Der Videodesigner und Filmemacher Dimitri Kalaschnikow hat aus den besten russischen Dashcam-Videos einen Langfilm produziert. The Road Movie (russ. Titel Doroga) wurde gestern zwar nicht nominiert, stand aber auf der Longlist für die Oscars. Im Interview mit Bumagaerzählt der Regisseur, was einem auf russischen Straßen so vor die Linse kommt und was er daraus gelernt hat.
Wladislaw Tschirin: Wie und wann sind Sie auf die Idee zu The Road Movie gekommen?
Dimitri Kalaschnikow: Mir ist irgendwann aufgefallen, dass Dashcam-Videos aus Sicht des Dokumentarfilms sehr interessant sind. Sie sind nicht einfach nur lustig oder furchtbar, sondern sind dank ihrer Aufnahmetechnik etwas Besonderes. Alles passiert absolut zufällig, niemand steuert die Kamera. So, wie der Fahrer sie montiert hat, bleibt sie auch, und dann vergisst man sie und fasst sie nicht mehr an, bis etwas passiert ist, was man aufbewahren möchte. Komposition, Licht, Perspektive, Handlung und Nebenhandlung – alles ist Zufall.
Komposition, Licht, Perspektive, Handlung und Nebenhandlung – alles ist Zufall
Außerdem fällt das Gefühl weg, dass eine Kamera da ist, die das Geschehen beeinflusst. Was auch immer du beim Dokumentarfilm machst, wie sehr du dich auch bemühst, unsichtbar zu sein und dich der Hauptfigur anzunähern, damit sie sich an dich gewöhnt und nicht mehr auf dich achtet – von der Kamera geht trotzdem eine Wirkung aus. Vielleicht nur eine geringe, aber sie ist da. Bei der Dashcam läuft alles von selbst, und niemand denkt daran, dass das Geschehen aufgenommen und in einem Film gezeigt wird. Auch das Wechselspiel zwischen der realen Umgebung außerhalb des Autos und der Reaktion darauf aus dem Inneren, die wir hören, fand ich spannend. Ich habe Material gesucht, das dieses Wechselspiel wiedergibt. Der Film war im August/September 2016 fertig, ich habe rund ein Jahr dafür gebraucht. Premiere war im November 2016 auf dem Festival IDFA in Amsterdam.
Der Film besteht zur Gänze aus Dashcam-Videos aus dem Internet. Was ist bei so einem Film die Rolle des Regisseurs?
Die Regieführung, also die Anordnung des Materials. Im Dokumentarfilm arbeiten wir mit einer Wirklichkeit, die wir entweder selbst aufzeichnen oder die bereits in dokumentierter Form vorliegt. Das Genre des Found-Footage-Films ist ziemlich alt. Die Methode ist ungefähr dieselbe wie bei Filmen, die aus Archivmaterial zusammengeschnitten werden. Ob man einen Film aus der Wochenschau der 1920er Jahre oder aus Videos des 21. Jahrhunderts montiert, macht wohl keinen wesentlichen Unterschied.
Die Methode ist ungefähr dieselbe wie bei Filmen, die aus Archivmaterial zusammengeschnitten werden
Es war mir sehr wichtig, die größtmögliche Natürlichkeit des Materials zu erhalten. Mein Eingreifen als Autor soll während der Episoden nicht wahrnehmbar sein. Das ist wie bei einer Galerie, in der ich der Kurator bin und die Bilder den Besuchern in einer bestimmten Abfolge präsentiere. Und dann ist es ja auch ein Langfilm, also musste ich mit der Struktur arbeiten. Es entstand etwas Zyklisches: vom Winter zum Sommer, vom Sommer zum Herbst und wieder zum Winter. Darin wiederum habe ich Blöcke mit Nachtaufnahmen eingebaut. Es gibt ein paar Episoden, die mit Musik untermalt sind, nur vier – meines Erachtens sorgen sie für Dynamik und helfen der Struktur des Films, sich zu entwickeln.
Warum ist der Film in den USA im Verleih, aber in Russland nicht?
Weil ziemlich viel nichtnormative Lexik darin vorkommt. Damit ein Film in Russland eine Verleihgenehmigung erhält, muss man die Kraftausdrücke daraus entfernen. Ich finde aber, Mat ist ein wesentlicher Bestandteil meines Films, und es würde viel verlorengehen, wenn man die Vulgärsprache herausnähme. Ich glaube nicht, dass das sinnvoll wäre.
Warum ist so ein Filmformat in den USA auf Interesse gestoßen?
Soweit ich gehört habe, interessiert es die Leute genau wegen der Dashcam-Videos. Die wissen dort, dass es bei uns viele solcher Videos gibt – anscheinend wurde das nach dem Tscheljabinsker Meteor bekannt, der eben zufällig mit Dashcams gefilmt wurde. Vielleicht ist auch Russland ein aktuelles Thema. Und der Film ist für das Publikum … keine Attraktion zwar, aber doch Entertainment. Sehr emotional, oft lustig, oft dramatisch, stellenweise vielleicht auch beängstigend.
Es gibt eine Episode in einem brennenden Wald. Ein Auto fährt auf einer schmalen Straße durch einen Wald, der zu beiden Seiten lichterloh brennt. Im Auto sitzen offenbar drei Personen, die alles kommentieren, dem Fahrer Tipps geben, wie er fahren soll, auf welchem Fahrstreifen. Man hört, wie nervös sie diese Situation macht. Alles wirkt sehr apokalyptisch. Am Straßenrand taucht einmal ein Auto auf, das schon brennt – ich weiß nichts Genaueres, was damit im Weiteren passiert ist. Am Ende fahren sie aus dem Wald heraus auf eine normale Straße, unterwegs kommt ihnen ein Feuerwehrauto entgegen, alles wird kommentiert und reflektiert. Das ist sehr emotional und filmisch.
Was erzählt der Film über Russland und die Menschen hier?
Ich glaube, er zeichnet ein allgemeines Portrait des Landes und des russischen Menschen. Die Leute im Film sind meistens Extremsituationen ausgesetzt. Es ist faszinierend zu beobachten und zu hören, wie sie auf die Geschehnisse reagieren und damit fertig werden. Aber was ich vor meiner Arbeit an dem Film nicht erwartet hätte: Was auch immer passiert, Verrücktes oder Schreckliches – die Leute [in den Videos] bleiben gelassen.
Was ich nicht erwartet hätte: Egal was passiert – die Leute bleiben gelassen
Auf alles reagieren sie mit stoischer Ruhe, sie nehmen das Schicksal hin, das über sie hereinbricht. Natürlich ist es nicht in jedem Fall so, aber eine gewisse Gemeinsamkeit lässt sich doch ausmachen.
Dashcams sind nichts spezifisch Russisches, auf Youtube werden sie aber gerade mit Russland assoziiert. Glauben Sie, man könnte genauso einen Film auch über ein anderes Land machen?
Ja, da geht es wirklich vor allem um Russland und die postsowjetischen Staaten. Abgesehen von Russland sind mir am häufigsten Kasachstan, die Ukraine und Belarus untergekommen. Es gibt ziemlich viele Videos aus den USA und aus einigen asiatischen Ländern wie Thailand und Malaysia, aber das sind deutlich weniger.
Wenn man etwas Verrücktes gefilmt hat, will man das teilen, deswegen gibt es so viele Videos. Der Anteil an Irrsinn ist überall ungefähr gleich
Wenn man eine Kamera montiert und die ganze Zeit filmt, dann kommt einem auf jeden Fall irgendetwas Bemerkenswertes vor die Linse. Wenn man etwas Verrücktes gefilmt hat, will man das teilen, und deswegen gibt es so viele dieser Videos. Aber der Anteil an Irrsinn ist überall ungefähr gleich.
In einer Rezension wurde befürchtet, Sie könnten den Erfolg von The Road Movie nicht noch einmal erreichen, ohne sich zu wiederholen. Was sagen Sie dazu, und welche künstlerischen Pläne haben Sie jetzt?
Ich habe noch nie hauptberuflich Filme gedreht, weil ich noch keinen Weg gefunden habe, damit Geld zu verdienen. Meistens war ich bei kommerziellen Projekten als Videodesigner beschäftigt. Deswegen habe ich seit 2016 keinen neuen Film mehr gemacht. Stattdessen habe ich ein weiteres Studium angefangen – an der Petersburger Schule des neuen Films, in der Werkstatt für Experimentalfilm. Ich möchte in ein Umfeld eintauchen, in dem sich die Leute für Film interessieren und damit arbeiten. Ideen für Projekte habe ich schon, aber ein Drehbuch gibt es noch nicht. Ich werde sicher nicht auf Dashcam-Videos zurückkommen, die interessieren mich nicht mehr, ich kann mir nicht vorstellen, was ich noch daraus machen könnte. Ich möchte andere Arten von Dokumentarfilmen drehen und auch mal Spielfilme versuchen.
Da stehen sie, Aktivisten der Nationalen Befreiungsbewegung (NOD), ein Grüppchen von 10, 15 Leuten, jeder von ihnen hält ein Schild in die Höhe, auf dem stehen Dinge wie „Heimat! Freiheit! Putin!“. Die NOD ist eine politische Randbewegung, ihre Mitglieder, darunter viele Rentner, halten an Putin als Leader fest, gleichzeitig aber hängen sie allerlei Verschwörungstheorien an, hauptsächlich der, dass alles Übel in Russland von den USA gesteuert sei. Politikwissenschaftler sprechen der NOD dennoch eine interessante Funktion zu: Als radikale Kraft lässt sie die Staatsmacht, gegenüber der sie sich stets loyal verhält, gemäßigt erscheinen.
Viel ist über die NOD nicht bekannt. Um mehr herauszufinden, hat sich Bumaga-Journalist Pawel Merslikin ihr angeschlossen – für einen Monat.
I. WIE ICH DER NOD BEIGETRETEN BIN
Petersburg, Uliza Lomonossowa. Hier, an der Ecke zur Uferpromenade der Fontanka, befindet sich eine Filiale der Russischen Zentralbank. Jeden Freitag von 16.30 bis 18.00 Uhr protestieren hier NOD-Aktivisten. Sie sind der festen Überzeugung, die Zentralbank arbeite für die „Feinde Russlands“.
Anfang Mai sind sie nur zu dritt: eine füllige Dame in einem unförmigen Pelz und mit einer Mütze, an der eine große Fellblume prangt, sowie zwei ältere Herren in abgetragenen Daunenjacken. Der eine ist etwa 60, der andere wesentlich älter, er hat einen langen grauen Bart.
Man sieht sie schon von weitem. Die NOD-Mitglieder verteilen Zeitungen mit einem Putin-Portrait auf dem Titelblatt. „Für Russlands Souveränität!“, rufen sie den Passanten hinterher und wedeln mit Fähnchen in den Farben des St. Georgs-Bandes. Die meisten Petersburger beachten sie kaum. Es sind vor allem Rentner, die auf die Aktivisten reagieren. Sie kommen auf das Dreiergespann zu und beginnen ein Gespräch über das Schicksal Russlands.
„Was steht ihr denn hier rum?“, fragt eine ärmlich gekleidete Frau um die 65 die Aktivisten, wobei ihr Blick schnell von einem zum anderen springt. „Für Putin stehen wir hier. Zur Unterstützung.“ „Na, wozu denn dann hier rumstehen? Sind doch sowieso alle für ihn. Meine Freunde und Bekannten, wir alle haben ihn gewählt.“
Die NOD-ler nicken wohlwollend. Man kommt auf die neuesten Nachrichten zu sprechen. Die Aktivisten berichten von NawalnysFilmNennen Sie ihn nicht Dimon. Sie sind überzeugt: Alles, was darin gesagt wird, ist Lüge.
„Nawalny hat in den USA studiert. Er ist ein amerikanischer Agent. Es versteht sich doch von selbst, wessen Interessen er vertritt. Dabei zahlen wir den Amis auch so schon genug Abgaben. Eine Milliarde pro Tag, stellen Sie sich das mal vor!“, erklären die Aktivisten. „Eine Milliarde am Tag? Und warum?“ „So sind nun mal unsere Gesetze.“
Es sind vor allem Rentner, die auf die Aktivisten reagieren
Nach beendeter Diskussion über die „Abgaben an die Amis“ und die „tote“ Jugend von heute bekommt die Rentnerin noch die offizielle NOD-Zeitung in die Hand gedrückt, in der erklärt wird, Russland sei eine Kolonie der USA, dann geht sie. Nun trete ich näher und sage, ich würde gern der Bewegung beitreten.
Man reicht mir ganz selbstverständlich ein abgewetztes Plakat, das die Zentralbank auffordert, den Basiszins auf Null herabzusetzen. Eine Minute später stehe ich damit neben der Aktivistin Tatjana; sie hält ein Plakat, auf dem versichert wird, Lukaschenko arbeite mit den „Ukro-Faschisten“ zusammen.
Es scheint, als hätten sich die NOD-ler heute nur versammelt, um mich willkommen zu heißen. Die Aktivisten wirbeln um mich herum, schütteln mir die Hand und lassen sich einer nach dem anderen mit mir fotografieren. Wenige Minuten später nennen mich die angestammten NOD-ler schon vertraulich Paschenka.
Tatjana sagt zu ihren älteren Gleichgesinnten: „Da seht ihr es, die Jugend kommt. Wir stehen also nicht umsonst hier.“
II. WIE NOD-AKTIONEN ABLAUFEN
Wladimir hat von klein auf vom Meer geträumt. Doch Seefahrer zu werden klappte nicht. Im Laufe seines Lebens hat er ein Dutzend Berufe gewechselt: vom Anschläger bis zum Einrichter für medizinische Geräte. Heute ist Wladimir über 70, seit mehreren Jahren in Rente und hat nach eigener Aussage nur zwei große Aufgaben im Leben: den Enkel zur Schule zu bringen und in den Reihen von NOD für die Souveränität Russlands zu kämpfen. An den großen Traum vom Meer erinnert nur noch die in der Jugend gestochene Anker-Tätowierung auf seinem Handrücken.
Zur NOD kam der betagte Petersburger vor etwa einem Jahr, nachdem er im Netz zufällig auf ihre Seite gestoßen war und ihr Programm regelrecht verschlungen hatte. Nun trifft man Wladimir immer donnerstags auf der Uliza Lomonossowa. Auch bei der traditionellen NOD-Sonntagsdemo ist er dabei.
Bei drei der wöchentlichen Veranstaltungen stand ich Schulter an Schulter mit Wladimir. Sie folgten alle demselben Schema:
Gegen 13.00 Uhr befestigten wir rasch ein mehrere Meter langes, abgewetztes Banner mit der Aufschrift: „Putin ist unser nationaler Leader“. Wir stellten uns dazu, griffen uns einen Stapel Propagandazeitschriften und versuchten sie zu verteilen. Wer keine Zeitungen verteilen wollte, konnte sich aus einem Haufen eines der alten, abgewetzten Plakate nehmen. So stand ich bei den Aktionen unter anderem mit Plakaten a là „USA, Finger weg von der Kiewer Rus“ oder mit einem riesigen Foto von Putin in Pelzmütze mit der Aufschrift „Wie geht’s unserem Alaska?“. Ein unangenehmes Gefühl.
Weg mit der Fünften Kolonne – so lautet eine der Forderungen auf den Plakaten
Für gewöhnlich kamen zu den Piketsdrei bis sechs Leute. An guten Tagen waren es maximal 15 bis 20. Mehr aktive Mitglieder hat die Petersburger NOD offenbar gar nicht. Fast die Hälfte davon sind Rentner mit zu viel Freizeit und Sowjet-Nostalgie. Ansonsten trifft man bei den Aktionen noch eine Handvoll sehr bescheiden gekleidete Petersburger über 40 und ein paar patriotische Studenten.
Ungeachtet ihrer Außenwirkung, sind die Aktionen der Bewegung von innen betrachtet ausgesprochen langweilig. Ihre Atmosphäre erinnert an einen Rentnerplausch auf der Datscha. Über Politik wird nicht diskutiert, meistens wird einfach geschwiegen. Wenn doch mal ein Gespräch aufkommt, geht es um Rückenschmerzen oder die guten Leistungen des Enkels in der Schule.
III. WORAN GLAUBEN NOD-LER?
Die ersten NOD-Aktivisten tauchten im Herbst 2012 auf russischen Straßen auf, kurz nach der Bolotnaja-Geschichte. Die Ideologie der Bewegung ist schnell zusammengefasst: An allem Übel in Russland sind die USA schuld.
Es ist nämlich Amerika, das Gebühren anhebt und neue Steuerabgaben einführt, die Medien kontrolliert und die Staatsduma zwingt, Gesetze zu verabschieden, die Russland schaden. Amerika bringt auch die Schüler auf die Straßen. Außerdem glaubt man bei der NOD, der Maidan und der Konflikt im Donbass seien die Folgen eines im Grunde offenen Krieges, den die USA gegen Russland führen. Der Terroranschlag in der Petersburger Metro sei nur ein Symptom dieses Krieges, so die feste Überzeugung in der Bewegung. Den Aktivisten zufolge sind amerikanische Geheimdienste an der Vorbereitung beteiligt gewesen.
Mit der Theorie über die allmächtigen Feinde aus Amerika erklärt die NOD ausnahmslos alle Probleme in Russland, ohne dabei je von der offiziellen Linie der Regierung abzuweichen. Die protestierenden Fernfahrer erklärt man für geheime ukrainische Terroristen, die demonstrierenden Studenten für Satanisten, und korrupte Beamte für amerikanische Agenten.
Die protestierenden Fernfahrer erklärt man für geheime ukrainische Terroristen, die demonstrierenden Studenten für Satanisten, und korrupte Beamte für amerikanische Agenten
Die Aktivisten sind der Auffassung, die weitreichenden Befugnisse der USA seien gesetzlich verankert: Nach dem Zerfall der Sowjetunion habe Russland eine von „westlichen Beratern“ geschriebene Verfassung angenommen und sei zu einer Kolonie der USA geworden. Seitdem regiere Amerika das Land mithilfe der allgegenwärtigen Fünften Kolonne, der Zentralbank, der Medien und Oppositioneller wie Alexej Nawalny.
Nur eine Handvoll Russen leiste Widerstand gegen die Okkupation, aber der wichtigste Kämpfer gegen die Amerikaner sei selbstverständlich Wladimir Putin, so die NOD-Mythologie. Während seiner 16 Jahre an der Macht habe er viel bewirkt. Doch Russland endgültig zu befreien, sei ihm schlichtweg physisch nicht möglich. „Die Amerikaner würden ihn gleich aus dem Weg räumen. Ja, auch die Staatsduma, in der sich die Fünfte Kolonne breitgemacht hat, würde das nicht zulassen“, erklären mir die NOD-ler anhand ihres Agit-Materials und nennen Putin einen Weltrevolutionär.
Sie sehen nur einen Ausweg aus der Situation: Ein Referendum, mit dem die Verfassung geändert und das Primat des internationalen Rechts und der Verzicht auf Ideologie gestrichen wird. Außerdem: Putin muss uneingeschränkte Macht eingeräumt werden. Indem man beispielsweise Rechtsstrafen für Beamte einführt, die sich nach dem Willen der Amerikaner Putins Befehlen widersetzen.
IV. WER DIE NOD ERFUNDEN HAT
Gegründet wurde die NOD samt ihrer wirren Ideologie von Jewgeni Fjodorow, einem Dumaabgeordneten mit dem Aussehen eines Informatiklehrers.
Wie er sagt, sei ihm immer schon klar gewesen, dass die Amerikaner Russland regieren. „Ja, die Duma verabschiedet nur Gesetze, die im Westen geschrieben wurden. Aber das hat mich nie davon abgehalten, meiner Arbeit nachzugehen. Genauso wenig wie es mich davon abgehalten hat, morgens aufzustehen und mich zu rasieren“, erzählt Fjodorow.
Der NOD-Gründer sagt, es sei ihm immer schon klar gewesen, dass die Amerikaner Russland regieren
Bekanntheit erlangte der Abgeordnete jedoch nicht durch seinen langjährigen Staatsdienst, sondern durch die Niederlagen, die er bei Debatten gegen Nawalny einstecken musste und bei denen erstmals der Slogan „Partei der Gauner und Diebe“ fiel. Außerdem noch durch die Gründung der NOD und durch einige aufsehenerregende Gesetzesvorhaben, die er initiiert hat. Darunter das Dima-Jakowlew-Gesetz, das Gesetz über ausländische Agenten, das Verbot von „Homosexuellenpropaganda“ und viele mehr. All diese Gesetze betrachtet er als Ergebnisse seiner Arbeit im „Hinterland des Feindes“ und als erste Schritte auf dem Weg zur Befreiung vom „amerikanischen Joch“.
Dabei schreibt der Abgeordnete nicht wenige Veränderungen in der russischen Realität sich und seiner Bewegung zu. So hätten, wie der NOD-Anführer berichtet, Aktivisten mehrere Verschwörungen und Revolutionen in Russland verhindert, die Fünfte Kolonne bekämpft und wären sogar an Medienskandalen beteiligt gewesen. Sie hätten beispielsweise den Führungswechsel im Medienunternehmen RBC erwirkt.
Auf dem Papier gibt es in der NOD ein „ideologisches Komitee“, eine Rechtsabteilung, Verantwortliche für humanitäre Spendensammlungen und Zusammenarbeit mit Unternehmern, eine Zeitung und sogar eine eigene, wenn auch wenig aktive Partei Nationaler Kurs. Allerdings tagen die Komitees laut Aussage der NOD-ler nur alle paar Monate. Die Bewegung werde eigentlich von gewöhnlichen Aktivisten aufrechterhalten.
V. WER IST IN DER NOD?
NOD-Gruppen sind derzeit in allen einigermaßen großen russischen Städten aktiv: Sie demonstrieren in Moskau und Nowosibirsk, halten Pikets vor der US-amerikanischen Botschaft in Petersburg ab oder tauchen zwecks Disput bei Aktionen der Opposition in Barnaul auf.
Nicht selten arten diese Streits in Handgreiflichkeiten aus. Allein im letzten Jahr berichteten die Medien von NOD-Angriffen auf Alexej Nawalny, Ljudmila Ulitzkaja, den Petersburger Fotografen David Frenkel und sogar auf Schüler. Die NOD-ler weisen die Anschuldigungen zurück und behaupten, die Angreifer seien keine NOD-ler gewesen. Zudem betonen sie, sie würden ausschließlich mit gesetzeskonformen Mitteln für Russlands Wandel kämpfen.
Insgesamt existieren in Russland mittlerweile über 200 NOD-Gruppen. Die Gesamtzahl der Aktivisten soll nach Angaben der Anführer der Bewegung bei über 160.000 liegen. Wobei Fjodorow und seine Anhänger überzeugt sind: In Wirklichkeit sind es viel mehr. So zählen sie beispielsweise Wladimir Putin zu ihren Mitstreitern – ihn nennen sie den wahren Leader der Bewegung – und den Großteil der Silowiki.
Die NOD sieht auch Wladimir Putin als ihren Mitstreiter – ihn nennen sie den wahren Leader der Bewegung – und den Großteil der Silowiki
NOD-Aktivist zu werden ist ausgesprochen einfach. Es genügt ein Online-Formular auszufüllen oder bei einer der zahlreichen Aktionen zu erscheinen. In Petersburg finden zum Beispiel vier bis fünf NOD-Pikets pro Woche statt.
Ein Neuling sollte allerdings keine aufsehenerregenden Großtaten erwarten. Die Aktivität der NOD beschränkt sich beinahe auf die täglich stattfindenden Aktionen von 3 bis 15 Personen mit Losungen wie „Heimat! Freiheit! Putin!“ oder „Unser Land, unsere Regeln!“, und hitzige Diskussionen neuester politischer Ereignisse in Sozialen Netzwerken.
Waleri, ein kleiner, kräftiger Bauarbeiter von 55 Jahren, kommt regelmäßig zu den Aktionen, ungeachtet seiner gesundheitlichen Probleme und der mehrmonatigen Krankschreibungen. Bei der NOD ist er schon über ein Jahr, davor war er in einer anderen patriotischen Organisation mit verschwörungstheoretischer Schlagseite – der Partei Großes Vaterland(PWO) von Nikolaj Starikow.
„Bei der PWO habe ich in der gesamten Zeit fast 50.000 Rubel [knapp 800 Euro – dek] ausgegeben, stell dir das mal vor!“, beschwerte er sich, während wir gemeinsam auf dem Newski mit einem Plakat zum Ruhme Putins standen. „Hier hingegen gibt es keine Monatsbeiträge, nichts.“
Die Atmosphäre bei NOD erinnere an einen Rentnerplausch auf der Datscha, meint Journalist Pawel Merslikin
Tatsächlich habe auch ich während meiner einmonatigen NOD-Mitgliedschaft gerade mal 500 Rubel [knapp 8 Euro – dek] ausgegeben: Zum 8. März haben wir für ein Weltfrauentagsgeschenk für eine der Aktivistinnen zusammengelegt.
Die Finanz-Situation wirkt sich dennoch aus. Den Großteil der Agitationsmaterialien drucken die Aktivisten auf eigene Kosten, was dazu führt, dass sie jahrelang dieselben Plakate hochhalten und veraltete Zeitungen verteilen. Im März 2017 standen wir mit Materialien aus 2016 bei den Aktionen. „Keine zentralisierte Finanzierung zu haben ist unser Prinzip. Die NOD ist eine Bewegung von unten nach oben“, erläutert Jewgeni Fjodorow. Wobei der Abgeordnete selbst womöglich durchaus über Finanzierungen verfügt.
VI. WAS DIE NOD-FÜHRUNG MIT MILLIONENSCHWEREN FÖRDERUNGEN ZU TUN HAT
Auf Anfrage von Bumaga hat die internationale Antikorruptionsorganisation Transparency International die Finanzierung der NOD analysiert.
Die Experten stellten fest, dass russische regierungsfreundliche Bewegungen, die sich den Verzicht auf eine zentralisierte Finanzierung auf die Fahnen schreiben, ihre Gelder oftmals über ein gut entwickeltes Netz von nicht-öffentlichen, gemeinnützigen Organisationen und Stiftungen beziehen. Beispiele dafür sind Transparency zufolge das Projekt „Set“ oder Ofizery Rossii [dt. Offiziere Russlands – dek]. So ein Finanzierungssystem ermöglicht es, Umfang und Verwendung der erhaltenen Mittel zu verschleiern.
Innerhalb der Organisationen, mit denen der NOD-Anführer Jewgeni Fjodorow in Verbindung steht, finden sich zudem einige, die Fördermittel vom Präsidenten erhalten. So hat zum Beispiel das Institut für Wirtschaft und Gesetzgebung, das auf Fjodorows offizieller Webseite oft Erwähnung findet, bereits drei Mal solche Förderungen erhalten.
Fjodorow selbst räumt zwar ein, dass eine Verbindung zwischen ihm und den Fördermittelempfängern bestehe, hebt jedoch hervor, dass die NOD kein Geld von ihnen erhalten würde. Außerdem verfügt die NOD über zwei Spendenkonten, legt jedoch keinerlei Abrechnungen über die Finanzströme vor. Nach eigenen Angaben erhalte die NOD allein für die Unterstützung von Noworossija monatlich zwischen 47.000 [etwa 740 Euro – dek] und 329.000 Rubel [etwa 5.200 Euro – dek].
Transparency stellt fest, dass an solch einem System de facto nichts illegal sei. Allerdings ermögliche es, Mittel nicht offenlegen zu müssen. Gleichzeitig betonen die Korruptionsgegner, dass die NOD keine hohen Geldsummen brauche, um ihre Aktivität auf dem bestehenden Level zu halten. Nach Einschätzung von Transparency reichten der Bewegung monatlich 300.000 [etwa 4700 Euro – dek] bis 400.000 [etwa 6300 Euro – dek] Rubel.
Einer der Leiter der NOD-Gruppen stimmte dieser Einschätzung im Gespräch mit uns weitestgehend zu und nannte einen Richtwert von 200.000 Rubel [etwa 300 Euro – dek] im Monat.
„Die Zentralverwaltung kann uns nur Bücher, Flyer, Plakate und Fahnen zur Verfügung stellen. Wobei wir den Großteil selbst herstellen: Beispielsweise schmeißen alle je 50 bis 100 Rubel [knapp 1 bis 2 Euro – dek] zusammen – für einfache Druckerpatronen, Papier und solche Sachen. Es gibt eine materielle Ebene, aber das ist nicht das Wichtigste. Ein Gehalt bekommt keiner“, hob er hervor.
VII. WARUM ES DER NOD NICHT GELINGT, GROSSE MENSCHENMASSEN ZU MOBILISIEREN
Der NOD gelingt es nicht, große Menschenmengen für ihre Aktionen zu mobilisieren. So war es auch am 18. März, als die Petersburger Aktivisten den Jahrestag der Krimangliederung feiern wollten. Es kamen keine 20 Personen, und es blieb bei einer Reihe von Einzelpikets auf dem Newski-Prospekt. Am darauffolgenden Tag veranstaltete die NOD eine weitere Demonstration auf der Malaja Sadowaja. Auch zu dieser Aktion kamen wieder nur dieselben 15 Leute.
Wieder nur dieselben Aktivisten – wieder sind an allem Übel die Amis schuld, „Agenten des Westens, raus aus Russland“ steht da etwa.
Für das Scheitern der Krim-Aktion hatte man allerdings sofort eine Erklärung parat: Die Amerikaner sind schuld. „Die haben Poltawtschenko gesagt, es darf keine Massenveranstaltungen geben“, erklärte mir eine der Aktivistinnen und fügte hinzu, auch innerhalb der Bewegung gäbe es Spione, die verhinderten, dass man viele Aktivisten auf die Straße brächte. Dem stimmt auch Fjodorow zu, der immer wieder betont, es brauche noch ein, zwei Jahre bis zum „endgültigen Sieg der NOD“.
Keine noch so große Oppositionsdemo vermag die NOD-ler zu entmutigen. „Da versammeln sich Nawalny-Kämpfer, Schwule, Weißbändchenträger und die Fünfte Kolonne. Natürlich können die diese Großaktionen als Sieg verbuchen. Aber sie gewinnen nur eine Schlacht, wir werden den Krieg gewinnen. Mit jeder unserer Aktionen rückt Russlands Souveränität näher. Es dauert nur noch ein Jahr. Wenn Putin 2018 wieder Präsident wird, ist Schluss mit den Amis“, erzählte mir der betagte Aktivist Waleri und machte sich nach einigen Klagen über Schmerzen in den Beinen und den Streit mit der Ehefrau gemächlich auf den Heimweg von seinem Einzelprotest.
Im Jahr 1990 malte der Moskauer Künstler Dimitri Vrubel an den Überresten der Berliner Mauer sein historisches Bild: den Kuss von Leonid Breschnew und Erich Honecker. Nun, kurz vor dem 44. Jahrestag der Errichtung der Grenze, die Berlin und ganz Europa in zwei Lager teilte, hat sich „bumaga“ mit dem Künstler über den aktuellen Stand der zeitgenössischen Kunst und Politik unterhalten. Warum er in den 2000er Jahren Russland verlassen hat, ob Künstler zu einer Revolution fähig sind und wozu die Avantgardisten die klassische russische Literatur brauchen: Dimitri Vrubel redet über Pawlenski, Tolstoi, die Biennale in Venedig und Angela Merkel in Gestalt von Anna Karenina.
Vor fünf Jahren sind wir (Dimitri Vrubel und Viktoria Timofejewa, Frau und Co-Künstlerin Vrubels, Anm. Bumaga) nach Berlin gezogen. Warum? Politisch und gesellschaftlich begannen nach dem Georgienkrieg in Russland Rückschritte, und wo Rückschritt herrscht, ist die aktuelle Kunst gewöhnlich ständigen Angriffen ausgesetzt; Kunst zu machen wird lebensgefährlich. Noch wichtiger war aber etwas anderes: Jeder Künstler in Russland fängt früher oder später an, immer wieder das Gleiche zu machen. In dem Jahr, in dem wir nach Deutschland übersiedelten, hatten wir den Zenit erreicht: Wir hatten in der Gelman-Galerie ausgestellt und in der Tretjakow-Galerie und standen vor der Frage: Was soll jetzt noch kommen?
Dimitri Vrubel. Fotos von Marija Iwanowa
Ich glaube, meine Kollegen aus Russland nehmen mir das Wort „Zenit“ vielleicht übel. Wir kennen uns alle, sind in den 1980er Jahren aus denselben Wurzeln erwachsen. Doch unsere abweichende Haltung hier hat mittlerweile dazu geführt, dass wir für die Moskauer Kunstszene quasi inexistent sind. Für uns ist das kein Problem, denn die Moskauer Kunstszene ist hier auch in keiner Form vertreten. Auch in Moskau war ich eher ein Einzelgänger: Als die Perestroika begann und sich die wichtigsten Künstler im besetzten Haus im Furmanny Pereulok betätigten, hatte ich schon meine eigene Wohnungsgalerie.
Über die russische Kunst im Westen
In Moskau wird dir keiner sagen, ob du wirklich etwas Neues geschaffen hast oder ob es das schon vor dreißig Jahren in Österreich gab. Sogar mein wunderbarer Kollege Oleg Kulik, der Mensch-Hund – das ist die österreichische Aktionskunst der 1960er Jahre. Russland war jahrelang aus der Weltgeschichte der Gegenwartskunst herausgerissen, und das ist die Antwort auf die Frage, warum es im Westen keine russischen Künstler gibt: Alles ist schon dagewesen. Ein westlicher Künstler muss unbedingt einen eigenen Stil wählen, doch die Wiedererkennbarkeit – ob von Gerhard Richter, Neo Rauch, Keith Haring, Damien Hirst oder wem auch immer – ist das Ergebnis eines sehr langen innerlichen Selektions-Prozesses.
Ich brauchte drei Jahre in Berlin, um zu verstehen, dass sich die russische visuelle Sprache genauso stark von der westlichen unterscheidet wie Russisch von Deutsch. Versuchen Sie mal, mit einem Deutschen russisch zu sprechen: Man wird Sie nicht verstehen. Und danach werden Sie in Ihr Heimatland zurückkehren und sagen: „Mich versteht dort keiner.“ Genau das aber tun sehr viele unserer Künstler und versuchen ihre Botschaft in russischer narrativer Sprache zu vermitteln. Für einen westlichen Menschen ist aber in erster Linie ein „Schlag ins Auge“ interessant und erst dann das Wesen des Bildes. Deshalb gibt es nur zwei russische Künstler, die im Westen vollkommen adaptiert sind: Malewitsch und Kandinsky. Mit Deutschen deutsch zu reden, und sei es nur schlecht, ist weitaus wirksamer, als mit ihnen gut russisch zu reden.
Über Pjotr Pawlenski und die aktuelle Kunst
Keiner meiner Kollegen wagt es, mit aktuellen Nachrichten zu arbeiten. Nirgendwo auf der Welt. Was mich sehr wundert, denn genau das wäre ja aktuelle Kunst!
Mein großes Idol in dieser Hinsicht ist Pjotr Pawlenski. Er arbeitet zweifelsohne mit aktuellen Themen. Seine Performance, bei der er sich den Mund zugenäht hat, war zwar nichts Neues, hat aber interessanterweise die meisten Schlagzeilen gemacht. Als er sich das Ohrläppchen abgeschnitten und ein andermal seinen Hodensack an den Roten Platz genagelt hat, das waren absolut perfekte Aktionen. Wichtig ist vor allem, dass er direkt reagiert und dass er die unglaubliche Fähigkeit hat, mit seinem eigenen Körper zu arbeiten und ihn als Material zu nutzen. Allerdings macht er das im Rahmen der traditionellen Aktionskunst, wir dagegen arbeiten im Rahmen der totalen Kunst.
Die Ereignisse, die ich auswähle, sind Teil meiner Biographie: Ich möchte sie geschichtlich festhalten, zumindest in meiner eigenen Geschichte als Künstler. Wenn mich etwas bewegt, versuche ich, auch andere zu bewegen. Und mithilfe des Bruderkusses, der auch nach 25 Jahren immer noch aktuell ist, erforschen wir die Mechanismen: Wie funktioniert die Kunst, die etwas mit Unsterblichmachung zu tun hat?
Über Anna Karenina, Morphium-Trips und die klassische Literatur
In mein neues Projekt Anna Karenina News ist alles eingeflossenen, womit ich mich in den letzten 40 Jahren beschäftigt habe. Es ist eine alte Idee, ein altes Vorhaben von uns: Nicht durch ein Medium Kunst zu machen, sondern die Kunst selbst als Medium, Nachricht, Meldung zu verstehen. Wir haben systematisch Reaktionen auf verschiedene Themen erforscht, angefangen mit der Politik: Haben ein Bild von Angela Merkel in der Rolle von Anna Karenina veröffentlicht und anschließend virale Bilder, Sport, Erotik. Jedes Bild wird von einem Zitat aus dem Klassiker in drei Sprachen und einer Audio-Spur begleitet. Zeitungen haben wir schon gemacht, Outdoor-Präsentationen sind geplant.
Warum wir mit Anna Karenina angefangen haben? Erstens weil alle sie kennen. Zweitens weil dieses Buch ausnahmslos alle Fragen beantwortet, von der Geburt bis zum Tod. Eine Sache darin hat mich besonders verblüfft. Vor zehn Jahren ging meine ziemlich lange Alkoholpraxis zu Ende. Und ich weiß aus eigener Erfahrung, was ein Alkohol-Drogen-Trip ist. Wenn Graf Tolstoi uns die letzten Tage von Anna Karenina schildert, ist mir klar, dass das nichts anderes als eine Insider-Beschreibung eines heftigen Morphium-Trips ist. Es ist eine Art absoluter Text, durch den all diese Bilder, die eine starke Verbindung zu heute haben, erhalten bleiben auf dem Gebiet der unsterblichen Kunst. Das ist stark.
Projekt Anna Karenina News
Außerdem gibt es so gut wie keine Menschen, die gegen die klassische Literatur wären. Ob Faschisten, Kommunisten, jung, alt, Deutsche, Russen oder Amerikaner – alle sind dafür. Im Unterschied zu einer Zeitung, die morgen schon keiner mehr braucht, existiert hier der Text jenseits der Zeit. Trotzdem ist es kein Evangelium, mit dem wir in unserem Evangelium-Projektgearbeitet haben. Wir wollen derzeit sehen, inwiefern Anna Karenina News total sein kann, um alle Medien- und Kunsträume für sich zu beanspruchen.
Über Kunst für Reiche und für alle
In den 20 Jahren, die Damien Hirst von Andy Warhol trennen, hat sich herausgestellt, dass nicht 1 Dollar (wie Warhol meinte), sondern 100 Millionen ein Kunstwerk sind. Der Höhepunkt der Kommunikation in der aktuellen Kunst ist heute die Biennale von Venedig; Venedig wird im Jahr der Biennale zur teuersten Stadt der Welt. Und das bedeutet, dass die ganze aktuelle Kunst, die in den 1960er Jahren als revolutionäre Kunst geboren wurde, zu einem Spielzeug verkommen ist für die, die das Geld haben, um nach Venedig zu kommen.
Kunst muss man verkaufen. Aber man muss sie auch so platzieren, dass die Format-Bandbreite von einer handgefertigten Kopie des Bruderkusses für sehr viel Geld bis zu Postkarten für fünf Euro reicht. Wenn Kunst schwer erreichbar ist, dann nennt sie nicht „aktuell“ oder „experimentell“, sondern sagt gleich: „nur für Reiche“. Die ideale Kommunikation in der aktuellen Kunst sollte ganz einfach sein: ein Klick.
Über das Russland von gestern und heute
Ich war 29, als ich zum ersten Mal im Ausland landete. Und wo? Gleich in Paris! Aber nach einer Woche dort habe ich begriffen, dass mich dort nichts wundert, dass alles dort so ist, wie es sein soll. So sollen Läden und Straßen aussehen, so sollen Menschen lächeln. Und als ich dann im November nach Moskau zurückgekehrt bin, war das für mich ein furchtbarer Schock. Noch drei Monate war ich völlig durchgedreht wegen dieser absoluten Abnormalität: Alles schnell schnell, gehetzt, auf dem Sprung, und nur ja niemanden wirklich angucken. Warum leben die Menschen so? Heute bemüht sich Russland, Europa zu sein. Es ist auch Europa, aber ein halbfertiges. Im heutigen Moskau spürt man die imperiale Wucht: Alles ist teuer, Staus, riesige Autos. Wenn in Berlin einer einen Geländewagen fährt, dann ist es entweder ein reicher Araber oder ein Zigeunerbaron oder ein Russe.
Ich besuche Russland nicht öfter als ein Mal im Jahr und nur kurz. Dort leben meine drei älteren Kinder und meine beiden Enkelkinder, dort liegen meine Mutter und meine Großmutter begraben. Ich kann kein Urteil über die Veränderungen im Land abgeben: Ich treffe mich nur mit meinen Kindern. Mit denen, die mich besuchen, reden wir immer weniger darüber, wohin sich Russland bewegt. Es reicht, einen Blick in Facebook zu werfen – und schon wird alles klar. Mir ist aufgefallen, dass man in den letzten fünf Jahren praktisch aufgehört hat, offline über Politik zu reden.