дekoder | DEKODER

Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Ab in die Wanne: Lenins Schönheitskur

    Schnell werden die Besucher am aufgebahrten Lenin vorbeigeführt. Wer schon mal im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau war, kennt das Gefühl, in der Kürze der Zeit kaum etwas vom einstigen Revolutionsführer gesehen zu haben. Trotzdem liegt beim Anblick des einbalsamierten Wladimir Iljitsch ein Hauch Oktoberrevolution in der Luft – mit der Lenin und die Bolschewiki vor 100 Jahren die Macht übernahmen.

    Nach dem damals in Russland gültigen julianischen Kalender griffen sie am 25. Oktober 1917 zu den Waffen, nahmen in der Nacht zum 26. Oktober das Winterpalais im damaligen Petrograd ein und stürzten die Regierung.

    1924, nur sieben Jahre später, starb Lenin – und wurde danach zur ewigen Mumie. Wie ist das überhaupt möglich, seinen Körper so lange in einen solchen Zustand zu versetzen? Anastasia Mamina hat sich für Bird in Flight näher angesehen, welche Prozeduren der Körper durchlaufen muss und ob vom echten Lenin überhaupt noch etwas übrig ist.

    "Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb." / Foto © ITAR-Tass 1997
    „Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb.“ / Foto © ITAR-Tass 1997

    Wie alle postsowjetischen Moskauer Kinder besuchte ich das Lenin-Mausoleum so ungefähr in der dritten Klasse. Ich erinnere mich noch, welche Aufregung die Aussicht hervorrief, einen Ausflug zu einer Leiche zu machen, anstatt im langweiligen Unterricht zu sitzen. Wobei, sonderlich beeindruckt hat Lenin mich als Drittklässlerin damals nicht. Er war klein, schmächtig und irgendwie gelb.

    Als man mir den Auftrag gab, darüber zu schreiben, was man mit dem Körper des Revolutionsführers so anstellt, wandte ich mich als Erstes an das Mausoleum und an das Institut, das die Ausschreibung [für die im Jahr 2016 durchzuführende biomedizinische Arbeit am Lenin-Korpus – dek] gewann.

    Dort war mir das Glück nicht hold. Dafür erfuhr ich, dass man für das Ausplaudern von Staatsgeheimnissen gut und gern vier Jahre hinter Gittern landen kann (zahlreiche Dokumente bezüglich Lenins Leiche sind bis heute unter Verschluss – Anmerkung der Redaktion).

    Macht nichts, dachte ich naiv. Dann treibe ich ein, zwei Pathologen auf, einen Biologen aus dem Fachgebiet, mache ein paar Interviews, und der Text steht. Doch ganz so einfach war die Sache nicht.

    Der Biologe Witali (Name geändert) sitzt mir gegenüber und bemüht sich, so zu tun, als verbrächte er seinen Abend am liebsten genau so: mit einer ihm kaum bekannten Journalistin in einem Café.

    „Verstehst du“, seufzt er und zeichnet sanft eine Figur in die Luft, „ich kann gern versuchen, dir mit den Händen zu erklären, was sie mit ihm genau anstellen, aber das kannst du dir auch im Internet ansehen.“

    Ich schüttle den Kopf. „Internet will ich nicht, ich will einen Gesprächspartner. Einen lebendigen mit großen Augen.“

    Witali möchte wirklich helfen, aber er weiß nicht, wie. Er erklärt mir, dass man Lenins Körper mehrfach hintereinander badet: zuerst in einer Glyzerinlösung, dann in Formaldehyd, anschließend folgen einige Alkoholwhirpools, dann Wasserstoffperoxid (zur Aufhellung der Haut, sonst würden sich überall Flecken bilden), essigsaures Natron und Kalium sowie eine Essiglösung. Lenin bleibt länger in der Wanne als jedes Mädchen – bis zu anderthalb Monate. Dafür nur alle anderthalb Jahre. In dieser Zeit ist das Mausoleum zu.

    Bei klirrender Kälte blieb Lenin wunderbar konserviert

    „Das Lustige ist“, sagt Witali und beißt von seinem Croissant ab, „dass man Lenin nach seinem Tod obduziert hat. Sie haben also nicht an eine Einbalsamierung gedacht. Und die wichtigsten Blutgefäße, die Arterien, einfach zerschnitten. Hätte der Pathologe geahnt, dass Lenin noch lange liegen würde, hätte er das natürlich nicht getan. Aber so war das Blutgefäßsystem futsch. Die große Frage war also, wie man die Balsamierflüssigkeit im Körper verteilen konnte. Letztlich machten sie ihm dann Mikroinjektionen, packten ihn in einen Gummianzug, damit nichts herauslief … Warum isst du denn nicht? Deine Suppe ist längst kalt.”

    Schlange stehen für Lenin, im Jahr 1988. / Foto © Tobias von der Haar/flickr
    Schlange stehen für Lenin, im Jahr 1988. / Foto © Tobias von der Haar/flickr

    Nachdem ich mich von Witali verabschiedet habe, öffne ich das Notebook und vertiefe mich in das Jahr 1924, als im Land eine schreckliche Nachricht die Runde machte: Lenin ist tot.

    Nur ein paar schlaue Köpfe verfielen damals auf die Idee, den Revolutionär zu mumifizieren, während die Mehrheit der Regierung das als Barbarei betrachtete. Die Witwe des Verstorbenen, Nadeshda Konstantinowna, bat darum, den Ehemann „normal“ zu bestatten. Das sowjetische Volk erhielt die Gelegenheit, sich von Wladimir Iljitsch zu verabschieden – einige Monate lang blieb sein Leichnam zur allgemeinen Besichtigung aufgebahrt. Lenin war im Januar gestorben und es herrschte klirrende Kälte, sodass der Revolutionär wunderbar konserviert blieb und kaum verweste. Dann berieten sich die Machthaber und kamen zu dem Schluss: Warum Gutes verlieren? Lieber konservieren. Die Verantwortung dafür delegierten sie an sowjetische Wissenschaftler.

    Während ich mich geistig im Jahr 1924 befinde, meldet sich endlich der Pathologe. Ich habe seinen Kontakt von einem Freund bekommen. Hoffnungsfroh öffne ich die Mail.

    Der Pathologe schreibt knapp, er könne mir nicht weiterhelfen, er werde nichts verraten, und wenn ich so dringend etwas über Leichen lesen wolle, gebe es ein hervorragendes Buch, „aber schreib mir nicht mehr“ (und viele Ausrufezeichen).

    Dabei dachte ich, es wird schon nicht so schwer sein, einen Spezialisten für den Tod zu finden. Als mich der dritte Pathologe bat, ihn nicht mehr zu behelligen, musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass ich mich allein mit der Leiche des Revolutionärs herumschlagen würde.

    Es klingt makaber, aber innen ist Lenin hohl

    Dürfte ich den Spezialisten wenigstens eine Frage stellen, würde sie so lauten: „Ist eigentlich noch viel von Lenins Körper übrig? Man sagt, nur die Hände und das Gesicht.“

    Wie sich herausstellte, besteht die Aufgabe der Mediziner keineswegs darin, möglichst viel vom Körper zu erhalten. Lenin schwindet Jahr für Jahr. Die Wimpern beispielsweise sind seit je aufgeklebt, und 1945 verschwand ein ganzes Stück Haut von seinem Fuß. Damals stellten Biologen einen Flicken aus künstlicher Haut her. Später mussten auch Teile des Gesichts nachgebildet werden: So schob man beispielsweise Glasprothesen unter Lenins Augenlider. Und nähte den Mund des Anführers des Weltproletariats zu (was unter dem Bart und dem Schnurrbart leicht zu verstecken ist). Auf diese Weise bewahrt die Mumie ihre Ähnlichkeit mit dem Original.

    Der Hauptzweck der jährlichen Einbalsamierung Wladimir Iljitschs ist es, die physischen Parameter des Leichnams zu erhalten: Aussehen, Gewicht, Farbe, Geschmeidigkeit der Haut und die Beweglichkeit der Gliedmaßen. Der größte Teil von Lenins Hautfett wurde durch eine Mischung aus Karotin, Paraffin und Glyzerin ersetzt – anscheinend ein großartiges Mittel gegen Falten.

    Innen ist Lenin freilich hohl. So makaber es klingt, alle inneren Organe wurden entfernt, das Gehirn der Forschung übergeben, und das Herz soll bis heute im Kreml aufbewahrt werden. Allein die Geschichte, was nach Lenins Tod mit seinem Gehirn geschah, böte genug Stoff für einen Kriminalroman: Man lud eigens einen Wissenschaftler aus Deutschland ein, um das Gehirn zu untersuchen, dieser zerschnitt es in 30 Teile und untersuchte sie – weil er die Genialität des Revolutionärs finden wollte. Jetzt wird Lenins Gehirn (oder das, was davon übrig ist) hinter den schweren Türen des Moskauer Instituts für Gehirnforschung aufbewahrt.

    Seit mehr als 90 Jahren bleibt Lenin unverändert, und dafür muss man sich bei zwei begabten Wissenschaftlern bedanken: dem Chemiker Boris Sbarski und dem Anatomen Wladimir Worobjow. Als Worobjow Lenins Körper zum ersten Mal zu Gesicht bekam, packte ihn die Angst, er winkte ab und erklärte, dass er nichts unternehmen würde – die Aufgabe schien ihm zu schwierig. Doch die Kollegen konnten ihn überzeugen, es doch zu versuchen.

    Sbarskis und Worobjows Aufgabe war wirklich kaum zu erfüllen: Die Wissenschaftler mussten eine eigene Methode finden, um den Leichnam zu konservieren. Die Idee, ihn einzufrieren, verwarfen sie sofort – nicht dass er ihnen plötzlich auftaute. Auch eine Mumifizierung wie im alten Ägypten war keine geeignete Methode: Lenin hätte beinahe 70 Prozent seines Gewichts verloren, seine Gesichtszüge wären entstellt worden, und das durfte nicht geschehen.

    Er musste einbalsamiert werden, und zwar sorgfältig. Um Rat fragen konnte man niemanden. Die Wissenschaftler arbeiteten über vier Monate an Lenins Körper, und letztlich gelang es ihnen, sein Volumen und seine Gestalt zu bewahren. Zuerst durchtränkten sie den Leichnam mit einer Formaldehydlösung, dann legten sie ihn in eine Gummi-Wanne mit einer Lösung aus  dreiprozentigem Formalin, um den Revolutionär ein paar Tage lang darin „einzuweichen“. Am Körper setzten die Wissenschaftler einige Schnitte, damit auch die größten Muskeln durchdrungen wurden. Dann begab sich der leidgeprüfte Wladimir Iljitsch für ein paar Wochen in ein Alkoholbad, dem man schrittweise Glyzerin zufügte. Die letzte Etappe war ein Bad in sogenannter Balsamierflüssigkeit: Glyzerin, Kaliumacetat, antibakterielles zweiprozentiges Chininchlorid.

    Zumindest äußerlich hat sich Wladimir Iljitsch seither nicht verändert. Ein Krieg begann und ging zu Ende, die Sowjetunion brach zusammen, Putin hat eine weitere Amtszeit angetreten, aber an Lenin zieht alles spurlos vorüber. Man hat ihn wirklich gewissenhaft einbalsamiert.

    Der Streit darüber, ob man den Anführer des Weltproletariats bestatten soll, wird weitergehen (kurz gesagt: alle sind dafür, Sjuganow ist dagegen). Die Kommunisten werden rufen, die Bestattung des Leichnams sei liberalfaschistisch, Gläubige werden zu überzeugen versuchen, er müsse unbedingt bestattet werden, weil es sonst unchristlich sei.

    Nur Lenin selbst wird nichts sagen. Er wird schmächtig und gelb in seinem gemütlichen Grab liegen, von 10 bis 13 Uhr Besucher empfangen und sensible Drittklässlerinnen enttäuschen.

    Weitere Themen

    Gorbatschow und die Befreiung von der Lüge

    Der Mythos vom Zerfall

    Der Wendepunkt

    Historische Presseschau: Oktober 1917

    Die Kirschhölle

    Stalins Follower

    Sprache und das Trauma der Befreiung

  • „Ich habe sie im Genick getroffen“

    „Ich habe sie im Genick getroffen“

    Um den 20. Februar 2014 eskalierten die Ereignisse auf dem Kiewer Maidan. Was genau damals geschehen ist, bleibt bis heute in Vielem unklar und gibt Anlass zu Spekulationen, die unversöhnlich aufeinanderprallen. So wird die Verantwortung für die Gewalt und die Opfer oft ausschließlich auf der Seite der Regierungskräfte oder der Demonstranten verortet, obwohl die Realität wesentlich komplizierter ist.

    Kurz vor dem  Jahrestag der Ereignisse hat 2016 im russisch- wie ukrainischsprachigen Internet ein Interview mit einem Maidan-Aktivisten für Aufruhr gesorgt, der berichtet, wie er am 20. Februar 2014 aus dem besetzten Kiewer Konservatorium das Feuer auf die Regierungskräfte eröffnet hat. Die Aussagen des Interviews rücken viele allzu einfache Versionen gerade, lassen selbst aber auch zahlreiche Fragen offen: Welche Rolle haben diese Schüsse gespielt? Waren sie es, die – nach bereits zwei vorhergehenden Tagen voller Gewalt und mit insgesamt 39 Todesopfern – dann weitere Angriffe der Sondereinheit Berkut provoziert haben? Inwieweit sind die Aussagen, die im übrigen mit den später rekonstruierten Fakten im Wesentlichen übereinstimmen (siehe unsere Links unter dem Text), vom Wunsch des Befragten beeinflusst, seine eigene Person in den Mittelpunkt zu stellen?

    Das Interview führte Iwan Sijak von bird in flight, einem Internetmagazin, das auf Russisch in der Ukraine erscheint und eine länderübergreifende Leserschaft besitzt. Das Magazin leitet den Text folgendermaßen ein:

    „In der Geschichte der modernen Ukraine existiert kein wichtigeres Datum als der 20. Februar 2014. Damals wurden auf den Kiewer Straßen 48 Maidan-Aktivisten und vier Milizionäre erschossen. Bald darauf verließ Präsident Janukowitsch fluchtartig das Land, es begann die Krim-Annexion, dann der Krieg im Donbass. Im weiteren Sinne brachte dieser Tag den ersten Schritt zum Verlust von sieben Prozent des ukrainischen Territoriums und von vielen Tausend Leben. 

    Am frühen Morgen des 20. Februar konnte man keines dieser Ereignisse vorausahnen. Es hatte bereits schwere Kämpfe gegeben, bei denen 31 Aktivisten und 8 Sicherheitskräfte umgekommen waren, die Miliz [bis September 2014 war das die Bezeichnung der Polizei – dek] hatte die Protestierenden massiv zurückgedrängt und bezog schon Position auf dem Maidan. Auf dem Platz waren bloß noch einige hundert erschöpfte Aktivisten. Es bestand kein Zweifel, dass der nächste Sturm das Ende des Aufstandes bedeuten würde und dieser als schlichte ‚Massenunruhen‘ in die künftigen Lehrbücher eingehen würde. 

    Seine präzisen taktischen Aktionen schlugen die Sicherheitskräfte in die Flucht und verhinderten den Untergang der Revolution der Würde – mit solch vagen Worten beschreibt die ukrainische Wikipedia die Rolle Iwan Bubentschiks in der Geschichte. Zum ersten Mal erzählte er über die Ereignisse an diesem Tag im Film von Volodymyr Tykhyy Branzi (Die Gefangenen). Im Vorfeld der Premiere traf unser Korrespondent Iwan Sijak den aus Lwiw stammenden Maidan-Aktivisten, um dessen Version der Ereignisse zu erfahren.“

    Iwan spricht Ukrainisch, bird in flight gibt seine Worte auf Russisch wieder.

    „Ich möchte eine Angelschule für Kinder aufmachen. Das war es, worum ich mich vor dem Maidan gekümmert habe. Als in Lwiw die Studenten anfingen gegen Janukowitsch zu protestieren, bin ich hingefahren, um sie zu unterstützen. Alle sagten, man müsse nach Kiew, also bin ich hin. Schwer zu sagen, an welchem Datum genau, aber es war der erste Tag. Ich war vom ersten Tag an auf dem Maidan.

    Zunächst standen wir an der Säule [Denkmal für die Unabhängigkeit der Ukraine], haben die Studenten beschützt. Dann bildeten sich die sogenannten ‚Hundertschaften‘, ich bin der Neunten beigetreten. Wir wohnten in der Gontschar-Straße, im Haus der Partei Narodny Ruch, und sind jede Nacht um halb zwölf runter zur Metrostation unter dem Maidan, als Wachen. Wir hielten alle Ausgänge unter unserer Kontrolle, denn von dort konnten die Sondereinsatzkräfte auftauchen, für Sabotageaktionen oder um die Proteste aufzulösen.

    Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan.

    Ich erinnere mich, an der Gruschewskaja Straße standen die Sicherheitskräfte des Innenministeriums, die ließen uns nicht durch [zum Regierungsviertel]. Wir hatten einen Brief dabei, dass wir Bürger der Ukraine seien und das Recht hätten, uns frei zu bewegen. Haben gesagt, wenn sie unser Recht darauf bis zum nächsten Tag nicht wiederherstellen, werden wir stürmen. Und so kam es auch. Am nächsten Tag flogen schon Steine und Molotow-Cocktails.

    – In den Tagen vor dem 20. Februar haben die Spezialeinheiten von Janukowitsch alles unternommen, um den Maidan zu zerschlagen. Sie legten das Gewerkschaftshaus, das sehr wichtig für uns war, in Schutt und Asche. Wir haben dort gewohnt, geschlafen, haben die Toilette dort benutzt, dort Essen bekommen und medizinische Versorgung. Danach, am nächsten Morgen, gab uns Gott die Chance, ins Konservatorium hineinzukommen. Wir haben einen Roma-Jungen zum Fenster hochgehievt, er hat von innen die Türen geöffnet. Dort konnten wir ein bisschen Schlaf kriegen. Jemand schlief eine Stunde, jemand eine halbe, je nachdem wie viel man eben konnte während der furchtbaren Attacken, die gegen uns im Gang waren. Viele waren verzweifelt, ich aber nicht. Ich glaube fest an die Kraft Gottes und an die Gerechtigkeit.

    Im Konservatorium gab es Jungs mit Jagdgewehren. Die schossen mit Schrot auf die Spezialkräfte, die knapp 70 Meter von uns entfernt waren. Aber ich habe sie von den Fenstern vertrieben, denn als Antwort begann die Miliz das Haus mit Molotow-Cocktails zu bewerfen, sie wollten unseren einzigen Zufluchtsort in Brand setzen. Der Schrot ging denen nur auf die Nerven.

    Ich habe dann gebetet, für 40 Maschinengewehre für den Maidan. Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich zu viel verlange. Also habe ich für 20 gebetet. Und gegen Morgen tauchte dann ein junger Kerl auf mit einer Kalaschnikow und 75 Patronen in einer Tennistasche. Viele würden gerne hören, dass wir die Maschinenpistole den Tituschki abgenommen haben, während der Kämpfe am 18. Februar. Sie hatten damals Waffen erhalten, um uns zu töten. Aber so war das nicht.

    – Ich schoss aus dem vom Maidan aus gesehen letzten Fenster im zweiten Stock, hinter den Säulen hervor. Von hier aus waren die Milizionäre beim Denkmal mit ihren Schilden gut zu sehen. Sie standen gedrängt hinter Sandsäcken, rund 200 Mann, mehr hätten dort nicht hingepasst. Immer wieder stießen Trupps mit Pumpguns vor. Die schossen direkt auf die Barrikaden, knallhart.

    Ich habe auf die gezielt, die das Kommando hatten. Hören konnte ich nichts, aber ich sah sie gestikulieren. Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse. Schießen habe ich in der Sowjetarmee gelernt. Ich habe auch eine Ausbildung beim Militärgeheimdienst gemacht. Wir wurden dort für Einsätze in Afghanistan und anderen Konfliktgebieten trainiert.

    Die Distanz war gering, also brauchte ich für zwei Kommandanten nur zwei Schüsse.

    Ich habe sie im Genick getroffen, heißt es, und das stimmt. Sie standen zufällig mit dem Rücken zu mir. Ich konnte nicht warten, bis sie sich umdrehen. So hatte Gott sie hingestellt, so geschah es.

    Die anderen musste ich nicht töten, nur auf die Beine zielen. Ich verließ das Konservatorium und bewegte mich entlang der Barrikaden. Schoss, um den Eindruck zu erwecken, wir hätten 20 bis 40 Maschinengewehre. Bat die Jungs, einen schmalen Schlitz zwischen den Schutzschilden für mich offen zu lassen. Das wird jetzt mancher nicht gern hören … Die weinten vor Freude. Die wussten, dass wir das unbewaffnet nicht schaffen.

    – Ich kam bis zum Gewerkschaftsgebäude, dann hatte ich keine Patronen mehr. Aber es hatte sich bereits herumgesprochen, und die Sicherheitskräfte rannten davon. Sie warfen alles hin. Sie kletterten übereinander weg wie die Ratten.

    Nicht alle ihre Einheiten schafften es, den Maidan-Aktivisten zu entkommen. Unsere Jungs kletterten über die Barrikaden und sind hinter ihnen her. Sie nahmen Gefangene, Gruppen von zehn, zwanzig Leuten und führten sie hinter den Maidan, Richtung Kiewer Stadtverwaltung. Die aktivsten von unseren Helden verfolgten sie bis zur Institutsstraße, und dann kam bald der Befehl, auf die Demonstranten zu schießen.

    Mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig.

    Das war ein schwerer Moment, denn ich wusste, dass ich die Schüsse gegen unsere Jungs aufhalten konnte. Auf dem Maidan versprachen mir ein paar Leute, Patronen zu bringen – ich sage nicht, wer, aber es waren Personen mit einigem Einfluss. Ich glaubte ihnen, lief hin und her … Das waren die schwersten Minuten meines Lebens, ich war völlig hilflos. Es heisst immer, auf dem Maidan gab es viele Waffen. Aber das stimmt nicht. Niemand hätte sonst zugelassen, dass die Miliz auf unsere Leute schießt. Aus meiner Hundertschaft auf der Institutsstraße sind Igor Serdjuk und Bogdan Wajda umgekommen.

    – Ich verteidige meine Heimat, mein Volk. Als ich keine Patronen mehr hatte, war das für mich, als hätte man einem Chirurgen das Skalpell genommen. Ein Patient braucht dringend Hilfe, doch der Chirurg hat kein Skalpell … Und der Mensch stirbt vor den Augen des Arztes.

    Ich habe in der ATO-Zone Berkut-Leute getroffen, die für die Ukraine kämpfen. Aber ich will nur mit Leuten zu tun haben, die wie ich sind, oder besser. Es gab gewisse brenzlige Momente … Wenn sie bewusst Krieg führen, und nicht für Orden oder Privilegien, dann kann der Krieg eine Läuterung für sie sein. Zu tun haben will ich trotzdem nichts mit ihnen.

    Auf dem Maidan sind wir einen Schritt in die richtige Richtung vorangekommen und um eine Erfahrung reicher geworden, die uns weitermachen lässt. Aber mein Staat ist immer noch kein Rechtsstaat, und seine Sicherheitsorgane halte ich weiterhin alle für unrechtmäßig. Deswegen will ich nichts mit ihnen zu tun haben. Und sie mit mir? Nach der Premiere des Films wahrscheinlich schon.

    Meine Opfer sind Verbrecher, Feinde. Ich muss reden, damit die anderen wissen, was mit Feinden zu tun ist.“


    Informationen und Links:

    Bei der Diskussion darum, wer wann auf wen geschossen hat, darf eines nicht vergessen werden: Gegen friedliche Demonstrationen im November und Dezember 2013 setzten Polizei, Spezialeinheiten und der Geheimdienst SBU brutale Gewalt ein. Währenddessen schwollen die kleinen, pro-europäischen Proteste im November zu einer riesigen, landesweiten Protestbewegung an. Ziviler Widerstand und Selbstorganisation kennzeichneten diese größtenteils gewaltfreie Bewegung, an der russischsprachige Ukrainer genauso ihren Anteil hatten wie ukrainischsprachige. Politiker aus Janukowitschs Lager liefen zur Opposition über, seine Machtbasis bröckelte bereits vor dem 20. Februar. All das kann und soll den Einsatz von Gewalt seitens einiger Demonstranten nicht rechtfertigen. Die Ereignisse müssen aber im Zusammenhang gesehen werden.

    Daher hier einige Links zu Artikeln und Dokumentationen, die die Proteste und ihre Eskalation zu rekonstruieren versuchen. Die Redaktion beabsichtigt dabei keine einheitliche, widerspruchsfreie Darstellung. Angesichts der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Ereignisse ist das auch kaum möglich.

    Die Proteste:
     
    Der 20. Februar 2014:

     

    Weitere Themen

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    An der Polarkreis-Route

    Warum sind Polizisten bestechlich?

    Nach dem Bruderkuss

    Kontakt der Zivilisationen

    Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg