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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Muratows Krawatte und der Friedensnobelpreis

    Muratows Krawatte und der Friedensnobelpreis

    Als unangenehm empfindet es Dmitri Muratow, dass der Friedensnobelpreis 2021 ganz persönlich an ihn geht. Nicht an die Novaya Gazeta insgesamt, die auch früher schon mehrfach für den Preis vorgeschlagen gewesen sei – das sagte der Chefredakteur nach Bekanntgabe der Preisträger in einem Interview. Muratow gilt als jemand, der sich nicht gern in den Vordergrund spielt: Den Preis widmet er den sechs getöteten Kolleginnen und Kollegen seiner Zeitung und der gesamten Redaktion.

    In der unabhängigen Medienöffentlichkeit des Landes fielen zuvor andere Namen, die man sich als Kandidaten gewünscht hatte: der inhaftierte Kremlkritiker Alexej Nawalny etwa, dessen landesweite Organisation zerschlagen am Boden liegt. Oder Swetlana Tichanowskaja – die belarussische Oppositionsführerin, die im Exil ebenfalls jede Aufmerksamkeit und Unterstützung gebrauchen könnte.

    Den Preis bekommt aber ein Journalist, Muratow. Viele im Land feiern ihn und werten die Entscheidung als Stärkung des Kampfs für Meinungsfreiheit in Russland. Doch werden in der Opposition und in Kreisen der unabhängigen russischen Medien auch Zweifel laut, ob Muratow denn tatsächlich ein würdiger Preisträger sei.

    Wie kann das sein? Wovon lässt sich die Freude über die erste Preisvergabe für einen russischen Journalisten überhaupt so trüben? Woher rühren Zweifel an einem Mann, der bald ein Vierteljahrhundert lang das Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Russland verantwortet? Der politische Analyst Andrej Kolesnikow sucht für Carnegie nach Antworten – auch an die Adresse der Kritiker.

    Die Portraitzeichnung auf der Website des Nobelkomitees lässt den Charakter des Nobelpreisträgers Dmitri Muratow nur bis zu einem gewissen Grad erkennen: Die verstrubbelten Haare sind eine starke künstlerische Übertreibung und die zur Seite gerutschte Krawatte – nun, in echt habe ich Dmitri Muratow wohl nur ein einziges Mal mit Krawatte gesehen, nämlich auf einem der Jubiläen der Novaya Gazeta, an deren Spitze er seit vielen Jahren steht. Und auf Fotos, auf denen er internationale Preise entgegennimmt – weniger für sich selbst als für die Zeitung.

    Muratow und Krawatten sind unvereinbare Dinge, wie Genie und Verbrechen. Der Chefredakteur der Novaya Gazeta verkörpert den russischen Journalismus: und zwar sowohl den spät- und den postsowjetischen, als auch den in Zeiten der Verhärtung des politischen Regimes. Also einen Journalismus, der Features, Reportagen, investigative Recherchen, gehaltvollen Sprachwitz und Menschenrechtsarbeit mit absolut praktischer Hilfe für die Erniedrigten und Beleidigten verbindet.

    Dmitri Muratow ist ein Schwergewicht, und zwar ein politisches Schwergewicht

    Der Nobelpreis für Muratow ist zweifellos auch eine Auszeichnung für jenen Teil des russischen Journalismus, der sich all die postsowjetischen Jahre für Menschenrechte und in erster Linie für die Verteidigung der Meinungsfreiheit eingesetzt hat. Im allerpraktischsten Sinne. Es ist ein Preis für eine Zeitung, die diesen Typ Journalismus verkörpert und auf erstaunliche Weise in einer absolut feindlichen Umgebung überlebt. Sie hat in der papierlosen Medienwelt Russlands ihre Papierausgabe bewahrt, während ihre Online-Leserschaft in allen Altersgruppen wächst.

    Der Preis ist aber auch eine Anerkennung für das Charisma des Chefredakteurs – eines Graubärtigen in Turnschuhen mit Rucksack auf dem Rücken, der kaum wie jemand wirkt, den Bürokraten, Politiker und Oligarchen achten und fürchten könnten.

    Die häufigste Frage, die derzeit zur Novaya Gazeta gestellt wird – mit Untertönen und Anspielungen – ist die, warum sie als einer der wichtigsten Widersacher des Regimes noch immer nicht ausländischer Agent sei. Das ist angesichts der klischeehaften Vorstellungen über die vom Regime unterdrückte russische Presse nur sehr schwer in klischeehaften Begriffen zu erklären. Für mich – ich habe viele Jahre im täglichen Kontakt mit dem Preisträger in der Zeitung gearbeitet – gibt es nur eine Erklärung: Dmitri Muratow ist ein Schwergewicht, und zwar ein politisches Schwergewicht.

    In dem stark eingeschränkten Bereich der unabhängigen russischen Medien gibt es zwei Menschen die von den Machthabern tatsächlich geachtet und daher bislang nicht angerührt wurden: Das sind Dmitri Muratow und der Chefredakteur von Echo Moskwy, Alexej Wenediktow. Zwei Menschen, mit denen sehr gewichtige Personen bereit sind zu reden und deren Meinung zu berücksichtigen. Muratow und Wenediktow sind Schwergewichte, weil sie für die Biografie und die gesamte Geschichte des postsowjetischen Journalismus stehen: des stürmischen, konfliktfreudigen, kompromisslosen Journalismus, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Sie stehen auch für die Dialogerfahrung mit den Machthabern in einer Sprache, die sie verstehen und die nicht ignoriert werden kann. 

    Ein Beispiel zum besseren Verständnis: Die Freilassung des Investigativreporters Iwan Golunow im Sommer 2019, der grundlos von der Polizei verhaftet worden war, war selbstverständlich das Ergebnis des massiven öffentlichen Drucks. Vor zwei Jahren funktionierte so etwas noch, anders als heute. Die Rolle von Wenediktow und Muratow bei der Rettung von Golunow ist jedoch auch nicht zu unterschätzen. Auf einen anderen hätten diejenigen, die letztendlich die Entscheidung trafen (Golunow freizulassen und dann gar die Polizisten zu bestrafen), wohl kaum gehört.

    Im Grunde ist auch Anna Politkowskaja, zusammen mit Muratow, Trägerin dieses Preises

    Die Auszeichnung für Muratow mit dem Friedensnobelpreis kommt gerade während eines Konflikts im – nennen wir es – demokratischen Milieu: Der Chefredakteur der Novaya Gazeta stellte sich vor den Chefredakteur von Echo Moskwy, als die oppositionelle Öffentlichkeit buchstäblich eine Hetzjagd gegen Wenediktow gestartet hatte – weil dieser mit der Zentralen Wahlkommission zusammenarbeitet und blindwütig für die elektronische Stimmabgabe eintritt. Wobei Wenediktow tatsächlich glaubte und glaubt, dass dieses System fortschrittlich sei und dabei helfen könne, Wahlfälschungen abzuwenden. 

    Ob er damit recht hat oder nicht, ist eine andere Frage. Die Unnachsichtigkeit gegenüber einem Opponenten innerhalb des demokratischen Milieus ist aber haarsträubend. Das zeigte sich während der Parlamentswahl, als man alle, die Jabloko ihre Stimme gaben und sich nicht an den Kanon des Klugen Wählens hielten, entweder zu Idioten oder Fieslingen erklärte. Das Ergebnis war ein öffentlicher Konflikt zwischen Muratow und Wolkow, dem Stabschef von Alexej Nawalny. Also ein Streit – und zwar ein sehr grundsätzlicher – zweier Menschen, die eigentlich für eine gemeinsame Sache arbeiten.

    In Muratows Logik bedeutete die Hetze gegen Wenediktow und Echo einen Suizid des engagierten demokratischen Journalismus: Weil dieser nicht auf soziale Netzwerke und Videoformate reduziert werden kann, sondern auch landesweit in klassischen Medien vertreten sein muss. Und es ist falsch, den Machthabern dabei zu helfen, die noch lebenden Oasen, solche ohne Agenten-Status, zu vernichten – zu denen auch die Novaya Gazeta gehört.

    Muratow hat auch einen politischen Standpunkt: Für ihn ist die Unterstützung für das Kluge Wählen Herdenverhalten, das nichts mit einer bewussten Wahlentscheidung zu tun hat, sondern lediglich den Kommunisten und dem von ihnen geliebten Stalin Punkte bringt. Außerdem macht Muratow keinen Hehl daraus, dass er mit Grigori Jawlinski befreundet ist.

    Und dann der dritte Punkt: Da die Zeitung [Novaya Gazetadek] Menschen aus schwierigen Lebenslagen herausholt und unter anderem Menschen mit seltenen Erkrankungen hilft, ist in diesem Bereich eine Zusammenarbeit mit dem Staat möglich und sogar notwendig. Und auch hier steht Muratow in einem harten Konflikt mit jenen, die meinen, dass man nicht einmal für ein gerettetes Menschenleben eine Zusammenarbeit mit dem Regime eingehen sollte, etwa mit dem Bankier Andrej Kostin. Der Chefredakteur meint aber, dass man es doch sollte.

    Diejenigen, die beschlossen haben, den Friedensnobelpreis an Muratow zu vergeben, kennen natürlich all diese Nuancen nicht und müssen das auch nicht. Das sind unsere Streitereien, die sich zugespitzt haben durch die Demoralisierung der Protest-, Oppositions- und einfach der Bürgerbewegung nach den Repressionswellen und dem massenhaften Einsatz restriktiver Gesetzgebung. Gerade dieser Umstand ist dem Nobelkomitee gleichwohl klar: In Russland braucht vor allem die Meinungsfreiheit Unterstützung. Für deren Einstehen Menschen ins Gefängnis kommen und ermordet werden.

    In einem Redaktionsraum der Novaya Gazeta hängen Fotografien jener Redaktionsmitglieder an der Wand, die für die Ausübung ihrer beruflichen Pflicht und den Einsatz für Menschenrechte getötet wurden. Wenn Tag für Tag eine solche Mahnung über deinem Kopf hängt, dann verstehst du besser als andere, welchen Preis diese Art von Journalismus hat. 

    Die Gallionsfigur der Novaya Gazeta ist Anna Politkowskaja. Sie ist ein Symbol dafür, wie der Staat seiner Pflicht nicht nachkommt, seine Bürger und die ihnen garantierte Meinungsfreiheit zu schützen. Einen Tag vor der Bekanntgabe der Friedensnobelpreisträger wurde in der Zeitung an Politkowskaja erinnert, am 15. Jahrestag ihrer Ermordung und im Zusammenhang mit der abgelaufenen Verjährungsfrist für die Untersuchung dieses Verbrechens. Im Grunde ist auch Anna Politkowskaja, zusammen mit Muratow, Trägerin dieses Preises.

    Während seiner gesamten Karriere hat Muratow die unbequemsten Wahrheiten über die Staatsführung und jene Menschen ans Tageslicht gezerrt, die unrechtmäßig von ihr genährt werden. Er hat endlos Menschen aus den schwierigsten Lebenslagen herausgeholt, unter anderem, als man seine Mitarbeiter direkt vor dem Redaktionsgebäude verhaftet hatte. Manchmal ist schwer zu verstehen, wo für ihn die Verteidigung von Menschenrechten aufhört und wo Journalismus anfängt, und umgekehrt.

    Nobelpreis für Muratow, Schutz für Nawalny

    Er ist ein Mensch, der sich mit einem Minister mit Schulterklappen an einen Tisch setzen und ihn davon überzeugen kann, dass er, Muratow, Recht hat. Oder an einen Tisch vis-a-vis Wladimir Putin, um ihm eine Frage zur Sache zu stellen – und nicht „Wie lange noch?“ und nicht im Format des Direkten Drahtes. Sondern eine, die der erste Mann im Staate nicht erwartet. Weil diese Frage gehaltvoll ist, nach Entscheidungen verlangt und gewisse Neuigkeiten in sich birgt.

    Diese Eigenschaften Muratows und seiner Zeitung blieben nicht unbemerkt. Der Preis wurde einem Journalisten verliehen, zusammen mit einer weiteren Journalistin, auch aus einem Land, in dem die Meinungsfreiheit in Gefahr ist. Er wurde dem Chefredakteur einer Zeitung verliehen, die sich stets der Staatsmacht entgegenstellt, sich für Menschenrechte einsetzt und in Russland das Genre des investigativen Journalismus begründet hat. Ja, er wurde nicht Alexej Nawalny verliehen, sondern einem Menschen, der im Land die personifizierte Meinungsfreiheit ist. Und diese ist höchst bedeutend dafür, dass Nawalny – der wichtigste Widersacher der Staatsmacht – nicht in einem Informationsvakuum bleibt, also nicht ohne Schutz durch die Öffentlichkeit.

    Das ist die Logik. Sowohl aus Sicht des Westens als auch nach unserem eigenen Verständnis.

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  • Schöne neue Welt?

    Schöne neue Welt?

    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen, wichtig sei, dass sie sich getroffen haben, sich alles wieder etwas normalisiere. Die eigentliche Arbeit gehe jetzt erst los. So könnte man im Großen und Ganzen die russischen wie deutschen Einschätzungen des Putin-Biden-Treffens am gestrigen Mittwoch, 16. Juni 2021, in Genf zusammenfassen. Dem ging unter anderem voraus, dass Biden im Frühjahr – noch ziemlich frisch im Amt – im TV die Frage „Denken Sie, dass Putin ein Killer ist?“ mit „Das tue ich“ beantwortet hatte.

    Beim gestrigen Treffen in Genf nun einigten sich beide Staatschefs darauf, dass die jeweiligen abgezogenen Botschafter wieder nach Moskau und Washington zurückkehren, in Fragen der Rüstungskontrolle strebe man einen „Stabilitätsdialog“ an. Auch Gespräche über Cybersicherheit seien geplant. Biden sagte zudem, man habe Russland klargemacht, dass die USA Menschenrechtsverletzungen weiterhin kritisieren würden.

    Nach dem Treffen betonten beide Staatschefs in getrennten Pressekonferenzen den konstruktiven Ton der Zusammenkunft. US-Präsident Biden fasste zusammen, dass niemand Interesse an einem neuen Kalten Krieg habe. Inwiefern das Treffen dennoch restaurativen Charakter trage und an Zeiten der alten Bipolarität erinnere – das kommentiert Alexander Baunow auf Carnegie.ru.

    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen – so der Tenor zum Treffen Bidens und Putins in Genf / Foto © kremlin.ru, CC BY 4.0
    Überraschungen seien nicht zu erwarten gewesen – so der Tenor zum Treffen Bidens und Putins in Genf / Foto © kremlin.ru, CC BY 4.0

    Auch die Russen lieben ihre Kinder – dieser Satz war ein Vorbote für das Ende des Kalten Krieges. Nach dem Gipfel in Genf haben wir von Präsident Putin erfahren, dass Präsident Biden seine Mutter liebt und während der Verhandlungen auf sie zu sprechen kam. Wenn es den Staatsoberhäuptern der beiden Länder nur mit Mühe gelingt, das gemeinsame politische Terrain zu sondieren, so suchen sie es im Einfachen und Menschlichen. 

    Das neue Russland

    Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich, und das Gipfeltreffen mit dem wichtigsten demokratischen Staatsoberhaupt hat diesen Umbau nicht verlangsamt, sondern, im Gegenteil, beschleunigt. Als hätte man sich bei dem Treffen mit Biden darauf vorbereitet, ein neu formatiertes Russland zu präsentieren, mit dem und über das man spricht.

    Weder im außen- noch im innenpolitischen Verhalten des Kreml gab es vor dem Gipfel Schritte, die als Versuch gelten können, gefallen zu wollen. Ein Angleichen oder auch nur ein Versprechen sich anzugleichen wurde nicht nur aufgeschoben, sondern abgebogen.

    Russlands politisches System wird immer weniger westlich, geradezu herausfordernd unwestlich

    Während des vergangenen Jahres wurde die Entwicklungphase Russlands abgeschlossen, die man symbolisch als Gorbatschow-Jelzin-Etappe bezeichnen könnte. Die Verfassungsänderungen besiegelten den Bruch. Die Vielzahl an Änderungen markieren nicht so sehr den Beginn einer neuen Etappe, vielmehr verleihen sie der Quantität schon angesammelter Änderungen eine neue Qualität und institutionalisieren das Putinsche Russland.

    Putin ist nach Genf gefahren, um dort im Namen dieses neuen Russland zu sprechen, das sich nun nicht mehr entwickelt, indem es Institutionen nach westlichem Vorbild aufbaut oder gar imitiert. Diese Aufgabe ist von der Agenda gestrichen. Russland geht nicht mehr auf einem souveränen Weg auf ein gemeinsames Ziel zu, jetzt ist sein Ziel selbst souverän. 

    Das Neue Russland verzichtet weiterhin nicht auf Marktwirtschaft und prinzipiell offene Grenzen. Aber: Hier muss Glasnost nun nicht zwingend zur westlichen Meinungsfreiheit, Pluralismus nicht zum demokratischen Wettstreit werden und der Markt muss nicht geöffnet werden für Unternehmen aus dem Westen. 

    Und genau deshalb hatte der bevorstehende Gipfel auch keinerlei Einfluss auf den Umgang mit der Opposition und den unabhängigen Medien oder auf die Unterstützung Lukaschenkos. Im Gegenteil: Im Vorfeld des Treffens mit Biden hat der Kreml den Ausbau eines autoritäreren Staates nicht gestoppt, sondern beschleunigt. Die Versuche Bidens (und zuvor ausländischer Journalisten), Putin wegen der Leiden russischer Oppositioneller zu beschämen, prallten auf eine Mauer des Unverständnisses und führten zu Beschuldigungen der Gegenseite. Das Koordinatensystem, in denen solche Anschuldigungen Gewicht haben, existiert für Putin nicht mehr. 

    Aus Russlands Handeln vor dem Gipfel folgt, dass die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung kein tragfähiges Modell mehr ist. Moskau will zeigen, dass Zugeständnisse nun gegen Zugeständnisse getauscht werden müssen oder gegen Androhungen von realem Schaden. Also hat Biden eine Liste von 16 Themengebieten entrollt, in denen Cyberattacken Tabu sind: „Drohungen gab es keine, wir haben nur gesagt, wie wir auf eine Verletzung der amerikanischen Souveränität reagieren werden.“ 

    Die Diplomatie der Zugeständnisse im Austausch für Lob und Anerkennung ist kein tragfähiges Modell mehr

    Russland hat hier den Vorteil, dass es ein Land mit höherer Schmerzgrenze ist, das zur Durchsetzung seiner Interessen zu größeren Opfern bereit ist – und dessen Führung sich nicht vor Opposition und Presse verantworten muss. Der Westen stützt sich seinerseits auf eine ganze Bandbreite finanzieller und technologischer Überlegenheiten, mit denen er Druck auf Russland ausüben kann. Im Ergebnis wird nun der zweite Versuch gemacht, eine bilaterale Kommission für Cyber-Gefahren einzurichten – den ersten unter Trump hatten Kongress und Staatsapparat blockiert.

    Das neue Amerika

    Putin brachte das neue Russland mit zum Gipfel, Biden das neue Amerika. Dies ist ein Amerika, das die Beziehungen zu seinen Verbündeten, die Einheit des Westens und das Ansehen der Demokratie wiederherstellt. Bidens Projekt ist dabei offen restaurativ, doch Putins Projekt, zumindest für das System der internationalen Beziehungen, ebenfalls. 

    Die Beziehungen zu Russland müssen von nun an offiziell nicht auf Russlands potentieller Ähnlichkeit zum Westen gründen. Sie sind auch nicht abhängig davon, wie der Westen Russlands Zustand bewertet – sondern sie richten sich ausschließlich auf gemeinsame Interessen in den Bereichen, wo sie denn bestehen, gegen einen gemeinsamen Feind, falls sich so einer finden lässt, um Zusammenstöße dort zu vermeiden, wo sie auftreten könnten.

    Bidens Projekt ist offen restaurativ, doch Putins Projekt ebenfalls

    Darüber hinaus wurde den beiden entscheidenden Supermächten zu den besten Zeiten ihres Zusammenwirkens angeboten, im Interesse der gesamten Menschheit gemeinsam gegen weltumspannendes Übel vorzugehen – angefangen bei Faschismus und Kolonialismus bis hin zur Hilfe für Entwicklungsländer gegen Hunger und Analphabetismus. Die Plattform „gegen den gemeinsamen Feind“ bringt Putin den USA gelegentlich nahe: Er schlägt eine Zusammenarbeit gegen den islamistischen Terror vor, gegen die Pandemie oder die globale Erwärmung. Die amerikanischen Präsidenten waren einer solchen Zusammenarbeit gegenüber bislang nicht sehr aufgeschlossen, würde doch Russland dadurch, wenn auch nur scheinbar, den eingebüßten Status zurückerlangen.

    Biden kann einer solchen Zusammenarbeit jedoch zustimmen. Einen hohen Stellenwert in seiner Vorstellung von bilateraler Zusammenarbeit hat das Klima. Das Pariser Klimaabkommen hat sich stark eingeprägt, weil Putins und Trumps Positionen sich nicht trafen. Und das bedeutet, wenn man sich Moskau bei diesem Thema annähert, geht man nicht auf Putin zu, sondern handelt gegen Trump. 
    Auch das klassische Thema der START-III-Verlängerung und die nukleare Rüstungskontrolle wurden von Trump vernachlässigt. Demnach kann Biden auch hier mit Putin zusammenarbeiten, ohne dabei im Schatten eines nachgiebigen Trump zu stehen. 

    Schon während des Kalten Krieges lag Biden als Berufspolitiker das Thema der Verhinderung eines nuklearen Konflikts zwischen den beiden prinzipiell verschiedenen Staaten am Herzen. Und auch der Kreml freut sich über die Wiederbelebung der guten alten Tradition der Atomgespräche zwischen den Supermächten. Dazu gaben beide Seiten sogar eine gemeinsame Erklärung ab, obwohl von dem Gipfel gar keine Beschlüsse erwartet worden waren.

    Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen

    Die beiden Seiten waren so sehr von globalen Themen in Anspruch genommen, dass sie sich allem Anschein nach nicht ausführlich mit lokalen Konflikten beschäftigten. Die Themen Ukraine und Belarus, Syrien und Libyen wurden zwar angesprochen, allerdings nicht ausreichend für jene, für die diese Themen am wichtigsten sind. Die Journalisten ließen es sich nicht nehmen, Biden dafür Vorwürfe zu machen, genauso wie dafür, dass er es verpasst hatte, Putin offen anzuprangern.

    Das Ausbleiben einer gemeinsamen Pressekonferenz war die positive Antwort Bidens auf die wichtigste Frage der russischen Außenpolitik: „Respektierst Du mich?“. Eine positive öffentliche Antwort oder zumindest das Ausbleiben einer öffentlichen negativen Antwort war die Bedingung für das Treffen sowie für Gespräche mit Moskau generell.

    Die neue Welt

    Nach dem Wahlsieg Bidens hat vor unseren Augen ein wichtiger Umschwung stattgefunden. Als die Demokraten in das Weiße Haus einzogen, schien es, als ob der Hauptkonflikt der Präsidentschaft Trumps zwischen den USA und China beigelegt und Russland nun isoliert und hart bestraft würde. Einige Monate später sehen wir, dass sich die Rhetorik der neuen Regierung in Bezug auf China verschärft hat.
    Biden trifft sich früher mit Putin als mit Xi Jinping. In seinen Aussagen über China tauchte die These von der künstlichen Entstehung des Corona-Virus in einem Labor auf, was bislang fälschlicherweise für ein Trump-Thema gehalten wurde.
    China ist nun nicht mehr willkürliche Zielscheibe für Trumps persönliche Wut, sondern objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen. Sie zu lösen, indem man Russland enger an die westliche Welt bindet, ist nicht gelungen. Bleibt also nur, Russland unschädlich zu machen und es dabei so zu lassen, wie es laut seiner Führung sein will, solange das von der Mehrheit der Bevölkerung noch nicht angefochten wird.

    China ist nun objektiver globaler Rivale – und es ist nun Aufgabe jeder US-Regierung, ihn einzudämmen. Doch bevor es an diese grundlegende Aufgabe geht, ist es wünschenswert, die russische Frage irgendwie zu lösen

    Biden hat die theoretische Chance nicht vertan, Russland aus der aktiven Konfrontation herauszuführen und das Beziehungschaos, das auf den Trümmern von Russlands westlichem Weg entstanden ist, langsam zu ersetzen durch den Aufbau einer neuen vertraglichen Ordnung mit einem also doch wieder nicht-westlichen Russland.
    Für Putin bietet das die Möglichkeit festzuklopfen, dass mit Russland nicht in der Annahme seiner künftigen westlichen Qualitäten verhandelt wird, sondern mit Russland als das, was es ist, wie schon zu Zeiten der alten Bipolarität. Die auf dieser Grundlage getroffenen Vereinbarungen verlieren auch dann nicht an Gültigkeit, wenn Russlands derzeitiges Staatsoberhaupt länger an der Macht bleiben sollte, als es in früheren, westlicher orientierten Zeiten vorgesehen war.

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  • Das Wichtigste bleibt ungesagt

    Das Wichtigste bleibt ungesagt

    Der Fall Nawalny und das hohe russische Truppenaufkommen an der Grenze zur Ukraine belasten einmal mehr die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. In seiner gestrigen Rede zur Lage der Nation ging Putin allerdings weder auf das eine noch das andere ein. Er versprach ein umfangreiches Sozialprogramm und warnte den Westen davor, rote Linien zu überschreiten.

    Am selben Tag sind russlandweit tausende Menschen einem Protestaufruf von Nawalnys Team gefolgt. Die Sicherheitsbehörden waren dabei massiv gegen die Demonstranten vorgegangen, Elektroschocker wurden eingesetzt, die Organisation OWD-Info zählt mehr als 1700 Festnahmen, über 800 davon allein in Sankt Petersburg.

    Die Politologin Tatjana Stanowaja analysiert Putins Rede auf Carnegie.ru und wirft einen Blick vor allem auf das, was er nicht sagte. Die Sprachlosigkeit zwischen politischem System und Gesellschaft, die sie konstatiert, spüren auch andere: Etwa Regisseur Andrej Swjaginzew.

    Am 21. April wandte sich Wladimir Putin nach einer längeren Pause mit seiner jährlichen Ansprache an die Föderationsversammlung. Sie war diesmal begleitet von zahlreichen Gerüchten und erwarteten Sensationen wie die offizielle Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepubliken oder die Angliederung von Belarus.  

    Doch die aktuelle Rede war klar auf die Vorbereitungen zur Dumawahl im Herbst zugeschnitten. Sie sollte vor allem Anreize für die russische Gesellschaft schaffen, im Herbst für die Regierung zu stimmen oder, wenn möglich, von den Forderungen nach Wandel Abstand zu nehmen. Während alle gewartet haben auf umfangreiche Antworten zu den brennenden Themen – Ukraine, Belarus, Proteste, Wahlen, sinkende Einkommen –, hat Putin all das verdeckt mit seinen langen und ausführlichen Aufzählungen der Sozialmaßnahmen, die den größten Teil der Rede ausgemacht haben. So konnte man in diesem Jahr besonders gut spüren, dass die Reden des Präsidenten die tatsächliche Agenda inzwischen eher kaschieren als transportieren. 

    Soziale Situation verbessert sich nicht wirklich

    Wie schon vor einem Jahr bei der Verfassungsreform gehen die sozialen Hilfen vor allem an Familien mit Kindern – auch das ist eine politische Investition in konservative Werte, der Versuch, das ideologische Bündnis des Präsidenten mit den Traditionalisten finanziell zu untermauern. 

    Doch trotz der langen Aufzählung verschiedener Sozialleistungen, sollte man ihr Ausmaß nicht überschätzen. Die versprochenen Schritte im Sozialbereich sind eine konjunkturbedingte und technologische Entscheidung, die eher auf einen vorübergehenden subjektiven Effekt abzielt als auf eine reale Verbesserung der sozialen Situation. Diese Maßnahmen können nur sehr begrenzt die soziale Verärgerung und die Entfremdung von Regierung und Gesellschaft abmildern. Putin scheint die Schärfe der sozialen Probleme in Russland zu unterschätzen und glaubt, dass die Situation im Land im Großen und Ganzen völlig zufriedenstellend sei und es demnach auch keine legitimen Gründe für Proteste gebe. 

    Beruhigungspillen fürs Volk

    Dafür verändert sich der Führungsstil grundlegend: Putin wird von einer Figur, die einst die Spielregeln für die Entwicklung der Gesellschaft vorgab, zu einem Therapeuten, der die Gesellschaft davon überzeugen will, sich mit der Unabänderlichkeit der Spielregeln abzufinden. Bei seiner Rede präsentierte er sich nicht mehr als politischer Macher, sondern als Doktor, der seinen Patienten Meditationen, Impfungen und soziale Beruhigungspillen verschreibt, damit diese sich leichter mit der beunruhigenden Realität abfinden können.  

    Bei der Rede kam auch Putins Ekel vor rein politischen Themen zum Ausdruck. Den schmutzigen und zerstörerischen Kampf um die Macht möchte er ersetzen durch ein System „gesunder“ Beziehungen mit „konstruktiven“ Kräften, die sich in die Pyramide der Unterordnung und Konsolidierung einfügen. In der Praxis heißt das: Abbau aller politischen Konkurrenz, Alternativlosigkeit. Alles, was jenseits der Pyramide liegt – die Nicht-System-Opposition –, ist gänzlich aus dem Vortrag und dem zulässigen Themenbereich des Präsidenten gestrichen.  

    Der geopolitische Teil ist für Putin wohl der interessanteste, doch er war der kürzeste von allen. Und das liegt weniger daran, dass die russische Gesellschaft allen Umfragen zufolge müde ist von außenpolitischen Themen. Vielmehr ist der Präsident immer weniger gewillt, seine außenpolitischen Pläne und Entscheidungen an die Öffentlichkeit zu tragen. Alles, was tatsächlich wichtig ist für Putin, wird zu einem dichten Schwall geheimer Spezoperazii. 

    Anstatt die tatsächliche Agenda offenzulegen, präsentiert man der Öffentlichkeit bequeme Attrappen, die die gewünschten Vorstellungen hervorrufen. Eine Provokation der Geheimdienste gegen oppositionelle belarussische Politologen wird in der Beschreibung des Präsidenten zu einer gefährlichen Verschwörung, die auch noch vom Westen organisiert worden sei. Dafür bleiben die tatsächlichen Ereignisse bezüglich Belarus außen vor: Die Erwartungen hinsichtlich des [bevorstehenden] Treffens mit Lukaschenko sind enorm, doch dazu hat Putin keine Details offengelegt.

    Auch die Konfrontation mit dem Westen vereinfacht er zu einer geopolitischen Interpretation des Dschungelbuch. Der böse, gefährliche Tiger Shir Khan ist Washington, „all die kleinen Tabaquis“ – das sind Russlands Kritiker in Europa und dem postsowjetischen Raum, und der großmütige, gerechte Leitwolf Akela ist, wie man leicht erraten kann, Putin. Das ist das Niveau, auf dem der Präsident bereit ist, die tatsächliche Agenda mit seinen Wählern zu diskutieren.  

    Noch weniger ist Putin bereit, über die Nicht-System-Opposition zu sprechen, egal wie bedeutsam die mit ihr verbundenen Ereignisse sind. Alexej Nawalnys Gesundheit, über die auch der Westen diskutiert, die offenen Briefe zur Unterstützung Nawalnys von allen möglichen Personen des öffentlichen Lebens bis hin zu Nobelpreisträgern, die kompromisslose Niederschlagung von Protesten und die geplante Einstufung der Nicht-System-Opposition als „extremistisch“ – all das blieb in der Rede außen vor.

    Im Endeffekt werden die Kommunikationskanäle zwischen dem Präsidenten und der Gesellschaft immer enger. Einige Ereignisse sind dem Präsidenten zu wichtig, um sie ernsthaft mit den Bürgern zu debattieren. Deswegen werden Diskussionen durch vereinfachende Bilder ersetzt. Bei anderen Themen das genaue Gegenteil: Der Präsident hält sie für uninteressant oder unangenehm und deswegen werden auch sie nicht besprochen, völlig unabhängig von ihrer Dringlichkeit. All das zusammen lässt Putin immer weniger Möglichkeiten, eine den Geschehnissen angemessene Figur abzugeben. Er wird hinausgedrängt aus der Wirklichkeit, in der zunehmend Akteure außerhalb des Systems den Ton angeben.

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  • Sputnik V und die Werte des Westens

    Sputnik V und die Werte des Westens

    Propagandistische Finte Moskaus oder ein ganz normaler Impfstoff: Sputnik V sorgt besonders im Westen immer wieder für neue Diskussionen. Nachdem bekannt wurde, dass auch Deutschland einen bilateralen Vertrag für den Ankauf des russischen Impfstoffs aushandeln will, gewinnt das Thema an zusätzlicher Brisanz. 

    Rund 50 Staaten verimpfen Sputnik V bereits. In der EU befindet sich das Vakzin seit Anfang März in einem beschleunigten Prüfungsverfahren der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Laut dem Fachmagazin The Lancet verfügt der Impfstoff über eine hohe Wirksamkeit, allerdings bestehen weiterhin Zweifel und Unklarheiten bezüglich möglicher Nebenwirkungen. EMA-Mitarbeiter beklagen dabei mangelnde Transparenz und Kooperation des Herstellers.

    Auch wenn die Zulassung schnell über die Bühne gehen sollte, werde Sputnik V in der EU kaum eine Rolle spielen können. Das hatte zuletzt EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton bekräftigt: Bis entsprechende Produktionskapazitäten aufgebaut sind, dürften die bisherigen vertraglichen Hersteller schon genug Vakzin geliefert haben.

    In der politisierten Impfstoffdebatte kann Russland gegenüber dem Westen derzeit punkten, argumentiert Alexander Baunow. Russland, so der Chefredakteur von Carnegie.ru, sei durchaus erfolgreich dabei, „die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit kollidieren zu lassen“. Im Runet wurde sein zuspitzendes Meinungsstück kontrovers diskutiert: Kritiker bemängeln unter anderem ein zu rosiges Bild der Corona-Situation in Russland, wo die Übersterblichkeit aktuell so hoch ist wie in kaum einem anderen Land auf der Welt. Andere halten Baunow zugute, dass er dem Westen durchaus den Spiegel vorhalte. 

    Die neuen Wellen der Pandemie unterscheiden sich stark von der ersten. Die Menschen horten keine Lebensmittel, Seife oder Toilettenpapier mehr. Niemand beschwert sich darüber, dass Masken oder Desinfektionsmittel fehlen. Der anfängliche Mangel ist längst behoben: Weder gewöhnliche Bürger noch Ärzte müssen, wie wir es in Reportagen sahen, improvisierte Masken nähen oder waschen, um sie wiederzuverwenden.

    Nur Moskauer mit besonders selektiver Wahrnehmung behaupten noch, die Regierung und die Stadtverwaltung drangsaliere die Bürger mit Polizeikontrollen und mit Verboten für Reisen ins Ausland. Wie ein exotisches Märchen klingen anderswo auf der Welt die Berichte über das Land, in dem man zu Konzerten und ins Theater gehen, auf die Datscha, in die Berge oder ins Ausland fahren kann. Genau wie die Erzählungen über die Großstadt, in der sich Impfwillige unabhängig von Geschlecht, Alter und ihrer Staatsangehörigkeit in Einkaufszentren impfen lassen können.

    Genau diese Gerüchte aus Moskau werden zu einem politischen Problem – in einer Zeit, in der man nicht nur Gebiete und Armeen, sondern auch Fernsehsender, Twitter-Accounts und Impfstoffe in Kategorien von Freund und Feind unterteilt. 

    In den ersten Monaten der Pandemie waren strenge Maßnahmen und außerordentliche finanzielle Hilfen ein Symbol für verantwortungsvolles Handeln und Fürsorge einer Regierung für ihre Bürger. In dieser Phase gewannen die disziplinierten und wohlhabenden westlichen Gesellschaften, die über ein hohes Maß an Vertrauen zueinander und zu ihrer Regierung verfügen.

    Neues Symbol der Fürsorge ab der zweiten Welle: der Impfstoff

    Doch in und nach der zweiten Welle wurde die Impfung und eine ausreichende Versorgung mit Impfstoff, also die Fähigkeit, mit den minimal notwendigen Beschränkungen auf die Pandemie zu reagieren, zu einem solchen Symbol von Fürsorge.

    Auch wenn Russland nicht beweisen konnte, dass es mit der Pandemie besser fertig wurde, konnten Europa und die USA auch nicht das Gegenteil beweisen. Das aber wäre ausgesprochen wichtig gewesen, weil die Demokratie auf dem Prinzip der Überlegenheit gründet, wegen der man ihr nacheifern soll. Der russische Autoritarismus hingegen will als ebenbürtig gelten, und das erfordert nicht unbedingt Nachahmung. 

    Das wird besonders deutlich an der Haltung zu den Impfstoffen des jeweils anderen. Für Russland ist es wichtig, dass sein Impfstoff gleichrangig zu den westlichen zugelassen wird, damit der Westen und insbesondere Drittländer ihn ohne diplomatische Schwierigkeiten nutzen können. Für den Westen ist es notwendig, dass seine und im Idealfall auch Drittländer die westlichen Impfstoffe, nicht aber Sputnik V nutzen. Am Umgang mit dem Impfstoff offenbart sich: Im Konflikt des Westens mit Russland haben wir einen klaren Fall vom Kampf um Überlegenheit gegen den Kampf um Gleichheit.

    Westen versus Russland – Kampf um Überlegenheit versus Kampf um Gleichheit

    Während der Westen gewinnen muss, genügt Russland ein Gleichstand, um die Partie für sich zu entscheiden. Unter diesen Vorzeichen könnte die Zulassung von Sputnik V ein fragiles Gleichgewicht stören. 

    Es ist für den Westen schon ein ernsthaftes Problem, dass sich Sputnik V von einer „propagandistischen Finte Moskaus“ in einen gleichrangigen Impfstoff verwandelt hat. Denn ein Argument für die Überlegenheit von Demokratien besteht darin, dass sie – im Unterschied zu Autokratien – ihre Bürger nicht belügen und die Lügen der Diktatoren entlarven. Würde Sputnik V zugelassen, wäre es ein Eingeständnis, dass Putin die Wahrheit gesagt hat, seine Gegner ihn aber der Lüge bezichtigten. Und das wäre eine für viele nicht zulässige Normalisierung der Verhältnisse.

    Hatte es Putin aus politischen Überlegungen sehr eilig zu erklären, Russland habe einen Impfstoff entwickelt, so hatten es die westlichen Sprecher genau so eilig, diese Aussage als Propaganda abzutun – damit manövrierten sie sich in eine schwierige Lage. Man kann Putin nach wie vor einen Fehlstart vorwerfen. Die Verkündung der Zulassung des weltweit ersten Impfstoffes, als noch nicht alle Studien abgeschlossen waren, war überstürzt. Aber ihm einen Fehl-Finish vorzuwerfen, ist ohne jeden Sinn und Zweck.

    Insgesamt kein unfaires Rennen bei der Impfstoffentwicklung

    Das erschüttert das stabile Konstrukt, jede unbequeme Information aus Russland könne als Lüge deklariert werden. Außerdem sät es Zweifel bei den Bürgern der Demokratien. Mit einer Zulassung von Sputnik V für den Westen würden die Staats- und Regierungschefs quasi für Putin und gegen sich selbst arbeiten. Wobei die Impfgeschwindigkeit in den westlichen Ländern jene in Russland sowohl in absoluten Zahlen als auch prozentual übersteigt. Sogar in der EU (die hinter den USA und Großbritannien liegt) waren Mitte März etwa zehn Prozent der Bevölkerung geimpft – in Russland knapp fünf Prozent. Doch in Europa wird nach Altersgruppen geimpft, während sich in Russland jeder sofort impfen lassen kann, der es möchte. Das erzeugt zusätzlich den Eindruck, Sputnik V wäre in ausreichender Menge vorhanden, während in Europa ein Mangel herrscht.

    Der gemächliche Impfprozess in Russland findet vor dem Hintergrund sinkender Fallzahlen statt, während in vielen europäischen Ländern die Ansteckungen steigen. In Moskau wird sogar in Einkaufszentren und Theatern geimpft, wohingegen die europäischen Länder darüber klagen, dass nicht einmal für die Risikogruppen genügend Impfstoff zur Verfügung stehe. 

    In Russland herrscht Impfstoffüberfluss, in Europa Mangel und Rückstand

    Die Möglichkeit der Impfung für alle erzeugt den Eindruck von Überfluss und Erfolg, gemessen am europäischen Mangel und Impfrückstand. Russland für eine Lüge zu kritisieren, ist schwieriger geworden. Nachdem sich die Kritik an Sputnik V als unberechtigt erwiesen hat, glauben westliche Bürger ihren Repräsentanten nicht mehr vorbehaltlos, wenn sie Russland der Lüge bezichtigen.

    Ein politisches Problem für den Westen ist auch, dass Russland seinen Impfstoff Drittländern anbieten möchte, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Damit wird es zu einem ernsthaften Konkurrenten auf einem Feld, auf dem sich der Westen stillschweigend als Sieger wähnte: auf dem Feld der Werte – des menschlichen Lebens, des Humanismus und des Wohlwollens von Privilegierten gegenüber weniger Privilegierten.

    Ein Beweis für die Überlegenheit der Demokratie ist die Tatsache, dass eine Demokratie das Leben ihrer Bürger nicht für politische Zwecke gefährdet. Brüssel, das zu Beginn der Pandemie zaghaft agiert und zugelassen hatte, dass Europa im Kampf gegen das Virus in nationale Fronten zerfällt, gewann in der Phase der Impfungen die Führung zurück. Die europäischen Länder haben sich darauf geeinigt, dass gemeinsame Organe in Brüssel für den Einkauf und die Verteilung des Impfstoffes zuständig sein sollen. Diese Entscheidung wurde getroffen, um Konkurrenz zu vermeiden, denn je größer der Absatzmarkt, desto bessere Preise können bei den Verhandlungen mit den Herstellerfirmen ausgehandelt werden. Die westlichen Regierungen haben alle Urheber- und Marktrechte bei den Entwicklerfirmen belassen. Das gilt als eine Art Gerechtigkeit: Wer in die rettenden Präparate investiert, soll profitieren. Das führt aber auch dazu, dass während einer Pandemie tausende geheime Verhandlungen geführt und hunderte undurchsichtige Verträge mit willkürlichen Preisen abgeschlossen werden.

    Weder die Preise noch die weltweite Verteilung des Impfstoffes haben etwas mit den Ideen des Humanismus, der Gleichheit und der Unterstützung von historisch benachteiligten Ländern zu tun. Zwar hat die EU Maßnahmen ergriffen, um nicht intern zu konkurrieren, aber das gilt nicht für den Rest der Welt. Da konkurrieren die Reichsten mit den Armen, und erwartungsgemäß gewinnen die Reichen.

    Erwartungsgemäß gewinnen die Reichen

    Derzeit bestehen weltweit Verträge für etwa zehn Milliarden Dosen verschiedener Impfstoffe. Das würde genügen, um fast die gesamte Weltbevölkerung zu impfen, aber die Dosen sind ungleich verteilt. Führend sind bei der Zahl der Verträge und Einkäufe die USA; bei den Einkäufen pro Kopf liegt Kanada vorn, das Verträge für Impfdosen abgeschlossen hat, mit denen es seine Bevölkerung sechsmal impfen könnte. In Kanada hat die Epidemie relativ gefährliche Ausmaße erreicht, aber auch Australien, wo es nach der weltweiten Definition keine Epidemie gibt, hat seine Bürger zu 247 Prozent mit Impfdosen versorgt. Eine hohe vertraglich vereinbarte Versorgung sehen wir auch in der EU mit mehr als 200 Prozent und in Großbritannien mit mehr als 400 Prozent. Doch Europa gehört zu den am stärksten von der Pandemie Betroffenen. 

    Nicht mit Impfstoff versorgt sind erwartungsgemäß arme Länder Afrikas, Asiens, Lateinamerikas und sogar des Balkans (beispielsweise der Kosovo und Bosnien). 

    Ein großes Chaos herrscht bei den Preisen. Die EU zahlt für eine Portion AstraZeneca 3,5 US-Dollar, Südafrika 5,25 US-Dollar und das für die Hersteller unattraktive Uganda 8 US-Dollar. Die Initiative COVAX, die von der WHO mitentwickelt wurde, um durch Sammelkäufe die armen Länder zu versorgen, kommt ins Stocken und greift nicht: Noch reicht es nicht mal für die Reichen. 

    Entscheidung für den Westen zahlt sich nicht aus

    Besonders schwierig ist die Lage für die Nachbarstaaten der EU und Russlands, die sich für die westliche Variante entschieden haben: die Ukraine, Georgien, Moldawien. Sie schließen einen Kauf und die Produktion des russischen Impfstoffs aus Prinzip aus. Doch wegen der harten Konkurrenz innerhalb der EU-Länder bekommen sie auch keinen westlichen Impfstoff. Ihre Entscheidung für den Westen wurde also in dieser brisanten Frage nicht gewürdigt.

    Diese fehlende Würdigung kann zu einer Politisierung der Impfstoffzulassungen und zu Problemen bei Einreisebestimmungen führen: Wird Sputnik V nämlich für die EU zugelassen, stehen die ehemaligen Sowjetstaaten, die sich für den Westen entschieden, aber keinen Impfstoff erhalten haben, vor der Situation, dass die mit Sputnik V geimpften Russen noch vor ihnen nach Europa reisen können. 

    Das gilt es zu vermeiden, deswegen sind die Nachrichten über die Zulassung des russischen Impfstoffes für Europa auch so widersprüchlich. Einerseits wird er diskutiert, andererseits, so verkünden hohe EU-Funktionäre, brauche die EU ihn nicht. Man könnte versuchen, die Zulassung von Sputnik V zu verzögern, bis ein wesentlicher Teil der Bevölkerung der verbündeten Länder mit westlichen Impfstoffen geimpft ist. So wäre eine Zulassung von Sputnik V durch Brüssel kein Eingeständnis der Schwäche und kein Verrat an den Verbündeten in der Eindämmungspolitik gegen Russland. Doch einige Länder der EU wehren sich gegen diese Verzögerung, weil sie nicht genügend westlichen Impfstoff erhalten und außerdem Einbußen durch das Ausbleiben der russischen Touristen haben. 

    Sputnik V könnte westlichen Regierungen in ihrer Abwehrpolitik schaden

    Wegen bevorstehender Wahlkämpfe kann es sich kaum eine westliche Regierung erlauben, Impfstoff an ärmere Länder abzugeben, solange die eigene Wählerschaft nicht geimpft und der Lockdown nicht aufgehoben ist. Die russische (und auch die chinesische) Regierung dagegen bleiben verschont vor kompetitiven Wahlen und können den Impfstoff Drittländern anbieten, bevor die eigene Bevölkerung geimpft ist. Diese ist obendrein nicht zu Hause eingesperrt und hat es deswegen gar nicht eilig, sich impfen zu lassen. Der Westen kann das als einen unfairen Wettbewerbsvorteil betrachten. 

    In den Augen derjeniger, die den Westen und seine Verbündeten vor russischer Einmischung bewahren wollen, wäre schon die Zulassung des russischen Impfstoffs eine Schwächung der Abwehrbereitschaft. Die Dankbarkeit für die durch Sputnik V geretteten Leben und Unternehmen könnte sich schlecht auf die Abwehrbereitschaft auswirken. Alles zusammen erklärt, warum die westlichen Regierungen, die ihre Vorrangstellung hochhalten, und Russlands Nachbarn, die sich als Grenzland der westlichen Kultur begreifen, einen normalen Umgang mit dem russischen Impfstoff ablehnen.

    Der Westen hat nicht nur den Anspruch, Reichtum und Effizienz zu demonstrieren, sondern auch einen Anspruch auf die globale Verantwortung. Die Ambitionen, faire Regeln für die Welt aufzustellen, werden dadurch untermauert, dass das menschliche Leben in westlichen Demokratien mehr wert ist als in allen anderen Gesellschaften.

    Der Impfprozess und die Politisierung des feindlichen Impfstoffes zeigen, dass es in erster Linie um das Leben der Bürger der Demokratien selbst geht. Ja, westliche Wissenschaftler haben den Großteil des Impfstoffs entwickelt und westliche Unternehmen produzieren ihn. Der Verpflichtung, diesen Impfstoff mit Ärmeren zu teilen, kommen sie bislang eher symbolisch nach. Es gibt keinerlei Versuche, künstliche Gleichberechtigung zu konstruieren, Quoten oder eine positive Diskriminierung einzuführen: Setzen Sie erst sich eine Maske auf. Danach helfen Sie dem Kind.

    Weltweiter Pathos von Gleichberechtigung wird aufgeweicht

    Black Lives Matter ist de facto nur auf die privilegierten Gesellschaften wie die USA und Europa begrenzt – und das weicht das Pathos der weltweiten Kampagne für Gleichberechtigung etwas auf. Die erklärten und die tatsächlichen Ziele werden noch viel widersprüchlicher, wenn wir erfahren, dass das Gesundheitsministerium der USA es als Erfolg verbucht, Brasilien daran gehindert zu haben, den russischen Impfstoff einzukaufen – als Abwehr gegen den schädlichen Einfluss von Russland, Kuba und Venezuela. Es wirkt ganz so, als würden westliche Regierungen die linke Kritik an kapitalistischen Staaten bewusst bestätigen, derzufolge sie nur bestünden, um die Interessen von Großkonzernen zu vertreten.

    Moskaus Strategie besteht nicht zum ersten Mal darin, ein Bündnis zu erzwingen, das nicht auf gemeinsamen Werten gründet, sondern gegen einen gemeinsamen Feind gerichtet ist – sei es der Terrorismus, die Piraten vor Somalia, der sogenannte Islamische Staat oder das Coronavirus. 

    Momentan gelingt es Russland durchaus, die selbsterklärten Werte des Westens in ihrer Widersprüchlichkeit miteinander kollidieren zu lassen. Indem westliche Demokratien ihr Handeln ausschließlich danach ausrichten, nicht in die Falle eines Bündnisses mit autoritären Staaten zu geraten, verlieren sie genau die Werte aus dem Blick, die sie diesen Staaten vor Augen halten. Das deutet auf den Verlust jener Überlegenheit hin, die sie eigentlich festigen wollen, indem sie den russischen Impfstoff nicht zulassen.

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  • Oktoberumsturz in Kirgistan

    Oktoberumsturz in Kirgistan

    Schall- und Blendgranaten flogen, die Polizei setzte auch Tränengas ein: Nach der Parlamentswahl in Kirgistan ist es in der Nacht von Montag auf Dienstag zu heftigen Protesten in der Hauptstadt Bischkek gekommen. Demonstranten, die der Regierung Wahlbetrug vorwerfen, waren sogar in den Amtssitz des Präsidenten eingedrungen. Das 6-Millionen-Einwohner-Land galt lange als demokratisches Vorbild in Zentralasien. OSZE-Beobachter sprachen von einem fairen Wahlkampf, aber auch von glaubwürdigen Berichten über Stimmenkauf bei der Wahl. 
    So scheint Kirgistan nach 2005 und 2010 nun den dritten Umsturz zu erleben: Aber wie viel Neues wird er bringen? 
    Auf Carnegie.ru analysieren Alexander Gabujew und Temur Umarow die politische Situation und die Auslöser für die Proteste im Land.

    Karte © TUBS/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0
    Karte © TUBS/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

    In Kirgistan gab es die größten Proteste seit 10 Jahren – sie könnten das Vorspiel für eine dritte Revolution innerhalb der letzten 15 Jahren werden. Binnen einer Nacht hat Präsident Sooronbai Dscheenbekow einen Großteil seiner Macht eingebüßt, wobei er seinen Posten formal bislang nicht verloren hat. Und sein ärgster Gegner, Expräsident Almasbek Atambajew, ist mittlerweile in Freiheit – und wieder mit von der Partie.

    Hinter dem Chaos der aktuellen Ereignisse, wo sich die Situation alle paar Stunden ändert und ganz unterschiedliche Menschen der Reihe nach versuchen, Chefsessel einzunehmen, zeichnet sich ab, wo der Hauptnerv des politischen Lebens in Kirgistan liegt: Im Machtkampf zwischen regionalen Gruppierungen, die sich als politische Parteien ausgeben. 

    Wie auch in vielen anderen Ecken des Planeten, wurde die Krise in Kirgistan von der Covid-19-Pandemie und der daraus entstandenen Rezession hervorgerufen. 

    Die Nacht, die alles veränderte

    Tausende Menschen, die am 5. Oktober in Bischkek auf die Straße gegangen sind, waren unzufrieden mit den Ergebnissen der Parlamentswahl am Vortag.

    Sie hatten sich auf dem Ala-Too Platz versammelt, der Wiege der Revolutionen von 2005 und 2010, und forderten die Annullierung der Wahlergebnisse und Neuwahlen.

    Bis zum Abend blieb die Demonstration friedlich, die Miliz rief die Menschen nur dazu auf auseinanderzugehen. Bei Einbruch der Dunkelheit bekamen die Demonstranten Verstärkung durch kräftige junge Männer vom Stadtrand und aus nahegelegenen Dörfern. Nachts überwand die neu formierte Menge die Absperrungen und gelangte ins Machtzentrum des Landes: Im Weißen Haus in Bischkek sitzt sowohl das kirgisische Parlament als auch die Präsidialadministration.

    Dann drang die Menge ins Untersuchungsgefängnis des Staatlichen Komitees für nationale Sicherheit vor, aus dem kurz darauf Expräsident Almasbek Atambajew und weitere prominente Gefangene befreit wurden. Die Wachleute leisteten nicht nur keinen Widerstand – einige von ihnen erklärten, dass auch sie jetzt auf Seiten des Volkes sind.

    Selfies aus dem Präsidentensessel

    Das Büro des amtierenden Präsidenten Sooronbai Dscheenbekow, der Kirgistan seit 2017 regiert, wurde von Menschen besetzt, die Gesichtsmasken trugen und Selfies schossen, während sie im Sessel des Staatsoberhauptes saßen und sich Einrichtungsgegenstände als Souvenirs mitnahmen. Der Präsident war unterdessen verschwunden. Den einen Angaben zufolge ist er in der Hauptstadt geblieben und steht unter dem Schutz loyaler Einheiten. Andere Quellen sprechen davon, dass er noch in der Nacht in seine Heimatstadt Osch, der größten Stadt im Süden des Landes, geflogen war.

    Dscheenbekow hat offiziell den obersten Posten weiter inne, doch tatsächlich befinden sich derzeit weder die Hauptstadt noch die Sicherheitsbehörden unter seiner Kontrolle, die jeder auf seine Seite bringen will.

    Beispielsweise kam sofort um 8 Uhr, am Morgen nach dem Umsturz, Almambet Schykmamatow, Kandidat der Partei Bir Bol, mit Anhängern zum Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft und erklärte sich zum kommissarischen Generalstaatsanwalt. Vier Stunden später kam eine weitere 500 Menschen starke Menge dorthin und bestimmte jemand anderen für diesen Posten. 

    Infolgedessen hat die Zentrale Wahlkommission der Republik am Tag nach dem Umsturz die Ergebnisse der Wahl annulliert, auf den Plätzen vieler Städte finden spontane Kundgebungen statt zu unterschiedlichsten Problemen – von gestohlenen Wahlen bis hin zu Korruption auf lokaler Ebene.
    Politiker, derzeitige und ehemalige Beamte, Sicherheitskräfte, Geschäftsleute und Anführer krimineller Strukturen sammeln in der Zwischenzeit Unterstützer und verhandeln kreuz und quer über zukünftige Allianzen. Man kann nicht einmal von einer doppelten Regierung sprechen – die Staatsmacht in Kirgistan ist vorerst in tausend Scherben zersprungen.

    Norden gegen Süden

    Auf die Wahl, die die Situation hat hochgehen lassen, hatte man in Kirgistan gewartet. Das Vertrauen der Gesellschaft in das vorherige, das sechste Parlament war sehr gering. Seine Mitglieder, so die Meinung, standen unter Kontrolle von Präsident Dscheenbekow und seinen Mitstreitern. In Bezug auf das Abstimmungsverhalten gab es zwischen der Regierungsmehrheit und der nominalen Opposition fast keine Unterschiede.

    An der Wahl nahmen 16 Parteien teil, von denen laut dem Zentralen Wahlkomitee jedoch nur vier ins Parlament kamen. Alle diese Parteien kann man als Einflussgruppen aus dem Süden des Landes bezeichnen. In Verbindung mit vielen Berichten über Betrug und Einsatz von administrativen Ressourcen hatte der Sieg der Südler den Norden des Landes heftig aufgebracht – und zwar nicht nur eine gesichtslose Masse, sondern sehr konkrete und gut organisierte Gruppen aus den nördlichen Regionen. So kam es auch zu der schnellen Mobilisierung der Demonstranten in Bischkek, das im Norden des Landes liegt.

    Sind die Proteste nach der Parlamentswahl in Kirgistan das Vorspiel für die dritte Revolution innerhalb von 15 Jahren? / Foto © sputnikimages/Tabyldy Kadyrbekov
    Sind die Proteste nach der Parlamentswahl in Kirgistan das Vorspiel für die dritte Revolution innerhalb von 15 Jahren? / Foto © sputnikimages/Tabyldy Kadyrbekov

    Der Oktoberumsturz hat zum wiederholten mal gezeigt, wie Kirgistan im Kern strukturiert ist. Von außen sieht es politisch so aus, als gäbe es im Land eine Regierung und eine Opposition, politische Parteien mit unterschiedlichen Programmen und eine echte Konkurrenz bei den Wahlen. In Wirklichkeit ist aber jede Partei nur Fassade einer bestimmten Gruppe, die sich um autoritäre Führer bildet und lokal, verwandtschaftlich und anders informell verbunden ist. Grob lassen sich diese Gruppen in Menschen aus dem Norden und Menschen aus dem Süden Kirgistans unterteilen. Bei aller Bedingtheit dieser Aufteilung wird auch in Kirgistan sehr häufig genau auf dieses Schema zurückgegriffen, um die Prozesse im Land zu erklären.

    Jede Partei ist nur Fassade einer bestimmten Gruppe, die sich um autoritäre Führer bildet und lokal, verwandtschaftlich und anders informell verbunden ist

    Der Kampf zwischen den Eliten aus dem Norden wie aus dem Süden dauert schon Jahrzehnte, doch ist er in den letzten 15 Jahren zum Hauptkonflikt in der kirgisischen Politik geworden.

    Unter Kurmanbek Bakijew waren die wichtigsten Posten und Geldströme bei seinen Leuten akkumuliert, die vornehmlich aus dem Süden waren. Nachdem dann 2011 der aus der nördlichen Oblast Tschui stammende Almasbek Atambajew an die Macht kam, schwang das Pendel in die andere Richtung.

    Dabei hatte sich Atambajew bemüht – sofern das in der kirgisischen politischen Kultur überhaupt möglich ist –, eine Balance zwischen den regionalen Machtgruppen zu schaffen und die Südler nicht gegen sich zu stimmen, indem er sie ganz aus einflussreichen und lukrativen Posten verdrängt. Zu seinem Nachfolger machte er den Südler Dscheenbekow.

    Doch die beiden zerstritten sich später: Atambajew dachte, dass Dscheenbekow gefügig sein wird, doch der Streit resultierte in der filmreifen Festnahme des Expräsidenten in dessen Heimatdorf im August 2019 – mit Schießerei und einer elfjährigen Gefängnisstrafe. Neben Atambajew wanderten auch seine wichtigsten Mitstreiter hinter Gitter.

    Die derart brutale und demonstrative Zerschlagung von Atambajews Gruppe hat viele empört. Dazu kamen dann die Wahlergebnisse, bei denen über die Hälfte der Mandate an die Parteien Birimdik (die der Bruder des Präsidenten leitet) und Mekenim Kyrgyzstan gingen. Das weckte den Eindruck, dass Sooronbai Dscheenbekow dabei ist, alle Steuerhebel der Macht und Finanzströme in den Händen seines Clans und befreundeter Südler zu konzentrieren.

    Pandemie und Wirtschaftskrise

    Einen ungünstigeren Moment für die Wahlfälschung zugunsten genehmer Parteien hätte man sich nicht ausdenken können. Die Gesellschaft ist schon seit Monaten aufgebracht – wegen der Pandemie und der von ihr hervorgerufenen Wirtschaftskrise.

    Die Menschen hat es stark verärgert, wie Dscheenbekow sich im Kampf gegen das Virus verhalten hat. Wie auch in anderen Ländern Zentralasiens war Kirgistans Regierung nicht auf eine Pandemie vorbereitet und hat sie nur schlecht in den Griff bekommen. Doch im Unterschied zu anderen Ländern in der Region gibt es in Kirgistan Medienfreiheit. Meldungen über lange Schlangen, verschlossene Türen in Krankenhäusern und erstickende Infizierte auf den Straßen gab es überall, sowohl in den von den älteren Wählern gelesenen und geschauten Medien als auch in den Sozialen Netzwerken. Als aufgedeckt wurde, dass internationale Hilfsgelder zum Kampf gegen Covid-19 gestohlen wurden und Regierungsangehörige in einen außerplanmäßigen Urlaub verschwanden, da war die Gesellschaft bereits kurz vorm Explodieren.

    Eine nicht unbeachtliche Rolle spielte auch die scharfe Wirtschaftskrise, die Kirgistan durchlebt. Die Weltbank prognostiziert für Kirgistan ein Schrumpfen des Bruttoinlandsprodukts um vier Prozent. Die Rezession trifft auch die Länder, die kirgisische Arbeitskraft benötigen, vor allem Russland und Kasachstan.

    Infolgedessen sind rund 200.000 junge Männer, die im Ausland ihre Arbeit verloren haben, heimgekehrt. Das hat die Situation im Inland verschärft. Auch die Unternehmen haben gelitten, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern hat Kirgistan keine vorübergehenden Steuerbefreiungen oder andere substantielle Hilfsmaßnahmen verkündet.

    Das Ausland hält sich raus

    Der nahezu blutfreie Umsturz und die Annullierung der Wahl werden allerdings kaum die Probleme Kirgistans lösen können. Wie auch nach den vergangenen beiden Revolutionen sind die Hüter der öffentlichen Ordnung demoralisiert und lehnen sich nicht sonderlich aus dem Fenster, während Politiker umringt von bewaffneten Anhängern Koalitionen schmieden und Ämter ergreifen. In einer solchen Situation wird das organisierte Verbrechen zu einer echten Macht und kriminelle Autoritäten verwandeln sich vorübergehend in nächtliche Gouverneure ganzer Städte und Dörfer. 

    Die heutige Situation ähnelt in Vielem den vorherigen beiden Revolutionen, doch es gibt auch Unterschiede. Einer der wichtigsten ist der Unwille globaler und regionaler Staaten sich in die kirgisischen Ereignisse einzumischen. Russlands Regierung, die über die effektivsten Mittel der Einflussnahme auf die Situation verfügt, wurde allem Anschein nach überrumpelt vom Umsturz bei ihrem zentralasiatischen Verbündeten.

    Vor dem Hintergrund einer neuen Corona-Infektionswelle, der Krise in Belarus, des Krieges in Bergkarabach, dem Streit mit führenden EU-Politikern und der quälenden Erwartung des Wahlausgangs in den USA wird der Kreml Kirgistan wohl kaum viel Zeit widmen. Moskau wird bei einer beliebigen Entwicklung bereit sein, mit dem zu arbeiten, der den inneren Machtkampf gewinnt. 

    Nicht weniger bezeichnend und demonstrativ ist die Zurückhaltung Chinas. Trotz der wachsenden wirtschaftlichen Präsenz in der Region und besonders in Kirgistan vemag es Peking bislang nicht, diese in politische Hebel zu wandeln. 

    Mit Blick auf das Vorwahldrama in den USA ist Washington unter Trump derzeit definitiv nicht nach einem fernen Kirgistan – wie im Übrigen auch Europa. Kasachstan und Usbekistan, die eine regionale Führungsrolle in Zentralasien anstreben, halten sich ebenfalls raus. 

    Selbst wenn sich die Seiten im kirgisischen Konflikt auf einen friedlichen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise einigen können sollten (etwa auf Neuwahlen), so bedeutet das keineswegs ein Ende der Konfrontation. Mit Blick auf die schrumpfende Wirtschaft und die vermutlich weiterhin bestehenden Probleme im Zusammenhang mit dem Virus könnte der Zorn in der Bevölkerung und zwischen den verfeindeten Gruppen der regionalen Elite weiter zunehmen. Und das ist höchst gefährlich. 

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  • Zitat #9: „Nawalny kämpft nicht für Meinungsfreiheit, sondern um die Macht“

    Zitat #9: „Nawalny kämpft nicht für Meinungsfreiheit, sondern um die Macht“

    Zwei erste große Interviews mit Alexej Nawalny nach seiner Nowitschok-Vergiftung sind in der vergangenen Woche erschienen: Das erste ist auf Deutsch, in Der Spiegel. Christian Esch und Benjamin Bidder, der derzeitige und der ehemalige Moskau-Korrespondent des Blattes, hatten Nawalny in Berlin getroffen. „Ich behaupte, dass hinter der Tat Putin steht, und andere Versionen des Tathergangs habe ich nicht“, wird er im Spiegel zitiert. Allein die Tatsache, dass er mit Nowitschok vergiftet worden sei, verweise auf Geheimdienste wie den FSB oder den Auslandsgeheimdienst SWR, die in der Lage seien, den Nervenkampfstoff herzustellen und einzusetzen. 
    Kreml-Sprecher Peskow erklärte daraufhin, hinter Nawalny stünde der US-Geheimdienst CIA. Ungeachtet dessen wiederholte Nawalny seine Version der Dinge auch in seinem zweiten großen Interview – diesmal gab er es zusammen mit seiner Frau Julia in einem russischen Medium, dem YouTube-Kanal von Juri Dud. Im reichweitenstarken Staatsfernsehen ist Nawalny ein Tabu, aber die Videos von Dud finden ebenfalls ein (wenn auch kleineres) Millionenpublikum – auf YouTube, quasi als Samisdat des Online-Zeitalters.

    Im Spiegel-Interview wird Nawalny auch dazu gefragt, weshalb er 2011 den „Russischen Marsch“, eine Kundgebung von Nationalisten, mitorganisiert habe. Er distanzierte sich nicht von seinem damaligen Tun: „Ich sehe kein Problem in der Zusammenarbeit mit allen, die im Grundsatz antiautoritäre Positionen vertreten“, sagte er. Und weiter: „Ihr in Deutschland habt schon die Demokratie. Wir müssen erst einmal eine Koalition aller Kräfte schaffen, die für die Abwählbarkeit der Machthaber eintreten, für die Unabhängigkeit der Gerichte. Deshalb habe ich eine Zeit lang versucht, das liberalnationalistische Lager der Opposition zu einen.“
    Gerade im liberalen russischen Lager machte sich Nawalny mit solchen Positionen aber auch viele Feinde. 
    Alexander Baunow hat auf Carnegie.ru die „Wiederauferstehung“ des Alexej Nawalny analysiert – und inwiefern der Oppositionspolitiker dadurch dem Kreml sogar noch gefährlicher werden könnte.

    [bilingbox]Nawalny hat noch nie so ganz zum Liberalen gereicht und war noch nie ein Dogmatiker. Sprich, er ist ein Mensch mit einer Unterstützerschaft, die in ihrer Breite bewusst nicht festgelegt ist und die enorm zulegt, wenn die Umstände für ihn günstig sind. Jetzt nach der Vergiftung sind beispielsweise sowohl seine positiven als auch seine negativen Umfragewerte gestiegen, und mit ihnen ist sein Bekanntheitsgrad in die Höhe geschnellt. Außerdem kämpft Nawalny im Gegensatz zu vielen ehemaligen Oppositionellen nicht um das Recht, Putin zu kritisieren, nicht für Meinungs- und Versammlungsfreiheit, sondern um die Macht als solche.~~~Навальный всегда был недостаточно либерал и совсем не догматик, то есть человек с заведомо неопределенно широкой базой, которую могло увеличить в разы любое благоприятное для него стечение обстоятельств. Например, сейчас после отравления заметно выросли его и положительный, и отрицательный рейтинги, а вместе с обоими подскочила узнаваемость. Кроме того, в отличие от многих старых оппозиционеров Навальный борется не за право критиковать Путина, не за свободу слова и собраний, а именно за власть. [/bilingbox]

    In ganzer Länge erschien der Artikel am 02.10.2020 auf carnegie.ru unter dem Titel Woskresschi politik. Stary Kreml i nowy Nawalny (dt. „Der auferstandene Politiker. Alter Kreml und neuer Nawalny“). Das russische Original lesen Sie hier. Die englische Version finden Sie hier.

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  • Das toxische Wertpapier des Kreml

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    Das Treffen zwischen Putin und Lukaschenko in Sotschi am vergangenen Montag, 14. September, verlief leise. Nach rund vier Stunden Gespräch gab es keine offizielle Abschlusserklärung, fest stand nur, was man schon vorher wusste: Der Kreml gibt eine Geldspritze von 1,5 Milliarden Dollar.
    In Sozialen Medien machten dagegen Fotos vom Treffen die Runde, auf denen Putin sich die Augen reibt und Lukaschenko in seinem Stuhl immer weiter Richtung Putin rutscht. In den Kommentaren lachten User über die Bildsprache.

    Tatsächlich steht Lukaschenko mit dem Rücken zur Wand, sein einziger Verbündeter ist Russland. Doch auch der Kreml steht vor einem Dilemma, denn er hat viel zu verlieren: Kippt die prorussische Stimmung in Belarus, droht weitere Destabilisierung. Artyom Shraibman kommentiert auf Carnegie.ru.

    Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? – Putin und Lukaschenko bei ihrem Treffen in Sotschi / Foto ©  Screenshot RT
    Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? – Putin und Lukaschenko bei ihrem Treffen in Sotschi / Foto © Screenshot RT

    Von der Wahl in Belarus hatte man erwartet, dass nur einer als unanfechtbarer Sieger daraus hervorgehen würde: Russland. Alexander Lukaschenko hatte – als Reaktion auf die rasante Politisierung der Gesellschaft – im Laufe des Sommers die Repressionen gegen die belarussische Bevölkerung verschärft. Der Höhepunkt war das gewaltsame Vorgehen gegen Demonstranten unmittelbar nach der Wahl, was die Beziehungen zum Westen um viele Jahre zurückgeworfen hat.

    Eine solche Entwicklung hätte Minsk allen Prognosen zufolge in die Arme des Kreml treiben müssen, der auf diese Weise einen Freibrief für Belarus erhält. Auf den ersten Blick ist auch genau das geschehen.

    Doch tatsächlich erweist sich die politische Krise in Belarus als noch viel tiefer, als die kühnsten Prognosen vermuten ließen. Die internationale wie die innere Legitimität Lukaschenkos hat stärker gelitten, als es irgendeinem seiner verbliebenen Partner im Ausland lieb sein kann.

    Lukaschenkos Legitimität hat stärker gelitten, als es Moskau lieb sein kann

    Lukaschenko hat sich wochenlang auf das Treffen mit Putin [am Montag, 14. September 2020 – dek] vorbereitet. Der Westen ist wieder zum Hauptfeind avanciert; um das deutlich zu machen, wurden sogar belarussische Fallschirmjäger an die polnische Grenze verlegt. Lukaschenko beschuldigte die Opposition wieder, russophob zu sein und im Auftrag der USA zu handeln – obwohl noch Anfang August laut Lukaschenko russische Strippenzieher am Werk gewesen waren.

    Die Regierung versucht die Proteste zu ersticken, indem sie den Grad der Repressionen Woche um Woche erhöht. Wieder hunderte Festnahmen, Wasserwerfer und Leuchtraketen. Die Gewalt macht auch nicht vor demonstrierenden Frauen halt. Lukaschenko wollte in Sotschi als Leader auftreten, der den Aufstand bei sich zu Hause bereits besiegt hat.

    Doch das hat nicht funktioniert. Das Ausmaß der regionalen Proteste ist zwar nicht mehr dasselbe wie noch vor einem Monat – in etwa zehn Städten demonstrieren die Leute, nicht mehr in hundert. Aber zu den sonntäglichen Kundgebungen in Minsk, dem Hauptbarometer der Protestbewegung, kommen immer noch 100.000 bis 150.000 Menschen. Hochgerechnet auf die Bevölkerung Moskaus, wären das bis zu einer Million Menschen, die dort Woche für Woche auf die Straße gehen.

    Lukaschenko wollte als Leader auftreten

    Das Treffen in Sotschi fand ohne Delegationen statt, die Präsidenten sprachen mehr als vier Stunden unter vier Augen. Eine gemeinsame Abschlusserklärung gab es nicht. Das einzige konkrete Ergebnis blieb der Kredit von 1,5 Milliarden Dollar, den Putin Lukaschenko schon vor dem Gespräch zugesichert hatte.

    Das ist eine erhebliche, wenn auch nicht überwältigende Unterstützung. Ungefähr die gleiche Summe hat die belarussische Nationalbank im August ausgegeben, um der Panik auf dem Währungsmarkt entgegenzuwirken.

    Gleich zu Beginn sagte Putin, dass er die von Lukaschenko geplante Verfassungsreform unterstützt. Allen ist klar, dass sie den Auftakt zu einem Machttransfer bildet.

    Wie schon bei früheren Treffen in Sotschi sprach Lukaschenko viel davon, dass man wahre Freunde in der Not erkennt und man in Wirtschaftsfragen „mit dem großen Bruder enger zusammenrücken“ müsse. Jetzt sind das allerdings mehr als höfliche Floskeln – die freundschaftlichen Brücken zum Westen hat die Regierung in Minsk niedergebrannt und damit den einstigen Balanceakt beendet.
    Aus ersichtlichen Gründen sind sich der belarussische und der russische Präsident nie als gleichberechtigte politische Figuren begegnet. Jetzt wird die Ungleichheit noch dadurch verstärkt, dass beide wissen, wer die lahme Ente im Raum ist und wer das Futter in der Hand hält.
    Doch sollte man nicht voreilig den Schluss ziehen, Putin hätte einen einfachen Partner bekommen, der alles tun wird, was Moskau von ihm verlangt. 

    Beide wissen, wer die lahme Ente im Raum ist und wer das Futter in der Hand hält

    Noch dazu macht es jetzt bei vielen Dingen gar keinen Sinn mehr, von Lukaschenko bestimmte Zugeständnisse einzufordern: Es wäre ein genauso riskantes Unterfangen, einen schwachen Lukaschenko zu einer engeren Integration zu zwingen wie einen starken Lukaschenko dazu zu überreden. So ist nach dem Vertrauen nun auch die Planungssicherheit in den Beziehungen zwischen Minsk und Moskau verschwunden. Beide Parteien können nicht mehr auf die Ewigkeit zählen, an die sie sich als lebenslange Autokraten gewöhnt hatten. Wenn Putin Lukaschenko zum Beispiel jetzt dazu nötigt, einen gemeinsamen Fahrplan zu unterzeichnen, würde er sich damit mehr Probleme als garantierte Vorteile verschaffen.

    Wenn die Protestierenden sehen, dass Lukaschenko das Land verrät, bekommt die bislang prodemokratische Massenbewegung den Beigeschmack eines nationalen Befreiungskampfes. Die stabile prorussische Mehrheit unter den Belarussen wird man in dem Fall vergessen können. Denn wenn der durchschnittliche Belarusse zwischen Sympathien für Russland und der Abneigung gegen Lukaschenko wählen muss, wird er sich für die zweite, stärkere Emotion entscheiden. Und wenn sich Moskau hinter einen Herrscher stellt, den der überwiegende Teil der Bevölkerung offenbar satt hat, poliert er in Augen der Belarussen damit nicht dessen Image auf, sondern er ruiniert das eigene.

    Vermutlich ist das der Grund, warum Dimitri Peskow den Effekt der Unterstützung für Lukaschenko abzumildern versuchte. Nach dem Treffen in Sotschi sagte er, Moskau liebe und schätze alle Belarussen – sowohl die, die mit dem Wahlergebnis einverstanden sind als auch alle anderen.

    Wenn der Belarusse zwischen Sympathien für Russland und der Abneigung gegen Lukaschenko wählen muss, wird er sich für die zweite, stärkere Emotion entscheiden

    Noch entscheidender ist die Tatsache, dass Lukaschenkos Unterschrift im Wert gesunken ist. Denn sollte Lukaschenko seine Position im Land festigen können, wird er von einer Vertiefung der Integration wieder Abstand nehmen, und zwar genauso schnell, wie er bei diesen Wahlen den äußeren Feind gewechselt hat: vom Westen zu Russland und wieder zurück. Sollte Lukaschenkos Position im Land dagegen weiter geschwächt werden, wird er schlicht keine Zeit haben, solch ambitionierte Pläne umzusetzen.

    Auch mit der internationalen Legitimität würde es Probleme geben. Vermutlich wird kein Deal, der die belarussische Souveränität spürbar einschränkt, im Westen akzeptiert werden. Deswegen besteht das Risiko, dass das belarussische Protektorat zu einer großen Krim wird: von Investitionen und vom Weltmarkt durch Sanktionen abgeschnitten, wäre es ein noch viel größeres Gewicht am Hals des russischen Budgets als in den Jahren der Spitzensubventionen

    Will Moskau also eine ordentliche Gegenleistung für die Unterstützung Lukaschenkos, dann müssen das handfeste Zugeständnisse sein, die nicht zerredet werden und die der belarussische Präsident auch tatsächlich schafft umzusetzen. Das können zum Beispiel Privatisierungen attraktiver belarussischer Vermögen sein, wie erdölverarbeitende und Rüstungsbetriebe oder das riesige Kali-Kombinat Belaruskali. 

    Es besteht das Risiko, dass das belarussische Protektorat zu einer großen Krim wird

    Bedenkt man, dass es in all diesen Firmen Streikversuche gab und Lukaschenko in einer davon – der Minsker Fabrik für Radschlepper – von den Arbeitern ein lautes „Hau ab!“ hörte, fühlt er sich diesen Aktiva möglicherweise sowieso nicht mehr so verbunden. 
    Man kann wieder von Lukaschenko fordern, dass er einem russischen Militärstützpunkt im Land zustimmt, nachdem Minsk das Bild des neutralen Stabilitätsgaranten in der Region ja ohnehin begraben hat. Aber dieses Thema kann in solch emotionalen Momenten ähnliche innenpolitische Auswirkungen haben wie die Forcierung einer Integration: Der Verdacht, Lukaschenko könnte Grüne Männchen ins Land lassen, mobilisiert die Demonstranten.

    Dass deren Befinden dem Kreml ein großes Anliegen wäre, kann man zwar nicht behaupten: Die russische Staatsmacht neigt genauso wie die belarussische dazu, demonstrierenden Menschenmengen jede Selbstbestimmtheit abzusprechen und stattdessen die wahren und fast immer ausländischen Drahtzieher und Ideengeber ausfindig machen zu wollen. 

    Aber selbst in diesem Weltbild widerspricht eine noch stärkere Destabilisierung als bisher sowohl den Interessen Lukaschenkos als auch Putins. Sie wäre aber unausweichlich, wenn Moskau der Verführung erliegt, den Gesprächspartner bei den Hörnern zu packen.
    Das hat man im Kreml verstanden, auch wenn man ihm sonst mitunter Realitätsverlust zuschreiben kann.

    Der Verdacht, Lukaschenko könnte Grüne Männchen ins Land lassen, mobilisiert die Demonstranten

    Das ideale Szenario für Moskau, an dem man dort sicher arbeitet, wäre eine unblutige Stabilisierung der Situation durch Lukaschenko selbst und anschließend ein fließender, mit dem Kreml abgestimmter Machttransfer hin zu einem horizontaleren Modell
    So könnte Moskau, ohne sich auf Lukaschenko oder seinen potentiellen Nachfolge-Kandidaten einzuschießen, auf bekannte Art Einfluss auf die belarussische Politik nehmen: über loyale Parteien, einzelne Silowiki, Beamte und Politiker, indem es Bereiche der belarussischen Wirtschaft und Geldströme kontrolliert – ohne Vetorecht eines allmächtigen Präsidenten. 
       
    Aber der Teufel steckt im Detail. Niemand weiß, was Lukaschenko von diesem Plan hält. Will er sich im Grunde schnell aus dem Staub machen? Oder sind die Gespräche über eine neue Verfassung und Neuwahlen ein Versuch, Zeit zu gewinnen und die Gegnerschaft zu spalten? Inwiefern werden sich seine Pläne ändern, wenn die Proteste aufhören? Ist er wirklich bereit, mit dem Kreml, dem er immer noch nicht vertraut, über die heikle Frage eines Machttransfers zu sprechen?

    Moskaus ideales Szenario: ein unblutiger Machttransfer

    Diese Dinge werden die beiden Parteien allem Anschein nach wie immer wirtschaftlich klären. Die westlichen Sanktionen und das Misstrauen der Belarussen in staatliche Institutionen verschlechtern das Investitionsklima der belarussischen Ökonomie empfindlich. Ohne flächendeckende und regelmäßige Finanzspritzen aus dem Ausland kann man Wirtschaftswachstum unter Lukaschenko vergessen. So wie früher ist das Land auf ein jährliches Zubrot in Höhe von drei bis fünf Milliarden Dollar angewiesen. Doch für Lukaschenko ist der Zugang zu den globalen Anleihemärkten gesperrt. Die einzige Hoffnung ist Russland.   

    Aber Lukaschenko wird verhandeln, auch wenn er im Moment mit dem Rücken zur Wand steht. Anstatt dem Kreml Zugeständnisse zu versprechen, wird er beteuern, dass er das Land vor einem antirussischen Aufstand und den NATO-Panzern vor Smolensk rettet. Und allein diese Dienste seien eines Entgelts würdig. Als Antwort wird er weitere kränkende Anspielungen hören, dass er mal langsam abtreten soll.
      
    Moskau muss diesen Dialog mit Bedacht führen. Wenn die belarussische Nomenklatura oder die Gesellschaft spüren, dass Lukaschenko den Rückhalt Russlands verliert, dann kann das sein Regime ganz schnell zu Fall bringen. Das kann der Kreml nicht zulassen, solange er keine anderen verlässlichen Partner in der belarussischen Regierungselite oder Opposition hat.  

    Vom überreifen Apfel zum toxischen Wertpapier

    Lukaschenko versteht, wie wichtig dieses Kontaktmonopol ist und blockiert weiterhin separate Gespräche der Nomenklatura mit Moskau, zerschlägt Strukturen und verhaftet Oppositionsführer, damit Russland nur ja keinen anderen Gesprächspartner findet.   

    Von einem überreifen Apfel, der Moskau ganz von selbst hätte in die Hände fallen müssen, wird das belarussische Regime mehr und mehr zu einem toxischen Wertpapier: Man kann mit ihm weder Geschäfte machen, noch kann man es loswerden.    
    Wenn es Lukaschenko gelingt, die Akutphase der Proteste in seinem Sessel zu überstehen, dann muss Moskau Zuckerbrot und Peitsche sorgfältig dosieren, um den belarussischen Präsidenten dorthin zu bekommen, wo es ihn haben will, ohne ihn aus Versehen zu schwach oder zu stark werden zu lassen. Von der Regierung in Moskau erfordert das permanente Aufmerksamkeit und ein tiefes Verständnis der Situation in Belarus.     

    Nun ist die Kreml-Politik im postsowjetischen Raum allerdings nicht gerade reich an Beispielen für ein solches Fingerspitzengefühl. Konflikte anzetteln und einfrieren ist eine Sache. Eine ganz andere ist es, einen geordneten Transfer mitzugestalten – in einem Land, in dem Moskau trotz gemeinsamer Sprache über keine verlässlichen Stützpfeiler verfügt.

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  • Politische Trends in Belarus

    Politische Trends in Belarus

    „Administratives Ritual“ nennt Artjom Schraibman die am vergangenen Sonntag in Belarus abgehaltene Parlamentswahl: 110 Abgeordnete ziehen in das Repräsentantenhaus ein, keiner davon gehört der Opposition an. Das sei wenig überraschend, meint Shraibman, und doch habe die Wahl einige bemerkenswerte politische Tendenzen offenbart, die auch für Russland von Bedeutung sind, kommentiert der Minsker Politologe und Kolumnist auf Carnegie.ru.

    Die belarussischen Parlamentswahlen sind nach dem traditionellen, rundum kontrollierten Szenario verlaufen. Bei den letzten Wahlen hatte das Regime zwei Oppositionelle ins Parlament einziehen lassen. Dieses Experiment wurde jetzt beendet. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2020 war der Führung des Landes ihr seelisches Wohlbefinden wohl wichtiger als Zugeständnisse an den Westen, bei denen unklar bleibt, welche Gegenleistungen man dafür erhält.

    Aber selbst ein derart administratives Ritual wie Wahlen in Belarus vermag gewisse politische Trends zu offenbaren. Zu den innersystemischen Tendenzen gehört, dass sich der Anteil parteigebundener Abgeordneter erhöht hat und einige hochrangige und prominente Funktionäre des Staates ins Parlament geschickt wurden.

    Wenigstens ein bisschen politisches Gewicht

    Es sieht ganz danach aus, als würden Lukaschenko und seine Administration versuchen, dem Parlament mit Hilfe dieser gewichtigen, aber noch nicht alten Funktionäre wenigstens ein bisschen politisches Gewicht innerhalb des Systems zu verleihen. Es passt in die Logik der von Lukaschenko angekündigten Verfassungsreform: In den kommenden vier bis fünf Jahren sollen die Vollmachten des Präsidenten in Richtung Parlament und Regierung verschoben werden.

    Gleichzeitig ist die Zahl der Abgeordneten gestiegen, die regimefreundlichen Parteien angehören. Das belarussische Parlament wird zwar nach dem Mehrheitssystem gewählt, doch wird bereits seit einigen Jahren der Übergang zu einem gemischten System diskutiert, bei dem ein Teil der Abgeordneten über Parteilisten gewählt wird.

    Eine solche Wahlreform soll wohl ebenfalls Teil der erneuerten Verfassung werden. Wenn das Land zukünftig auch über das Parlament regiert werden soll, ist eine eigene Partei der Macht vonnöten, samt Spoiler-Parteien und einer Systemopposition.

    Unzufriedene Kräfte verbreiten im Wahlkampf ihre Ideen

    Da der Wahlprozess in Belarus seit Langem schon nichts mehr mit einem Kampf um Mandate zu tun hat, werden die Parlamentswahlen nun von verschiedenen Gruppen Unzufriedener intensiv zur Verbreitung ihrer Ideen genutzt. So traten bei den Wahlen die Anführer der bekannten Umweltproteste gegen die Akkufabrik in Brest an, wie auch die der Initiative Mütter 328, deren Kinder wegen geringfügigen Drogenbesitzes zu sehr hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Fast alle sind entweder von den Behörden nicht als Kandidaten zugelassen worden oder haben ihre Registrierung wieder verloren, damit sich sozialer Protest nicht politisiert.

    Schließlich wäre da noch das wohl interessanteste Phänomen dieser Wahlen: der Auftritt zweier Kandidaten mit einer prorussischen und gleichzeitig regimekritischen Rhetorik. Deren Botschaft ist schlicht: In den Regionen herrschen Stagnation und Niedergang, das Regime erfüllt den Gesellschaftsvertrag nicht, den Beamten sind wir schnurzpiepegal, wir müssen Freunde Russlands sein, weil es das einzige Land ist, das uns hilft.

    Zwei Kandidaten mit prorussischer, regimekritischer Rhetorik

    Prorussische Kritik am Regime in Belarus galt immer schon als sehr gefährliches Terrain. Lukaschenko hat stets versucht, in dieser Hinsicht das Monopol zu behalten. Kritik an ihm war nur aus pronationalen oder proeuropäischen Positionen heraus erlaubt. Drei russophile Autoren, die bei der Agentur Regnum publizieren, haben für ihre Texte, in denen scharfe Töne gegenüber dem belarussischen Regime und dessen Identitäts-Politik angeschlagen werden, unlängst Strafverfahren und ein Jahr Untersuchungshaft bekommen.

    In dem Maße allerdings, wie sich die Differenzen zwischen Minsk und Moskau mehren, ergeben sich in der belarussischen Politik auch Spielräume für die prorussische Opposition. In den vergangenen Jahren ist bereits eine Reihe derartiger regionaler Internetportale und ziemlich populärer Telegram-Kanäle entstanden.

    Dieser Prozess befindet sich noch im Anfangsstadium. Es hat sich noch keine prorussische Bewegung gegen Lukaschenko formiert, und die Geheimdienste werden eine solche auch kaum zulassen. Doch ein Scheitern der Integrationsbemühungen von Moskau und Minsk dürfte diesen Aktivisten und Gruppen zusätzliche Möglichkeiten eröffnen, insbesondere, wenn es in Belarus dadurch zu einer Wirtschaftskrise kommt. Je mehr Akteure dieser Art es gibt, desto größer wird für Moskau die Versuchung sein, diese zu unterstützen, wenn sich das Verhältnis zu Lukaschenko verschlechtert.

    Dass die Opposition im neuen Parlament nicht vertreten ist, bedeutet keinen Rückgang des Tauwetters, weil das Tauwetter in Belarus nie Einfluss auf die Wahlen hatte. 2016 war der Dialog mit dem Westen stärker in Gang gekommen, und man hatte sich entschieden, diesem einen zusätzlichen Impuls zu verleihen, indem zwei Oppositionelle zu Abgeordneten wurden. Am Wahlprozess selbst wurde aber nichts geändert.

    Parlament ohne Opposition

    Dieses Mal war auch der Ablauf der Wahlen rigider als gewöhnlich: Die Wahlbeteiligung wurde durch vorzeitige Stimmabgabe erhöht, und Oppositionelle, die Mitglieder von Wahlkommissionen oder Kandidaten werden wollten, wurden noch stärker ausgesiebt. Es gab – wie früher – keinen vernünftigen Grund, die Opposition ins Parlament zu lassen.

    Das bedeutet erstens, dass das belarussische Außenministerium, das gewöhnlich als proeuropäische Lobby im System gilt, keinen ernstzunehmenden Einfluss auf Lukaschenko und seine Administration hat, wenn es um Wahlen geht.

    Das Maximum, was das Außenministerium heute tun kann, ist, die übrigen Staatsorgane für eine gewisse Zeit davon zu überzeugen, von ganz heftigen Repressionen abzusehen – damit es keine neuen politischen Häftlinge gibt oder damit Straßenproteste nicht brutal niedergeschlagen werden.

    EU und USA: Weder Engagement noch Reaktionen

    Zweitens sieht auch Lukaschenko in den Beziehungen zum Westen keine Aufgaben, die man über eine Oppositionsquote lösen könnte. Wie Lukaschenko kürzlich in Wien erklärte, sei es für die westlichen Unternehmen egal, ob das belarussische Parlament als legitim anerkannt werde oder nicht. Das Wichtigste seien Investitionsgarantien durch die Führung des Regimes und Stabilität im Land.

    Politisch hat die EU Belarus für den Fall, dass die Opposition im Parlament vertreten ist, keinerlei konkrete politische Gegenleistung in Aussicht gestellt. 

    Die Stimmung in Brüssel und Washington wird durch ein ausnahmslos loyales belarussisches Parlament natürlich nicht besser. Der Elan, sich in Richtung Belarus zu engagieren, dürfte sich künftig noch mehr in Grenzen halten als jetzt. Aber auch eine heftige Reaktion der EU oder der USA wird es wohl kaum geben. Schließlich hat der Westen die Sanktionen gegen Belarus nicht wegen der Wahlen verhängt, sondern wegen der erheblichen Repressionen während und nach den Wahlen [den Präsidentschaftswahl 2006 und 2010 – dek]. Solche Repressionen gibt es derzeit nicht.

    Gleichzeitig wird schon seit etlichen Jahren eine Isolation von Belarus mit der Befürchtung verknüpft, dass Minsk dadurch in den Einflussbereich Moskaus gedrängt werde. Das strategische Interesse, Belarus ungestört zwischen den Machtzentren lavieren zu lassen, ist seit spätestens 2015 größer als die Sorge um demokratische Ideale im Land.

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  • Rhetorische Wende

    Rhetorische Wende

    Vergangenen Mittwoch hat Präsident Putin die sogenannte Rede zur Lage der Nation, die Botschaft an die Föderationsversammlung, gehalten. Über den plötzlich anberaumten Termin der Rede – die Vorsitzende der Föderationsversammlung hatte ihre Südostasien-Reise abbrechen müssen – war viel spekuliert worden. Putin habe schnell auf sinkende Zustimmungswerte reagieren wollen, lautet einer der Erklärungsversuche. 
    Auf Carnegie.ru schreibt Tatjana Stanowaja, die Tatsache, dass die Rede nicht erst Mitte März, am Jahrestag der Angliederung der Krim gehalten worden sei, zeige „dass man im Kreml verstanden hat, dass die Bevölkerung der hurra-patriotischen Rhetorik müde geworden ist – angesichts stetig sinkender Löhne“. 
    Diese Erkenntnis werde in der Rede vor allem auch an anderer Stelle deutlich, kommentiert sie:

    Die wichtigste politische Schlussfolgerung aus der Rede [Putins an die Föderationsversammlung – dek] ist die, dass es der Präsidialverwaltung gelungen ist, den Präsidenten von einer Korrektur der Rhetorik zu überzeugen. Sonst könnte angesichts der sinkenden Zustimmungswerte die Kluft zwischen der Regierungs-Agenda und den Belangen der Gesellschaft zum Verlust der politischen Kontrolle führen.
    Als der Präsident sich im vergangenen Jahr sowohl in seiner Rede als auch im Wahlkampf auf die geopolitische Agenda konzentrierte, hatte das Unverständnis und Missmut in der Gesellschaft hervorgerufen. Das Fehlen einer Zukunftsvision, die übermäßige Militarisierung und die aggressive Rhetorik – später multipliziert mit der Rentenreform – ließen die Zustimmungswerte um rund zwanzig Prozent einbrechen. Die darauffolgenden Verluste bei den Regionalwahlen bestätigten den Ernst der Lage.
    Die Präsidialverwaltung musste Putin davon überzeugen, sich der innenpolitischen Agenda und den sozialen und wirtschaftlichen Problemen zuzuwenden. Der Rede nach zu urteilen ist ihr das auch gelungen.

    Der Wendepunkt

    Der Wendepunkt war vermutlich Andrej Tarassenkos Niederlage im zweiten Wahlgang der Gouverneurswahlen in der Region Primorje, nur wenige Tage nachdem der Präsident dessen Kandidatur öffentlich unterstützt hatte. Das Problem waren nicht nur die Polittechnologie oder regionale Besonderheiten. Es war eine persönliche Niederlage für Putin, und der Präsident bekam durchaus zu spüren, dass sich etwas verändert hatte. Die Präsidialverwaltung machte sich also an die Entwicklung einer positiven Agenda – und eines der Ergebnisse ist die Rede.

    Der Auftritt ist die Antwort des Kreml auf die sinkenden Zustimmungswerte. Es ist der Versuch, den sinkenden Löhnen mit dem einfachsten Mittel zu begegnen: dem Verteilen von Geld. Eine solche  Botschaft wird wohl bei niemandem für Missmut sorgen, und selbst wenn sie die Ratings nicht in die Höhe treibt, könnte sie zumindest deren Sinkflug verlangsamen.

    Allerdings zeichnet sie weder eine Zukunftsvision noch mildert sie die Folgen der Rentenreform oder berührt die Probleme der sozialen Gerechtigkeit. Dabei wächst in der russischen Gesellschaft die Nachfrage nach einer entschieden anti-oligarchischen und anti-bürokratischen Politik. 

    Die Ansprache hat auch nicht das für Putin traditionelle Image des starken Leaders wiederhergestellt, der fähig ist, alle Widerstände zu überwinden. Der Präsident versucht, vom bösen Buchhalter, der die Notwendigkeit der Rentenreform dargelegt hat, zum guten zu werden, der bereit ist, sein Geld mit dem unzufriedenen Kollektiv zu teilen. Doch er kann vor der Öffentlichkeit seine wachsende Abhängigkeit vom System und seiner Umgebung nicht verbergen. In den Augen der Bevölkerung wird er immer mehr zu einem schwachen Führer, der sich nicht traut, wichtige personelle Entscheidungen zu treffen oder seine außer Rand und Band geratenen Freunde zu bremsen.

    Oberflächliche Antwort

    In diesem Sinne war die Ansprache nur eine oberflächliche Antwort auf die Forderungen der Gesellschaft nach einer Erhöhung des Lebensstandards. Die angekündigten Maßnahmen bedeuten weder eine Rückkehr zum Sozialismus noch einen Übergang zu einem neuen sozialwirtschaftlichen Modell. Es handelt sich um einen Versuch, die soziale Unzufriedenheit mit Haushaltsüberschüssen zu löschen, was jedoch kein Ersatz sein kann für eine komplexe Adaption der Sozialpolitik an die Bedürfnisse der Bevölkerung.

    Die Botschaft war die entpolitisierteste der vergangenen Jahre. Ging es in den letzten Ansprachen noch übermäßig um die Außenpolitik, die Putin leidenschaftlich und in allen Details thematisierte, so kam in der heutigen Rede so gut wie gar keine Politik vor, weder Außen- noch Innenpolitik.

    Die Innenpolitik ist schon lange kein beliebtes Thema für die Ansprachen mehr, was im Grunde verständlich ist: Aus Sicht des Präsidenten ist alles gut eingerichtet und funktioniert prima. Es gibt eine Partei der Macht, es gibt eine systemische Opposition, die die „gemeinsamen Werte“ teilt, es gibt politischen Wettbewerb und manchmal gewinnt sogar ein Opponent der Kreml-Schützlinge – es ist klüger, daran nicht zu rütteln.

    Was eine heranreifende Parteien- oder Verfassungsreform angeht, so hält man die Frage nach einem Wechsel im Kreml offensichtlich für verfrüht. Insgesamt hatte Putin demnach zur Innenpolitik nichts zu sagen, trotz der unerwarteten Verluste bei den Gouverneurswahlen im vergangenen Jahr.

    Pazifistische Rhetorik

    Dafür tauschte der Präsident den aggressiven Ton und das Säbelrasseln der Außenpolitik gegen eine pazifistische Rhetorik ein und minimierte gleichzeitig den Umfang des außenpolitischen Themenblocks. Damit reagierte er auf die wachsende Unzufriedenheit der Gesellschaft über die unverhältnismäßige Begeisterung der Regierung für Geopolitik und ihre Fixierung auf die USA, die Ukraine, Syrien und das „verfaulende Europa“. Das Volk will Putin zu Hause – und Putin hat das anscheinend verstanden, indem er ungewöhnliche Rechtfertigungen für seine Kommentare zum Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag lieferte.

    Korrigierte Positionen hatte die Rede nicht zu bieten. Putin wiederholte längst bekannte Leitsätze, schlug dabei jedoch friedlichere Töne an, womit er auf die Militärverdrossenheit der Gesellschaft reagierte. Das ist eine wichtige Neuerung, die dem Präsidenten, der zu Härte im Dialog mit dem Westen neigt, als sozialpolitische Leitplanke dienen könnte.

    Ohne jeden Realitätssinn

    Während die Ansprache im vergangenen Jahr unangenehm aufstieß, weil sie die soziale Agenda fast vollständig ignorierte, entbehrte die diesjährige jeglichen Realitätssinn, was den Druck der Machtorgane auf die Wirtschaft betrifft.

    Die diesbezügliche Hauptnachricht im Vorfeld der Ansprache war die Festnahme [des US-Investors – dek] Michael Calveys sowie weiterer Top-Manager der Investmentgesellschaft Baring Vostok wegen eines unternehmensinternen Konflikts um die Wostotschny-Bank. Wäre es Putin an Realitätsnähe gelegen gewesen, hätte er entweder den Wirtschaftsteil komplett streichen oder etwas zum Fall Baring Vostok sagen müssen. Aber er zog es vor, so zu tun, als sei nichts geschehen.

    Man kann nicht überzeugend sein, wenn man versucht einem Querschnittsgelähmten Fitnessgeräte zu verkaufen. Genauso wenig kann man von Investitionsklima und dem Schutz von Unternehmern reden und gleichzeitig Festnahmen beim größten ausländischen Investmentfonds ignorieren, die offensichtlich im Interesse einer der beiden Seiten im Unternehmensstreit erfolgten. Diese Diskrepanz wurde zum wunden Punkt der Ansprache, die bei aller Ausrichtung auf soziale Fragen, jegliches Niveau eingebüßt hat, was die Beziehungen zwischen Staatsgewalt und Wirtschaft angeht. 

    Die überstürzte Rede, das Setzen auf einfache Lösungen und das Verteilen von Geld, die Weigerung, die aufsehenerregende Verhaftung Michael Calveys zu kommentieren – das alles zeigt deutlich, dass es um einen Wechsel der Rhetorik und nicht um einen Kurswechsel geht. 

    Die Staatsgewalt hat den Versuch unternommen, Putins Agenda der Agenda der russischen Gesellschaft anzunähern, doch das ist ein rein taktischer Zug, der kaum Einfluss auf die tatsächlichen Inhalte der Tagespolitik haben dürfte. Die einzige Ausnahme könnte die angekündigte Reform der Rechtsgrundlagen für die staatliche Aufsichtstätigkeit sein, aber das ist in der heutigen Situation wohl kaum genug. 

    Geld ist da – das war Putins frohe Botschaft. Ob das die Pille für die Gesellschaft weniger bitter gemacht hat, werden wir in den nächsten Monaten an den neuen Umfragewerten zur Unterstützung des Präsidenten sehen.
     

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  • Belarus: Brüderliche Einverleibung?!

    Belarus: Brüderliche Einverleibung?!

    „Öl gegen Küsse“, so nennt man das Modell in Belarus: Moskau liefert Öl und Gas zu günstigen Bedingungen, Minsk zeigt sich im Gegenzug als treuer Freund Moskaus. Doch derzeit gibt es immer mehr Verstimmungen zwischen beiden Seiten. Etwa wegen des sogenannten Steuermanövers Russlands: Während die Ausfuhrzölle auf Rohöl auf Null Prozent sinken, steigt die Steuer auf die Förderung – und soll in vollem Umfang an die Abnehmer weitergegeben werden. Für Belarus bedeutet dies nicht nur, dass die einst zollfreie Ware plötzlich mehr kostet, sondern auch eine Weiterverarbeitung ist dann nicht mehr lukrativ.
    So forderte Lukaschenko von Moskau Kompensation, doch Anfang Dezember 2018 stellte Premierminister Medwedew ein Ultimatum und verlangte nach einer Gegenleistung: Die sieht er in einer stärkeren Integration zwischen beiden Ländern, also einer Zoll- und Währungsunion etwa. Eine solche (schrittweise) Annäherung war bereits in einem Unionsvertrag im Jahr 1999 geplant, dieser sowie andere Verträge gingen aber selten über Absichtserklärungen hinaus. 

    Mehrere Treffen zwischen Moskau und Minsk im Dezember 2018 blieben ergebnislos, eine Arbeitsgruppe wurde ins Leben gerufen, die an der angestrebten Annäherung arbeiten soll. Zwar betonte Kreml-Sprecher Dimitri Peskow, eine Angliederung von Belarus an Russland sei nicht geplant, doch gleichzeitig sitzt der belarussische Präsident Lukaschenko in einer Abhängigkeitsfalle. Unterdessen schwelt der Streit weiter.

    Wird Belarus eine zweite Krim? Artyom Shraibman schaut sich die Gründe, die scheinbar dafür sprechen, auf Carnegie.ru genauer an.

    Wie ein altes Ehepaar neigen Minsk und Moskau dazu, sich ständig Fehltritte und Kränkungen aus längst vergangenen Tagen vorzuhalten. Beim Streit über das sogenannte Steuermanöver in der Erdölindustrie und potentielle Ausgleichszahlungen für Belarus hat Moskau nun einen der ältesten Sprengsätze hervorgeholt: den nicht eingelösten Unionsvertrag von 1999. 

    Von Russland heißt es nun: Ihr wollt Unterstützung? Dann integriert euch tatsächlich! Allerdings steht dieses Ultimatum in einem neuen Kontext: Die Umfragewerte des Kreml sinken, russische Experten beraten über eine mögliche Machtübergabe 2024, gleichzeitig betrachtet man Russland nicht mehr als ein Land, das die Souveränität seiner Nachbarstaaten allzu ernst nimmt. Das zusammen sorgte für eine Flut von anonymen Telegram-Meldungen, offiziellen Stellungnahmen und Artikeln in der westlichen, russischen und belarussischen Presse, inwieweit eine Einverleibung von Belarus unumgänglich sei. 

    Seit 2014 lassen sich solche Prognosen nicht mehr so leicht von der Hand weisen. Panikmacher wie besonnene Kritiker können zurecht darauf verweisen, dass auch 2014 niemand mit der Krim oder dem Donbass gerechnet hätte. Und dass es Situationen gebe, in denen Regierungschefs schwer nachvollziehbare Entscheidungen treffen, da sie, geleitet von Vorurteilen, Phobien und dem Gefühl einer historischen Mission und den zugänglichen Informationen, andere Lösungen für noch schlechter halten.

    Deswegen muss jede Analyse solcher Themen mit dem Vorbehalt beginnen, dass im Prinzip alles möglich ist. Jede Prognose ist gewissermaßen eine Aufbereitung des vergangenen Krieges. Ausgehend von den gegenwärtigen Bedingungen, können wir nur die Wahrscheinlichkeit gewisser Szenarien abschätzen. Und auf die Mythen über Belarus und sein Verhältnis zu Russland verweisen, die unter denen besonders verbreitet sind, die den Anschluss prognostizieren.

    Sehen wir uns das Szenario der Einverleibung von Belarus aus drei Perspektiven an: der belarussischen Gesellschaft, der Führungselite und Russland. 

    Liebe auf Distanz

    In Russland ist der Irrglaube verbreitet, allein der zickige Lukaschenko hielte Belarus, die  sowjetischste aller ehemaligen Sowjetrepubliken, davon ab, sich wie die Krim in einem freudestrahlenden Sprint Russland anzuschließen.

    In Wirklichkeit gibt es in der jüngsten Geschichte von Belarus kaum einen stabileren Trend als die wachsende Zahl von Befürwortern der Unabhängigkeit. 28 Jahre in einem eigenen Staat mit allem, was juristisch und politisch dazugehört, mit einer Generation, die in einem unabhängigen Land aufgewachsen ist und mittlerweile selbst Kinder hat, hinterlassen ihre Spuren in der kollektiven Identität einer Nation.

    Dass die Mehrheit der Belarussen die Union mit Russland befürwortet, heißt noch lange nicht, dass sie eine Verschmelzung beider Länder anstrebt. Werden die Belarussen befragt zu dem derzeitigen Ausmaß der Zusammenführung mit Russland und nach der Rechtmäßigkeit von Russlands Anspruch auf die Krim, zeigt sich für beides eine stabile Zustimmung zwischen 55 und 75 Prozent, je nach Formulierung der Fragen und den zur Wahl stehenden Optionen. 

    Wird jedoch gefragt: Vereinigung mit Russland oder Erhalt der Souveränität, dann hat erstere nicht die geringste Chance. Nur 15 bis 20 Prozent befürworten eine stärkere Zusammenführung und weniger als 5 Prozent wollen eine Eingliederung in die Russische Föderation (Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt von Andrej Wardomazki vom April 2017).

    Außerdem befindet sich die potentielle „russische Partei“ – anders als in der Ukraine, der Republik Moldau oder Kasachstan – in keiner bestimmten Region. Es gibt keine belarussische Krim und keinen belarussischen Donbass, die sich als Aufmarschgebiet für die Destabilisierung der Regierung in Minsk eignen würden.  

    Die prorussischen Belarussen sind im Gegensatz zu den prowestlichen nicht einmal eine eigene politische Kraft, sogar gemessen am belarussischen Maßstab gesellschaftlicher Apathie sind sie nicht mobilisiert. Sie empfinden keine Diskriminierung auf sprachlicher oder kultureller Ebene, um der Matrix von Krim-Donezk folgend zu argumentieren: Unsere ganz besondere, russlandnahe Identität wird von westbelarussischen Nationalisten bedroht – diese Karte lässt sich im heutigen Belarus nun wirklich nicht ausspielen. 

    Auch in der Außenpolitik gibt es keine uneingeschränkte Sympathie für Russland. Fügt man in den Umfragen dem simplen „Russland oder EU?“ noch ein paar Varianten hinzu, wie zum Beispiel „ähnlich enge Beziehungen zu allen“ oder „keinem Block beitreten“, liegt die Zustimmung zu diesen neutralen Optionen bei 60 Prozent (Umfrage der Belarussischen Analysewerkstatt von Andrej Wardomazki vom September 2018). Würde die belarussische Regierung in ihrer Außenpolitik also einen neutralen Kurs verkünden, stieße sie beim Großteil der Bürger auf enthusiastische Zustimmung. 

    Sogar die nicht einmal ansatzweise nationalistischen „sowjetischen Belarussen“ sehen Russland als ein Land der Oligarchen, der sozialen Ungleichheit, der Korruption, der Kriminalität und der falschen Wege. Wenn diese Menschen, von denen die meisten im Staatsdienst tätig oder Rentner sind, nostalgisch auf das einst große Land, die Sowjetunion, zurückblicken, dann ist das ein Land, das in seiner sozialen Ordnung dem heutigen Belarus wesentlich näher ist als dem heutigen Russland. 

    Belarus mag ein überraschend russlandfreundliches und russischsprachiges Land sein, aber wenn Moskau meint, in der belarussischen Gesellschaft eine Stütze zu finden, so wird das wohl kaum gelingen. 

    Schon seit vielen Jahren ist die Eingliederung in die Russische Föderation ein Tabuthema in der belarussischen Politik. Sogar für die Kommunisten, die sich ja theoretisch nach der Sowjetunion sehnen könnten, ist die Unabhängigkeit axiomatisch. Die Regierung hat gezeigt, dass sie bereit ist, eine Überschreitung der Grenzen des Zulässigen hart zu bestrafen: 2017 verbrachten drei allzu prorussische Journalisten ein ganzes Jahr wegen Anfachung von Hass zwischen den Nationen in Untersuchungshaft.

    Es ist schwer, eine „russische Partei“ zu mobilisieren, wenn es keine wirklichen Parteien oder wenigstens ein halbwegs entwickeltes Netz von nicht regierungsnahen Organisationen oder andere politische Infrastruktur gibt, weder in Russland noch in Belarus. Hinzu kommt, dass Belarus ein autoritär regiertes Land ist, wo jegliche Angriffe auf die Stabilität der Regierung im Keim erstickt werden. 

    Aber nehmen wir an, die Einverleibung von Belarus, wie wir sie uns ausmalen, geschieht schnell: mit Panzern auf der Straße oder einem Umsturz in Minsk. Würden sich die Menschen gegen die Okkupation wehren?

    Eine drei Jahre alte Umfrage besagt, dass 19 Prozent bereit wären, eine Waffe in die Hand zu nehmen (Umfrage des IISEPS vom Juni 2015). Aber die Frage ist viel zu hypothetisch, um sich auf diese Zahlen zu verlassen. 

    Allerdings lässt sich mit Sicherheit vorhersagen, dass sofort Politiker auftauchen und zum Widerstand aufrufen würden. In Belarus gibt es ein paar national-demokratische und nationalistische Parteien und Bewegungen, die sich mit der Situation nicht abfinden würden. Sie haben in etwa dasselbe Verhältnis zu Russland wie die ukrainischen Nationalisten: Sie sehen es als ein aggressives Imperium und eine permanente Bedrohung der belarussischen Unabhängigkeit. Der reale Beginn einer Einverleibung  würde die Stimmung in der Gesellschaft anheizen. Die Operation würde also nicht ohne Massenproteste in den Großstädten vonstattengehen können. 

    Aber ob wir hundertprozentig überzeugt sind oder nicht, dass es Widerstand geben würde, das ist nicht Kern unserer Analyse. Wichtiger ist, dass niemand, einschließlich Moskau, mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass es keinen Widerstand geben wird. Es ist ein nicht kalkulierbares Risiko. Und das bedeutet, dass man bei der Planung einer solchen Operation damit rechnen muss, auf Proteste oder Partisanenwiderstand zu treffen. Diese Feststellungen brauchen wir später für die Analyse der Vorteile und Risiken für Russland in dieser Angelegenheit.

    Wenn man etwas zu verlieren hat

    Eine wesentliche Hürde für jedwede enge Anbindung von Belarus ist sein politisches Regime. Autokraten teilen ungern ihre Macht, weder im Inland noch außenpolitisch. Alexander Lukaschenko hat zwar stapelweise Unionsverträge mit Russland unterzeichnet, als der Rücktritt von Boris Jelzin in Sicht war und um den Platz im Kreml konkurriert wurde. Sobald der jedoch vergeben war, verschwand auch Minsks Wunsch, sich mit Russland zu verbünden.

    Lässt man brutale persönliche Erpressungen außer Acht, kann man sich nur schwer vorstellen, was Moskau Lukaschenko für den Verzicht auf seine Macht zu bieten hätte. Geld, eine Yacht und eine Villa bei Sotschi kompensieren wohl kaum den Verlust von Möglichkeiten und Status eines uneingeschränkten Herrschers von einem mittelgroßen europäischen Land. 

    Bleibt also nur die Variante einer Spaltung der belarussischen Elite und die Suche oder Schaffung einer prorussischen Fraktion vor Ort.

    Die Führungsriege in Belarus ist nicht homogen. Es gibt prowestliche Diplomaten, marktorientierte Technokraten, rote Direktoren und einfach nur opportunistische Beamte. Aber all diese Unterschiede verblassen vor dem Hintergrund der Treue zu Lukaschenko, die sie ihm schon viele Jahre halten.

    Die meisten, wenn nicht alle hochrangigen Beamten profitieren von der Souveränität. Nicht zuletzt durch die Möglichkeit, ohne finanzielle Sorgen zu leben und dank ihrer Beziehungen nach einem Rückzug aus dem Staatsdienst in die Privatwirtschaft zu gehen, und das in einem kleinen und bestens kontrollierten Land, das nicht in Einflusssphären einzelner Oligarchen unterteilt ist. Das russische Kapital, das die Vereinigung beider Länder mit sich brächte, würde nicht nur ihre angestammten Plätze, sondern auch ihre Garantie auf eine sorgenfreie Zukunft gefährden.

    Aber selbst wenn wir annehmen, dass irgendwo im Verborgenen noch überzeugte russophile Beamte sitzen, ginge für sie der Verrat an ihren Vorgesetzten mit allzu großen persönlichen Risiken einher, erst recht, wenn man bedenkt, dass der Ausgang dieses Abenteuers ungewiss ist. Ein belarussischer Beamter jeder Karrierestufe riskiert schon durch die Aufnahme von eigenständigen Verhandlungen mit Moskau oder mit Kollegen im Staatsapparat alles, was er hat, einschließlich seiner Freiheit. Besonders aktuell ist dieses Problem in einem System, in dem die begründete Angst herrscht, dass die Geheimdienste alle Beamten äußerst genau beobachten.

    Bislang gibt es keinen Grund anzunehmen, dass unter den belarussischen Silowiki, die sich – wie auch alle anderen Beamten – gegenseitig kontrollieren, der Wunsch bestünde, die Souveränität aufzugeben. Für sie ist das persönliche Risiko beim Scheitern eines solchen Vorhabens sogar wesentlich größer als für die Staatsbeamten. 

    Die kostspieligste Variante

    Damit sind wir bei der Kernfrage angekommen: Ist die Sache den Aufwand tatsächlich wert? Wollte Belarus von sich aus der Russischen Föderation beitreten, würde sich Moskau wohl kaum widersetzen. Aber da mit keinen freiwilligen Szenarien zu rechnen ist, blieben nur die gewaltsamen mit den dazugehörigen Ausgaben.

    Kosten würden sowohl durch die Operation selbst als auch durch die Mitfinanzierung der neuen Region mit fast zehn Millionen Menschen entstehen, die der Westen zudem wie im Fall der Krim durch Sanktionen isolieren und nicht anerkennen würde. Darüber hinaus könnten auch Russland selbst neue, schwerwiegende Sanktionen erwarten.

    Würde Russland einfach so Nachbarländer, die nicht niet- und nagelfest sind, einsammeln und anschließen, müsste man beispielsweise mit einer Angliederung des deutlich weniger komplizierten Südossetien rechnen. Weil dies aber bislang nicht geschehen ist, können wir davon ausgehen, dass für Moskau eine weitere Verschlechterung der Beziehungen zum Westen von Bedeutung wäre.

    Wäre Wladimir Putin so besessen von seinen Umfragewerten, dass er dafür sogar ganze Länder gewaltsam angliedern würde, wozu dann die Erhöhung des Rentenalters? Er hätte dieses Problem auch seinen Nachfolgern überlassen und die sakralen Zahlen der Volksliebe aufrechterhalten können.

    Soziologen beobachten schon seit Monaten eine gestiegene Nachfrage in der russischen Gesellschaft nach einer friedlichen Außenpolitik und einer Hinwendung der Regierung zu innenpolitischen Fragen. Offensichtlich sind diese Zahlen auch dem Kreml bekannt. Nicht nur, dass eine Angliederung von Belarus keinen Anstieg in den Umfragewerten garantiert, sie hätte womöglich sogar den gegenteiligen Effekt: die Unzufriedenheit des Volkes. Erst recht, wenn diese Operation mit neuen Sanktionen und finanziellem Aufwand verbunden wären. 

    Mit anderen Worten: Die Frage von 2024 durch die Vereinigung mit Belarus zu lösen, käme der Provokation eines scharfen Konflikts mit einem bislang verbündeten Land gleich. Es wäre ein Szenario voller unkalkulierbarer Risiken und Ausgaben, die nicht einmal steigende Umfragewerte garantieren. Wenn Putin an der Macht bleiben möchte, könnte er dieses Problem wesentlich leichter lösen: durch eine Verfassungsänderung.

    Es müsste viel passieren, damit die Waage sich noch zur anderen Seite neigt. Aber bis dahin gleicht Moskaus Annäherungsultimatum an Minsk eher dem Wunsch, endlich Geld zu machen, als dem Versuch, ein solches Projekt mit Gewalt bis zum Ende durchzuziehen.

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