend usw. diese sind. Es ist ein Meta-Paradox: Die bloße Notwendigkeit, dass es überzeugt werden muss, verwandelt das totalitäre Schräubchen in ein Subjekt. 

    Am Ende hat das, was auf die Totalisierung des Bewusstseins gezielt hatte, den umgekehrten Effekt bewirkt: Es hat den Durchschnittsbürger in seinem Status als politisches Subjekt gefestigt. Dieser wird ja als Person angesprochen, eine Person mit Rechten, Entscheidungsmöglichkeiten, einem freien Willen – da wächst ungewollt die Selbstachtung. Das Subjekt reckt seine Schultern.

    Zwischen den Kauleisten des Leviathan

    Weshalb stärkt der Kreml ständig das, was er zu bekämpfen versucht? Hier kommt wieder jener Zwischenraum ins Spiel – der Widerspruch zwischen den heutigen realen Praktiken in Russland, den autoritären Instrumenten, und dem formal demokratischen Gesellschaftsaufbau gemäß der Verfassung. Dieser Zwischenraum ist der wahre Quell des Politischen im heutigen Russland.

    Die offiziellen demokratischen Institutionen sind zwar zu einer Formalität verkommen, aber Politik gibt es trotzdem, und zwar in diesen Zwischenräumen und Rissen. Die Entpolitisierung einer weiteren Nische führt sofort zu einem Ausbruch von politischer Aktivität an einer anderen Stelle.

    Das Streben nach dem Politischen

    Wir können eine Hypothese aufstellen: Das endgültige Ziel des hybriden Organismus (Ekaterina Schulmann) ist das – im Freudschen Sinne – unbewusste Streben nach dem Politischen. Das, was tabuisiert und ausgetrieben wird, wird unbewusst zum sehnlichsten Verlangen des hybriden Wesens.

    Möglicherweise ist die Politisierung tatsächlich im Kern unseres heutigen Systems angelegt, es muss sich dessen nicht einmal bewusst sein, es kann versuchen, mit aller Gewalt dagegen anzukämpfen. Aber das würde bedeuten, dass es gegen die eigene Natur ankämpft. Deshalb erscheint es uns, als wäre die Hauptquelle der Politisierung die Macht selbst.

    Bonus für die Wähler

    Die Hauptaufgabe des Kreml für das kommende Jahr 2018 wird vermutlich sein, die Аmtszeit des derzeitigen russischen Präsidenten um weitere sechs Jahre zu verlängern, möglichst unter Einhaltung aller Normen und mit maximaler Legitimierung. Alle Aktivitäten werden sich darauf richten, dieses Ziel zu erreichen.

    Was wird die Regierung im Zuge der Wahlen als Bonus verkaufen? Eine Möglichkeit wäre die Politisierung selbst. Der Wähler bekommt als Bonus angeboten, ein eigenständiges politisches Subjekt zu sein. Sie wählen nun nicht mehr als Schräubchen, sondern Sie wählen als vollwertige Subjekte der Geschichte – und das in einer Situation der geopolitischen Konfrontation mit dem Westen.

    Der postsowjetische Mensch als politisch Handelnder 

    Man wird nicht auf Passivität, sondern auf Aktivität setzen – natürlich auf eine kontrollierte. Aber wie wir uns bereits überzeugen konnten, gerät die Sache, sobald es um Werte geht – und Politik ist eben auch ein Wert –, schnell außer Kontrolle.

    Man kann behaupten, dass der Klientelismus das System immer noch besser absichert als alle offiziellen Mechanismen, und dass es in den Regionen keinerlei Voraussetzungen für politische Aktivität gibt. Aber das ist, wenn man so will, nur die äußere Gestalt. Was im Massenbewusstsein passiert, kann keine Meinungsumfrage einfangen. Wir können nur annehmen, dass ganze Massen zu politischen Subjekten werden, dass der postsowjetische Mensch sich als Spieler und sogar als politisch Handelnder bewusst wird.

    Ein völlig anderes Land mit völlig anderen Menschen

    Ändert sich dadurch etwas Grundlegendes? Ja. Das ändert absolut alles. 

    Den sowjetischen „Massenmenschen“ gibt es nicht mehr, er ist in Millionen von Subjekten mit Interessen zerfallen, auch politischen, was immer man jeweils unter diesem Wort versteht. Die Regierung hat das selbst angerichtet, entgegen ihrem eigenen Willen, oder vielleicht kraft ihrer eigenen momentanen Natur. 

    Wir haben es mit politischen Subjekten zu tun – und das ist bereits ein völlig anderes Land, mit völlig anderen Menschen. Die Politisierung Russlands ist unausweichlich. Und genau das ist es, was die nächste historische Zukunft grundlegend und entscheidend bestimmen wird.

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  • In Trauer gespalten

    In Trauer gespalten

    Die Explosion in der Sankt Petersburger Metro im April 2017 löste unmittelbar heftige Diskussionen in Sozialen Netzwerken und Medien aus, es gab Verschwörungstheorien und Mutmaßungen, wer wohl die Drahtzieher sind: Der IS? Radikale Ukrainer? Das Regime selbst?

    Staatschef Wladimir Putin hatte sich an dem Tag zu Gesprächen mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko selbst in Sankt Petersburg aufgehalten. Spätabends kam er an den Tatort, legte Blumen nieder, ein Gespräch mit der Presse gab es nicht.

    Auf Carnegie.ru analysiert Andrey Pertsev die Reaktionen von Gesellschaft und Regierung. Unter anderem stellt er fest, dass das Attentat von Sankt Petersburg die russische Gesellschaft nicht eine. Vielmehr zeige es auf, wie gespalten sie ist. 

    Foto ©  Alexander Korjakow/Kommersant
    Foto © Alexander Korjakow/Kommersant

    Die russischen Behörden begründen neue Verbote und Einschränkungen fast immer mit dem Kampf gegen den Terror. Das Jarowaja-Gesetz, Strafen für Reposts, die Rolle der Silowiki im Leben des Landes und sogar die Intervention in Syrien – all diese Maßnahmen wurden als für die Sicherheit Russlands notwendig präsentiert.

    In Europa, wo Freiheit und Toleranz in den Vordergrund gerückt worden sind, finden Terroranschläge statt – wollt ihr das etwa? Also beschwert euch nicht! So ungefähr lautete der Dialog zwischen Kreml und Gesellschaft.

    Tragische Ereignisse – Terroranschläge, katastrophale Unfälle, Naturkatastrophen – vereinen die Menschen, und Trauer schweißt stärker zusammen als Freude. Wir trauern um die Opfer.

    Aber es ist kein Frevel, wenn wir über die Reaktionen von Gesellschaft und Regierung auf den Terroranschlag nachdenken. Eine Diskussion zu den Ursachen und Folgen stellt keineswegs eine Verhöhnung des Gedenkens an die Opfer dar, allein schon deshalb, weil sie zum Ziel hat, dass es weniger solcher Ereignisse gibt.

    In Europa finden Terroranschläge statt – wollt ihr das etwa? Also beschwert euch nicht! So ungefähr lautete der Dialog zwischen Kreml und Gesellschaft

    Der Kampf gegen den Terror in allen möglichen Spielarten war viele Jahre ein Eckpfeiler für die russische Regierung, stand am Urbeginn und bildete die Grundlage für einen neuen Gesellschaftsvertrag.

    Wladimir Putin trat seinerzeit als Präsident an, der willensstark war und bereit, für Ordnung zu sorgen und gegen den bewaffneten Untergrund im Nordkaukasus vorzugehen.

    Die Vernichtung von Terroristen wurde Anfang der 2000er Jahre zunächst fortgeführt, bevor – der offiziellen Mythologie zufolge – Stabilität einkehrte, weniger in der Wirtschaft als vielmehr im Bereich der Sicherheit.

    Nachdem der Islamische Staat (eine in Russland verbotene Terrororganisation) damit begonnen hatte, in europäischen Staaten Terroranschläge zu organisieren, verstärkte sich dieses Gefühl einer relativen Sicherheit. Dies umso mehr, als offizielle Personen und Propaganda subtil unterstrichen: Wir haben Mitgefühl, dennoch tragen die europäischen Regierungen auch eine gewisse Teilschuld an den Anschlägen.

    Der Antiterror-Konsens bestand lange vor dem Krim-Konsens, und er war stets fester und effektiver. Ihr wollt in Ruhe leben? Also nehmt bestimmte Dinge hin, und ihr werdet es nicht bereuen: Ihr werdet nicht in die Luft gesprengt und nicht erschossen.

    Die Ansicht, dass es in Russland keinen Terrorismus gebe (mit Ausnahme des Nordkaukasus, wo die Lage immer eine besondere war), gerade wegen des harten Regimes, war bald allgemeine Überzeugung. Die scheinbare Sicherheit wog das meiste auf – zum Beispiel Probleme im sozialen Bereich oder die Korruption: Hier gibt es zwar noch Verbesserungsbedarf, dafür ist im Sicherheitsbereich alles in bester Ordnung.

    Aber jetzt zeigt sich, was der Preis dafür ist: Jeder Terroranschlag, der nicht verhindert werden kann, ist für den Kreml ein äußerst heftiger Schlag gegen die Grundfesten dieses Gesellschaftsvertrags.

    Die Fragen-Palette an die Staatsführung ist sehr breit, und überall schwingen Vorwürfe gegen den Kreml mit

    Nach den Terroranschlägen in Sankt Petersburg ist die Fragen-Palette an die Staatsführung sehr breit, und überall schwingen auf die eine oder andere Weise Vorwürfe gegen den Kreml mit.

    Da wären einmal Verschwörungstheorien: Der Terroranschlag kommt den Antikorruptions-Protesten in die Quere, also würden sie der Regierung nützen. Die Präsidentschaftswahlen stehen an, und da käme ein Schwerpunktthema gerade recht, zumal es für Wladimir Putin durchaus vertraut ist. In Wirklichkeit ist dieses Thema für den Kreml aber sehr ungünstig, eben weil es so vertraut und gewohnt ist.

    Im Jahr 2000 war es durchaus der Auftakt für ein nationales Projekt. Jetzt aber würde eine Rückkehr zum Thema Terror unweigerlich offensichtliche Fragen aufwerfen: Warum ist nach 17 Jahren Priorität in Sachen Sicherheit alles hin? Es wäre kein Zukunftsprogramm, sondern eine Hinwendung zu Fehlern der Vergangenheit.

    Umso mehr, als man uns erklärt hat, dass es Bombenexplosionen und Angriffe in den europäischen Ländern deshalb gäbe, weil die Regierungen dort schwach und unfähig seien. Und jetzt geschieht ein Terroranschlag in unserem Land – heißt das, unsere Regierung ist genauso … ?

    Kein Land, keine Stadt, niemand ist vor Terroristen sicher. In Europa haben die Menschen ihre Regierungen nach den Anschlägen nur zurückhaltend in die Pflicht genommen: Es wurde nicht gut genug aufgepasst, das ist schlecht, aber die ganze Sache ist einfach sehr ernst.

    In Russland gibt es in Bezug auf Terrorbekämpfung nur ein Ganz oder gar nicht – und es war die Regierung, die dies so absolut gesetzt hat. Wenn du nur lange und hartnäckig genug allen erklärst, dass du der Allerbeste bist, ständig auf Fehler der anderen zeigst und dann aber selbst eine Panne erlebst, dann wird die umso schärfer wahrgenommen.

    Allem Anschein nach ist man sich im Kreml sehr wohl klar darüber, wie ernst das Problem ist, nur weiß man nicht so recht, wie man damit umgehen soll. Wladimir Putin besuchte den Ort des Anschlags, obwohl man eine solche Reaktion des Präsidenten nicht erwartet hatte und es ihm vom Föderalen Dienst für Bewachung FSO untersagt worden war.

    Der Präsident hat spontan gehandelt, das wird durch die Videoaufnahmen klar, auf denen Angehörige des FSO den Bürgersteig von zufälligen Passanten räumen. So etwas hat Putin hat seit langem nicht unternommen.

    Der Kreml weiß nicht so recht, wie er mit dem Problem umgehen soll

    Ungeachtet der offensichtlichen Verwirrung von Kreml und Propaganda rechnet der aktive Teil der Gesellschaft mit neuen Repressionen seitens der Regierung, und mit einer Verschärfung des Internet- und Versammlungsrechts. Die unklare Reaktion des Kreml wird als Heimtücke interpretiert: Erst versteckt man sich, und dann geht man gegen die letzten bürgerlichen Freiheiten vor.

    Im Endeffekt sind in den Medien zum wiederholten Mal die radikalen regierungsfreundlichen Aktivisten und Propagandisten tonangebend: Das Portal Life beeilt sich zu vermelden, dass Andrej Makarewitsch, seit langem ein Feind der Patrioten, seine Konzerte nicht absagen werde, und dass man sich in der Ukraine über den Anschlag freue. Experten sprechen von Spuren, die auf westliche Geheimdienste hinweisen würden. Alexander Prochanow hat im Ersten Kanal einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen und den oppositionellen Demonstrationen hergestellt. Und Ramsan Kadyrow ruft dazu auf, sich um den Führer der Nation zu scharen.

    Statt die Nation zu einen, gerät die Tragödie von Sankt Petersburg zum Anlass, wechselseitig Feinden und heimtückischen Verschwörungen nachzuspüren. Das macht einmal mehr die tiefe Spaltung der Gesellschaft sichtbar. Und mit dieser Spaltung geht das Regime in den Präsidentschaftswahlkampf.

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  • „Wolodja, verdirb nicht den Abend“

    „Wolodja, verdirb nicht den Abend“

    Langweilig ist es zwischen Moskau und Minsk selten. Einmal mehr illustrierten das die zahlreichen Spitzen und Vorwürfe, die der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko am vergangenen Freitag bei seiner siebeneinhalbstündigen Pressekonferenz in Richtung Russland losließ. Ein für den 9. Februar geplantes Treffen von Putin und Lukaschenko wurde danach auf unbestimmte Zeit verschoben.

    Hat man in den beiden Hauptstädten noch vor wenigen Jahren die Idee des Russisch-Belarussischen Unionsstaats weitergesponnen, sind inzwischen Streitigkeiten um Öl- und Gaszahlungen zur Regelmäßigkeit geworden. Deutlich verschärft hat sich der Ton nach der Krim-Angliederung im März 2014: Lukaschenko stellte damals etwa die vermeintliche historische Zugehörigkeit der Halbinsel zu Russland in Frage und meinte, dass man nach dieser Logik große Teile Russlands an Kasachstan und die Mongolei zurückgeben müsste.

    Artyom Shraibman, Politik-Redakteur des unabhängigen belarussischen Nachrichtenportals tut.by, vergleicht Russland und Belarus mit einem alten Ehepaar. Nach der jüngsten Wutrede Lukaschenkos fragt er im russischen Online-Medium Carnegie.ru: Ist es mit der Romantik nun endgültig vorbei? 

    Freundschaft auf Eis?  / Foto © kremlin.ru
    Freundschaft auf Eis? / Foto © kremlin.ru

    Die skandalöse Pressekonferenz von Alexander Lukaschenko Anfang Februar hat die Seiten der russischen Medien gefüllt. Was vielleicht wie ein plötzlicher Wutausbruch erschien, war wohl eher ein ziemlich erwartbares Ereignis in der Abwärtsspirale der russisch-belarussischen Beziehungen.

    Der aktuelle Streit zwischen Minsk und Moskau ist vielschichtig wie nie. Wie in einen Strudel werden jeden Monat neue Bereiche der bilateralen Beziehungen hineingezogen, angefangen bei Gas und Öl bis hin zu Grenzfragen und Streitereien um Lebensmittelbestimmungen. Diese Krise speist sich aus sich selbst. Das Negative in der Berichterstattung und wechselseitige Verärgerungen erzeugen neue, unnötige Skandale: Die Verhaftung prorussischer Publizisten, Lukaschenkos demonstrative Abwesenheit bei den Gipfeltreffen der OVKS und der Eurasischen Wirtschaftsunion in Sankt Petersburg sowie die Minsker Entscheidung, den russisch-israelischen Blogger Alexander Lapschin nach Aserbaidschan auszuliefern.

    Zuletzt erfolgte die Entscheidung des FSB, an der Grenze zu Belarus ein Grenzregime einzurichten. Dieser Schritt bedeutet in erster Auslegung eine de facto-Einführung von Passkontrollen, und zwar dort, wo es praktisch nie welche gab.

    Katharsis eines Präsidenten

    Lukaschenkos Pressekonferenz wäre womöglich nicht so emotional geraten, hätte der FSB diese Entscheidung nicht erst wenig Tage vorher verkündet. Vernichtend wäre sie allerdings trotzdem ausgefallen, weil so oder so der Siedepunkt erreicht war. Der Auftritt des belarussischen Präsidenten enthielt mehr Emotionen als Politik: Er machte seinem Ärger Luft, baute den angestauten Stress ab.

    Zu Beginn des rekordverdächtigen siebeneinhalbstündigen Gesprächs mit Presse und Volk vermied Lukaschenko sogar das Wort „Russland“. Ungefähr so, wie Wladimir Putin den Namen Alexej Nawalny niemals öffentlich in den Mund nimmt. Gefragt nach den Beziehungen zu Moskau sprach Lukaschenko fast anderthalb Stunden. Dabei begann er mit den Worten: „Die Lage ist an einem Punkt angelangt, an dem ich kaum das Recht habe, etwas zu verhehlen.“ Auf das Thema kam er sogar dann zurück, wenn es  um ganz andere Fragen ging. Eine vollständige Liste der auf der Pressekonferenz geäußerten Vorwürfe gegenüber Russland würde etliche Seiten füllen. Versuchen wir es stichpunktartig:

    Lukaschenko beschuldigte Moskau, internationale Öl-, Gas-, und Grenzverträge verletzt zu haben. Er erklärte, er habe wegen des Öl- und Gasstreits gegen Russland bereits Klage eingereicht und die belarussischen Vertreter aus den Zollgremien der Eurasischen Wirtschaftsunion abberufen. In Bezug auf die sich hinziehende Unterzeichnung des Zollgesetzbuches der Eurasischen Union erklärte Lukaschenko, dass er das Dokument bis zu einer Lösung des Öl- und Gasstreits nicht anrühren werde. Er äußerte den Vorwurf – der auf der Hand liegt, aus dem Munde eines Verbündeten jedoch grob klingt – dass Russland Belarus nicht als unabhängigen Staat wahrnehme.

    Lukaschenko hat den Innenminister angewiesen zu prüfen, ob nicht ein Strafverfahren gegen Sergej Dankwert, den Chef der russischen Landwirtschaftsaufsicht (Rosselchosnadsor), eröffnet werden könne. Dabei drohte er Dankwert mit einer Untersuchungshaft in Minsk, damit ihm die Lust vergehe, belarussische Lebensmittel zu verbieten. Erneut kam die Weigerung, einen russischen Luftwaffenstützpunkt einzurichten, dabei hat Moskau dieses Thema seit einem Jahr nicht mehr öffentlich angesprochen.

    „Wir sind durch Feuer und Flak geflogen. Und Sie wissen, wohin“, erklärte Lukaschenko programmatisch. Es wurden auch Details aus vertraulichen Verhandlungen auf höchster Ebene ausgeplaudert, mit bissigen Zitaten wie: „Wolodja [Koseform von Wladimir – dek], verdirb nicht den Abend“ und „Das habe ich Putin bereits gesagt, als der noch Demokrat war“.

    Wir sind durch Feuer und Flak geflogen. Und Sie wissen, wohin

    Es wäre falsch zu sagen, dass Lukaschenko vollständig die Kontrolle über sich verloren hätte. Neben Dutzenden skandalöser Erklärungen, die dann meist Schlagzeilen machen, gab es genauso viele besänftigende Töne. Der belarussische Präsident versprach, auf die FSB-Entscheidung über die Verschärfung des Grenzregimes nicht mit gleicher Münze zu antworten, um den Russen keine Probleme zu bereiten. Lukaschenko folgte der in unseren Ländern klassischen Formel „Gut ist der Zar, böse sind die Bojaren“ und gab nicht Putin die Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen, sondern seinem Umkreis: „Da gibt es in der Tat unterschiedliche Kräfte. Sie sind heutzutage leider auch an der Spitze des Landes zu finden. Und was besonders schlecht ist: Einige Dinge weichen von den Ansichten und Entscheidungen des Präsidenten selbst ab.“

    Lukaschenko ist ein erfahrener Verhandlungsführer, und der rhetorische Schachzug leuchtet ein. Indem er Putins Untergebenen die Schuld an den Problemen in die Schuhe schiebt, gibt er Putin, so dieser will, die Möglichkeit zu einer Aussöhnung ohne Gesichtsverlust. Auf diese Weise haben beide Seiten die vergangenen 15 bis 20 Jahre agiert: Sobald die Menge der Streitereien auf Ebene der Ministerien und Staatskorporationen qualitativ relevant wurde, mischten sich die Präsidenten ein, und im Namen der jahrhundertealten Bruderschaft entschieden sie alles gütlich.

    Jetzt geschieht nichts dergleichen, und so gelangen wir zu einem weiteren Grund für Lukaschenkos  demonstrativen Zorn: Er will den früheren Putin am Verhandlungstisch zurückhaben, statt all jene unfreundlichen Gesprächspartner aus Moskau, mit denen Minsk in den vergangenen Monaten zu tun hatte.

    Es stimmt, dass zwischen den Präsidenten eine persönliche Abneigung und eine psychologische Unvereinbarkeit besteht. Andererseits war Wladimir Putin nahezu das einzige Kraftzentrum innerhalb der russischen Elite, das die Beziehungen der beiden Staaten potenziell auf positive Bahnen lenken konnte.

    Die schwindende goldene Mitte

    Traditionell hat es in der russischen Elite drei Ansätze für die Beziehungen zu Belarus gegeben, zwei extreme und einen zentristischen.

    Eins der Extreme ist der Ansatz der pragmatischen Marktwirtschaftler in der Regierung, zu deren Exponenten Dimitri Medwedew und Arkadi Dworkowitsch gezählt werden können – sowie zuvor auch Alexej Kudrin und Anatoli Tschubais. Auf der Expertenebene werden diese Positionen in Kreisen der Higher School of Economics vertreten. Diesen Leuten ist eine imperiale Agenda, die Idee eines „Sammelns postsowjetischer Erde“ fremd; Lukaschenkos Lieblingsargument „Wir haben doch gemeinsam in den Schützengräben gekämpft!“ lässt sie kalt. Das von einigen russischen Intellektuellen verehrte Lager der Pragmatiker war für die belarussische Regierung immer schon  der unangenehmste Verhandlungspartner. Diese russischen Funktionäre und Experten vertreten am aktivsten den Standpunkt, dass Minsk im Großen und Ganzen ein Schmarotzer sei und endlich nicht mehr durchgefüttert werden sollte.

    Das andere Extrem ist imperial und nationalistisch. Es ist im Block der Silowiki verbreitet sowie auf der Expertenebene unter Verfechtern des Russki mir, radikalen Eurasiern und Slawophilen. Deren Agenda ist einfach: Die Unabhängigkeitsspielchen der Provinz im Nordwesten sind natürlich amüsant, doch werden sie früher oder später ein Ende haben müssen. Solange Lukaschenko auf einem Integrationskurs bleibt, ist er auf unserer Seite, sobald er aber dem Westen Avancen macht, muss man ihn daran erinnern, wer hier der kleine Bruder ist.

    Der belarussische Präsident hat auch das imperiale Lager in der russischen Elite nicht allzu sehr in sein Herz geschlossen, weil er weiß, dass ihm in dessen Weltbild allenfalls ein Gouverneursposten zufallen würde. In guten Zeiten immerhin hatte Lukaschenkos traditionelle Rhetorik von der unverbrüchlichen slawischen Bruderschaft durchaus eine Wirkung auf die russischen Imperialen gehabt.

    Putin als Schlichter zwischen den Extremen

    Wladimir Putin übernimmt auf der innerrussischen Bühne oft die Rolle des zentristischen Schlichters zwischen dem pragmatisch-liberalen Kremlturm einerseits und dem der Konservativen und Silowiki andererseits. Einen solchen vermittelnden Ansatz hatte Putin auch stets gegenüber Minsk verfolgt, was Lukaschenko sehr entgegenkam.

    Zum einen ist der auf Integration gerichtete Eifer des Kreml fast immer duldsam gewesen, weil Putin kein fanatischer Anhänger der eurasischen Ideen ist. Zum anderen drehte Putin regelmäßig die von der eigenen Regierung zugedrehten Öl- und Gashähne wieder auf, weil er für Beschwörungen einer slawischen Bruderschaft empfänglich ist.

    Die Konflikte zwischen Minsk und Moskau erfolgten immer dann, wenn die Linie des Kreml einem der beiden Extreme zuneigte: angefangen mit Putins Vorschlag, dass Belarus 2004 in Form von sechs Verwaltungsgebieten Russland beitreten könnte, bis hin zum Schwenk in Richtung der Pragmatiker unter der formalen Präsidentschaft Medwedews. Es ist kein Zufall, dass die letzte anhaltende Krise der Beziehungen – mit ihren Milch-, Zucker-, Öl- und Informationskriegen – in den Jahren 2009 und 2010 war.

    Plumper Druck auf Minsk: Ölhahn auf und wieder zu

    Lukaschenkos Problem besteht heute darin, dass die goldene Mitte allmählich aus der Rechnung herausfällt. Denn diese extremen und bislang marginalen Ansätze innerhalb der russischen Außenpolitik sind nun eigenmächtig und ebenbürtig geworden, zumindest wenn es um Belarus geht. Es scheint, als sei Wladimir Putin vollauf mit der globalen Agenda beschäftigt und kümmere sich einfach nicht mehr um Kleinigkeiten wie die Streitereien mit Minsk. Deren Lösung wurde delegiert an Silowiki und Traditionalisten oder aber an Pragmatiker und Technokraten. Hierher rührte denn auch der plumpe Druck auf Minsk zur Errichtung eines Luftwaffenstützpunktes einen Monat vor Lukaschenkos Wiederwahl 2015 und das Ansetzen des Energiehebels bis zum Anschlag: Nämlich dann, wenn Moskau zur Eintreibung der Minsker Schulden aus Gaslieferungen ganz unverhohlen einfach die Öllieferungen drosselt.

    Das hatte auch Lukaschenko beiläufig erwähnt, als er auf der Pressekonferenz von den schleppenden Gasverhandlungen mit Putin sprach: „Als wir bei ihm waren, haben wir bis zwei Uhr nachts alles besprochen, ganz familiär. Und dann kam die letzte Frage: Er nimmt seine Unterlagen und versucht, mir irgendwas zu erklären. Ich sagte ihm: ‚Warte mal, willst du sagen, dass ihr diesen Weg nicht so gehen könnt, wie eigentlich beabsichtigt?‘ ‚Ja, ich habe meine Gründe, die Minister haben sich bei mir gemeldet‘.“

    Lukaschenko möchte, dass Putin wie früher die Minister im fraglichen Moment aus Konflikten heraushält und selbst entscheidet – und nicht, andersherum, die Probleme auf Untergebene abwälzt. Daher rührt auch der heftige Ton der Pressekonferenz. Der belarussische Präsident möchte sich beim russischen Kollegen laut Gehör verschaffen, damit dieser endlich den erbärmlichen Zustand der Beziehungen zur Kenntnis nimmt.

    Herbst einer Ehe

    Wie im Streit zweier Eheleute muss einer manchmal laut werden. Minsk hat Dampf abgelassen. Jetzt sollte das Pendel des Konflikts – zumindest auf der öffentlichen Ebene – vom nervenaufreibenden Höhepunkt langsam wieder in ruhigere, eingeschliffene Bahnen zurückschwingen.

    Der Öl- und Gasstreit wird, falls er nicht beim Treffen von Putin und Lukaschenko am 9. Februar beigelegt werden kann [das Treffen wurde verschoben – dek], vor dem Gerichtshof der Eurasischen Union landen. Die belarussischen Schulden von einer halben Milliarde US-Dollar werden derweil weiter anwachsen und darauf warten müssen, dass die Politiker sie wenigstens zum Teil abschreiben oder Kompensationsmechanismen finden.

    Derweil wird Sergej Dankwert wohl kaum ein Strafverfahren zu befürchten haben, solche Spitzen sind zu riskant, schließlich handelt es sich um einen hochrangigen Funktionär der föderalen Verwaltung. Dankwert wird allerdings auch kaum aufhören, immer mal belarussisches Rindfleisch und Milch an der Grenze zurückzuschicken. Der Blogger Lapschin wird wohl nach Aserbaidschan ausgeliefert werden [Lapschin wurde inzwischen bereits ausgeliefert – dek] und danach in eines der Länder überstellt, deren Staatsangehörigkeit er hat. Die Fachleute vom Grenzschutz werden sich hinsetzen und erörtern, wie man nun auf neue Art mit der gemeinsamen Grenze leben wird: Die visafreie Einreise für Europäer und Amerikaner nach Belarus tritt ab dem 12. Februar in Kraft, und Moskau wird begreifen, dass bisher kein Strom westlicher Migranten die Gebiete Smolensk und Brjansk im Sturm nimmt.

    Doch der Konflikt wird nie mehr ganz verschwinden. Um erneut die Ehe-Analogie zu bemühen: In den Beziehungen zwischen Belarus und Russland hat der Alltag endgültig die Romantik abgetötet, mit der vor 20 Jahren alles anfing. Aus einem komplizierten Bund zweier emotionaler Partner mit ihren Macken und einem Hang zu gegenseitiger Erpressung ist eine Scheinehe geworden. Der Mann hat jetzt neue Interessen, die Frau kokettiert mit dem Nachbarn, zuerst als Neckerei und Spiel der Eifersucht, dann aus längerfristigem Kalkül: Womöglich wird man sich früher oder später eine neue Bleibe suchen müssen.

    Geht es einer Scheidung entgegen?

    Geht es einer offiziellen Scheidung entgegen? In absehbarer Zukunft nicht, das wäre nicht die slawische Art. Die heutigen Eliten, seien es die in Minsk oder in Moskau, werden sich wohl an den vielzähligen Formaten bilateraler Integration festhalten: Unionsstaat, OVKS, Eurasische Wirtschaftsunion, GUS, all diese hübschen Stempel im Pass. Umso mehr, als von deren Existenz für Belarus ganze Wirtschaftszweige abhängen und für den russischen Nachbarn das Image eines attraktiven Gravitationszentrums, das Russland aufrechterhalten will.

    Doch das ändert nichts am Kern der Sache – das gewohnte Beziehungsformat steckt in der Sackgasse. Während sie sich ständig neue Beulen zufügen, wird beiden Seiten bewusst, dass eine Integration derart unterschiedlich großer und gleichzeitig autoritärer Länder nicht sowohl gleichberechtigt als auch finanziell unkompliziert sein kann. Alle Versuche Moskaus, seine jahrelangen Investitionen in einen größeren Einfluss auf Minsk umzumünzen, werden auf Widerstand stoßen. Im gleichen Maße, wie sich Belarus an seine Unabhängigkeit gewöhnt hat, ist dessen ewiger Präsident nicht fähig, seine Macht mit irgendjemandem zu teilen. Und die belarussischen Versuche, Moskau für das frühere Lehens-Modell wiederzugewinnen – in Belarus trägt das den schönen Namen „Öl gegen Küsse“ – sind ebenfalls fruchtlos. Der Kreml ist daran nicht mehr interessiert.
    Selbst wenn es gelingen sollte, den aktuellen Streit unter großen Anstrengungen einzudämmen, wird er in die Geschichtsbücher eingehen, zumindest in die belarussischen. Nach der Unabhängigkeitserklärung und deren institutioneller Verankerung – eine eigene Bürokratie, Währung und Armee – ist dieser Konflikt für Belarus eine der wichtigsten Etappen, um sich von der einstigen imperialen Metropole abzunabeln.

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