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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Russische Eskalationsspiele mit Belarus

    Russische Eskalationsspiele mit Belarus

    Selbst wenn es zu einem dauerhaften Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine kommen sollte, werden die Spannungen zwischen dem Kreml und den Ländern der EU bleiben. Damit komme Belarus, schreibt Artyom Shraibman in seiner Analyse für Carnegie, eine besondere Rolle zu. Putin könnte das Lukaschenko-Regime für weitere Eskalationen jenseits der ukrainischen Front nutzen. Deswegen sei es für die EU wichtig, die Interessen des belarussischen Machthabers zu verstehen, um „Moskau zusätzliche Hindernisse in den Weg zu legen. Und je mehr es davon gibt, desto unwahrscheinlicher ist es, dass ein neuer großer Krieg beginnt.“ Shraibman zeigt auf, wie solche Hindernisse aussehen könnten. 

    Alexander Lukaschenko am Tag seiner Inauguration am 25. März 2025 im Kreise von Kadetten und Kadettinnen in Minsk. / Foto © IMAGO / ITAR-TASS 

    Logik der Beteiligung 

    Belarus ist mittlerweile aufgrund seiner geografischen Lage und seiner zunehmenden Abhängigkeit von Russland ein permanenter Risikofaktor für seine Nachbarländer. Daran wird sich wahrscheinlich nichts ändern, solange in Belarus ein Regime herrscht, das seine Macht der wirtschaftlichen und politischen Unterstützung aus Moskau zu verdanken hat. Das Problem ist nicht nur die alte Feindschaft zwischen Alexander Lukaschenko und Polen oder Litauen, sondern auch das Beziehungsmodell, wie es sich in den letzten fünf Jahren zwischen Minsk und Moskau entwickelt hat.  

    Bis 2020 hielt Lukaschenko immer die Balance zwischen dem Westen und Russland, in der Erwartung, von beiden Seiten dafür belohnt zu werden, dass er sich nicht auf die jeweils andere Seite schlägt. Die Bedingung für dieses Manövrieren war die Möglichkeit, sich wie ein Pendel mal an Russland anzunähern, mal sich zu entfernen. Der Bruch mit dem Westen nach den Protesten in Belarus 2020 stoppte dieses Pendel und fixierte es im Kontrollbereich Russlands.  

    In der Folge verlor der Westen das Interesse an den Signalen Lukaschenkos, der verbal weiterhin versuchte, seine Eigenständigkeit zu betonen. Gleich zu Beginn der vollumfassenden Invasion in der Ukraine rief er zu sofortigen Verhandlungen auf und bot sich als Mittelsmann zwischen Kyjiw und Moskau an. Doch diese Rhetorik überzeugte die Adressaten nicht mehr, der Spielraum für seine Manöver war verschwunden. Also warb Lukaschenko mit einer neuen Taktik um die Gunst und Ressourcen aus Russland: Er leistete militärische Dienste, wie Wladimir Putin sie im jeweiligen Moment am dringendsten brauchte.  

    Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren. 

    Lukaschenko versorgte die russische Armee und die Rüstungsindustrie nicht nur mit allem, was Belarus zu bieten hatte. Während der Mobilmachung im Herbst 2022 stellte er auch belarussisches Territorium für die Ausbildung russischer Soldaten zur Verfügung. Als Jewgeni Prigoshin im Juni 2023 den Aufstand probte, trat Lukaschenko als Vermittler zwischen den Konfliktparteien auf und gestattete den Mitgliedern der zerschlagenen Söldnertruppe Wagner den Aufenthalt in Belarus, bis sie der Kreml unter seine Kontrolle nahm. Und als im Sommer 2024 die ukrainische Militäroperation in der Oblast Kursk begann, verschob er die belarussischen Truppen demonstrativ an die südliche Grenze, um Moskau seine Bereitschaft zu bekunden, die ukrainischen Streitkräfte von der Hauptfront abzulenken.  

    Außerdem verkündeten Mitte 2023 Moskau und Minsk die Stationierung taktischer Kernwaffen in Belarus, ein Jahr darauf führten sie Übungen zu ihrer Anwendung durch. Im Dezember 2024 machten die beiden ihre Pläne bekannt, in Belarus die neuen russischen Oreschnik-Mittelstreckenraketen aufzustellen. Dem Kreml ging es darum, dem Westen seine Bereitschaft zur weiteren Eskalation zu signalisieren, und Minsk spielte willig als Partner mit.  

    Manche Aktionen waren eher symbolischer Natur. Etwa das bilaterale Abkommen über Sicherheitsgarantien, das im Dezember 2024 geschlossen wurde. Es berechtigt Russland, im Fall einer Bedrohung von außen Truppen und militärische Anlagen in Belarus zu stationieren, und spannt den Nuklearschirm der Russischen Föderation auch über das Nachbarland. Dieses Dokument brachte weder de jure noch de facto eine Veränderung, weil das alles auch vorher schon möglich war. Doch derartige symbolische Akte erzeugen das Bild einer erstarkenden Sicherheitszone rund um Russland und sind deshalb wichtig für Putin.  

    Indem er sich da, wo es dem Kreml jetzt am wichtigsten ist, nützlich und loyal gibt, sorgt Lukaschenko für die fortgesetzte wirtschaftliche und sonstige Unterstützung seines Regimes. Moskau hält die günstigen Bedingungen für die Lieferung von Energiereserven nach Belarus aufrecht, verlängert Zahlungsfristen alter Kredite, stellt seine Infrastruktur für den Export sanktionierter belarussischer Produkte wie etwa Kalidünger zur Verfügung. Hierbei verlangt Putin von Lukaschenko keine unbequemen Zugeständnisse wie etwa einen Einsatz der belarussischen Armee an der Front oder, wie Moskau 2020 noch vorschlug, die Schaffung supranationaler Behörden im Staatenbund.  

    Dieses Verhältnis zu Russland kommt dem belarussischen Regime gelegen. Zumal es in absehbarer Zeit alternativlos ist. Wenn es Moskau also das nächste Mal einfällt, für eine regionale Eskalation belarussisches Territorium zu nutzen, wird sich weder Lukaschenko noch sein Nachfolger schwer entziehen können. Wahrscheinlicher ist, dass die belarussische Führung sich ausrechnet: Durch demonstrative Loyalität in einem kritischen Moment können wir uns das Recht ausbedingen, eine aktive Teilnahme an einem neuen, von Moskau angezettelten Krieg abzulehnen.  

    (Un)glaubwürdige Leugnung 

    Im Fall einer neuerlichen Eskalation wird der Kreml bestimmt seine mehrmals erprobte Taktik anwenden und versuchen, sein aggressives Vorgehen als Reaktion auf die Bitte eines Bündnispartners oder seiner Schützlinge darzustellen.  

    Ob aufgrund seiner eisernen Gesetzestreue oder weil er vor seinen Anhängern nicht als Aggressor dastehen will, Putin sorgt nach Möglichkeit immer dafür, dass der Eskalation eine „Bitte von unten“ vorausgeht. Das war bei der Krim so und beim Beginn des Großangriffs auf die Ukraine sowie bei der Annexion von vier weiteren ukrainischen Regionen. Trotz der immer geringeren Überzeugungskraft solcher Gesten will der Kreml jedes Mal den Anschein erwecken, Einheimische oder regionale Eliten hätten ihn um Hilfe gebeten.  

    Derselben Logik folgt Moskau auch bei weniger schicksalsschweren Entscheidungen, die Russland und Belarus betreffen. Formal war es Anfang 2022 Lukaschenko gewesen, der russische Truppen zu den Militärmanövern eingeladen hatte, nach denen sie in die Ukraine einmarschierten. Im Herbst desselben Jahres bat er Putin darum, in Belarus eine „Regionaltruppe“ aufzubauen, de facto ein Deckmantel für die Ausbildung der frisch mobilisierten russischen Soldaten und ein Ablenkungsmanöver von der ukrainischen Offensive bei Charkiw und Cherson. Es war auch Lukaschenko selbst, der die übriggebliebenen Wagner-Söldner nach Belarus einlud und um die Aufstellung russischer Kernwaffen und des Raketensystems Oreschnik in seinem Land bat.  

    Moskau delegiert an Minsk die Rolle des Initiators, um seinen Partner nicht mit der willkürlichen Nutzung seines Territoriums zu demütigen. Damit glaubt Putins heimische Anhängerschaft und vielleicht auch so mancher Putinversteher im Ausland eine Weile lang, dass Moskau nur auf Bitten von Freunden reagiert und nicht selbst die Eskalation provoziert.  

    Der Status von Belarus als souveränem Staat liefert eine praktische Ausrede, ermöglicht es, die Mitwirkung am ersten Schuss zu leugnen (plausible deniability). Den Gegner überzeugt das natürlich keineswegs, aber die loyale Öffentlichkeit findet das durchaus glaubwürdig.  

    Verschärfungsszenarien 

    Überlegungen zu möglichen Szenarien einer neuerlichen militärischen Krise in Osteuropa sind spekulative Gedankenspiele. Einzeln betrachtet ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Szenarien Realität wird, nicht so groß. Doch kann man anhand solcher Erwägungen gut sehen, wie Belarus in diesem Prozess benutzt wird, und es können Wege zur Risikosenkung eingeschätzt werden.  

    Die geografische Lage von Belarus eröffnet Russland zwei Richtungen für ein aggressives Vorgehen: südlich gegen die Ukraine und westlich gegen die Ostflanke der Nato (Polen, Litauen, Lettland). Jedes Szenario eines ernsthaften Konfliktes erfordert die Beteiligung der russischen Armee, denn den belarussischen Streitkräften mangelt es, vor allem ohne vorangehende Mobilmachung, an Personal, an Erfahrung und an Ausrüstung, um im Alleingang und auf Dauer die Wehrhaftigkeit seiner Nachbarn zu durchbrechen. 

    Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU. 

    Das heißt jedoch nicht, dass Russland das Szenario von Anfang 2022 wiederholen wird – also wieder ein paar Wochen vor der Eskalation mit dem Vorwand von Militärübungen ein riesiges Truppenkontingent in Belarus stationieren wird. Hundertprozentig kann dieses Manöver zwar nicht ausgeschlossen werden, aber seit 2022 ist es so erwartbar, dass Moskau bei jedem Versuch, es zu wiederholen, den Überraschungseffekt verlieren würde.  

    Jede Überführung Tausender und erst recht Zigtausender russischer Soldaten nach Belarus würde sofort die Aufmerksamkeit der Geheimdienste der Nato-Länder erregen. Die Bündnispartner würden Reaktionen auf Provokationen vorbereiten. Und wenn eine solches Kontingent wie im Januar 2022, noch dazu mit Kriegs- und Pioniertechnik, nach Belarus ziehen würde, dann würde keines der Nachbarländer mehr darauf hoffen, dass der Kreml blufft oder nur mit den Säbeln rasselt.  

    Bei weniger geradlinigen Eskalationsszenarien geht es um die Einbeziehung russischer Soldaten in ein Geschehen, mit dem man auf angeblich bereits erfolgte Provokationen reagiert. Zum Beispiel auf eine akute Verschärfung der Migrationskrise, die die belarussischen Behörden bereits seit mehreren Jahren in unterschiedlicher Intensität als Druckmittel auf die Nachbarn einsetzen.  

    Seit 2021 schickt Minsk gezielt Migranten aus Asien und Afrika über die belarussische Grenze in die EU, als Retourkutsche für deren Sanktionen. Lukaschenko hat schon oft erklärt, dass die russischen Grenzbeamten die Migranten durchwinken werden, solange die Sanktionen aufrecht erhalten werden. Die Zahl der illegalen Grenzübertritte ändert sich je nach Jahreszeit und wird manchmal von Minsk direkt beeinflusst. Zu Spitzenzeiten wurden monatlich mehrere Tausend versuchte Übertritte gezählt, während es in den Wintermonaten jeweils nur ein paar Hundert sind. 

    Im Jahr 2022 strichen einige Fluglinien auf Druck der EU Flugverbindungen zwischen den Herkunftsländern der Migranten und Minsk. Danach versuchten viele Migranten, über Russland die belarussische Grenze zur EU zu erreichen. Das bedeutet, dass russische Geheimdienste wohl an der Koordinierung dieser mehrjährigen Operation beteiligt sind. Das ist wenig überraschend, bedenkt man das ähnliche Vorgehen Russlands in den letzten Jahren an den Grenzen zu Finnland und Norwegen. 

    Die Sicherheitsbehörden der Nachbarländer von Belarus, vor allem die in Polen, stellen seit den ersten Monaten der Krise fest, dass die Migranten auf jede erdenkliche Weise von belarussischen Sicherheitsbehörden unterstützt werden. Sie wurden zur Grenze gebracht und mit Leitern ausgestattet sowie mit Werkzeugen, um die Grenzbefestigung zu demontieren. Man gab ihnen auch Pflastersteine und Steinschleudern, um europäische Grenzbeamte anzugreifen. Im Mai 2024 kam bei derartigen Zusammenstößen ein polnischer Soldat ums Leben. Daraufhin sorgte Minsk umgehend einige Monate lang für eine Reduzierung des Migrantenstroms. 

    Russland könnte Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen. 

    In einem Szenario, wenn ein bewaffneter Konflikt provoziert wird, könnten Migranten mit gefährlicheren Waffen ausgestattet werden als nur mit Steinschleudern. So könnten, als Migranten getarnt, Söldner oder Sicherheitskräfte versuchen, die Grenze zu überqueren. Ein daraufhin als Reaktion folgender Einsatz tödlicher Waffen durch das polnische, litauische oder lettische Militär könnte zu Zusammenstößen mit den belarussischen Grenztruppen führen. Eine solche Eskalation könnte wiederum formal als Vorwand dienen, die Nato-Staaten einer Aggression zu beschuldigen und russisches Militär hinzuzuziehen, um „die gemeinsame Grenze des Unionsstaates zu verteidigen“. 

    Dabei wäre es möglich, dass Minsk vorab nicht über die russischen Pläne informiert wird. In dem Wissen, dass die belarussische Führung sich nicht proaktiv in einen Krieg verwickelt werden will, könnte der Kreml eine Situation schaffen, in der es für Lukaschenko schwierig wäre, sich nicht für Hilfe an Moskau zu wenden. Ein solcher Einsatz von Migranten ist nicht das einzig denkbare Szenario. Zum Beispiel könnte man als ersten Schritt von Litauen fordern, einen breiteren, durch Belarus führenden Festlandskorridor zur Oblast Kaliningrad zu schaffen, falls der Schiffsverkehr über die Ostsee beschränkt würde. Darüber hinaus könnte Russland Belarus erneut an der ukrainischen Front einspannen, insbesondere, indem es versucht, Belarus vollends in den Krieg hineinzuziehen. Das wäre sehr viel einfacher, als einen Zusammenstoß mit der Nato zu provozieren. 

    Bei diesem Szenario könnte Russland zunächst seine Luftwaffe und seine Raketensysteme nach Belarus zurückverlegen, die 2023/24 abgezogen wurden. Dann könnte der Beschuss der Ukraine von belarussischen Stützpunkten und Fliegerhorsten wieder aufgenommen werden. Diese Angriffe waren im Herbst 2022 eingestellt worden. Kyjiw hat jedoch in letzter Zeit erhebliche Fortschritte bei der Produktion von Raketen und Drohnen mit großer Reichweite gemacht. Dadurch wären belarussische Militärobjekte als Ziel nicht nur rechtens, sondern auch recht einfach zu treffen, verglichen mit den weiter entfernten und besser von der Luftabwehr geschützten Objekten in Zentralrussland. 

    Im Falle eines systematischen Beschusses aus Belarus, könnte für die ukrainische Führung die Versuchung, diese Gefahr zu beseitigen größer sein als der Wunsch, Belarus nicht in den Krieg hineinzuziehen. Die als Reaktion folgenden ukrainischen Schläge gegen Belarus könnten wiederum Russland mehr Gründe liefern, von Lukaschenko einen Einsatz belarussischer Streitkräfte zu fordern. Das Ziel wäre, den Kriegsschauplatz auf das belarussisch-ukrainische Grenzgebiet auszuweiten und dadurch die Reserven der ukrainischen Streitkräfte auf eine weit längere Front zu verteilen. 

    Risikomanagement 

    Schon jetzt ergreifen europäische Länder, insbesondere geografisch Russland nahe gelegene, Maßnahmen, um eine Eskalation unwahrscheinlicher zu machen. Unter anderem erhöhen sie ihre Investitionen in die Rüstungsindustrie, stocken die Personalstärke ihrer Streitkräfte auf, führen wieder Elemente einer Wehrpflicht ein und treffen allgemeine Kriegsvorbereitungen. Sie stationieren in der Nähe der potenziellen Frontgebiete zusätzliche Truppen und befestigen und verminen ihre Grenzen zu Belarus und Russland.  

    All diese Schritte kommen oft zu spät, sind aber zweifellos notwendig. Sie zielen allerdings nur auf eine Einhegung Russlands ab und vernachlässigen den Faktor Belarus. Eine Wahrnehmung von Belarus, die das Land lediglich als ein Instrument des Kreml ohne eigenen Willen sieht, ist kurzsichtig. Selbstverständlich hat Lukaschenko einigen Anteil daran, dass sein Regime so wahrgenommen wird. Allerdings würde eine Vorstellung, in der sich die Handlungsfähigkeit von Belarus völlig im Willen des Kreml auflöst, das Bild zu sehr vereinfachen. Derzeit denkt kaum jemand über Methoden nach, wie Einfluss auf Minsk genommen werden könnte. Dabei könnte doch das Verhalten von Belarus in einem kritischen Moment eine Krise entweder verschärfen oder aber ein Hindernis für Moskaus Pläne darstellen. 

    Der Westen sollte auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte. 

    Das Regime in Belarus wird zurecht als Satellit Russlands betrachtet. Es bewahrt sich aber gleichwohl einen eigenen Willen und weiß um seine Interessen. Ein Krieg mit der Nato oder eine Ausweitung des russisch-ukrainischen Krieges auf das Territorium von Belarus stehen diesen Interessen klar entgegen. Seit dem Kriegsbeginn 2022 zeigen alle Umfragen, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Beteiligung an den Kampfhandlungen ist. Eine Entsendung belarussischer Soldaten an die Front in der Ukraine wird von nur drei bis zehn Prozent der Befragten befürwortet. Lukaschenko muss das berücksichtigen, wenn er die innenpolitischen Risiken seiner Entscheidungen abwägt. Selbst für ein autoritäres Regime ist es schwierig, sich an einem Krieg zu beteiligen, wenn die Gesellschaft das kategorisch ablehnt. 

    Jedes Szenario einer Eskalation, an der Belarus beteiligt ist, würde bedeuten, dass je länger oder beharrlicher Minsk die russischen Anstrengungen sabotiert oder sich weigert, in den Krieg einzutreten, dies stärker den Interessen der regionalen Sicherheit dient. Daher sollte der Westen – ergänzend zu den Maßnahmen zur Einhegung Russlands – auch überlegen, welche Anreize man für Minsk schaffen könnte, damit Belarus in einem kritischen Augenblick sich dennoch als eigenständig handelndes Subjekt erweist. 

    Zum einen müssen dazu die Kommunikationskanäle nach Minsk erhalten und neue aufgebaut werden, auch zur militärischen Führung des Landes. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die belarussische Seite diese Kanäle aktiviert, um früh vor einer geplanten Provokation oder Eskalation zu warnen. Schließlich besteht der Staatsapparat in Minsk nicht ausschließlich nur aus prorussischen Falken, die ihr Land an einem neuen Kriegsabenteuer des Kreml beteiligen wollen. 

    Zweitens können die bestehenden diplomatischen Kommunikationskanäle genutzt werden, um Belarus die Konsequenzen klarzumachen, falls Minsk sich voll an einem Krieg gegen die Nato oder die Ukraine beteiligen sollte. Je deutlicher der belarussischen Führung das Risiko einer Zerstörung militärischer oder anderer Objekte – eben nicht nur russischer Truppen oder Anlagen auf belarussischem Territorium – bewusst wird, desto größer ist die Chance, dass Minsk sich einem solchen Szenario widersetzt. 

    Mit einer Verschärfung der Sanktionen zu drohen, wäre wenig sinnvoll. Das Potenzial des Westens für wirtschaftlichen Druck auf Belarus ist nahezu ausgeschöpft. Eine komplette Handelsblockade an der belarussischen Westgrenze, die auch den Transithandel unterbindet, würde Lukaschenko natürlich empfindlich treffen. Allerdings hat Minsk seine Exporte und Lieferketten in beträchtlichem Maße nach Russland umgeleitet, weswegen eine solche Drohung nicht allzu sehr ins Gewicht fallen dürfte. Insbesondere, wenn die militärischen Forderungen seines wichtigsten Verbündeten dem entgegenstehen. 

    Drittens ist es wichtig, Belarus nicht aus dem Blick zu verlieren, wenn die Verhandlungen über eine Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges einen Punkt erreichen, an dem über Deeskalation und vertrauensbildende Maßnahmen jenseits der Front gesprochen wird. Hier geht es nicht darum, dass Lukaschenko einen Platz am Verhandlungstisch bekommt. Diese Frage ist sehr viel weniger wichtig als die Übereinkommen, die die beiden Seiten in Bezug auf das belarussische Territorium erzielen könnten. 

    Die unabhängigen belarussischen Medien halten die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab. 

    Bedenkt man die strategisch wichtige Lage von Belarus und den Umstand, dass Russland sie seit 2022 genutzt hat, könnten bei den Verhandlungen Beschränkungen für die Stationierung von ausländischen Truppen, Atomwaffen, weitreichenden Waffensystemen und Militärstützpunkten erörtert werden. Dann sollte man auch die Frage des Umfangs und der Häufigkeit von Manövern ansprechen. Ebenso könnte man sich auf Kontrollmechanismen zur Einhaltung der Vereinbarungen einigen. Neben ihrer Hauptfunktion könnten diese Vereinbarungen für Minsk bedeuten, dass sich zukünftig sein Bewegungsspielraum erweitert. Sie würden Minsk Argumente liefern, um sich Versuchen des Kreml zu entziehen – soweit das möglich ist –, bei einer Verletzung eines zukünftigen Friedensabkommens belarussisches Territorium zu nutzen. 

    Viertens hat die Unterstützung durch unabhängige belarussische Medien eine militärpolitische Bedeutung. Sie befinden sich zwar im Exil, halten aber die öffentliche Meinung von einer stärkeren Solidarisierung mit Russland ab. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten wirken sie der Kriegspropaganda des Kreml entgegen. Sollten also die unabhängigen belarussischen Medien die Phase der globalen Einsparungen bei der internationalen Medienförderung nicht überleben, würde dies es dem Kreml erleichtern, Minsk in einen Krieg hineinzuziehen. 

    Die genannten Maßnahmen sind keine Garantie dafür, dass Russland es nicht dennoch gelingt, Belarus in eine erneute militärische Eskalation hineinzuziehen. Diplomatische Signale oder Gelder für eine Bekämpfung der russischen Propaganda in Belarus befreien die europäischen Länder nicht von der Notwendigkeit, in die eigene Verteidigung zu investieren, ihre Grenzen zu befestigen und sich auf die verschiedenen Konfliktszenarien einzustellen. 

    Allerdings sollte berücksichtigt werden, dass Minsk seine eigenen Interessen verfolgt, die sich von den russischen unterscheiden. Wenn der Westen das ignoriert, verpasst er die Chance, für Moskau zusätzliche Barrieren zu schaffen. Je mehr Barrieren es gibt, desto unwahrscheinlicher wird der Beginn eines neuen großen Krieges. 

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  • Die große Relativierung

    Die große Relativierung

    Im zweiten Jahr des russischen Angriffskrieges fiel nicht nur die Gegenoffensive der Ukraine enttäuschend aus. Auch unter den Unterstützern Kyjiws bröckeln die Einheit und die Entschlossenheit. Dazu habe auch der neue Krieg im Nahen Osten beigetragen, argumentiert Alexander Baunow von der Carnegie-Stiftung. Kriegsgegner in Russland und außerhalb würden einander zunehmend fremd.

    Panzersperren vor der „Mutter Ukraine“ in Kyjiw. Die Statue wurde 1981 in der Sowjetunion als „Mutter Heimat“ errichtet und 2023 umbenannt / Foto: © IMAGO, EST&OST

    Das Jahr 2023 ist zum Jahr der großen Relativierung geworden. Im Frühling, Sommer, Herbst und Winter 2022 erlebte Europa einen Schock: Russland, das größte und militärisch stärkste Land des Kontinents, ist tatsächlich fähig, genau wie es die heutigen Erwachsenen als Kinder erzählt bekamen, einfach so, ohne jeden Vorwand, Panzer, Raketen und Kampfjets über die Grenze zu schicken, Städte zu bombardieren und unter Beschuss zu nehmen, Gebiete zu erobern und zu annektieren, um den Lebensraum für das eigene ungerechtfertigt gekränkte Volk zu vergrößern, und seine Politiker können reden wie wahnsinnig gewordene Diktatoren aus historischen Kinofilmen.   

    Ganz Europa erfasste das Gefühl: Das ist ein Angriff auf uns alle. Sogar in Russland selbst war diese Gefühl verbreitet. Ukrainische Flaggen wurden gehisst, wo früher nicht einmal Nationalfahnen hingen – an Museen und Theatern, an europäischen Botschaften in fremden Hauptstädten, an Baustellen und Autobahnraststätten. Ukrainischen Staatsbürgern standen die Grenzen offen wie niemandem je zuvor – ohne Einschränkungen, ohne dass sie einen Aufenthaltstitel beantragen mussten, sogar mit einer Arbeitserlaubnis in jeder beliebigen Branche.

    Schließlich hatte genau jene Armee angegriffen, deren Manöver man jahrzehntelang gefürchtet und von der man gesagt hatte, dass ihr Marsch auf europäische Hauptstädte auch ohne Atomwaffen nur wenige Tage dauern würde. Und sie benahm sich stellenweise noch grausamer, als man es von ihr erwartet hatte. Der Einsatz von Bodentruppen eines europäischen Staates gegen sein Nachbarland löste schon für sich genommen einen Schock aus, doch der Anblick zerstörter Städte, von Menschen, die sich bei Kerzenlicht in den Metrostationen drängten, von Gräbern in den Innenhöfen von Wohnblocks mit Namensschildern aus Pappe übertraf alle Filme und Serien, die je von einem Einmarsch der Russen gehandelt hatten.

    Die augenblickliche Identifizierung mit den Opfern motivierte zu entschlossenem Handeln. Sanktionen in Handel, Finanzwirtschaft und Verkehr, die vor dem Einmarsch noch sehr unwillig und nur als äußerste und hypothetische Maßnahmen diskutiert wurden – der Ausschluss aus Zahlungssystemen, die Einstellung des Flugverkehrs, das Einfrieren von Vermögen, ein Embargo, das der eigenen Wirtschaft schadet –, wurden mit einer Geschwindigkeit beschlossen, die alle überraschte. Als die ukrainischen Streitkräfte überraschend hartnäckig Widerstand leisteten, flossen finanzielle und militärische Hilfen in die Ukraine, deren Dimensionen man vor dem Krieg nicht annähernd in Betracht gezogen hatte.               

    Nach mittlerweile knapp zwei Jahren hat diese Anteilnahme ihre Intensität verloren. Europa und Amerika sehen die Ukraine zwar noch immer als Opfer, das Hilfe und Mitleid verdient, die US- und EU-Bürger fühlen sich jedoch selbst nicht mehr unmittelbar bedroht. Ein Verbündeter wurde angegriffen, ein Protegé, aber nicht sie selbst. Nicht, dass sie von Russland sofort den Anfang des Dritten Weltkriegs erwartet hätten, aber die Verschiebung wichtiger politischer und moralischer Grenzen deutete auf seinen möglichen Ausbruch hin und ließ einen schnellen Verlauf befürchten. Doch er blieb aus.  

    Die Stärke des ukrainischen Widerstands hat erst überrascht. Dann führte sie dazu, dass man sich im Westen entspannte

    Auf paradoxe Weise spielte die Stärke des ukrainischen Widerstands, die entscheidende Erfolge für Russland verhinderte, zumindest in einer Hinsicht gegen die Ukraine: In Europa und Amerika entspannte man sich wieder. Die Russen sind einmarschiert und sie marschieren weiter, aber man weiß jetzt, dass sie noch lange nicht ankommen werden, vielleicht auch nie. Was wie der Anfang eines Dritten Weltkriegs aussah, entpuppte sich als zweiter Jugoslawienkrieg – wieder ein lokaler Konflikt an der europäischen Peripherie, der mit dem Zerfall eines verspätet sterbenden autoritären Imperiums zu tun hat und mit dem man sich schwer identifizieren kann. 

    Es kam zu einer Entfremdung, zu seiner teilweisen Verdrängung aus dem eigenen Alltag/Erleben/Leben. Die ukrainischen Flaggen werden weniger, mancherorts sieht man bereits mehr palästinensische, und an Solidaritätskundgebungen mit der Ukraine nehmen immer weniger Menschen teil. Die These von der praktisch vollständigen Identifikation mit dem Opfer wurde von der Antithese der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.

    Nach dem Schema These und Antithese: Die praktisch vollständige Identifikation mit dem Opfer wurde von der Entfremdung und Verdrängung des Kriegs an die Peripherie abgelöst.      

    Der erste Auftritt Selenskys vor einem fremden Parlament beeindruckte. Mit jedem weiteren Auftritt nimmt die Wirkung ab

    Genauso wie der gesamte Krieg hat auch das Image von Präsident Selensky eine Relativierung erfahren. Dadurch, dass der Krieg so langsam, so weit weg und so fremd geworden ist, hat sich das Bild verändert, das die Welt von Selensky hat. So wie der Krieg ist er [dem Westen – dek.] fremd geworden, ein eigenartiger, peripherer Held. Ein Held – durchaus, aber keiner, der „zu uns gehört“.  

    Eine Heldentat ist immer leichter zu begreifen, wenn es sich um ein einmaliges Ereignis handelt. Klassische Tragödien sind rund um einmalige Heldentaten konstruiert. Der Präsident des Landes, das sich so tapfer verteidigt, verlässt unter Kugelhagel die Hauptstadt, um in Felduniform in einem ausländischen Parlament aufzutreten, wo er tosenden Applaus erntet und widerstandslos ein Hilfspaket entgegennimmt. Beim ersten Mal. Beim zweiten, dritten und vierten Mal ist es schwieriger, denselben Effekt zu erzielen.

    Wahlen zu gewinnen ist einfacher, als populär zu bleiben. Selensky verschwindet allmählich von den Titelblättern. Das unangenehme Bild des russischen Präsidenten in einem normalen Anzug erscheint weltweit dem Normalbürger auf einmal doch geläufiger als das angespannte, heroische Image Selenskys, der allein durch seinen Anblick eine emotionale Reaktion einfordert, zu der immer mehr die Kraft fehlt – Spannung hält man ja nicht so lange aus.              

    Die Abkühlung im Außen hat die Situation im Inneren angeheizt. In die ukrainische Politik ist die gewohnte (und ganz natürliche) Konkurrenz zurückgekehrt, und damit einhergehend der Verdacht, dass der aktuelle Held womöglich nicht der Einzige ist, dass an seiner Stelle ein anderer stehen könnte, und wer weiß, vielleicht sogar ein noch tapfererer.

    Der Heroismus des Staatsoberhaupts birgt noch einen weiteren gefährlichen Aspekt: Mit seiner eigenen Heldenhaftigkeit verlangt er auch von anderen Heldentum. Als Zielscheibe Nummer eins sieht er jedoch, anders als die Könige im Mittelalter, davon ab, seiner Truppe vorauszugaloppieren oder in einem Baldachin über dem Schlachtfeld zu thronen. Vom beherzten Retter ist er zu einem geworden, der andere in den Tod schickt.            

    Die Stabilisierung des Bösen

    Der Stillstand an der Front schwächt die Argumente jener, die dazu aufrufen, die Aggression durch entschiedenes Handeln zu stoppen. Immerhin hat die Aggression ja quasi von selbst nachgelassen.

    Putins Truppen sind nur zu lokalen Offensiven in der Lage, die die Front fast nicht verschieben. Auch die Ukraine verteidigt sich derzeit eher, als Land zu befreien. In Moskau will man keine Mobilmachung, man hofft einfach, dass der Ukraine bald die Soldaten für die Verteidigung ausgehen, und dann reichen die russischen für den Angriff. 

    Als klar wurde, dass ein verpatzter Anfang nicht automatisch ein verpatztes Ende bedeuten muss, ist Putin regelrecht aufgeblüht. Nachdem er selbst mutwillig die Stabilität zerstört hat, derer er sich früher rühmte, ist eine neue Form der Stabilität auf den Trümmern der alten entstanden. In diesem neuen Gleichgewicht spielen dieselben Gruppen eine Rolle. Es bringt sowohl Neues als auch unwiderbringliche Verluste, aber es hält. Die Antwort auf die Frage, wie lange Russland noch Krieg führen kann, bleibt unterdessen vage: Solange es muss, kann es auch.     

    Man könnte meinen, die russische Wirtschaft sei aufgrund der enormen Militärausgaben überhitzt, sie leide unter hoher Inflation und einem Mangel an Technologien, die Zinsen der Zentralbank seien höher als je zuvor. Doch nicht einmal hier denkt jemand an die „Sanktionen aus der Hölle“, die so schlimm geklungen hatten. Das Verbot von Überweisungen an ausländische Banken und internationale Börsen provozierte einen Boom von Investitionen im Inland: Geld einfach auf dem Konto liegen zu haben, ist in Zeiten extrem hoher Kriegssteuern zu riskant. Staatliche und private Rüstungsinvestitionen brachten 2023 ein Wirtschaftswachstum von 3,5 Prozent, die verarbeitende Industrie verzeichnete ein Wachstum von 7,4 Prozent, und ganz nebenbei glich sich das Gefälle zwischen armen und reichen Regionen aus.  

    Während sich die Russen, die dem Krieg entflohen, mit der Eröffnung von Bankkonten herumschlugen, konnte Russland dank der Form der Sanktionen mit dem Verkauf von Gas nach Europa 200 Milliarden Dollar zusätzlich einnehmen. Und russisches Erdöl, das an Bord eines  nicht versicherten Tanker eines Zwischenhändlers einen russischen Hafen verlässt, wird zum internationalen Produkt und, wenn auch mit Preisnachlass, auch von westlichen Verbrauchern bezahlt. Die Frage, die alle quälte, ob denn das gewohnte Leben mit dem Krieg vereinbar sei, wurde positiv beantwortet – in Russland wie im Rest der Welt.        

    Der moralische Schock, den die Bevölkerung westlicher Länder beim Anblick der zerstörten zwar ost-, aber doch europäischen Städte erlebte, konnte Gesellschaften in weiterer Entfernung von Europa nicht erfassen. Für sie sind getötete Ukrainer ungefähr so wie für den westlichen Durchschnittsbürger getötete Afghanen: relativ ferne Opfer. Auch die Sanktionen werden nicht von allen mitgetragen. Tiefgreifende und flächendeckende sekundäre Sanktionen des Westens gegen Drittländer sähen aus wie ein Wirtschaftskrieg gegen Entwicklungsländer und sind somit undenkbar.    

    Durch die relativ geringe Intensität des Kriegs und Putins bevorstehende Wiederwahl als Präsident mit breiter Unterstützung führt kein Weg an einer langfristigen Nachbarschaft mit einer neuen, übleren Version von Russland vorbei. Es kehrt die Idee zurück, dass man mit Russland – egal in welcher Version – ein Auskommen finden muss, und damit wird die Krieg führende Diktatur durch internationale Kontakte sowohl im Osten als auch im Westen legitimiert werden.  

    Wenn diese Kontakte zum Westen wieder aufgenommen werden, dann werden die Sanktionen angesichts der russischen Staatseinnahmen in internationalen Handelsgeschäften wie eine Bestrafung einzelner Bürger wirken – sie treffen diejenigen, die man eben erwischen kann. Wobei es doch auch in solchen Fällen üblich ist, dass die Bürger mit dem Staat gemeinsam leiden und nicht an seiner statt. Und keiner hat eine Antwort auf so verfluchte Fragen wie: Was, wenn in Russland aufgrund der fehlenden technischen Wartung ein Passagierflugzeug abstürzt? 

    Die gleichzeitige Unterstützung Israels und der Ukraine ist weniger widersprüchlich, als Kritiker behaupten. Es geht hier weniger um Kriegsgegner, die auf einmal zu Kriegsbefürwortern geworden sind (allerdings trifft das längst nicht auf alle zu), sondern um Menschen, die in beiden Konflikten jeweils die Seite unterstützen, die trotz all ihrer himmelschreienden Unvollkommenheiten Zivilisationen westlichen Typs repräsentiert. Darüber hinaus sind, wenn man die alles verkomplizierenden Vorgeschichten außer Acht lässt, beide Kriege eine Reaktion auf Aggression.   

    Israels Krieg gegen Gaza hat den proukrainischen Konsens zerschlagen

    Dennoch hat der Krieg Israels gegen Gaza die Kräfte der Bündnispartner der Ukraine zerstreut, die weltweite Aufmerksamkeit abgezogen und den proukrainischen Konsens zerschlagen. Jene, die sich einig waren über die Verurteilung Russlands und die Unterstützung der Ukraine, sind sich über Israel und Palästina in die Haare geraten und werfen einander vor, die falsche Meinung zu vertreten. Die angespannte Diskussion über den neuen Konflikt hat Anlass zum Zweifel gegeben, ob es nicht auch bezüglich Russland und Ukraine sein kann, dass keiner vorbehaltlos recht hat.   

    Der Nahostkrieg hat den in der Ukraine nicht nur von den Titelblättern verdrängt. Legt man die beiden Konflikte übereinander, dann stimmen bei gewissen Fragen die Konturen nicht überein: bei der Annexion von Territorium, der Fremdverwaltung von dessen Bevölkerung, bei zivilen Opfern im Zuge von Kampfhandlungen. Der Vergleich mit Israel ist gerade da unvorteilhaft für Kyjiw, wo man Länder abseits des Westens davon überzeugen will, die Ukraine zu unterstützen.  

    Russland ist es gelungen, die Welt in jene zu spalten, die den Einmarsch in die Ukraine als eigenes Drama erlebt haben, und jene, die gleichgültig blieben. Für die einen geht es hier um Fragen der allgemeinmenschlichen Moral, für die anderen um ganz normale Geopolitik wie eh und je und überall. Zu Letzteren zählen die meisten nicht westlichen Länder, und der Nahostkonflikt machte es ihnen leichter, bei ihrer Meinung zu bleiben. Die Antwort auf die Frage, „ob man leben kann, wenn nebenan Krieg ist“, fiel positiv aus – sowohl für die meisten Menschen als auch für die meisten Staaten. Es geht, sogar wenn es zwei Kriege sind.

    2022 schien es, als sei mit einem Mal die große Klarheit ausgebrochen. Eineinhalb Jahre später bildet diese Klarheit keine tragende Basis mehr

    Vor einem Jahr schien es, als sei die große Klarheit ausgebrochen. Der Krieg zerstörte Leben, vernichtete Pläne, entriss vielen ihr Zuhause, lieferte dafür eine unerschütterliche moralische Stütze und ein maximal belastbares Fundament für eine neue Einigkeit über unwichtig gewordene Unterschiede hinweg. Zuvor war die Möglichkeit einer solchen Einigkeit unklar, unter anderem aufgrund unterschiedlicher Ideen, mit der perfiden Diktatur zu koexistieren, die trügerische Hoffnungen nährte. Die Ablehnung des Kriegs brachte die verschiedensten Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen zusammen, und es sah so aus, als würde dieses sie verbindende Wichtige nie mehr verschwinden.     

    Eineinhalb Jahre später ist diese Klarheit vielleicht auf individueller Ebene noch da, bildet  jedoch keine einende Grundlage mehr. Die gemeinsame moralische Basis gleicht mittlerweile einem zerbrochenen Spiegel, in dem jede Scherbe zwar dasselbe widerspiegelt, aber jeweils für sich. Die Ablehnung des Kriegs wurde vom Maß aller Dinge zu einer Meinung, die man je nach Lebenslauf, Wohnort, Umfeld und sogar Staatsbürgerschaft annimmt oder auch nicht.

    Russische Kriegsgegner werden in Kyjiw nicht mehr als Verbündete gesehen

    Von der spontanen, intuitiv richtigen Geste, russische Kriegsgegner automatisch als Verbündete zu sehen – wie Selensky es tat, indem er für eines seiner ersten Interviews russische Journalisten einlud –, ist ein beachtlicher Teil der ukrainischen Gesellschaft dazu übergegangen, eine solche Verbundenheit gar nicht erst für möglich zu halten, und ein Teil der russischen Gesellschaft folgte. Andere wiederum schotteten sich ganz ab: Na gut, dann müsst ihr es eben ohne uns schaffen.  

    In beiden Fällen geht es nicht um alle, vielleicht nicht einmal um die Mehrheit, doch allein das Aufkommen solcher Ideen reichte aus, um ein eventuelles ukrainisch-russisches Bündnis gegen den Krieg im Keim zu ersticken. Aus Angst davor, die Opfer des Angriffs zu verletzen, begannen viele im Westen, sich von Gleichgesinnten in Russland abzugrenzen. Die eine, absolute Ablehnung von Krieg und Diktatur hat sich in mehrere relative verwandelt.        

    Wenn die vorbehaltlose Verurteilung der Aggression als einziges Kriterium, das unter den neuen Bedingungen zählt, in Zweifel gezogen wird, wird automatisch auch das Neue und Einzigartige dieser Bedingungen in Zweifel gezogen. Und somit wird die aktuelle Aggression relativiert: „Der Krieg hat bereits 2014 begonnen, wo wart ihr damals? Wir kannten Putin doch genau, Russland hat sich immer so verhalten und so weiter. Und wenn es schon immer so war, gibt es auch keinen Grund, sich jetzt aufzuregen.   

    Das zum Schweigen verurteilte Russland empfand lange Zeit Dankbarkeit, dass einige ihr Zuhause aufgaben, um vom Ausland aus ihre Stimme zu erheben

    Die grenzübergreifende Einheit der Kriegsgegner begann ab Mitte September 2022 zu bröckeln und setzte dies das ganze Jahr 2023 auch innerhalb der russischen Gesellschaft fort. Viele Monate nach Kriegsbeginn empfand das auf sich selbst zurückgeworfene und zum Schweigen verurteilte Russland so etwas wie Anerkennung jenen gegenüber, die ihr Zuhause aufgaben, um einer zum damaligen Zeitpunkt allgemeinen Stimmung Ausdruck zu verleihen. Auf diese Haltung – danke, dass ihr sprecht und schreibt, ihr rettet unsere Würde – trifft man jetzt seltener.

    Die Lage ist so gut wie aussichtslos. Die freie Presse und generell das intellektuelle öffentliche Leben konnten nach Kriegsbeginn in Russland nicht in bisheriger Form weitergehen. Und außerhalb der Staatsgrenzen hörten sie mit der Zeit auf, jene zu repräsentieren, die im Land geblieben sind. Das liegt nicht nur an Internet-Sperren und auch nicht am unterschiedlichen Alltag. Innerhalb Russlands bildet sich schrittweise eine neue Sprache heraus, eine neue Art, über schmerzhafte Themen zu sprechen, neue Modi, mit anderen Worten und anderen Intonationen seinen Widerspruch zu markieren. Die innere und die äußere Sprache sind nicht komplett unterschiedlich, aber auch nicht komplett gleich. Dass man also in verschiedenen Sprachen vom selben sprechen wird, scheint unausweichlich.       

    Gegen Ende des zweiten Kriegsjahres ist die Trennung der beiden russischen Gesellschaften diesseits und jenseits der russischen Staatsgrenze abgeschlossen. Die Macht und Bedeutung von Statements gegen den Krieg hat sich indessen ebenfalls abgenutzt. Im Frühling und Sommer 2022 war jedes Wort, jedes Interview maßgeblich und dreist, man wurde bestraft oder auch nicht, aber jetzt wirken dieselben Worte wie eine Wiederholung von bereits Gesagtem.   

    Die Entwicklung von russischen Staatsbürgern, die gegen den Krieg protestiert haben, und die von Präsident Selensky sind sich in dieser Hinsicht ähnlich. Die Zeit, die gefüllt werden muss und daher Wiederholungen verlangt, zerreibt, verwischt und entwertet die Worte und Taten. Und genau wie für Selensky gilt für jeden Kriegsgegner, der seine Stimme erhebt: Je länger der Krieg dauert, desto größer wird das Risiko, einen Fehler zu machen, etwas Falsches zu sagen. Der Aggressor hat weniger Risiko, vor dem schwarzen Hintergrund der Aggression fällt ein verbaler  Fauxpas nicht so auf, der Hauptfehler ist schon begangen, ihn zu vertiefen ist schwer.         

    Die Separation der beiden Kriegsgegner in und außerhalb Russlands wird durch das Vorgehen der westlichen Bürokraten beschleunigt. Mit dem nachvollziehbaren Wunsch, die Kriegsbefürworter nicht einfach in Ruhe weiterleben zu lassen, als wäre nichts gewesen, zielen sie darauf ab, die Verbindung zwischen dem Innen und dem Außen endgültig abreißen zu lassen. Drei potenziell enorm wichtige Verbindungen – die russisch-ukrainische, die russisch-europäische und die russisch-emigrantische sind zu Opfern der Relativierung geworden.

    Der ideale Beobachter, das ideale Opfer und das ideale Mitleid sind Vergangenheit

    Im Frühling 2022 erzeugte der Schock über den Angriff eine künstliche Reinheit der Atmosphäre. Details rückten in den Hintergrund, ermöglichten es vorübergehend, dass ideale Beobachter einem idealen Opfer ideales Mitleid entgegenbringen, ohne einander zu kritisieren. Ideales Leid, ideale Solidarität. Wie leicht und schön ist es doch, die richtige Entscheidung mitzutragen, wenn plakative Gerechtigkeit siegt, das Böse bestraft wird, das Opfer sich treu bleibt und die Zeit und die Menschen das Bild nicht verderben. 

    Aber dieser Punkt ist überschritten. Die beinahe laborhafte Reinheit konnte sich unter natürlichen Bedingungen nicht lange halten. Anscheinend erleben wir in der dunklen Jahreszeit the darkest hour. Heute müssen wir die unter Theologen vielzitierte unitas in necessariis (dt. Einmütigkeit im Notwendigen) mit bewusster Anstrengung aufrecht erhalten, indem wir das vom Lauf der Zeit aufgezwungene soziale und politische Durcheinander überwinden. Andererseits wiegt eine unter natürlichen Bedingungen getroffene moralische Entscheidung schwerer, und der dabei herausgebildete ethische Maßstab für die Politik könnte zur universellen Norm werden.

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  • Unmoral als System

    Unmoral als System

    Der Mensch sei von Natur aus schlecht, alle Ideale per se utopisch und Wahrheiten manipuliert – viele halten solche Aussagen auch heute noch für Grundprinzipien des Menschseins. Aus dieser Sicht erscheint jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft sinnlos, argumentiert Andrej Archangelski. Die Zukunft als solche wird zum Feind, die Ablehnung progressiver Werte, der Amoralismus werden zum eigenen Wertesystem. Dies macht für Archangelski die Ideologie des Putinismus aus und die zynischen Grundlagen eines Totalitarismus 2.0. Auf Carnegie politika fragt er, wie eine Rückkehr zur Moral möglich sein kann.

    Anfang der 2000er Jahre tauchte im öffentlichen Diskurs in Russland ein bemerkenswerter Begriff auf – nepolschiwzy, frei übersetzt „die Nichtlügner“. Der Begriff ging auf Alexander Solschenizyns 1974 erschienenen Essay Schit ne po lschi (dt. Nicht nach der Lüge leben) zurück und war in erster Linie eine abwertende Bezeichnung für Menschen, die antisowjetisch eingestellt waren. Aber er hatte auch einen tieferen Sinn: Der Begriff verhöhnte nicht nur die sowjetische Hölle, sondern bestritt selbst die Möglichkeit, nicht nach der Lüge zu leben.

    Die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, war der ideelle Kern der Perestroika

    Dabei war die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, der ideelle Kern von Gorbatschows Perestroika: Damals glaubte die Gesellschaft, dass man aufhören müsse, sich gegenseitig anzulügen, um die angestauten Probleme zu lösen. Und genau das wurde in den 2000er Jahren plötzlich wieder absurd und utopisch. „Erzähl ihr mal, wie man ohne Lüge lebt“, sang [der Sänger der bekannten Band Leningrad] Schnur über eine Petersburger Prostituierte, mit der er natürlich Mitgefühl hatte.

    Hier liegt auch die Wurzel der Putinschen Ideologie: Im Unterschied zum offiziellen Patriotismus und den traditionellen Klammern wurde sie zwar nie öffentlich verkündet, aber dennoch wurde den Menschen konsequent und unermüdlich eingeimpft: Ohne Lüge zu leben, ist eine Utopie. Alle lügen. Der Mensch ist in seinem Kern ein niederes Wesen, das sich niemals bessern wird; jegliche „große Umwälzungen“ werden nichts in ihm ändern; er wird, wo auch immer sich ihm die Gelegenheit bietet, stehlen und lügen. Niemand bleibt sauber, unter keinen Umständen.

    Dieses Konzept hielt auch Einzug ins Propagandafernsehen, wo es jedes Mal herangezogen wird, wenn die russische Staatsmacht sonst nichts mehr zu bieten hat. Zum Beispiel, als sich nicht länger verheimlichen ließ, dass unsere Sportler gedoped waren. „Das machen doch alle“, war von der Propaganda schließlich abfällig zu vernehmen, nachdem sie sich wochenlang darüber ausgelassen hatte, dass Feinde ihnen das Zeug „untergejubelt und in den Tee gemischt“ hätten.

    „Das machen doch alle“

    „Das machen alle.“ Das heißt mit anderen Worten: „Es gibt keine Heiligen“, keiner ist besser als der andere. Niemand ist rein. Genau darauf baut Putins gesamte Ideologie auf, und sie ist in diesem Sinne sehr praktisch. Wenn niemand besser ist als der andere, wenn alle gleich schlecht sind (die im Westen sowieso) – was wollen die dann von uns?

    Das ist Putins Moral, denn es regiert sich leichter, wenn es grundsätzlich nichts gibt, was man menschliches Ideal nennen könnte. Wenn es kein Ideal gibt, dann eröffnet sich ein grenzenloser Raum für Interpretationen, dann kann es gar keine Wahrheit geben – denn alles ist Manipulation. Damit wird auch der politische Handlungsspielraum extrem groß. „Es gibt keine Heiligen“ – dieses oberste Gebot des Zynismus hat uns die Propaganda in den letzten 20 Jahren unterschwellig eingetrichtert, parallel zu offiziösen Auslassungen über unsere moralische Überlegenheit.

    Der Krieg fügt sich in diesem Sinne sehr gut in Putins Ideologie, und zwar mit seiner totalen Amoralität. Alle sollen mit in den Dreck gezogen werden, auch die, die vielleicht noch sauber waren („Ihr werdet euch nicht reinwaschen können“): die Befürworter, die Gegner, die Neutralen. Mit der Entfesselung dieses Krieges hat das Putin-Regime mit einem Schlag alle früheren moralischen Grundfesten weggefegt; man kann heute unmöglich eine weiße Weste tragen – es sei denn, man lässt sich freiwillig vom System missbrauchen.

    Alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf

    „Das ganze Leben gründet auf Betrug, alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf.“ Diese Vorstellung von der immanenten Amoralität des bourgeoisen Lebens (natürlich im Gegensatz zum sowjetischen) stammt aus der Hauptquelle des sowjetischen Wissens über den Westen: der Zeitschrift Krokodil und ähnlichen Publikationen. In den 2000er Jahren diente sie als Basis für die stillschweigende Legitimierung der Ideologie in Putins Russland. Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Kapitalismus von Natur aus unmoralisch ist.

    Der Amoralismus, der sich in den 2000er Jahren in Russland etablierte, war zunächst nur eine Lücke, eine weltanschauliche Leerstelle, die sich nach dem Zerfall der UdSSR auftat. Die „Suche nach einer nationalen Idee“ war damals die wohl letzte freie öffentliche Debatte in Putins Russland, und sie führte zu nichts. Doch irgendwann stellte sich zur allgemeinen Verwunderung heraus, dass alles auch einfach so funktioniert.

    Ideelle Leere bietet mehr Raum als jedes Dogma 

    Dieser Hohlraum anstelle der einstigen Sowjetideologie war zunächst ungewohnt, aber dann wurde er für den Kreml gewissermaßen zu einer postmodernen Entdeckung. Das Wertevakuum, die Ungewissheit, die ideologische Schwammigkeit des 21. Jahrhunderts entpuppte sich als etwas, das besser funktioniert als sämtliche Dogmen oder Deklarationen. Die ideelle Leere bietet per Definition mehr Raum als jedes Dogma. In der Politik ist Amoralität überaus praktisch, weil sie einen extrem breiten Korridor an Möglichkeiten eröffnet.

    Der Amoralismus eignet sich zwar nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis, als etwas, „über das man nicht spricht, aber das alle wissen“. Der Amoralismus hat jedoch nicht nur einen praktischen Nutzen, er ist auch das beste Mittel gegen die Zukunft – Russlands Hauptproblem am Anfang des 21. Jahrhunderts.

    Amoralismus eignet sich nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis

    Die totalitären Regime des 21. Jahrhunderts erschaffen im Gegensatz zu denen des 20. Jahrhunderts keine neuen Utopien – sie speisen sich aus den Utopien der Vergangenheit. Der Hauptfeind des Totalitarismus 2.0 ist die Zukunft als solches. Hier eignet sich der Amoralismus hervorragend als Ideologie. Im Unterschied zu progressiven Postulaten („Der Mensch kann mit der Zeit besser werden“) basiert der Amoralismus auf dem Gegenteil: Die menschliche Natur kann grundsätzlich nicht verändert werden, der Mensch wird immer so und so bleiben. Folglich ist auch jede Hoffnung auf die Zukunft sinnlos.

    Die autoritären Regime des neuen Typs gründen bewusst auf der Angst der Bevölkerung vor der Zukunft. Gleichzeitig flüstern sie ihren Bürgern ein, dass „alles Gute längst geschafft ist“, dass die Menschheit ihr Potenzial bereits ausgeschöpft habe. Weiter geht es nicht; man kann nur in der Ewigkeit verharren oder die Stufen in die Vergangenheit hinabsteigen und versuchen, die Geschichte von neuem durchzuspielen. Im Amoralismus bleibt die Zeit quasi stehen.

    Ein weiterer Aspekt des Amoralismus als Ideologie ist der Kampf gegen das Ideal. Grundsätzlich und gegen jedes. Ja, dieses Wort darf es gar nicht geben. Nicht umsonst wurde die Intelligenzija (die in Russland als die einzige Hüterin von humanistischen Idealen gilt) die letzten 20 Jahre sorgfältig und zielgerichtet verlacht.

    Wie befreit man sich aus dem Fangeisen des Amoralismus? 

    Wie aber befreit man sich aus diesem Fangeisen des Amoralismus? Wie durchbricht man den Abwärtsstrudel, den Teufelskreis? Alle denkenden Russen – sowohl die, die gegangen, als auch die, die geblieben sind – befinden sich heute in Geiselhaft dieses Postulats: Eine Zukunft zu erschaffen ist nicht mehr möglich. Und tatsächlich ist es jetzt so gut wie unmöglich, sich eine bessere Zukunft vorzustellen, weil man zuerst den Albtraum der Gegenwart überwinden muss. Jeder Versuch, unter diesen Umständen nach Idealen zu suchen, ist utopisch. Im besten Fall wird man zum Gespött der Leute.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache. Selbst die russische Sprache scheint nicht besonders geeignet für Variantenreichtum, für Wahrscheinliches und Relatives. Sie eignet sich nur für das Ewige und Unveränderliche. Über die Zukunft nachzudenken ist per Definition eine unsichere, wackelige Angelegenheit. Doch wir werden es wieder lernen müssen. Man kann dem Amoralismus heute nur auf Augenhöhe begegnen, indem man über die Zukunft nachdenkt, diskutiert und reflektiert – egal, wie utopisch und unwahrscheinlich das auch erscheinen mag.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache

    Die Rückkehr zur Moral ist zudem unmöglich ohne die Rückkehr zur Politik im europäischen Sinne – als Raum von konkurrierenden Ideen und Wettbewerb. Denn freie Politik ist heute die praktische Umsetzung der Moralität, die das Gegenteil von Amoralismus ist. Moral wird im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt und formuliert. Politik ist die kollektive Verkörperung der Moral im 21. Jahrhundert, aber natürlich nur die echte Politik und nicht ihr Surrogat. Genau dort, in der Politik und den damit verbundenen Prozessen (in erster Linie Wahlen), werden in einem ganz praktischen Sinne die Grenzen zwischen Gut und Böse verhandelt.

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  • Recht auf Zerstörung

    Recht auf Zerstörung

    Im Häuserblock, der einst hunderte Menschen beheimatete, klafft eine gewaltige Lücke voller Trümmer: Die russische Armee hat am 14. Januar mit einem Marschflugkörper vom Typ Ch-22 einen Wohnblock im ostukrainischen Dnipro zerstört und dabei laut ukrainischen Angaben 46 Menschen getötet und Dutzende verletzt.

    Woher kommt die Gleichgültigkeit oder gar Zustimmung, mit der viele Menschen in Russland auf die Zerstörung von Wohnhäusern und ziviler Infrastruktur in der Ukraine blicken? Das fragt der politische Analyst Alexander Baunow auf Carnegie politika und sieht imperiale Denkmuster am Werk.

    Dnipro nach einem Raketenangriff am 14. Januar 2023 / Foto © State Emergency Service of Ukraine unter CC-BY SA 4.0

    Wladimir Putin hat wiederholt zu verstehen gegeben, dass er die Sowjetunion nicht wiedererrichten, sondern übertreffen will beziehungsweise sie bereits übertroffen hat. Er verkündete stolz, Russland sei flächenmäßig zwar kleiner als die UdSSR, überhole sie dafür jedoch bei der Produktion und Ausfuhr von Getreide sowie beim Seegüterumschlag (gemeint ist selbstverständlich vor dem Krieg). Die russische Armee sei nicht dank sowjetischer Technik stark, wie viele selbst patriotisch gestimmte Bürger glauben, sondern dank moderner Waffen, die ihren westlichen Pendants überlegen seien.

    Die Krim-Brücke, die Stalin (für viele Russen der größte Herrscher Russlands) anlässlich der Jalta-Konferenz hat bauen lassen, hielt nicht lange, bevor sie im Winter 1945 vom Packeis fortgerissen wurde. Putins Brücke ist für Jahrhunderte gedacht. Und genauso soll auch Putins Russland ein stabileres, moderneres Gebilde sein als die UdSSR und das Reich der Romanows, die beide zerfielen. Auf der Suche nach diesem neuen, auf Jahrhunderte angelegten Gebilde und nach neuen stabilen Grenzen wurde auch der jetzige Krieg begonnen.

    Auf der Suche nach einer neuen Stabilität kommt es zu einer Abkehr von sowjetischen Konstrukten, wie der Freundschaft zwischen dem russischen und dem ukrainischen Volk, die jeweils eine eigene Republik bewohnen (für deren Gründung Putin das sowjetische Projekt unermüdlich kritisiert), und das zu Sowjetzeiten als ur-ukrainisch geltende Saporishshja wird nach einem hastigen „Referendum“ zu einer normalen russischen Region erklärt, ohne den geringsten Unterschied zu anderen zentralrussischen Regionen.

    Wo sollen die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen?

    Wo sollen nach Ansicht derer, die die Bombardierung von Kraftwerken rechtfertigen, die Grenzen von Putins Russlandprojekt verlaufen, das stabiler werden soll als das sowjetische und zaristische Imperium?

    Zur Beantwortung dieser Frage wird gewöhnlich die russische Sprache herangezogen: Dort, wo Russisch gesprochen wird oder wurde. Und zweitens: Dort, wo wir „unsere Siege“ errungen haben, in erster Linie während des Großen Vaterländischen Krieges. Dieses Prinzip könnte man folgendermaßen formulieren: Vom Faschismus befreite Gebiete können nicht feindlich sein. In den letzten Monaten verweist Putin vermehrt auf die Siege unter Peter I. und Katharina II., allerdings nicht nur auf die Siege, sondern auch auf die Aneignung dieser Gebiete, als hätte dort erst mit der Ankunft der Russen die Zivilisation Einzug gehalten.

    Daraus ergibt sich das dritte Kriterium, womit definiert werden soll, was uns gehört und was nicht: die sowjetische Industrialisierung und ganz allgemein die industrielle Erschließung von Gebieten. Also dort, wo die UdSSR aktiv die Industrie förderte und Staudämme, Kraftwerke, U-Bahnen, Eisenbahnstrecken und Fabriken baute. All das betrachtet die heutige Führung und der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung als ihr Eigentum: Wir haben diese Gebiete gestaltet, deshalb gehören sie uns und dürfen nicht gegen uns verwendet werden.

    Kraftwerke und Fabriken gab es vor der Sowjetzeit nicht: ‚Wir haben die für euch gebaut‘

    Die russischen Normalbürger nehmen es leichtfertig, ja fast freudig hin, dass die russische Armee ukrainische Fabriken und Kraftwerke zerstört, die die Städte mit Strom und Wärme versorgen, weil sie sie als ihr Eigentum betrachten, frei nach dem Motto: „Wir haben die für euch gebaut.“ In ihren Augen handelt Russland rechtmäßig, wenn es sie vernichtet.

    Die von Putin verkündete „Entsowjetisierung“ der Ukraine bedeutet paradoxerweise gleichzeitig den Wiederaufbau von Lenin-Denkmälern als Teil des gemeinsamen Erbes (sie stehen in allen russischen Städten, warum sollen sie nicht auch bei euch stehen?) und die Zerstörung von Fabriken, Kraftwerken, Brücken und Straßen (ihr wolltet ohne uns leben, also lebt in der Steinzeit, ohne das, was Russland für euch gebaut hat). Das ist übrigens auch der Grund, warum sich Kasachstan, eines der Zentren der sowjetischen Industrialisierung, akut bedroht fühlt.

    Eine solche Haltung wie gegenüber der Ukraine findet eine Entsprechung innerhalb Russlands: Genauso behandelt die politische Führung (mit Unterstützung des Volkes) die russische Wirtschaft. Fabriken, Staudämme, Bergwerke – alles, was der sowjetische Staat aufgebaut hat und das später privatisiert, modernisiert und an das Leben in der Marktwirtschaft angepasst wurde, hat niemals wirklich aufgehört, Staatseigentum zu sein, das heißt einer Führungsclique zu gehören, die im Namen des Staates und des Volkes auftritt.

    Eine Haltung wie der Ukraine gegenüber findet sich auch innerhalb Russlands

    Seit der Privatisierung sind fast drei Jahrzehnte vergangen, aber in den Augen der Staatsführung sowie der meisten Russen sind die Großunternehmen nicht die Eigentümer, sondern lediglich „Halter“ der Vermögenswerte: Sie benutzen sie, solange man es ihnen erlaubt. Doch sobald der Kreml einen Unternehmer als Feind einschätzt, wird sein Unternehmen genauso vernichtet wie die Kraftwerke in der Ukraine: Was uns gehört, darf nur für uns sein.

    In Russland wird die industrielle und infrastrukturelle Entwicklung der ehemaligen Sowjetrepubliken zunehmend als Geschenk an die weniger entwickelten Peripherien betrachtet. Das ist ein weiterer Bruch mit der sowjetischen Identität, die darauf beruhte, dass die Fabriken, Brücken und Straßen im ganzen Land das Ergebnis einer multinationalen Anstrengung aller Völker der Union waren. Die russischen Bürger befürworten die Bombardierung der zivilen Infrastruktur in der Ukraine, weil sie diese als ihr Geschenk an die undankbaren Ukrainer betrachten, die es nicht zu Russlands Wohl verwenden.

    Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden: ‚Ohne uns und nach uns wird es hier nichts geben‘ 

    Die Sowjetregierung manipulierte auf eine ganz ähnliche Weise: In den 70 Jahren ihres Bestehens hat sie ihre Wirtschaftsindikatoren stets mit dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Entwicklung im zaristischen Russland im Jahre 1913 verglichen – als ob es ohne die Sowjetunion keine wirtschaftliche Entwicklung gegeben hätte und andere Kennzahlen wie die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung nicht gestiegen wären.

    Ebenso neigen der Kreml und die russischen Bürger dazu, im Hinblick auf die Ukraine und andere Teile des ehemaligen Imperiums zu vergessen, dass die Entwicklung dort mit oder ohne sie stattgefunden hätte, und dass es unmöglich ist, sich ein europäisches Land wie die Ukraine mit einer Bevölkerung von mehreren zehn Millionen Menschen ohne Kraftwerke, Schulen und Fabriken vorzustellen. In dem Teil der Welt, in dem sich die Ukraine befindet, hätte es Ende des 20. Jahrhunderts in jedem Fall Strom, fließendes warmes und kaltes Wasser in den Häusern der Städte und öffentliche Verkehrsmittel auf den Straßen gegeben.

    Die Russen betrachten die Ukraine, als wäre die Zeit angehalten worden – „ohne uns und nach uns würde und wird es hier nichts geben“ –, und begründen damit ihr Recht auf Erbeutung und Zerstörung. Der Übergang vom gemeinsamen sowjetischen „wir“ zu einem neuen „wir und sie“ wird vor unseren Augen vollzogen. Putins Krieg gegen die Ukraine stärkt nicht nur die nationale Identität der Ukrainer, indem er sie von ihren sowjetischen Merkmalen befreit, sondern er verändert auch die postsowjetische Identität einer riesigen Zahl von Bürgern im eigenen Land.

    Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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  • Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Von der „Spezialoperation“ zum Krieg

    Knapp acht Monate nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine eskaliert Russland die Situation weiter: In einer TV-Ansprache hat Wladimir Putin am 21. September eine „Teilmobilmachung“ verkündet. Offiziell 300.000 Reservisten will der Kreml in den Krieg schicken. Der Begriff „Teilmobilmachung“ ist im Gesetzestext allerdings dehnbar, was die Drohkulisse noch zusätzlich verstärkt. 

    Hinzu kam aus Moskau am Dienstag die Ankündigung, die russisch (teil)besetzten Gebiete der Ukraine durch sogenannte „Referenden“ quasi zu annektieren. Damit würde Russland insgesamt rund ein Fünftel des ukrainischen Territoriums zum eigenen Staatsgebiet erklären. Sollte die NATO (durch ihren Helfershelfer Ukraine) das selbsterklärte russische Territorium angreifen, würde Russland sich notfalls auch mit Atomwaffen verteidigen, warnte Putin in seiner TV-Ansprache – das, so der Kreml-Chef, sei kein Bluff.

    Manche Beobachter bewerten diese Schritte als Bereitschaft zu einem „totalen Krieg“, andere verweisen auf militärische Erfolge der Ukraine und sehen Putin in die Ecke gedrängt: Die Eskalation sei eigentlich ein Signal zur Verhandlungsbereitschaft und der Versuch, eine für Russland möglichst günstige Position zu schaffen. 

    Auf dem Portal Carnegie politika fragt der Analyst Alexander Baunow, warum Putin die neue Eskalationsstufe zündet und welche Folgen sie womöglich nach sich ziehen wird.

    Innerhalb eines Tages hat die Duma [am 20. September] ohne jede Vorbereitung oder Ankündigung in zweiter und dritter Lesung Änderungen im Strafgesetzbuch eingeführt. Diese sehen harte Strafen während einer Mobilmachung vor, falls sich jemand dem Wehrdienst entzieht, sich nicht meldet, sich dem Feind ergibt oder Befehlen verweigert.

    Gleichzeitig haben alle ganz oder teilweise durch russische Truppen besetzten ukrainischen Gebiete die Bitte geäußert, umgehend „Referenden“ über eine Angliederung an Russland durchzuführen. Bereits jetzt – ebenso rasant – werden konkrete Daten genannt: schon Ende dieser Woche.

    Die inoffiziell für den Abend [des 20. Septembers] angekündigte Ansprache von Wladimir Putin wurde auf den Morgen verschoben. Dahinter könnten die letzten Zuckungen eines Apparat-internen Tauziehens gestanden haben, oder die letzten diplomatischen Bemühungen der westlichen Regierungschefs angesichts des Übergangs in ein neues Stadium – nächtliche Anrufe aus Berlin, Paris, Washington. Oder bloß die Arbeit an der Rede [ausgestrahlt am Morgen des 21. Septembers], die Putin für historisch hält und die dennoch förmlich und trocken geriet, bedrohlich und beschwichtigend zugleich – mit einem Feind, der vor den Toren steht, einer Mobilmachung, die nur in Teilen stattfindet, und einem Verteidigungsminister Schoigu, der schon alles irgendwie erklären wird.

    „Referenden“ und „Teilmobilmachung“: Wozu?

    Die Kombination aus all dem ist eine Botschaft an den Westen: Ihr habt es gewagt, in der Ukraine gegen uns zu kämpfen, dann versucht jetzt mal, in Russland selbst gegen uns zu kämpfen (besser gesagt, in dem Gebiet, das wir zu russischem Gebiet erklären). In der Hoffnung, dass er es nicht wagen wird.

    Gleichzeitig ist es ein Angebot, den Konflikt dort oder in etwa dort zu beenden oder einzufrieren, wo die Frontlinie jetzt verläuft: Ihr wolltet die alten, milderen Bedingungen nicht akzeptieren, also müsst ihr nun mit den harten leben, und die, die dann folgen, werden noch härter sein. In der Hoffnung, dass sie Angst bekommen.

    Innenpolitisch bewirken diese drei Ereignisse, dass aus einer „Spezialoperation“ auf fremdem Territorium die Verteidigung russischen Bodens wird. Das verleiht den Machthabern traditionell fast unbegrenzte Rechte gegenüber der Bevölkerung. Auch wenn dieser Abklatsch von einem allumfassenden Volkskrieg, für den es keinen ersichtlichen Grund gibt, ein riskantes Unternehmen bleibt, wird man die entsprechenden Instrumente zunächst nur sparsam einsetzen.

    Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe

    Das Überschreiten der russischen Grenze durch ausländische Truppen, wo immer sie verläuft (auch wenn sie morgen woanders verlaufen sollte als gestern), gibt Putin sicherlich das formale Recht und quasi die moralische Rechtfertigung für die nächste Eskalationsstufe. Die „Spezialoperation“ zum Krieg zu erklären, Maßnahmen zur Mobilmachung zu ergreifen, ukrainische Objekte zu attackieren, die man vorher nicht zu attackieren gewagt hat, und überzeugender mit Atomwaffen zu drohen.

    Diese Entscheidung führen viele auf die angebliche Unterstützung und Zustimmung zurück, die Putin von den großen nicht-westlichen Ländern beim Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit in Samarkand bekommen habe. Wahrscheinlich war es jedoch eher umgekehrt: Putin hat von den größten nicht-westlichen Ländern das Signal bekommen, [den Krieg] möglichst schnell zu beenden. Und aufzuhören, in ihrem Namen zu sprechen, da er sie damit mit jener Schwäche und Inkompetenz beschmutzt, die Russland demonstriert hat, das sich zur militärpolitischen Avantgarde der nicht-westlichen Welt erklärt.

    Wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg

    Alles deutet darauf hin, dass die zeitlichen, personellen, materiellen und diplomatischen Ressourcen der „Spezialoperation“ zur Neige gehen. Putin unternimmt nun einen entschlossenen Schritt, um alles schnell zu beenden, indem man Gewinne und Verluste festhält. Und wenn ein Ende unmöglich ist, dann schiebt man die Schuld auf die anderen und verwandelt den eigenen Überfall in einen Verteidigungskrieg, in der Hoffnung, dass die Bürger diesen für legitimer halten und man freie Hand für alle weiteren Entscheidungen hat. Das Problem ist, dass Russlands Gegenspieler nicht finden, dass Russland aus diesem Krieg überhaupt mit einem Gewinn hervorgehen sollte.

    „Spezialoperation“ vs. Krieg

    Seit Anbeginn des Krieges wurde der wesentliche Konflikt innerhalb der russischen Staatsmacht nicht zwischen einer Friedens- und einer Kriegspartei ausgetragen – die Stimmen gegen den Krieg und sogar die zugunsten eines Kompromisses wurden schnell zum Schweigen gebracht. Der Konflikt bestand zwischen der Kriegspartei und der Partei der Spezialoperation. Man könnte auch sagen, die Parteien des kleinen vs. großen Erfolgs, oder die Parteien des professionellen Kriegs vs. die Parteien des Volkskriegs.

    Die Partei der Spezialoperation orientierte sich an den Erfahrungen Russlands in Südossetien, der Krim und Syrien und richtete sich darauf, das Kämpfen um den Erfolg den Profis zu überlassen. Der Krieg sollte an der Peripherie des nationalen Lebens verbleiben, während das Leben innerhalb des Landes insgesamt so weitergehen sollte wie zuvor.

    Lange Zeit erschien es der russischen Führungsriege günstiger, den Anschein des normalen Lebens zu wahren und die Marktwirtschaft und die Konsumgesellschaft als beste Garanten für die Überwindung der Sanktionen anzusehen. Das könnte sich nun ändern.

    Russische Offizielle sagen recht häufig, was sie tatsächlich denken. Wenn Putin behauptet, Russland führe gegen die Ukraine keinen Krieg, sondern unternehme dort eine begrenzte „Spezialoperation“, hat er im Rahmen seines Koordinatensystems nicht gelogen. Russland hat mit einem Teil seiner Streitkräfte Kriegshandlungen unternommen, nicht durchweg alle Ziele angegriffen, hat Flächenbombardements vermieden und vor allem nicht seine Wehrpflichtigen-Armee hinzugezogen.

    Beim Wort Krieg erscheinen in den Köpfen der Durchschnittsrussen, zu denen auch Putin gehört, Bilder aus den Filmen und Wochenschauen über den Zweiten Weltkrieg. Daher dachte die russische Führung nach wie vor, dass sie etwas anderes macht, auch wenn die Folgen der Spezialoperation immer mehr an jene Bilder erinnern.

    Das ist die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job

    Bis vor Kurzem noch konnte man Putin als Vertreter, wenn nicht gar als Chef der Partei der Spezialoperation bezeichnen. Nachdem er sämtliche früheren Gleichgewichte zerstört hat, sorgt er jetzt, auf den Ruinen der Apparate, für ein Gleichgewicht zwischen denen, die übrig blieben. Sein ganzer Hintergrund als ehemaliger Geheimdienstler hat ihn zu einer „Spezialoperation“, und nicht zum Krieg greifen lassen. Schließlich ist das die grundlegende Vorgehensweise der Geheimdienste: Während die Bevölkerung friedlich vor sich hinlebt, machen die Profis ihren Job.

    Die Invasion in die Ukraine wurde auch deshalb nicht als Krieg, sondern als „Spezialoperation“ bezeichnet, weil sie nicht auf mehrere Jahre angelegt war. Wir haben gesehen, dass Putin in den verschiedensten Situationen nicht in Jahren denkt, sondern in „Spezialoperationen“, gewöhnlich mit einem Zeitrahmen von maximal ein paar Monaten. Da gab es die „Spezialoperation“ um seinen Einzug in den Kreml 1999/2000, die Operationen zur Vernichtung von NTW und YUKOS, die „Operation Nachfolger“ 2008, die Rückkehr an die Macht 2011/12, die „Nullsetzung“ seiner früheren Amtszeiten sowie der Zweite Tschetschenienkrieg und die Annexion der Krim. All diese „Spezialoperationen“ fanden in einem Zeithoritonz von höchstens einem halben Jahr statt. Es gibt keinerlei Zweifel, dass der Zeitraum für die Invasion in die Ukraine ähnlich geplant war; das haben Regierungsvertreter offen angedeutet.

    Im Sommer war ein halbes Jahr vorbei, der Erfolg jedoch ausgeblieben. Das hat ganz von selbst eine Suche nach neuen Lösungen in Gang gesetzt, die über eine „Spezialoperation“ hinausgehen. Doch selbst in dem Moment, da die Schwierigkeiten an den Fronten offensichtlich wurden, hatte es Putin nicht eilig, den Krieg ganz nach oben auf die Agenda des russischen Staates zu setzen und ihn auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten – und hat ihn der operativen Peripherie überlassen.

    Die Niederlage gegen die ukrainische Armee bei Charkiw gab den Anstoß zum Sieg der Partei einer allgemeinen Mobilmachung und eines Volkskriegs. Diese Niederlage hätte dazu nötigen können, die „Referenden“ über eine Angliederung der eroberten Gebiete an Russland aufzuschieben oder gänzlich abzusagen. Schließlich ist der Verlust eines Teils des eigenen Landes eine sehr viel größere Schmach als der Verlust fremder Gebiete mit unbestimmtem Status.

    Putin hat sich aber für das Gegenteil entschieden. Die allgemein verbreitete Sicht der Bevölkerung in Russland auf die eigene Geschichte besagt, dass Russland zwar einen militärischen Misserfolg erleiden könnte, wenn es mit begrenzten Kräften jenseits seiner Grenzen kämpft, dass es aber in einem Volkskrieg auf eigenem Boden stets siegreich ist. Das ist der Kerngedanke dieses simplen Kniffs: Wir machen die eroberten Gebiete juristisch zu unserem Land, es war ja eh einst unser Land, und der Sieg wird unser sein.

    Nicht die Beute ist das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen

    Russische Stimmen haben verkündet – und je militanter sie sind, desto häufiger war das der Fall –, dass die Ziele der „Spezialoperation“ auf jeden Fall erreicht werden. Diese Formulierung ist deshalb bequem, weil die genannten Ziele derart schwammig und unbestimmt sind, dass man sie flexibel ändern kann. Wenn es nicht gelingt, die ganze Ukraine einzunehmen, kann man sich auch mit dem Süden und Osten begnügen. Wenn es dort nicht klappt, kann man sich auf das Territorium der Gebiete Donezk und Luhansk beschränken. Gelingt auch das nicht, und so stellt sich die Lage gerade dar, muss man das nehmen, was man hat, indem man den Status seiner Beute anhebt und sie zu neuen Regionen Russlands erklärt. Schließlich ist nicht die Beute das Hauptziel, sondern vielmehr die Möglichkeit und die Entschlossenheit, Beute zu machen, also zu demonstrieren, dass mit Russland nicht zu scherzen ist und dass Russland darauf ein Anrecht hat.

    In den letzten Wochen ist selbst diese fiktive Errungenschaft verloren gegangen. Um sie wiederzuerlangen, legt Putin wieder einmal die Latte höher und hofft, dass die anderen aussteigen und nicht so hoch gehen. Wenn er damit wiederum falsch liegt, wird er beweisen müssen, dass er auch dieses Mal nicht geblufft hat. Das könnte er möglicherweise auf noch zerstörerischere Weise tun.

     

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  • Russisch-kasachisches Win-win

    Russisch-kasachisches Win-win

    Es waren die schwersten Ausschreitungen in der jüngsten Geschichte Kasachstans: Anfang Januar wurde das zentralasiatische Land von tagelangen Protesten erschüttert. Präsident Tokajew setzte seinen Vorgänger Nursultan Nasarbajew als Chef des Sicherheitsrats ab und rief die OVKS, ein Militärbündnis unter Führung Russlands, zur Hilfe, um gegen die „ausländischen Terroristen“ einzuschreiten. Dieses Vorgehen hatte für viel Unruhe gesorgt, Befürchtungen wurden laut, dass Kasachstan damit seine „multivektorale Außenpolitik“ – gute Beziehungen zu Russland, China und den USA – aufgebe und sich zur Geisel Russlands mache.
    Die Proteste waren binnen weniger Tage niedergeschlagen, am 13. Januar begannen die OVKS-Truppen ihren Abzug, es gab 225 Todesopfer und mehr als 7000 Festnahmen – das zumindest sind die offiziellen Zahlen, Menschenrechts­organisationen gehen von deutlich mehr Opfern aus.
    Auslöser für die Demonstrationen waren die hohen Gaspreise gewesen, vor allem in der Kultur- und Wirtschafts­metropole Almaty politisierten und radikalisierten sich die Proteste schließlich, Demonstranten forderten den völligen Rückzug von Ex-Präsident Nasarbajew. 

    Zentralasien­expertin Beate Eschment, Wissenschaftliche Mitarbeiter am ZOiS, vermutet im Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass die Proteste in Kasachstan durch „Kräfte aus dem riesigen Clan des Altpräsidenten Nursultan Nasarbajew“ zusätzlich angeheizt worden waren, „die ihre Felle davonschwimmen sahen“. Derzeit beobachte sie einen Ämtertausch, zahlreiche Personen mit Verbindungen zu Nasarbajew würden ausgewechselt. Zudem nehme Tokajew wirtschaftliche Reformen in Angriff. Ein Ende von Kasachstans multivektoraler Außenpolitik sieht sie nicht.

    Auf Carnegie.ru analysiert Temur Umarow, welche Interessen die kasachische und russische Führung mit dem OVKS-Einsatz jeweils verfolgten – und warum er eben nicht das Ende der kasachischen Multivektor-Politik bedeutete.

    Russische OVKS-Truppen in Kasachstan Anfang 2022 / Foto © Mil.ru CC BY 4.0
    Russische OVKS-Truppen in Kasachstan Anfang 2022 / Foto © Mil.ru CC BY 4.0

    „Kasachstans Außenpolitik wird sich grundlegend ändern“ – solche Stimmen wurden sofort laut, nachdem im Januar die OVKS mit Russland an der Spitze bei den Unruhen in Kasachstan interveniert und dem Präsidenten Kassym-Shomart Tokajew dabei geholfen hat, seine Macht nicht nur zu erhalten, sondern sogar zu festigen. Es hieß, die Landesregierung werde den Kreml für seine Unterstützung entlohnen müssen. Die Spekulationen über das Wie variierten von der Anerkennung der Krim über die Ablehnung der lateinischen Schrift bis hin zur Schließung „antirussischer“ NGOs.

    Nahezu einig war man sich allerdings, dass der Abschied von Kasachstans berühmter multivektoraler Außenpolitik nun unvermeidliche Konsequenz sei. Aber sind diese Annahmen berechtigt? 
    Auf den ersten Blick scheint die Frage nach einer „Gegenleistung“ naheliegend – immerhin hat der OVKS-Einsatz Geld gekostet, und Russland ist ein ernsthaftes Risiko eingegangen, indem es seine Soldaten in das von Unruhen erschütterte Kasachstan schickte. Hätte sich das russische Militär aktiv an der gewaltsamen Zerschlagung der Proteste beteiligen müssen, wäre das ein enormer Imageschaden für Moskau – nicht nur gegenüber den Kasachen, sondern auch der Weltgemeinschaft.

    Doch auch innenpolitisch hat Russland einiges riskiert: Wie bewertet die russische Gesellschaft den Militäreinsatz? Wie hätte es sich auf die Zustimmungswerte des Kreml ausgewirkt, wenn sich der Einsatz in die Länge gezogen oder russische Soldaten in Kasachstan umgekommen wären? Gründe genug also, um eine Gegenleistung zu fordern.

    Für Moskau waren die Unruhen in Kasachstan eine böse Neujahrsüberraschung

    Doch diese Logik vernachlässigt einen wichtigen Umstand. Das Hauptmotiv für Moskaus Entscheidung, sich in das Geschehen in Kasachstan einzumischen, war nicht der Wunsch, seinen Einfluss in Zentralasien zu vergrößern, sondern die Sorge um die eigene Sicherheit, sollte die Situation im Nachbarland endgültig außer Kontrolle geraten.  
    Für Moskau waren die Unruhen in Kasachstan eine böse Neujahrsüberraschung. In diesen Tagen sorgte man sich weniger um das Schicksal der kasachischen Regierung als um die möglichen Konsequenzen für Russland. Die russisch-kasachische Grenze ist die zweitlängste Landesgrenze der Welt, sie ist sehr schwach gesichert und stellenweise nicht einmal markiert. 
    Außerdem war es für Moskau wichtig, Kasachstan als das zu erhalten, was es immer gewesen ist – Russlands wichtiger Verbündeter, der sich zahlreichen Initiativen des Kreml anschließt, sowohl in der Verteidigungs- als auch in der Wirtschaftspolitik, die auf eine Integration des postsowjetischen Raums ausgerichtet ist. Man durfte also nicht zulassen, dass dieses freundschaftlich gesinnte Regime fällt und der Präsident seine Macht verliert.

    Viel Auswahl hatte die kasachische Regierung sowieso nicht

    Der Preis für die Aktion war nicht sehr hoch. Die aktive Phase der Friedensmission dauerte nur wenige Tage: Tokajew hatte sich am 5. Januar an die OVKS gewandt und bereits am 10. Januar den baldigen Abschluss der Aktion verkündet. Die OVKS hatte gerade mal 2500 Soldaten und 250 Militärgeräte bereitgestellt. Offiziell sicherten die Einsatzkräfte der OVKS strategisch wichtige Objekte, doch eigentlich war ihr Einsatz vor allem symbolischer Natur.

    Durchaus möglich, dass Tokajew auch allein mit der Situation fertig geworden wäre: Die kasachischen Sicherheitskräfte sind bei weitem nicht die schwächsten auf der Welt. Aber einige von ihnen hatten es (zumindest in Almaty) nicht eilig, die Befehle der Zentralregierung auszuführen, deswegen hätte sich die Krise in die Länge ziehen können. Der kasachische Präsident musste dringend beweisen, dass er neben der institutionellen Legitimität auch über reale Macht verfügt. Hilfe von Moskau anzufordern war die niedrigschwelligste Entscheidung. 

    Russland versteht besser als andere Großmächte, was in der Innenpolitik und der Führungselite Kasachstans vorgeht

    Viel Auswahl hatte die kasachische Regierung sowieso nicht. Trotz aller Gespräche über die multivektorale Politik und den wachsenden Einfluss Chinas bleibt Russland das einzige Land, das die Regierungen in der Region militärisch unterstützen kann. Zum einen, weil es eine legale Grundlage dafür hat – laut Satzung der OVKS können bei Bedrohung in einem Mitgliedstaat die anderen Länder militärische Maßnahmen ergreifen. Zum anderen, weil die kasachische Gesellschaft Russland gegenüber relativ wohlgesonnen ist. Laut einer Umfrage des Zentralasiatischen Barometers halten 81 Prozent Russland für einen befreundeten und zuverlässigen Partner. Weder die USA noch China genießen ein so großes Vertrauen. 

    Und nicht zuletzt versteht Russland besser als andere Großmächte, was in der Innenpolitik und der Führungselite Kasachstans vorgeht. Man kennt viele ihrer Vertreter persönlich, pflegt mit einigen freundschaftliche Beziehungen, spricht mit allen in der eigenen Muttersprache und teilt Werte und Überzeugungen, die noch auf das Sowjetsystem zurückgehen. Das ermöglicht Russland, innenpolitisch Einfluss zu nehmen und in Krisensituationen schnell und effektiv zu reagieren. 

    Schon jetzt hat Moskau viel gewonnen

    Moskau hat schon jetzt – ohne neue Zugeständnisse von Tokajew – durch den kurzen Kasachstan-Einsatz der OVKS viel gewonnen. Vor allem ist es Russland gelungen, ein befreundetes politisches Regime im großen Nachbarland an der Macht zu erhalten. Außerdem konnte es der ganzen Welt beweisen, dass die OVKS nicht bloß irgendein Klub ist, sondern eine wirkmächtige Organisation. Gleichzeitig wurde den anderen Regierungen in Zentralasien signalisiert, dass nur Russland die Mittel und den Willen hat, sie im Fall einer Krise vor dem Zusammenbruch zu bewahren. 

    Der letzte Punkt ist in Anbetracht der wachsenden Aktivität Chinas in der Region besonders relevant. Russland wirkt im Vergleich zu China blass. Manche glauben schon so sehr an die Übermacht Chinas, die Russland aus Zentralasien zu verdrängen vermag, dass sie die kurze Verweildauer der OVKS mit einem Einwand Chinas erklären. 

    Allerdings genießt die chinesische Regierung nicht annähernd so viel Vertrauen bei der kasachischen Elite wie der Kreml, deswegen ist es schwer vorstellbar, dass Peking solche Forderungen stellen würde. Nach Einschätzung des Sinologen Igor Denissow halten die diplomatischen, nachrichtendienstlichen und analytischen Mittel Chinas nicht Schritt mit seiner immer größer werdenden wirtschaftlichen Präsenz in Zentralasien. Darum blieb China während der jüngsten Krise in der Rolle eines unbeteiligten Beobachters.
    Natürlich wird der wirtschaftliche Einfluss Chinas auch nach den jüngsten Ereignissen weiter wachsen und allmählich auf andere Bereiche übergehen. Aber wie die Ereignisse im Januar gezeigt haben, wird Peking Moskau nicht so bald einholen, was das Verständnis der Vorgänge im Land und die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die herrschenden Eliten betrifft. 

    Tollkühne Rhetorik der Türkei

    Die Krise hat auch Kasachstans Schwächen in den Beziehungen zu anderen Partnern offengelegt, beispielsweise der Türkei. Wie Peking beobachtete auch Ankara das Geschehen aufmerksam – Erdogan, der 2016 selbst einen Umsturzversuch erlebte, bot Tokajew telefonisch Hilfe an. Der Berater des türkischen Präsidenten Ihsan Sener ging sogar so weit von einer „Okkupation“ Kasachstans durch die Einsatzkräfte der OVKS zu sprechen. 

    Doch die tollkühne Rhetorik zeugt nur von den türkischen Ambitionen in Zentralasien, die bislang weder durch eine Expertise in der Region noch durch ausreichende Verbindungen zu den lokalen Eliten oder ein Vertrauen im Volk untermauert sind. 

    Verhalten war auch die Reaktion der USA, obwohl Kasachstan als ihr wichtigster Partner in der Region gilt. Im Großen und Ganzen blieb es bei öffentlichen Erklärungen: Zunächst gab es einen Aufruf, die Gewalt zu beenden und die Menschenrechte zu achten, später folgte eine Solidarisierung mit den „verfassungsrechtlichen Institutionen Kasachstans“. Die USA interessieren sich mit jedem Jahr weniger für Zentralasien – ihr passives Verhalten während der Krise in Kasachstan ist dafür nur ein weiterer Beweis. 
    Und schließlich gibt es bei der Erwartung einer prorussischen Wende in der kasachischen Außenpolitik einen wesentlichen Haken: nämlich die Frage, welche neuen Druckmittel Russland durch seine kurze Truppenpräsenz unter dem Deckmantel der OVKS gewonnen hätte. Die Antwort lautet: gar keine.

    Es wäre nicht in Russlands Interesse gewesen, Kasachstans berühmte multivektorale Außenpolitik anzurühren

    Aus juristischer Sicht verlief alles entsprechend der Satzung der OVKS: Der Beschluss Kasachstan im Kampf gegen die „terroristische Bedrohung“ beizustehen wurde nicht vom Kreml, sondern vom Rat für kollektive Sicherheit des Bündnisses getroffen. Es sind in dieser Zeit keine überstaatlichen Einrichtungen gegründet, zwischenstaatliche Übereinkünfte getroffen oder auch nur öffentliche Versprechungen gemacht worden, die Moskau dazu berechtigt hätten, irgendetwas zu fordern. Und selbst wenn es so etwas gegeben hätte, wäre es nicht in Russlands Interesse gewesen, Kasachstans berühmte multivektorale Außenpolitik anzurühren.

    Im Gegensatz zu beispielsweise Belarus hat Kasachstan nie versucht, die Widersprüche zwischen Moskau und dem Westen gegeneinander auszuspielen, sondern sich tatsächlich bemüht, freundschaftliche Beziehungen mit beiden Seiten zu pflegen – mit Erfolg. Das Land verbindet schon seit vielen Jahren eine Partnerschaft mit Russland und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen: Fast 40 Prozent der kasachischen Exporte gehen nach Europa, während bei der Ölförderung amerikanische Firmen dominieren. 

    Mit anderen Worten: Kasachstans multivektorale Politik ist nicht bloße Rhetorik, sondern fußt auf diversifizierten Wirtschaftsbeziehungen. Von der Aufrechterhaltung dieser Politik hängt der materielle Wohlstand des Landes in vielerlei Hinsicht ab. Nähme man also an, Moskau wollte dieses Gleichgewicht zu seinen Gunsten stören, müsste es mit den wirtschaftlichen Konsequenzen eines solchen Schrittes rechnen.

    Kasachstan ist reich genug, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben

    Warum sollte Russland eigenhändig die durch die jüngsten Ereignisse ohnehin angeschlagene wirtschaftliche Lage in einem Land verschlimmern wollen, in dem gerade erst Massenproteste wegen Preisanstiegen und sozialer Ungerechtigkeit stattgefunden haben? Die politische Krise und die ausländischen Truppen haben die Investoren auch so schon verunsichert, was nicht folgenlos bleiben wird. In dieser Situation eine Distanzierung vom Westen zu fordern, würde nur weitere Probleme für alle Beteiligten nach sich ziehen. Zudem würde eine hypothetische Verdrängung des Westens aus Kasachstan nicht zwingend dazu führen, dass Russland diese Leerstelle füllt. Vermutlich würde Moskau sogar nur China dazu verhelfen, zu einer noch einflussreicheren Macht in Zentralasien zu werden.

    Viel wahrscheinlicher ist es also, dass Russland sich nicht zu solchen Manövern hinreißen lässt, um neue Zugeständnisse von Kasachstan zu bekommen. Auch wenn die beiden Länder wie schon zuvor nicht ohne kleinere Streitigkeiten auskommen werden – beispielsweise über den Stellenwert der russischen Sprache.
    Kasachstan ist reich genug, um eine eigenständige Außenpolitik zu betreiben. Viele haben die Signale bereits bemerkt, die Tokajew durch die Besetzung der Ämter sendet: Minister für Information und gesellschaftliche Entwicklung wurde Askar Umarow, der für seine russophoben Statements bekannt ist. Gleichzeitig wurde mit Roman Skljar nach zwei Jahrzehnten erstmals wieder ein ethnischer Russe für den Posten des stellvertretenden Premiers ernannt. Ein solches Gleichgewicht soll zeigen, dass der außenpolitische Kurs des Landes unverändert bleibt – das Bündnis mit Russland ist stärker als je zuvor, aber es stellt die Souveränität Kasachstans nicht infrage. 

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  • Kein großer Krieg – aber

    Kein großer Krieg – aber

    Jetzt also aufatmen? Am Freitag vergangener Woche noch hatten die USA die NATO-Länder gewarnt, es gebe konkrete Kriegspläne Russlands, ein Angriff auf die Ukraine sei für Mittwoch, 16. Februar geplant – den der ukrainische Präsident Selensky prompt zum nationalen Feiertag erklärte. Die USA verlegten ihre Botschaft von Kiew nach Lwiw in der Westukraine, zahlreiche NATO-Länder, darunter auch Deutschland, forderten ihre Landsleute auf, die Ukraine zu verlassen. 

    Das Vorgehen löste eine Debatte aus, welche Strategie hinter solchen öffentlichen Warnungen der US-Geheimdienste steckt. Sollte es darum gehen, mit der Warnung vor einem Krieg eben diesen zu verhindern? Und ist die Strategie nun aufgegangen? Schon am Dienstag, noch vor dem Treffen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Wladimir Putin in Moskau, gab es Entspannungssignale: Der russische Außenminister Lawrow sagte, man wolle Gespräche mit den USA und der NATO fortführen. Später, auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit Scholz, betonte Putin, Russland sei „bereit, den Weg der Verhandlungen zu gehen“. Alles wieder gut also? Oder wird die russische militärische Bedrohung der Ukraine den Westen noch lange beschäftigen? 

    Alexander Baunow kommentiert auf Carnegie.ru das Vorgehen der USA und Russlands sowie die (vermeintliche) Entspannung.

    Die Ankündigung eines fremden Krieges – für Biden war das eine günstige Strategie. Sollte es Krieg geben, hätte er Recht gehabt – wenn nicht, dann hat er Putin gestoppt. Gestoppt, ohne Zugeständnisse in prinzipiellen Fragen und – was für ihn wichtig ist – in Geschlossenheit mit den Verbündeten, im Namen des Westens als politisches Ganzes.

    Es wäre falsch daraus zu schließen, dass es ihm gleichgültig wäre, ob Putin nun einmarschiert oder nicht. Wenn du einen Krieg gestoppt hast, bist du stark. Wenn nicht, bist du nicht stark genug. Wenn nun Russland in die Ukraine einmarschiert, wäre die Reaktion, die sich der Westen erlauben kann, für viele ungenügend und inadäquat für ein solch extremes Ereignis. Doch wenn Russland nicht einmarschiert, wird der Westen stark aussehen – er ist also in der Lage, einen Aggressor aufzuhalten. Das ist einer der Gründe dafür, warum mit solcher Überzeugung von einer unabwendbaren Aggression gesprochen wurde. Je unabwendbarer, desto ruhmreicher ein beliebiger anderer Ausgang.    

    Biden als Leader eines geeinten Westens

    Eine Invasion scheint für den Westen tatsächlich wahrscheinlich. Und das betrifft nicht nur die plaktativen Schlagzeilen der Boulevardmedien, über die man sich ironisch äußern kann bis zum Abwinken. Aber die führenden Köpfe einflussreicher Staaten sind keine Boulevardblätter, sie mögen es nicht besonders, wenn man sich ironisch über sie erhebt, sie reißen sich nicht darum, zum Lacher zu werden. Doch genau das wäre die Wirkung der ungewöhnlich intensiven diplomatischen Aktivität und der nie gehörten Besorgtheit im Ton der Erklärungen, gäbe es dafür jenseits der Boulevard-Schlagzeilen keine ernste Grundlage.

    Ein globales Spektakel von diesem Ausmaß mit dem Ziel Russland zu diffamieren, kann man sich nur schwer vorstellen. Denn auch Vertreter Frankreichs und Deutschlands sind mit von der Partie – und die reißen sich gewöhnlich nicht darum, Russland einfach so in ein schlechtes Licht zu rücken. Für die, die wollen, finden sich zahlreiche andere Gründe, von dem mittlerweile halb in Vergessenheit geratenen Nawalny bis hin zu neuen Cyberattacken.

    Ähnliche stark war die mediale und politische Nervosität zum letzten Mal vor dem Einmarsch der amerikanischen Koalition in den Irak, allerdings waren seinerzeit die Vereinigten Staaten erst kurz zuvor Opfer des größten Terroranschlags der Weltgeschichte geworden. Frankreich und Deutschland gingen ihren eigenen Weg. Diesmal haben sich die vier Mächte – USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland – vielleicht nicht in einer Reihe aufgestellt, doch dafür als Gruppe gebündelt, mit Blick in dieselbe Richtung.

    Für Biden ist es wichtig, nicht als einsamer Alarmist dazustehen, erst recht nicht als Mitschuldiger an der Eskalation, sondern als Leader eines geeinten Westens. Die geteilte Besorgtheit und die Zusammenarbeit mit anderen westlichen Staatschefs schützen ihn vor Anschuldigungen, falls sich die Aufregung als unbegründet herausstellt.

    Truppenkonzentration als Instrument harter Diplomatie

    Es ist durchaus denkbar, dass Moskau tatsächlich zu irgendeinem Zeitpunkt ein gewaltsames Vorgehen der Ukraine [im Donbassdek] befürchtet hat – ermutigt durch den Wahlsieg Bidens, die aserbaidshanische Operation zur Rückholung Bergkarabachs, neue Waffen und so weiter. Als abschreckendes Signal wurden dann im vergangenen Frühling Truppen zusammengezogen und Richtung Ukraine geschickt.

    Daraufhin stellte sich heraus, dass ein Zusammenziehen von Truppen Richtung Ukraine als Instrument harter Diplomatie funktioniert. Es kam zu einer Reihe intensiver, nicht geplanter Kontakte zwischen der neuen amerikanischen Regierung mit dem Kreml und einem Gipfeltreffen der Präsidenten, das andernfalls womöglich noch lange auf sich hätte warten lassen. Überhaupt rückte Russland vom Rand ins Zentrum der Agenda der neuen [Biden-]Administration.

    Nachdem der Kreml mit der moderaten und kurzfristigen Konzentration von Truppen moderate Ergebnisse erzielt hatte, beschloss er den Wirkungsgrad dieses Instruments zu maximieren. Schon lange hatte Russland eine Beschwerdeliste angelegt, auf die der Westen in keiner Weise reagierte, ja, die er sogar als uninteressant und offensichtlich perspektivlos abtat. Und siehe da, es hatte sich ein Mittel gefunden, sodass er doch reagierte: Truppen in direkter Nähe zur Ukraine in einer solchen Menge und Zusammensetzung, dass es die Militärs für die Vorbereitung einer Invasion hielten.

    Marschbereitschaft und Feldzug unterscheiden sich darin, dass beim ersten noch niemand irgendwohin marschiert und das auch nicht unbedingt tun muss. Doch fordert der Einsatz solch extremer Instrumente auch beeindruckende Ergebnisse. Wird die Bedrohung zurückgenommen, ohne dass überzeugende Ergebnisse erzielt wurden, bedeutet das, dass die Androhung von Gewalt als Druckmittel beim nächsten Mal nicht funktionieren wird. Deswegen muss es entweder zur  Gewaltanwendung kommen oder es müssen beeindruckende Ergebnisse präsentiert werden. Oder man muss versuchen, mit den erreichten Ergebnissen zu beeindrucken. Bislang sind ein solches Ergebnis – abgesehen von der Wiederaufnahme einiger Themen: die einzigartig intensiven diplomatischen Kontakte.

    Jetzt also aufatmen?

    Ohne ein umfassendes diplomatisches Ergebnis und ohne den Entschluss zum gewaltsamen Vorgehen ist es nicht ausgeschlossen, dass Russland die Marschbereitschaft der Armee nahe der ukrainischen Grenze in eine ständige oder regelmäßig reaktivierbare Bedrohung verwandelt. Die würde der Ukraine mehr Schaden bringen als die westliche Hilfe Vorteile verschafft. Der Westen wird dadurch ebenfalls in Anspannung gehalten, sodass die Ukraine und der Westen letztlich zu größeren Kompromissen bereit sein könnten. Wenn nicht mit dem Schwert, dann also durch Zermürben.

     

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    Krieg oder Frieden

    Rund 30.000 Soldaten aus Russland nehmen laut Kalkulationen der NATO an dem Militärmanöver mit Namen Entschlossenheit der Union 2022 teil, das noch bis zum 20. Februar in Belarus stattfindet. Eine für ein Manöver ungewöhnlich hohe Zahl an Kampftruppen, die sogar aus dem Fernen Osten Russlands verlegt wurden. Dazu Luftabwehrsysteme, Raketen, die mit Atomwaffen bestückt werden können, und Kampfjets. Die russische Führung bestätigte, dass die Übung an fünf Orten im Nachbarland abgehalten wird, betonte aber, dass man sich in Bezug auf die Truppenstärke an die internationalen Vorgaben halten werde. Diese erlauben maximal 13.000 Soldaten. Internationale Militärexperten und Kritiker äußern Sorge darüber, dass der Kreml Belarus als Aufmarschgebiet für eine etwaige Invasion der Ukraine nutzen könnte. So wurde ein großes russisches Militärlager in der Nähe der Stadt Retschiza errichtet, rund 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. In Belarus wird mitunter befürchtet, dass die russischen Truppen auch nach der Übung im Land stationiert bleiben könnten. Eine Angst, die Alexander Lukaschenko zu zerstreuen versuchte, indem er sagte, dass die russischen Truppen nach Ende des Manövers das Land verlassen würden. Den Abzug würde er zusammen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin entscheiden. Für Ende der Woche ist ein Treffen der beiden Staatsführer angekündigt.

    Der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman setzt sich in seinem Stück für die russische Online-Plattform Carnegie.ru mit möglichen politischen Konsequenzen des Manövers für Belarus auseinander. Dabei fragt er auch, welche Rolle die Staatsführung um Lukaschenko für den Kreml spielen würde, falls es zu einem Krieg kommen sollte.

    Für das Regime in Belarus sind zwei extreme Szenarien unangenehm, die sich im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen ergeben könnten: ein Krieg und ein Waffenstillstand. Käme es zum Krieg, wäre man zu riskanten und wohl auch selbstzerstörerischen Zugeständnissen an den Kreml genötigt. Im zweiten Fall würde es schwierig werden, im Kreml Interesse für die zur Schau getragene antiwestliche Haltung zu wecken.
    Um die USA zu Zugeständnissen bezüglich der Sicherheitsgarantien zu bewegen, hat Moskau eine reale Drohkulisse für die Ukraine geschaffen, indem das Land von allen Seiten mit Truppen umstellt wird. Eine der Fronten dieser militärischen Diplomatie ist mittlerweile das Staatsgebiet von Belarus.

    Vom Friedensstifter zum Vorposten

    Alexander Lukaschenko fällt in diesem Geschehen nicht einfach nur die Rolle eines Statisten zu, sondern vorgeblich die des Initiators dieser Manöver, die bis zum 20. Februar in Belarus stattfinden. Er hatte als erster bereits Anfang Dezember von den bevorstehenden außerplanmäßigen Manövern gesprochen. Anschließend unterstrich er bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er selbst die russischen Streitkräfte eingeladen habe. Man müsse die Verteidigung der Südflanke üben, da von der Ukraine eine Gefahr ausgehe.
    Bereits vor ihrem Beginn haben die Manöver die neue Rolle von Belarus in der Region verdeutlicht und auch den Kontrast zu den Träumen von einer osteuropäischen Schweiz, von denen die belarussische Regierung vor ein paar Jahren noch sprach.

    Bis 2020 hatte Lukaschenko die Verschärfung der Krise zwischen Russland und dem Westen ausgenutzt. Minsk balancierte zwischen den beiden Seiten, indem es für die eine Seite Risiken feilbot und der anderen Seite Möglichkeiten offerierte. 2020 brach dann der westliche Vektor ab, und Minsk hat jetzt weder Raum für diplomatische Schachzüge noch eine Wahl, wie es sich im Falle einer Eskalation in der Region verhalten kann. Ein neuer Versuch, sich von Moskau zu distanzieren, würde im Westen wohl kaum honoriert werden, in Russland träfe er, milde gesagt, auf Unverständnis.

    Unter Experten und Politikern gab es viele Jahre Diskussionen darüber, wie autonom Lukaschenko sein werde, wenn sich die Gefahr eines echten Krieges abzeichnet: Folgt er gehorsam dem Willen des Kreml oder geht er in Widerstand, um seine Souveränität zu bewahren und sie allen zur Schau zu stellen? 
    Anfang 2022 begann nun ein Experiment, das diese Debatte – und sei es vorübergehend – zugunsten der ersten These entscheidet. Niemand fragt sich jetzt noch, als was das belarussische Territorium zu betrachten ist: Es ist jetzt ganz und gar russisches Aufmarschgebiet. Und der Grad an Bedrohung von Seiten des belarussischen Hofes wird allein von einer Variablen bestimmt: ob der Kreml einen Krieg will.

    Lukaschenkos undankbare Rolle in dem Spiel

    Lukaschenko hat sich derweil keineswegs verändert. Es missfällt ihm, dass er nicht mehr als Herr der Lage im eigenen Land wahrgenommen wird. Es verletzt ihn allein schon der Gedanke, dass sowohl Kräfte im Ausland als auch die eigene Nomenklatura in ihm einen Vasallen Russlands und nicht des belarussischen Souveräns erkennen.
    Das ist schon an Kleinigkeiten erkennbar. Bei einer Sitzung mit den Silowiki fängt er plötzlich an, in Abwesenheit, aber sehr ausgiebig mit dem Anführer der vorletzten Oppositionsgeneration Senon Posnjak, zu streiten. Er argumentierte dabei, dass das derzeitige Regime keine Besatzung des Landes zulassen werde, woher die Gefahr auch kommen möge.

    Washington versteht diesen Charakterzug Lukaschenkos und ärgert ihn damit, dass es durch einen ungenannten Mitarbeiter des Außenministeriums erklären lässt, der belarussische Diktator habe allem Anschein nach die Situation nicht mehr im Griff. Und: Wenn sich Minsk in einen Krieg mit der Ukraine verstricken würde, könne das zu einer Spaltung der belarussischen Eliten führen. Das sieht nicht nach dem Wunsch aus, Lukaschenko in die Schranken zu weisen, sondern eher nach einem Versuch, die manipulativen Spekulationen des Gegners zu durchkreuzen und Lukaschenko zu Selbständigkeit zu ermutigen.
    Parallel drohen die USA Minsk mit neuen Sanktionen wegen der möglichen Beteiligung an einer russischen Aggression gegen die Ukraine. Das ist keine leere Drohung: Wegen der geringen Bedeutung von Belarus für die Weltwirtschaft und einer Reihe bereits verhängter Sanktionspakete wäre es politisch einfacher, Sanktionen gegen Belarus auf ein iranisches Niveau zu schrauben als in gleicher Weise gegen Russland vorzugehen.

    All diese Umstände, die Lukaschenko vielleicht erzürnen mögen, können jedoch nichts an einer weit unangenehmeren Tatsache ändern: Falls sich die Lage in der Region bis zum Äußersten eskaliert, dürfte der Kreml seine Pläne für das Territorium von Belarus nicht davon abhängig machen, was Lukaschenko dazu sagt.

    Weder Krieg noch Frieden

    Die Wahrscheinlichkeit eines echten Krieges in der Region abzuschätzen, ist eine undankbare Aufgabe. Doch selbst wenn es dazu kommen sollte, wird die belarussische Armee wohl kaum unmittelbar daran beteiligt sein.
    Die Ausnahme wäre hier, wenn es zu einem vollkommen apokalyptischen Szenario käme, bei dem die russischen Angriffe gegen die Ukraine von belarussischem Territorium aus geführt werden, und es als Antwort der Ukraine zu Raketenbeschuss und Sabotageaktionen kommt, von denen belarussische Militärangehörige oder Zivilisten betroffen wären.

    Auf eigene Faust wird Lukaschenko in dem Konflikt sicherlich keine belarussischen Truppen einsetzen. Darauf ist Moskau aus militärischer Sicht nicht sonderlich angewiesen, doch gibt es gewichtige politische Gründe. All die 27 Jahre an der Macht hatte Lukaschenko seinen Wählern Ruhe und Frieden als wichtigste Leistung versprochen, die alle anderen Entbehrungen und Probleme rechtfertigt.
    Eine Beteiligung an einem Krieg, insbesondere gegen die Ukraine, wäre selbst einem beträchtlichen Teil der Anhänger Lukaschenkos schwer zu erklären, und den übrigen Belarussen umso schwerer. Lukaschenko ist mittlerweile ohnehin zu weit vom Höhepunkt seiner Legitimität entfernt, um sein wichtigstes politisches Kapital zu riskieren, nämlich den Frieden seiner loyalen Wähler.

    Lukaschenkos jüngster Ansprache an das Volk und das Parlament zufolge ist ihm das sehr wohl bewusst. In seiner Rede fand sich viel militaristische Rhetorik, doch erklärte er auch auf die Frage einer Frau aus dem Saal, ob ihre Söhne im Ausland würden kämpfen müssen, dass die belarussische Armee dazu da sei, das Land auf dem eigenen Territorium zu verteidigen.
    „Wenn sie kommen, um uns umzubringen, werden wir uns volle Pulle wehren, auf unserem, wie auf fremdem Territorium. Von uns wird niemals ein Krieg ausgehen“, fügte er hinzu. Bei einer solchen Veranstaltung gibt es keine Fragen, die nicht vorab genehmigt wären, also wollte die Regierung, dass Lukaschenko die Gelegenheit für eine solche Antwort hat, um die zunehmenden Ängste in der Gesellschaft zu zerstreuen.

    Die Grauzone dieses gelenkten Konflikts ist ideal, um Moskau ohne größere Verluste seine rhetorische Loyalität zu verkaufen. Falls der Konflikt zwischen Russland und den USA ohne Krieg, aber auch ohne einen Frieden gelöst wird, wenn also die Differenzen diplomatisch breitgeredet werden, könnte Lukaschenko daraus sogar Kapital schlagen.
    Für das Verhältnis von Minsk zum Westen würde das allerdings nichts Neues bedeuten. Die Hoffnungen auf eine Autonomie Lukaschenkos sind eh zerstoben, und dieser Ansehensverlust lässt sich in absehbarer Zukunft nicht korrigieren.

    Im Verhältnis zu Moskau würde Lukaschenko allerdings zu einem Verbündeten, der in einem wichtigen Moment seine Pflicht in einem Bereich erfüllt hat, der für den Kreml von sakraler Bedeutung ist, nämlich bei der Sicherheit. Sollte das für Moskau nicht ein Anlass sein, bei den nächsten Kreditverhandlungen etwas großzügiger zu sein?


     

     

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    Ein spätes Geschenk für Putin

    Dass Minsk als der weitgehend neutrale Ort erscheinen konnte, an dem einst noch Friedensgespräche geführt und Abkommen zum Krieg in der Ost-Ukraine getroffen wurden, ist 2021 kaum noch vorstellbar. Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko hat die Vermittlerrolle spätestens mit der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste in seinem Land verspielt. Die Demonstrationen begannen nach den ​​offensichtlich gefälschten Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020. Sowohl die EU als auch die Ukraine erkennen ihn seither nicht mehr als legitimen Präsidenten an.

    Der russische Präsident Wladimir Putin versucht dagegen, Belarus immer stärker an sich zu binden: Der Kreml betrachtet das Nachbarland, mit dem bereits im Jahr 1999 die Bildung eines Unionsstaates vertraglich vereinbart wurde, als seine Einflusssphäre. Bisher war das Vertragspapier geduldig. Teils besteht ohnehin schon eine enge Zusammenarbeit; im militärischen Bereich wurde sie zuletzt vertieft. Wirtschaftlich und finanziell ist das hoch verschuldete Belarus von Russland abhängig. Ob das Anfang November 2021 unterzeichnete Paket mit 28 Programmpunkten zum Unionsstaat tatsächlich den weiteren Weg ebnet, von dem es kündet, ist offen. 

    Ein weiteres Feld, auf dem sich Lukaschenko jahrelang zurückhielt, ist die Krim-Frage: Seit 2014 hatte er es stets abgelehnt, die durch Russland annektierte ukrainische Halbinsel als russisch zu bezeichnen. Womöglich hatte Lukaschenko Angst, dass ihm und Belarus ein ähnliches Szenario wie der Krim drohen könnte. Allerdings macht Lukaschenko seit einiger Zeit verbale Zugeständnisse an den Verbündeten, stellte Putin Anfang November auch eine Reise zur Krim in Aussicht. In einem Interview mit dem Generaldirektor der Staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja, Dimitri Kisseljow, bezeichnete Lukaschenko die Krim nun erstmals auch als „von Rechts wegen russisch“. 

    Würde Lukaschenko – für ein Treffen mit Wladimir Putin – auf die Krim reisen, so wäre er dort das erste Mal seit der Landnahme durch den Kreml. Ein Schritt, der als offizielle Anerkennung gewertet werden könnte.  
    Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat bereits die Äußerungen Lukaschenkos so gedeutet. Hingegen erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba zunächst, es komme darauf an, ob Lukaschenkos Worten auch Taten folgen würden – wovor er ausdrücklich warnte.

    Was ist von Lukaschenkos Kehrtwende zu halten? Wie sind in diesem Zusammenhang andere scharfe Äußerungen an die Adresse von EU und NATO zu lesen? Und warum rückt der Machthaber damit auch die Lage der Flüchtlinge an der belarussisch-polnischen Grenze in den Hintergrund, während er die Krise zuvor als Druckmittel gegen die EU eingesetzt hat? 

    In einer Analyse für die Online-Plattform Carnegie.ru  geht der politische Beobachter Artyom Shraibman diesen Fragen nach. Dabei beleuchtet er auch, wie die kriegsgebeutelte Ukraine auf eine Krim-Reise reagieren könnte.

    In dem Interview mit Dimitri Kisseljow ließ Alexander Lukaschenko einiges selbst für ihn Sensationelles verlautbaren. Nach siebeneinhalb Jahren Drahtseilakt in Bezug auf die Krim sprach Lukaschenko endlich deutlich aus: „Die Krim ist de facto russisch. Nach dem Referendum wurde sie dann auch von Rechts wegen russisch“. 

    Außerdem kündigte er an, dass Minsk nach 25 Jahren Pause wieder um russische Atomwaffen bitten würde, sofern die NATO – wie Generalsekretär Jens Stoltenberg in Aussicht gestellt habe – Atomraketen von Deutschland nach Polen verlegt.

    Lukaschenko versprach zudem, im Fall eines Angriffs vonseiten der Ukraine „ökonomisch, rechtlich und politisch“ mit Russland an einem Strang zu ziehen, und kündigte gemeinsame Manöver an der ukrainischen Grenze an. 

    Das mit den Atomwaffen gehört natürlich in die Kategorie Hirngespinste. Die NATO hat bisher nicht vor, Atomraketen in Polen zu stationieren (Stoltenberg sprach über hypothetische Szenarien), und die Bereitschaft der Ukraine zu einem Angriff auf Russland hält sich in Grenzen. Doch diese Abfolge kriegerischer, antiwestlicher Statements sowie die maximale Annäherung an die russische Position zur Krim sind in erster Linie ein Signal  – dahingehend, dass Minsk jetzt seine außenpolitischen Prioritäten komplett neu aufstellt.  

    Doch diese Abfolge kriegerischer, antiwestlicher Statements und die maximale Annäherung an die russische Position zur Krim sind in erster Linie ein Signal – dahingehend, dass Minsk jetzt seine außenpolitischen Prioritäten komplett neu aufstellt

    Seit 2014 war Minsk dank Lukaschenkos uneindeutiger Position in der Frage „Wem gehört die Krim?“ nicht nur Verhandlungsort im Ukrainekonflikt, sondern gefiel mit seinem neuen, friedensstiftenden Gesicht auch dem Westen, vor allem mit dem gefährlichen Moskau im Hintergrund. 

    Doch diese Tauwetterzeiten sind vorbei. Die politische Krise seit den Wahlen 2020 das Flugverbot für europäische Flugzeuge im belarussischen Luftraum und Lukaschenkos prorussische Schlagseite machten Minsk als Verhandlungsort ungeeignet. 

    Die Errungenschaften aus den fünf Jahren, in denen Belarus aktiv eine multivektorale Außenpolitik (2014 bis 2019) betrieb, haben ihren Wert verloren. Die Vorteile, die die Distanzierung zu Russland brachte, gibt es nicht mehr. Und es wird sie angesichts des neuen Aufregers – der aktuellen Menschenrechtskrise – auch in absehbarer Zeit nicht geben. Erst recht mit Blick auf die Wucht, die er für den Westen entfaltet. Dafür besteht die Gefahr, Moskau zu verärgern, wenn man in der aktuellen Situation noch Neutralität vorschützt.   

    Heute hängt es vor allem vom guten Willen und den Spendierhosen des Kreml ab, wie friedlich Lukaschenkos verbleibende Jahre im Amt und der anschließende Machttransfer verlaufen werden. Somit hat es jetzt für Minsk Priorität, Moskaus Gunst zu erwerben, auch wenn man dabei ein Minimum an Souveränität preisgibt. 

    Lukaschenko will diese Gunst auf zwei Arten erwerben. Mit starken symbolischen Gesten wie der Anerkennung der Krim und indem er Russland noch tiefer in eine geopolitische Konfrontation mit dem Westen hineinzieht. Für eine belarussische Festung, die stolz den Feinden den Weg nach Moskau versperrt, wird viel lieber Geld gegeben als einem ewig schwankenden Bündnispartner, der einfach nur gut leben, nicht aber seine Wirtschaft reformieren will. 

    Daher achtet Lukaschenko darauf, dass seine Konfrontation mit dem Westen von Moskau nicht einfach nur als Gezanke zwischen kleinen osteuropäischen Staaten wahrgenommen wird, sondern als Teil eines großen Kreuzzugs der NATO gegen Russland und seine Freunde. Das ist der Grund, warum Lukaschenko jetzt so oft verbal mit russischen Säbeln rasselt und versucht, Moskau in seine Streitereien mit den Nachbarn zu involvieren.

    Zuerst erbittet (und bekommt) er ein S-400 Boden-Luft-Raketensystem an der polnischen Grenze, dann bittet er entlang dieser Grenze um regelmäßige Flugmanöver mit russischen Kampfjets – als Reaktion auf den Einsatz polnischer Soldaten an den Hotspots der Migrationskrise. Und schließlich droht er mit russischen Kernwaffen und einem gemeinsamen Krieg gegen die Ukraine, wenn diese zuerst angreift.  

    Es gibt zwei Erklärungen, warum sich solche Äußerungen gerade jetzt häufen und Lukaschenko zu Konzessionen bezüglich der Krim bereit ist. Erstens laufen Verhandlungen über einen neuen Drei-Milliarden-Dollar-Kredit für Minsk bei der Eurasischen Entwicklungsbank, die von Moskau kontrolliert wird.  

    Zweitens empfahl Putin kürzlich bei einer Rede im russischen Außenministerium der belarussischen Staatsmacht überraschend, einen Dialog mit der Opposition zu führen, nicht ohne hinzuzufügen, dass es im Land nach wie vor Probleme gebe, auch wenn sich die Lage äußerlich stabilisiert habe. Lukaschenko reagierte genervt und meinte, solle doch Putin zuerst mit Nawalny verhandeln.    

    Ähnlich wie viele Analysten verstand wohl auch die belarussische Staatsführung Putins Rat als Signal eines gewissen Unmuts. Der vielleicht darin wurzelt, dass Minsk versucht, die sich hinziehende, aber Moskau versprochene Verfassungsreform in einen Hebel zu verwandeln, der Lukaschenko den Machterhalt auf einem neuen Posten sichert. 

    Russland mit irgendetwas unzufrieden sein zu lassen, wäre jedenfalls nicht die beste Idee – jetzt, wo Kredite verhandelt werden und der Westen neue Sanktionspakete verhängt, die man mithilfe des Bündnispartners umgehen will.

    Hätte Lukaschenko die Krim vor 2020 als russisch anerkannt, hätte das bei den westlichen Staaten noch Befremden und bei der Ukraine Zorn hervorgerufen. Mittlerweile hat er in diesen Ländern ohnehin den Ruf eines verzweifelten und illegitimen Despoten erlangt, der im Kampf ums Überleben zu allem bereit ist. In dieser Logik des Abwärtsstrudels der Selbstisolierung war die Anerkennung der Krim unausweichlich.

    Die EU und die USA überhörten seine Worte über die Krim und die Atomwaffen genauso wie die anderen Drohungen

    Bei den Nachbarländern von Belarus – Litauen, Polen und Ukraine – gilt Minsk längst nicht mehr als eigenständiger Player. Aus deren Perspektive waren Lukaschenkos Äußerungen nur eine formale Anpassung des belarussischen Regimes an seine prorussische, marionettenhafte Haltung. Aufgrund der geringen Erwartungen fielen die Reaktionen auf Lukaschenkos Äußerungen auch sonst ziemlich mau aus. Die EU und die USA überhörten seine Worte über die Krim und die Atomwaffen genauso wie die anderen Drohungen. Stattdessen waren alle mit der Vorbereitung und Verabschiedung neuer Sanktionen als Reaktion auf das Organisieren dieser Migrationskrise beschäftigt.  

    Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba antwortete leicht scherzend, es sei sinnlos, auf Lukaschenkos Bewusstseinsstrom zu reagieren, man solle nach Taten urteilen. Offenbar bereitet sich Kiew auf einen diplomatisch deutlichen Einspruch vor, sobald Lukaschenko seine Versprechen hält und gegen ukrainische Gesetze verstoßend auf die Krim fährt.

    Konsequenzen wird es zwar geben, aber man darf keinen Abbruch der ukrainisch-belarussischen Beziehungen erwarten. Es ist durchaus möglich, dass Kiew seine Vertretung in Minsk zahlenmäßig herunterfährt, seinen Botschafter zurückruft und den belarussischen nach Hause schickt. Möglich sind auch neue personenbezogene Sanktionen für Reisen auf die Halbinsel und Handelskriege, doch auf den wichtigsten belarussischen Exportartikel für den ukrainischen Markt – Erdölerzeugnisse – wird Kiew nicht verzichten können.    

    Die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Länder auf dem Erdölsektor besteht seit vielen Jahren. Die belarussischen Raffinerien exportieren rund 40 Prozent ihrer Erdölprodukte – Benzin, Diesel und Bitumen – in das südliche Nachbarland. Im Jahr 2021 übersteigt die Exportsumme zwei Milliarden Dollar.    

    Ersatz ist für die Ukraine derzeit nicht in Sicht. Die eigene erdölverarbeitende Industrie wird gerade erst wieder auf die Beine gestellt. Eine Steigerung des russischen Imports anstelle des belarussischen wäre irrwitzig, wo es doch um die Krim geht. Und Erdölprodukte aus Polen wären zu teuer.  

    Wegen der Krim-Episode wird es höchstwahrscheinlich auch keine extra Sanktionen des Westens geben. Minsk spielt da bereits in einer anderen Liga – Sanktionen werden für die Gefährdung der regionalen Stabilität verhängt, etwa für die Entführung der Ryanair-Maschine oder die Situation mit den Flüchtlingen. Vor diesem Hintergrund sind Lukaschenkos Worte in Bezug auf Russlands Territorialstreitigkeiten mit den Nachbarn zweitrangig. 

    … eine Freundschaftsgeste aus einer Hilflosigkeit heraus, nachdem die multivektorale Außenpolitik keine Früchte mehr trägt, wirkt nicht gerade aufrichtig

    Vielleicht hat Lukaschenko gerade wegen der Erkenntnis, dass er gegenüber dem Westen und der Ukraine im Grunde nichts zu verlieren hat, den Mut aufgebracht, endlich diese vom großmachtsgläubigen Teil der russischen Elite so lang ersehnte Geste zu erbringen.

    Im heutigen Kontext werden Lukaschenkos Äußerungen auch in der Beziehung zum Kreml kaum zu einem Durchbruch führen. 

    Die Unterstützung der russischen Position in Bezug auf die Krim wäre dann entsprechend gewürdigt worden, wenn sie zu einer Zeit gekommen wäre, in der sie Minsk etwas gekostet hätte. Aber eine Freundschaftsgeste aus einer Hilflosigkeit heraus, nachdem die multivektorale Außenpolitik keine Früchte mehr trägt, wirkt nicht gerade aufrichtig.  

    Moskau freut sich natürlich über jede Krise zwischen Minsk und Kiew. Das macht ein abgestimmtes Handeln der beiden Transitländer in der Zukunft unwahrscheinlicher und verengt den Spielraum für Minsker Manöver, die Chance, wieder zu einer Art Multivektorialität zurückzukehren.  

    Bei Lukaschenkos Äußerung zur Krim gibt es, genauso wie bei ein paar weiteren Verbindlichkeiten, die er eingeht, noch ein anderes Problem – nämlich ihre Haltbarkeit nach einem Regierungswechsel.

    Lukaschenkos Legitimitätskrise bedeutet, dass die morgige oder übermorgige Staatsmacht versucht sein wird, sich von manchen Versprechen oder Schritten des vorangegangenen Regimes zu distanzieren. Immer mit Verweis darauf, dass sie ein Usurpator in seinem eigenen Namen unternommen hat. 

    Das ist schon heute aus der Rhetorik der belarussischen Opposition herauszuhören: Von den Verpflichtungen, die Lukaschenko nach August 2020 eingegangen ist, werden wir nur jene erfüllen, die sich für das belarussische Volk lohnen. 

    Und während man wegen der Kredite an Janukowitsch immerhin vor Gericht ziehen kann, so ist das mit einem politischen (und nicht völkerrechtskonformen) Akt wie der Anerkennung der Krim als russisch unmöglich

    Es wird sich zeigen, ob diese Geste aus Minsk Moskau zu finanzieller Freigebigkeit anspornen wird. Dem belarussischen Staat stehen im nächsten Jahr Rückzahlungen in Höhe von 3,4 Milliarden Dollar bevor, 2023 werden es über vier Milliarden Dollar sein. Bedenkt man die Auswirkungen der westlichen Sanktionen und den Stand der Währungsreserven, so wird man ohne neuerliche russische Darlehen nicht auskommen.     

    Im September hat Putin versprochen, Lukaschenko bis Ende 2022 eine Summe von 630 Millionen Dollar zu leihen, was ganz offensichtlich nicht genug ist. Mit Lukaschenkos Krim-Diplomatie und vor allem Putins Scheu davor, seinen Bündnispartner in Bankrott und Chaos zu stürzen, kann Minsk sich daher erlauben, auf mehr zu hoffen.

    Das Problem ist, dass Lukaschenko Moskau immer wieder seine Loyalität wird beteuern müssen, und nach der Anerkennung der Krim als russisches Territorium bleibt an rhetorischen und symbolischen Konzessionen nicht mehr viel übrig.  

    Als nächstes wird er entweder etwas ihm Heiliges opfern müssen – sei es Staatseigentum oder Teile der Souveränität. Oder er muss mit seinen Nachbarländern dermaßen eskalieren, dass der Kreml sich nicht mehr raushalten kann. Derzeit sieht es ganz danach aus, als tendiere Lukaschenko zu Letzterem, und das ist heute die größte Gefahrenquelle für die Region.

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  • Auf Kaperfahrt?

    Auf Kaperfahrt?

    Als die Nachricht die Runde machte, dass die belarussische Ausgabe der russischen Boulevard-Zeitung Komsomalskaja Prawda geschlossen wird, überraschte dies viele Beobachter und Experten. Denn es kommt nicht alle Tage vor, dass sich die belarussischen Machthaber um Alexander Lukaschenko gegenüber dem Kreml mit einer solch weitreichenden Entscheidung durchsetzen. Schließlich ist das russische Stammblatt ein einflussreiches Sprachrohr für die restaurative Politik des Kremls. Dessen Sprecher Dimitri Peskow hatte mit Bezug auf die Pressefreiheit die belarussischen Machthaber noch dazu aufgefordert, die Blockierung der Webseite wieder aufzuheben, als diese nach der Schießerei in Minsk und der entsprechenden Berichterstattung blockiert worden war.

    Die Schließung war kurz darauf verkündet worden, nachdem die Zeitung über eine Wohnungsdurchsuchung in Minsk durch den KGB berichtet hatte, bei der zwei Menschen ums Leben gekommen waren, und kritische Fragen aufgeworfen hatte. Zudem wurde der Journalist Gennadi Mosheiko festgenommen, der den Artikel recherchiert und verfasst hatte. Er befindet sich zurzeit im Gefängnis von Shodino. Von der Staatsanwaltschaft wurde er aufgrund eines Paragraphen angeklagt, der rassistische, ethnische, religiöse oder andere soziale Anfeindungen unter Strafe stellt. Zudem wird ihm vorgeworfen, Repräsentanten der Silowiki beleidigt zu haben.

    Wie kommt es, dass sich das System Lukaschenko mit seiner Taktik gegenüber der russischen Führung durchsetzen konnte? In seiner Analyse für die russische Online-Plattform Carnegie geht der belarussische politische Beobachter Artyom Shraibman dieser Frage auf den Grund. Dabei erklärt er auch, welche besondere Stellung die belarussische Ausgabe der Komsomolskaja Prawda in Belarus selbst hatte.

    Der Kreis der Verbündeten Lukaschenkos in Moskau schwindet schon seit Jahren / Foto © Press Service of the President of the Ukraine unter CC BY 4.0

    Wie schon zu früheren Zeiten hat eine neuerliche Episode in der Eskalation der belarussischen Krise russische Interessen tangiert. Nach dem tragischen Vorfall, bei dem in einer Minsker Wohnung der KGB-Offizier Dimitri Fedossjuk und der auf Seiten der Proteste stehende IT-Fachmann Andrei Selzer bei einem Schusswechsel starben, begannen die belarussischen Behörden einen aktiven Kampf gegen alle, die öffentlich ihr Mitgefühl mit der falschen Seite ausdrückten.

    Neben 200 festgenommenen Social-Media-Nutzern traf es auch die Komsomolskaja Prawda w Belarusi. Auf der Webseite der Zeitung war für wenige Minuten ein Artikel online zu lesen, in dem sich eine Klassenkameradin Selzers positiv über ihn äußerte. 

    Wenige Stunden später war die Seite blockiert, und die Printausgabe wurde umgehend aus den letzten Geschäften, in denen sie noch erhältlich war, entfernt, nachdem bereits im vergangenen Jahr der Vertrieb per Post und über die staatlichen Kioske verboten worden war. Einige Tage später wurde dann der Autor des Artikels, der belarussische Staatsbürger Gennadi Mosheiko, festgenommen. Laut Angaben des Chefredakteurs der Komsomolka, Wladimir Sungorkin, geschah das in Russland, laut belarussischen Strafverfolgungsbehörden im eigenen Land.

    Sungorkin bezeichnete die Geschehnisse als Willkür, andere kremlnahe Medienmanager forderten die Freilassung Mosheikos, der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dimitri Peskow, kritisierte die Sperrung des Internetauftritts der Zeitung. Darüber hinaus kam es jedoch zu keinem ernsthaften Konflikt zwischen den beiden Staaten.

    Die russische Komsomolka entschied sich schlicht für eine Schließung des belarussischen Ablegers. In den folgenden Stellungnahmen sagte Peskow, dass der Kreml die Schließung der Zeitung bedaure, man sich aber nicht in die Minsker Angelegenheiten mit belarussischen Massenmedien und einem belarussischen Staatsbürger einmischen könne. 

    Im Affekt

    Die Schließung der belarussischen Komsomolka und die Festnahme des Journalisten beschloss Minsk im Affekt in den ersten Tagen, wenn nicht Stunden nach der Schießerei. Die belarussischen Machthaber waren schockiert, dass es nach monatelanger Unterdrückung der Proteste jemand erstmalig gewagt hatte, den Sicherheitskräften bewaffnet entgegenzutreten, wofür er von vielen zum Helden erhoben wurde.

    Den am Tatort erschossenen Selzer konnte man nicht mehr bestrafen, aber es stellte sich ein offensichtliches Bedürfnis nach Vergeltung ein. Also begannen Massenfestnahmen, weil viele Kritik an dem getöteten Sicherheitsoffizier äußerten und der Familie des IT-Fachmanns ihre Anteilnahme bekundeten – 200 Menschen wurden festgenommen und angeklagt, viele wurden gezwungen, sich vor laufender Kamera öffentlich zu entschuldigen. 

    Fernsehmoderatoren und regierungsnahe Personen, darunter Parlamentsabgeordnete, riefen zu Vergeltungsmaßnahmen auf: Man solle die Führer der Oppositionsbewegung aus dem Ausland zurückholen, sie nach Mossad-Methoden liquidieren oder „für jeden [Silowik – dek] 20 oder 100 in die Scheiße tunken, damit sich das nicht wiederholt“.

    In solch einer Atmosphäre ist die Veröffentlichung jeder noch so kleinen positiven Information über Selzer in Lukaschenkos Augen eine Todsünde für jedes Medium; und deshalb wurde die Komsomolka umgehend geschlossen, ohne Bedenken und Rücksprache mit Moskau. 

    An dieser Stelle ist wichtig zu erwähnen, dass die belarussische KP mit dem russischen Mutterblatt nicht vergleichbar war – weder agitierte sie gegen den Westen, noch unterstützte sie offen die belarussische oder die russische Führung. Sie war ein neutrales Medium mit einer recht liberal eingestellten Redaktion. 

    Die Zeitung hatte offen und ehrlich über die Proteste berichtet und wurde dafür mit einem Druck- und Verbreitungsverbot belegt. Sie überstand den erzwungenen Austausch des Chefredakteurs und zog sich dann von politischen Themen zurück, um sich vor dem Hintergrund der Zerstörung der letzten unabhängigen Medien im Land das eigene Überleben sichern zu können. 

    Daher war die belarussische Komsomolka für Minsk eine Art Hybrid – einerseits verfügte sie über eine schützende Verbindung nach Moskau, und damit, wie einige meinen, zu Putins Lieblingszeitung, andererseits aber bestand ihre Redaktion aus Belarussen, die offensichtlich nicht mit der eigenen Regierung sympathisierten. Eine Schließung hatte schon länger in den Fingern gejuckt. Nun hatten die Finger ihren Vorwand gefunden, der stärker war als die Besorgnis, damit jemanden in Moskau zu verärgern. 

    Autoritäre Souveränität

    Viele waren überrascht, dass Moskau nur so verhalten auf die Schließung eines bedeutenden Medienbetriebs in einem verbündeten Staat und die Festnahme seines Journalisten reagierte. Hätte einer der prowestlichen Nachbarn – die baltischen Staaten, Georgien oder die Ukraine – eine vergleichbare Ohrfeige geliefert, wäre Russlands Reaktion vollkommen anders ausgefallen. Doch Verbündeten, besonders den autoritären, verzeiht man weitaus mehr als den Gegnern. 

    Der Kreml versteht unter Souveränität das Recht, auf dem eigenen Territorium mit den von der Regierung als notwendig erachteten Mitteln für Ordnung zu sorgen, und respektiert dieses Recht auch bei verbündeten Autokraten. Daher rührt die größere Toleranz gegenüber deren Handlungen, selbst wenn sie russischen Interessen schaden könnten. Vorausgesetzt natürlich, es handelt sich nicht um vorrangige Interessen wie beispielsweise Sicherheitsfragen.

    Lukaschenko hat sich diese Herangehensweise des Kreml zunutze gemacht, ohne irgendwelche Folgen. Als 2013 der Generaldirektor von Uralkali, Wladislaw Baumgertner, zu Gesprächen nach Minsk eingeladen war, wurde er beim Verlassen des Regierungsgebäudes festgenommen und war einen Monat im Untersuchungsgefängnis des KGB sowie im Anschluss noch mehrere Monate in Hausarrest. 2015 lehnte Lukaschenko die Errichtung eines russischen Luftwaffenstützpunktes [in Belarus – dek] ab, 2019 die Vollendung des belarussisch-russischen Unionsstaates. 2017 wurden mehrere allzu prorussische Publizisten inhaftiert. 2020 ließ die Staatsführung drei Dutzend Kämpfer einer privaten russischen Militäreinheit festnehmen, und es wurde ihre Auslieferung an die Ukraine in Erwägung gezogen. Zur selben Zeit wurde die Belgazprombank durchsucht, die von russischer Seite eingesetzte Führung abgesetzt und einige Funktionäre inhaftiert.

    Doch nicht nur Belarus pflegt dieses Know-how, auch Kasachstan verhaftete problemlos prorussische Autoren für den Aufruf zum Separatismus und setzte die Latinisierung der Schriftsprache durch – natürlich zur Unzufriedenheit Moskaus, aber doch unter stillschweigender Hinnahme des Kremls.
    Moskau kann unliebsame Handlungen seiner Verbündeten auf dem Verhandlungsweg abmildern, jedoch geschah dies selten zeitnah und im offenen Konflikt. Lukaschenko wurde häufig verziehen oder es wurde ihm gestattet, sich langsam aus der Situation herauszuwinden, um einen Skandal zu vermeiden. 

    Letztlich zeigt sich hier aber, wie wesensfremd Menschenrechtsrhetorik wirkt, wenn sie von der russischen Regierung kommt. Peskows Erklärung, die belarussische Regierung schränke die Meinungsfreiheit ein, klingt angesichts dessen, was der Kreml in den letzten Monaten bezüglich der Meinungsfreiheit in Russland angestellt hat, wie Selbst-Trolling. 

    Der schwindende Freundeskreis

    Setzt sich die Geschichte mit der Komsomolskaja Prawda nach dem gleichen Muster fort, wie es bei ähnlichen Fällen in der Vergangenheit vorherrschte, dann wird die belarussische Regierung in ihrer Haltung bestärkt, dass man sich durchaus nicht zurückhalten muss, auch wenn es gegen russische Interessen geht. Zum Schutz der Union ist Moskau bereit, vieles zu schlucken. 

    Wichtig ist, die richtigen Schmerzpunkte zu drücken, den Kampf gegen gemeinsame Feinde zu erklären, schnell und rücksichtslos zu handeln und damit das russische Gegenüber vor die Wahl zu stellen: zwischen einem lauten Skandal und einem stillen, wenn auch leicht demütigendem Kompromiss. 

    Die Folgen sind zwar weniger offensichtlich, aber in der langfristigen Perspektive durchaus bedeutsam. Lukaschenko ist schon länger sehr unbeliebt bei einigen Gruppen innerhalb der russischen Führungskader und den ihr nahestehenden Kräften. 

    Die radikalen Nationalpatrioten können Lukaschenko seine multivektorale Außenpolitik nicht verzeihen, etwa die Nichtanerkennung der Krim und die seichte Belarusifizierung innerhalb seines Landes. Im Rohstoffsektor hat man genug von den ständigen Energiekriegen mit Minsk, die jedes Mal mit politischen Vergünstigungen enden, welche dann wiederum mit Komplimenten wie der Zerschlagung der Belgazprombank beantwortet werden. 

    Unter Systemliberalen und Regierungstechnokraten gibt es eine Art ästhetische Ablehnung Lukaschenkos und seines Stils, aber auch eine Verdrossenheit ob ständig neuer Kredite im Austausch gegen wohl portionierte Integrationsversprechen. Einzelne Oligarchen und Wirtschaftsgruppen, wie etwa Uralkali oder die Agrarlobby, hegen eine völlig eigennützige Abneigung gegen Minsk, das auf den gemeinsamen Märkten als direkter Konkurrent Russlands oft die Preise kaputt macht. 

    Und nun demoliert Lukaschenko auch noch sein Verhältnis zum schützenswerten Teil des russischen Mediensektors und dadurch auch zu den Förderern dieser Medien im Kreml. Das russische Machtsystem ist zwar vertikal aufgestellt, besteht aber doch aus einem Konglomerat unterschiedlicher Gruppen. Niemand kann voraussagen, wann die Zahl der minskkritischen Kräfte in Putins Umgebung in Qualität umschlagen wird, doch der Trend ist eindeutig. Der Kreis der Verbündeten Lukaschenkos in Moskau schwindet schon seit Jahren, während die Zahl derer wächst, die von ihm genervt sind

    Für Minsk wird es daher immer schwieriger, in Moskau Geld zu erpressen. Die reale Unterstützung wächst nicht, ungeachtet der völligen Isolation Lukaschenkos im Westen, ungeachtet seiner rhetorischen Kehrtwende in eine prorussische Richtung, der Annäherung im militärischen Bereich und der Unterzeichnung des Unionsprogramms.   

    Selbst wenn Putins Konservatismus, seine sowjetische Nostalgie und sein Unwillen zum Konflikt mit Verbündeten genügen, um die Forderung der russischen herrschenden Elite nach einem härteren Kurs gegen Minsk zu besänftigen, sollte Lukaschenko doch die Daumen drücken und hoffen, dass Putin 2024 auf seiner Position bleibt.

    Jede, selbst die kasachische, Version eines Machtwechsels in Russland wird dazu führen, dass Lukaschenko, egal welchen Posten er dann in Minsk bekleidet, mit denen zurückbleibt, die er all die Jahre nicht zu verärgern fürchtete. Diejenigen, die ihm frühere Vergehen vielleicht verzeihen würden, könnten weit weniger Schlange stehen, als diejenigen, wie aktuell die Führung der Komsomolskaja Prawda, die noch eine Rechnung mit Lukaschenko offen haben.

     

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