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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Wie ich zum Nazi wurde

    Wie ich zum Nazi wurde

    Was halten Sie von der Idee „Russland den Russen“? Auf diese Frage des Lewada-Zentrums antwortet im August 2020 mehr als die Hälfte der Befragten positiv: Sie halten das für richtig (19 Prozent) oder schränken leicht ein „es wäre nicht schlecht, das umzusetzen, aber im angemessenen Rahmen“ (32 Prozent). Knapp ein Drittel der Befragten dagegen lehnt die Aussage ab.
    Danach gefragt, wie eng sie sich das persönliche Verhältnis zu Zentralasiaten (gemeint sind auch die sogenannten Gastarbaitery) vorstellen könnten, antworten nur vier Prozent, dass Zentralasiaten als Mitglieder der eigenen Familie für sie denkbar seien. Die Mehrheit findet, man sollte sie gar nicht oder nur zeitlich begrenzt nach Russland lassen.

    Auch wenn zahlreiche rechtsextreme Organisationen und Publikationen in Russland inzwischen verboten sind: Wie schmal ist der Grat zwischen einer weit verbreiteten Fremdenfeindlichkeit und rechtsextremer Gewalt? Das Online-Medium Batenka fordert seine Leser regelmäßig auf, eigene Geschichten zu erzählen: ungewöhnliche, traurige oder lustige. In Wie ich zum Nazi wurde gibt ein junger Russe den Batenka-Journalisten Anastasia Sadowskaja und Konstantin Waljakin zu Protokoll, wie er als Jugendlicher zum Skinhead wurde – und schließlich aus der rechtsextremen Szene wieder herausfand. 

    Der Text hat uns übrigens auf sprachliche Unterschiede im Russischen und Deutschen aufmerksam gemacht, die man beim Lesen wissen muss: „Faschisten“, faschisty, das sind im Russischen die deutschen Nationalsozialisten. „Nazis“, nazisty, dagegen sind nicht unbedingt deutsch, sondern das, was man im Deutschen mitunter als „Faschos“ oder „Rechtsextreme“ bezeichnet.
     

    Illustration © Julia Prokopowa/Batenka
    Illustration © Julia Prokopowa/Batenka

    Als Kind hörte ich die Geschichten der Erwachsenen über den Krieg und die bösen Faschisten, aber vom Respekt vor anderen Nationen hat mir ehrlich gesagt nie jemand was erzählt. Man hat mir nicht beigebracht, dass alle Menschen gleich sind. Im Gegenteil, im Fernsehen sah ich von klein auf Reportagen über Terroranschläge kaukasischer Rebellen, und dann lief der Comedian Sadornow: Zuerst riss er Witze über die dummen Amerikaner, dann fing er von der Bühne herunter davon an, dass die Protorussen – slawische Arier – alle europäischen Länder gegründet hätten.

    Mein Vater war beim Militär und hatte immer ziemlich rechte Ansichten. Nein, er ist kein Hitler-Verehrer und schmiert sich nicht mit Hakenkreuzen voll, aber er glaubt an die Einzigartigkeit der russischen Nation. Er hat in Tschetschenien gekämpft und dann noch irgendwo und war fast nie zu Hause, als ich klein war. Mich hat meine herzensgute und gebildete Mutter aufgezogen. 

    Meine Familie lebte in einem Moskauer Stadtteil mit vielen Armeniern und Aserbaidshanern. Und in der Nähe gab es tatsächlich vier Wohnheime für Vietnamesen. Von klein auf assoziierte ich sie mit Betrügereien und Dreck. Die nichtrussischen Kinder im Hof waren unverschämt, es gab immer wieder Konflikte. Ich erinnere mich, wie mich ein aserbaidshanischer Junge von der Schaukel schubsen wollte, und ich hab ihm eine reingehauen. Meine Großmutter, die bei mir war, hat mich damals sogar gelobt: Ich könne für mich einstehen.

    Wenn man sich vorstellt, dass rechte Anschauungen ein Haus sind, dann ist die ganz alltägliche Fremdenfeindlichkeit sein Fundament. Wenn mein Alter von seinen Einsätzen nach Hause kam, dachte ich mir, es gibt auf der Welt keinen cooleren Menschen. Jedes seiner Worte war für mich eine Offenbarung. Als ich größer war, redeten wir oft über Politik. Manchmal kam ich in die Küche und blieb stundenlang dort und hörte mir an, was in unserem Land früher passiert war. Er erzählte mir, dass die Ukrainer und die Balten „Verräter“ seien und erklärte, wie wichtig es sei, stark zu sein und sein Volk und seine Heimat zu lieben. Oft lobte er Putin – dafür, dass er „es erlaubt hatte, nach Tschetschenien zurückzukehren und das Begonnene zu Ende zu bringen“. 

    Mein Vater erzählte mir, dass die Ukrainer und die Balten ‚Verräter‘ seien und erklärte, wie wichtig es sei, sein Volk und seine Heimat zu lieben

    Mein Vater ist kein dummer Mensch. Im Gegenteil. Er ist immerhin Oberstleutnant und hat in Spezialeinheiten gedient und in Hotspots gekämpft, ohne Köpfchen hätte er das nicht überlebt. Er ist einfach in der sowjetischen Einöde aufgewachsen, unter kriminellen Halbstarken, und ist daran gewöhnt, alles mit Gewalt zu lösen. 

    Bis zur sechsten Klasse war ich ein lieber, aber schüchterner, verschlossener Junge. Ich habe Sport gemacht – Schwimmen und Boxen. In der Schule hatte ich nur Einsen. Habe Klavier gespielt. Doch dann kam ich auf eine neue Schule und kam mit niemandem mehr klar. Ich kam mit Gleichaltrigen überhaupt nicht zurecht, fühlte mich unsicher und wurde schnell zum Außenseiter. Bald entstanden Hass und Neid. Ich wollte, dass die anderen mich mochten, dass sie mich beachteten, besonders die Mädchen. Doch niemand wollte mich. 

    Mit 16 habe ich zum ersten Mal von Extremisten gehört. In Russland hatte es damals gerade Proteste am Manegenplatz gegeben. Die Bewegung war im Aufschwung. Nazis, Skinheads, Hooligans gab es haufenweise. „Russische Märsche“ fanden statt, regelmäßig auch Massenschlägereien, und die Nachrichten meldeten nationalistisch motivierte Morde.

    Ich war ein Teenager, Gewalt und Aufstand fand ich total geil. Solche Sachen imponieren, vor allem, wenn du beleidigt und aggressiv bist. Aber es war auch einfach ganz normaler Protest. Der Nazi ist der Gesellschaft schlimmster Feind. Wenn man in die Suchmaschine „Tätowierungen Häftlinge“ eingibt, findet man viele Tattoos mit Hakenkreuzen. Und das nicht, weil im Knast die Naziideologie beliebt wäre. Das Hakenkreuz ist ein Attribut des Protests gegen das System.  

    Ich war einsam, wütend und voller Komplexe. Ich wollte was Besonderes sein, wie die durchtrainierten Schönlinge, die von allen gemocht wurden. Und ich glaubte, meine Probleme kämen davon, dass ich zu lieb war. Die tragende Säule für ein Haus aus Hass ist jugendliche Einsamkeit. Na, und die Schweißnähte an den Trägern sind die Komplexe.

    Das Hakenkreuz ist ein Attribut des Protests gegen das System

    Irgendwann ließ ich den Gedanken zu, dass der Nazismus vielleicht gar nicht so böse ist, wie ihn die Erwachsenen immer darstellen. 

    Zuerst brachte ich nur symbolische Unterstützung zum Ausdruck: Ich zeichnete Hakenkreuze, hörte Nazimusik. Doch bald schon stand ich erstmals richtig dafür ein: Ich befestigte an der Armbinde des Pausenaufsehers ein rundes Stück Papier mit aufgemaltem Hakenkreuz. Dann ging ich zusammen mit einem Freund in der Schule herum, und wir machten den Hitlergruß – das fanden wir lustig. Aber bald erwischte uns eine Lehrerin, und ich bekam bei der Kinder- und Jugendstelle der Polizei einen Eintrag – wegen Rowdytums.  

    Nach der Geschichte mit der Polizei flog ich von der angesehenen Schule im Zentrum von Moskau und kam in eine einfachere Schule, wo ich das Lernen komplett sein ließ. Ich ließ mir die Haare schneiden wie bei der Hitlerjugend und marschierte in Springerstiefeln, schwarzem Hemd und Hosenträgern durch die Korridore. Mehr und mehr faszinierte mich die Idee eines Rassenkrieges, davon erzählte ich in den Pausen ständig, und im Biologieunterricht hielt ich sogar mal ein Referat darüber, warum Mulatten schlechter seien als Reinrassige. Der Lehrer gab mir eine Eins, besser wäre gewesen, er hätte mich damals schon der Polizei ausgeliefert.     

    Zu Hause war meine Mutter entsetzt über meine Anschauungen, sie schimpfte mit mir, konnte aber nichts tun. Mein Alter hingegen nahm das alles mit Wohlwollen auf, sagte, ich trete in seine Fußstapfen. Manchmal motzte er halt über die Hakenkreuze, wiederholte, ich bräuchte andere, russische Symbole: „Das Dritte Reich – das waren Schlappschwänze“, und „die Russen sind stärker als alle anderen“. Einmal hat sich die Geschichtslehrerin beim Elternsprechtag zu beschweren versucht, dass er einen Faschisten aufziehe. Er hörte ihr zu und sagte ruhig: „Keinen Faschisten, einen Nazi. Eine Geschichtslehrerin sollte den Unterschied kennen.“      

    Im Biologieunterricht hielt ich mal ein Referat darüber, warum Mulatten schlechter seien als Reinrassige. Der Lehrer gab mir eine Eins

    Auch unter meinen Altersgenossen wurden rechte Ideen immer beliebter. Die einen prügelten sich bei Fußballkrawallen, die anderen fanden sonstwo Anlässe, Stunk zu machen. 

    Meine Mitschüler begannen mich zu beachten, ich hatte jetzt Freunde. Einer trug so wie ich schwarze Hemden, wir kauften uns gemeinsam Anstecker mit Keltenkreuzen. Ich fühlte mich selbstsicherer, doch das mit den Mädchen brachte ich nach wie vor nicht auf die Reihe. Da lief irgendwie nichts, und das belastete mich sehr. Mit der Zeit begann ich zu glauben, dass mit mir etwas nicht stimmt. Einmal ertappte ich mich in der Garderobe des Schwimmbads dabei, dass ich meinen Blick nicht losreißen konnte von den nackten Jungs, wobei es mich weiterhin zu Mädchen hinzog. Ich setzte mich mit dem Thema auseinander und merkte, dass ich bisexuell bin, fand das aber alles falsch, nur konnte ich nichts dagegen tun.  

    Homosexualität war nirgendwo akzeptiert. Mein eigener Vater sagte, Schwule gehörten umgebracht. Ich las Naziliteratur, in der beschrieben wurde, wie die Nazis Schwule in Konzentrationslager gesteckt hatten. Mit doppeltem Eifer und doppelter Wut stürzte ich mich darauf, diesen ganzen Kram durchzuarbeiten, um in mir selbst zu vernichten, was nicht richtig war. 

    Ich merkte, dass ich bisexuell bin, fand das aber alles falsch

    Gegen Ende der Schulzeit begann ich mit einem Kumpel die Planung einer eigenen Nazi-Organisation. Wir wollten eine auf Propaganda und direkte Aktionen spezialisierte Zelle gründen. Alle Skins verprügelten damals Nichtrussen, zur Abschreckung. Die Logik ist einfach: Angst hindert einen daran, sich zu Hause zu fühlen. Wir fanden das richtig so. Schlussendlich wären sie alle eingeschüchtert und würden abhauen, dachten wir, während wir uns nach der Schule auf der Straße herumtrieben. Wir waren eine ganz normale Gang, ein Trüppchen angefressener Halbstarker, die ein bisschen gemein waren und über die Großtaten in der Zukunft schwadronierten. Und dann begegneten wir echten Skinheads.   

    Wir trafen sie auf einem Platz, wo Freaks aller Art rumhingen. Ich weiß noch, wie sie näherkamen und auf mich aufmerksam wurden. Ich hatte mir an dem Tag eine Glatze rasiert. Ich trug eine Bomberjacke, Springerstiefel und ein Shirt mit dem Reichsadler. Sie taxierten mich, ich durfte mitkommen. Alle hatten eine Glatze, Bomberjacken, Doc Martens. Sehr cool, wie aus dem Bilderbuch. 

    Wir machten uns auf den Weg rund um den Platz – hielten Ausschau nach Nichtrussen oder Antifaschisten. Fanden auch welche. Wir fielen mitten auf der Straße im Rudel über sie her, vermöbelten einen Tadshiken und besprühten ihn mit Pfefferspray. Ich fühlte mich damals einfach unendlich stark. Die Skinheads luden mich ein, mit ihnen abzuhängen. Da waren auch Mädchen dabei. An diesem Tag war ich glücklich. Endlich hatte ich das Gefühl, dass ich gefunden hatte, was ich suchte.

    Unsere Freundschaft währte nicht lange. Ein paar Wochen später brachte einer von ihnen einen Kirgisen um. Er wurde eingesperrt, und die Behörden knöpften sich unsere Gang vor. Wir alle tauchten ab und hielten die Füße still. Ich war wieder allein, aber jetzt wusste ich, was ich wollte, und begann, im Internet nach Skinheads zu suchen. 

    Wir vermöbelten einen Tadshiken und besprühten ihn mit Pfefferspray. Ich fühlte mich damals einfach unendlich stark

    Ein paar Monate später kam einer meiner rechten Kumpel von der Armee zurück – ein Gopnik, der nach Begriffen lebte. Er trat unserer winzigen Organisation bei, und wir begannen, weitere Mitglieder anzuwerben. Wochenlang lernten wir ständig neue Leute kennen, tauschten uns aus, tüftelten daran herum, wie die Organisation funktionieren sollte, und schmiedeten Pläne. Es hatte sich schon ein ganzer Haufen Schüler und Freaks gefunden, die mitmachen wollten.    

    Ich war zu der Zeit mit der Schule fertig und ging zur Berufsschule. Studieren wollte ich nicht. Von klein auf hatte ich daran gedacht, Regisseur zu werden oder Drehbuchautor, aber für die Filmhochschule hatten meine Eltern kein Geld, und mein Schulabschluss war nicht so berauschend ausgefallen. Ich sah keine Perspektive, schwänzte den Unterricht und konzentrierte mich auf die Nazibewegung. Da taten sich auch Wege auf. Ich hatte für die Zukunft drei Szenarien im Kopf: Ich komme in den Knast, ich werde umgebracht oder es bricht endlich der Rassenkrieg aus. Das Gefängnis schreckte mich nicht ab: Bei Ultrarechten tragen Knastis den Ehrentitel Gesinnungshäftlinge und werden als Helden gefeiert. Für sie legen alle zusammen und schicken ihnen Päckchen ins Gefängnis. So ein Häftling zu sein, verschafft einem in der Szene ordentlich Ansehen. Deswegen wünschten sich viele ein solches Schicksal, und ich habe mir oft ausgemalt, wie ich mich verhalten würde, wenn mich das Gericht zu einer Haftstrafe verurteilt. 

    Ich hatte für die Zukunft drei Szenarien im Kopf: Ich komme in den Knast, ich werde umgebracht oder es bricht endlich der Rassenkrieg aus

    Unsere Gang wuchs, wir bekamen immer mehr Mitglieder. Manchmal gingen wir „angeln“, wie wir das nannten. Wir suchten auf den Straßen Nichtrussen und attackierten sie. Uns schlossen sich Leute an, die ich vom Sehen schon lange kannte. Auch Skinheads aus den Vorstädten trafen wir damals. Das waren knallharte Typen. Die kauften sich Schraubenzieher und Hammer und machten sich allen Ernstes ans Ermorden von Tadshiken. 

    Mit bestialischem Hass droschen sie auf Nichtrussen ein. Sprangen auf ihre Köpfe, stachen mit Schraubenziehern auf sie ein. Sie machten mir Angst, aber bis zu einem gewissen Grad beneidete ich sie auch: Sie waren gnadenlos in ihrem Kampf, und ich konnte das nicht. Mir taten die Menschen leid, die wir angriffen. Da hatte wohl die Erziehung gegriffen. Es war schwer, jemanden einfach niederzuschlagen. Mir reichte es schon, jemandem einen Fußtritt zu verpassen, dass er zu Boden fiel, und wegzulaufen. Schon in der Schule hatte ich gedacht, das sei meine Weichheit und Sentimentalität – alles Zeichen von Schwäche und Feigheit. Dass alle meine Probleme daher rührten, dass ich nicht hart sein kann. Und immer wieder versuchte ich, das aus mir rauszukriegen, und es stresste mich, dass ich es auch hier nicht schaffte, in letzter Konsequenz meiner Ideologie zu folgen. 

    Zu diesem Zeitpunkt war ich von meiner Rolle als Organisator der Gang auf eine zweitrangige Position herabgesunken. Mein Freund aus der Armee führte eine militärische Ordnung ein: mit Disziplin, Befehlen und absolutem Gehorsam. Er war kein Unmensch, griff selbst nur selten jemanden an, aber er machte Gruppentrainings mit uns, brachte uns Nahkampftechniken bei und leitete uns zum Kraftaufbau an. Wer es wagte, seine Befehle zu überhören, bekam ein paar Schläge von den Kameraden – zur Mahnung.

    Ich dachte, dass alle meine Probleme daher rührten, dass ich nicht hart sein kann

    Ich konnte mich an so etwas nicht gewöhnen und weigerte mich irgendwann, seinen Anweisungen zu folgen. Das war einmal meine Organisation gewesen, ich war der Meinung, wir wären auf Augenhöhe. Da passten mich ein paar Kameraden hinter den Garagen ab und hauten mir voll in den Magen. Da beschloss ich zu gehen. Und bald zerfiel und zerstreute sich auch der Rest der Gang. 

    Allein blieb ich nicht. Die harten Skins aus den Vorstädten, die in unsere vorherige Gang nie aufgenommen worden waren, wurden nun meine Freunde. Wir hatten eine eigene kleine Bande, sie machten Angriffe und Aktionen, während ich weiterhin Ideen sammelte und vorantrieb und den einen oder anderen prominenten Nazi kennenlernte.   

    Meine Überzeugung von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges geriet erstmals ins Wanken, als ich einen der wichtigsten russischen Nazis kennenlernte – Roman Shelesnow. 

    Suchel, wie er in der Bewegung genannt wurde, biederten sich alle an, aber mich stieß seine Persönlichkeit von Anfang an ab: sein dämlicher, watschelnder Gang, seine Großtuerei, der Riesenwind, den er um sein Messer machte. Ständig erzählte er Schauermärchen, wie er einen Tadshiken geköpft hatte, und dauernd prahlte er damit, dass er als Arbeitsloser mit Knastvergangenheit von Abgeordneten Geld kriegt. Shelesnow machte kein Hehl daraus, dass er und seine Freunde von Leuten aus Parlamentsparteien finanziert wurden. Genauso wie der ganze Rest der Bewegung – BORN, DPNI, die Slawische Union und andere Organisationen, die als extremistisch eingestuft und jetzt auf dem Gebiet der Russischen Föderation verboten sind.  

    All das stand in scharfem Kontrast zu dem, was auf seiner Website stand und was er seinen Anhängern öffentlich vermittelte. Ich konnte das Bild des flammenden Orators vom Russischen Marsch nicht mit diesem Prahlhans in schicken Klamotten von Thor Steinar und Stone Island zusammenbringen.     

    2013 war die Bewegung im Aufschwung. Täglich entstanden neue Organisationen. Ständig fanden rechte Veranstaltungen, Konzerte und Russische Märsche statt. Auf dem regimenahen Forum Seliger versammelten sich Mitglieder der Partei Anderes Russland, die eng mit der Naziszene verbunden ist. Sie posierten dort mit Flaggen der Volksrepublik Donezk – 2013 schon, ein Jahr vor der offiziellen Gründung von Noworossija.  
    Während ich die Bewegung von innen betrachtete und analysierte, hinterfragte ich immer öfter, was wir da tun. Mir war es immer unangenehm gewesen, Leute zu verprügeln, aber ich glaubte daran, dass das notwendig sei für die Rassenhygiene. Ich glaubte daran, dass wir eine politische Kraft sind, dass wir die Welt verändern. Als ich Verdacht schöpfte, dass die Skinheads benutzt werden, zweifelte ich immer mehr am Sinn unseres „Angelns“. Bei allem, womit ich mich beschäftigte, drängten sich mir immer mehr Fragen auf. Tatsächlich waren die Skinheads – Verteidigung und Stütze der weißen Rasse – selbst nicht die besten Vorbilder.   

    Für mich waren die Nazis eine Hochburg der Sittlichkeit in einer fauligen Welt. Ich glaubte, sie würden für traditionelle Werte eintreten: Familie, Kinder und so was. Doch in der Nazibewegung gab es diesbezüglich viel Scheinheiligkeit.

    Irgendwann wurde mir klar, dass ich im Großen und Ganzen nur mehr aus Gewohnheit dabei war, vor allem wegen meiner Freunde. Wir hatten eine gute Zeit zusammen, schworen einander ewige Bruderschaft, feierten Feste, machten einander Geschenke. Wir nannten einander Familie: Wir begingen Verbrechen, spielten Videospiele, machten zusammen Kampftraining und fuhren gemeinsam in den Urlaub.     

    Ich glaubte aufrichtig, sie seien meine Freunde. Ich hatte immer Sehnsucht nach ihnen. Ich dachte, es gäbe keine besseren Menschen auf der Welt, doch eines Tages brach alles zusammen.

    Irgendwann wurde mir klar, dass ich im Großen und Ganzen nur noch aus Gewohnheit dabei war

    Es heißt, es gibt zwei Dinge auf der Welt, die das Schlimmste sind, was passieren kann: Nicht zu kriegen, was man will, und zu kriegen, was man will.

    Ich träumte von einer großen, schönen Liebe. Von einem Mädchen. Und sie trat in mein Leben. Sie war auch Nazi. Ich war 19, sie 24. Sie war Witwe und hatte ein Kind. Ich liebte sie von ganzem Herzen. Wir hatten leidenschaftlichen Sex, und ich dachte, wir würden eine richtige Familie.  
    Ihr konnte ich alles erzählen. Ich vertraute ihr an, dass ich nicht nur auf Frauen, sondern auch auf Männer stehe. Erstaunlicherweise nahm sie das gelassen zur Kenntnis und versprach mir, mein Geheimnis für sich zu behalten. Die Möglichkeit, mich nicht zu verstecken und ganz offen zu sein, stieg mir zu Kopf. Zum ersten Mal im Leben konnte ich mich jemandem anvertrauen und war richtig glücklich. Ich ging so aus mir heraus, dass ich ihr meinen Wunsch gestand, mit einem anderen Mann zu schlafen. Ich weiß auch nicht, wie es dazu kam. Ich war wie betrunken. Stellt euch mal vor: Das ganze Leben kriegt ihr zu hören, dass etwas schlecht ist, und ihr träumt immer davon, es auszuprobieren.

    Sie sagte, sie würde sich freuen für mich, und so fasste ich den Entschluss. Ich fand einen Mann außerhalb der Szene, der mit mir schlafen wollte, und machte sogar ein paar Beweisfotos. Mannomann, die Fotos waren heiß. Dagegen kann man nichts sagen. Sie meinte, sie hätte nie etwas Erregenderes gesehen, und wir unterhielten uns noch endlos lang über mein und ihr Leben.  

    Nach gar nicht allzu langer Zeit war meine Liebe aus meinem Leben verschwunden. Wir hatten wegen irgendeinem Quatsch gestritten und den Kontakt abgebrochen, und von gemeinsamen Bekannten erfuhr ich, dass sie einen anderen hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich wieder meinen Nazisachen zu widmen, aber jetzt schon als ganz anderer Mensch. 

    Ich fühlte mich leer, hatte zu nichts Lust, wollte einfach alles hinschmeißen und alles überdenken, meine Gedanken ordnen. Mein Leben als Nazi machte mir keinen Spaß mehr, außerdem waren meine Eltern drauf und dran, sich scheiden zu lassen, und meine Mutter beschwerte sich über meinen Vater und jammerte, dass ich auch keine Zukunft haben würde. Ich bat sie, die Familie zu erhalten, meinen Vater nicht zu verlassen, ich liebte sie beide und versprach, mit meinem bisherigen Leben Schluss zu machen.

    Mein Leben als Nazi machte mir keinen Spaß mehr

    Ich sagte meinen Freunden, dass ich die Bewegung verlasse und fuhr zur Abschiedsfeier. An dem Tag hatte ich nichts Richtiges zum Anziehen gefunden. Ich hatte nur Skinhead-Klamotten. Ich hatte den Schrank durchwühlt und einen alten Mantel, Schuhe und eine dämliche Hose gefunden, die ich schon in der Schule getragen hatte. In dem Aufzug fuhr ich zum Treffpunkt, dachte darüber nach, dass es peinlich werden würde, aber wir sind Freunde und werden mit allem fertig. Ich wusste, dass sie mich verstehen würden. In erster Linie waren sie ja keine Nazis, sondern gute Menschen. 

    Wir trafen uns wie immer auf der Straße, eine große Schar, begrüßten einander mit Handschlag. Sie wollten in einen Hof gehen. Ich ging mit, und da fiel das ganze Rudel über mich her. Sie prügelten auf mich ein, traten mich, einer verdrehte mir die Arme auf dem Rücken, ein anderer wollte mir in mein Tattoo am Bein „Schwuchtel“ einritzen. Ich fiel in den Sand, wand mich und schrie vor Schmerz. Unter ihnen war auch dieses Mädchen. Sie hatte allen meine Fotos gezeigt, und jetzt versprachen mir meine „Freunde“, mir das Leben zur Hölle zu machen, es zu zerstören. Sie versprachen, dass diese Fotos alle meine Bekannten und Verwandten sehen würden. Und nannten mich natürlich Schwanzlutscher. Päderast. Untermensch.  

    Als ich nach Hause kam, lief mein Nachrichteneingang schon über vor Drohungen und Beleidigungen. Meine Nacktfotos mit dem Schwanz im Mund machten in allen Nazigangs der Stadt die Runde. Mein Nazi-Mitschüler schrieb mir, er würde mir die Eier abschneiden, wenn er mich das nächste Mal im Unterricht sieht. Einer fand sogar meine Festnetznummer raus und rief mich auch dort an. 

    Ich war geschockt und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich kann mich erinnern, dass ich sofort meine Seite löschte, den Computer ausschaltete, meine Wunden mit Panthenol bestrich und einfach die Decke über den Kopf zog. So lag ich mehrere Tage. Ich zitterte, ich konnte nichts tun. Mein Leben war zu Ende. Ich wartete nur mehr darauf, dass mein Vater alles erfährt und mich umbringt. 

    Meine ‚Freunde‘ versprachen, mir das Leben zur Hölle zu machen, es zu zerstören

    Drei Wochen verbarg ich erfolgreich vor meinen Eltern, dass ich schwänzte. Auf der Straße zu sein war furchtbar. Ich hatte immer das Gefühl, verfolgt zu werden. Zu Hause war es noch immer still. Mama war die erste, der ich alles in allen Details erzählte. Sie war entsetzt, aber ließ sich eine Version für den Vater einfallen: Wir erzählten ihm, dass sie mich in Verruf bringen wollten, weil ich die Nazigang verlassen hatte. Deswegen hätten meine ehemaligen Freunde Fotos von mir genommen und mir einen Schwanz in den Mund gephotoshoppt. Mein Vater ist bei den Spezialeinheiten. Ich glaube nicht, dass er diesen Unsinn glaubte. Eher hat er alles ganz und gar durchschaut – aber wollte unsere Version einfach glauben.

    Die Ausbildung habe ich abgebrochen. Mein Alter schimpfte mich einen Feigling und bestand darauf, dass ich zur Armee ging und endlich „ein richtiger Mann“ werde. Ich hatte nichts dagegen: Irgendwo musste ich schließlich anfangen. Nach der Grundausbildung wurde ich nach Armenien geschickt, auf die russische Militärbasis, wo mein Freund früher gedient hatte. 

    Als ich zurückkam, sann ich auf Rache, wollte sogar Ermittler werden, um sie alle einzusperren. Aber das Leben schaffte es auch ohne mein Zutun. Die einen kamen ins Gefängnis, andere in die Irrenanstalt, die dritten wurden im Donbass zu Dünger. Na ja, und alle anderen haben kein Leben mehr, sondern fristen ihr Dasein. Was auf dem Maidan geschah, hat die Nazibewegung in zwei feindliche Lager gespalten. Und im Donbass sind sie Stirn an Stirn aneinandergekracht, haben einander niedergemetzelt, der eine auf der einen, der andere auf der anderen Seite der Front. Wieder andere wurden im Zuge der Nazi-Razzien 2015 bis 2017 eingesperrt. Die Machthaber brauchten keine Nazis mehr und wollten sie schnell loswerden. 

    Einst hatte ich geglaubt, die Nazis seien eine riesige, starke Bewegung mit sehr vielen Anhängern. In Wirklichkeit sind sie eine Bande von Außenseitern. Zahlenmäßig schwach und machtlos. Eine Hetzjagd innerhalb so kleiner Gruppen, in denen sowieso nie mehr als 500 Leute sitzen, nehme ich nicht ernst und ist nicht das Ende meines Lebens. Allerdings habe ich nach diesem Mädchen nie wieder jemandem vertraut. Vertrauen fällt mir jetzt schwer, meine Vorsicht grenzt an Paranoia, und ich kann mich nicht mal wirklich nahen Menschen gegenüber öffnen. Aber im Großen und Ganzen ist das alles, was ich von jenem Leben mitgenommen habe. Sogar mein Tattoo habe ich überdeckt, jetzt ist über dem Symbol schwarze Farbe.       

    Ich bin durchaus ein glücklicher Mensch, habe Geld und Pläne für die Zukunft. Vor der Pandemie bin ich sogar durch Europa gereist. Ich hatte schon viele verschiedene Jobs. Ich war Ladearbeiter in einer Brotfabrik, Verkäufer beim Mobilfunkanbieter MTS, Werbetexter und Schweißer auf einer Baustelle. Jetzt schreibe ich Drehbücher. Meine politischen Ansichten sind, wie Krowostok singen: „Keine Freiheit für Feinde der Freiheit.“

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  • Putin auf Ebay

    Putin auf Ebay

    Batenka-Autor Alexej Sinjakow sucht nach Gegenständen, die Putin berührt hat. Und stellt fest: Der Onlinehandel blüht.

    In Russland gibt es zwei Besonderheiten: Putin wird gefürchtet, und er wird verkauft. Und je mehr man ihn fürchtet, desto teurer verkauft man ihn – diese seltsame Dynamik kann man auf Online-Kleinanzeigenseiten wie Avito und Jula beobachten. Es ist alarmierend: Anscheinend verliert und vergisst der Präsident ständig Dokumente, Papiere, Geschirr, Wäsche und Sportgeräte. Manchmal finden Leute diese Sachen und verkaufen sie. 
    Wenn man zum Beispiel in die Suchmaschinen dieser Online-Märkte „Putin“ eingibt, findet man: „Luftballon für Sammler mit Putin-Portrait. Preis: 10.000 Rubel [ca. 115 Euro – dek].“ Selbst ein schwarzes Baumwoll-T-Shirt mit ordentlich gekämmtem Präsidenten und Kampfjet über der Bauchspeicheldrüse kostet in der Boutique Armija Rossii an der Küste des Ferienortes Anapa nur ein Sechstel – wahrscheinlich deswegen, weil diese T-Shirts in Massen hergestellt werden, während der Verkäufer auf Avito eine extreme Sammlerrarität verspricht.

    Auf dem Foto sind drei unaufgeblasene Luftballons drapiert, alle mit demselben Aufdruck: der lächelnde Präsident in satten Zeiten, während der Rochade zwischen Wladimir Putin und Dimitri Medwedew. 

    Bläht sich Putins Gesicht nicht auf, wenn man den Ballon aufbläst?

    Ich rufe den Verkäufer an. Es meldet sich Maria. 
    „Wie viele Luftballons kriegt man für 10.000 Rubel?“, frage ich und hoffe auf alle.
    „Einen.“
    „Warum sind die so teuer?“
    „Ich habe mir gedacht, der Ballon selber kostet ja nicht viel. Aber wenn der Präsident drauf ist, kann man ihn doch nicht für drei Rubel verkaufen …“
    Diese Logik ist bestechend, doch in unserem Gespräch entsteht eine peinliche Pause. Dann erzählt die geschickte und sanfte Verkäuferin sogleich, wie sie zu diesen Luftballons gekommen ist: Als Studentin habe sie „bei der ersten Wahlkampagne von WWP [Wladimir Wladimirowitsch Putin – dek] gearbeitet“ und die Ballons an Moskauer Passanten verteilt.
    „Solche Luftballons werden Sie nirgendwo mehr finden“, setzt sie angesichts meines Schweigens fort. „Ich habe nämlich gehört, nicht alle bekommen die Erlaubnis Porträts von Wladimir Putin zu drucken.“
    „???“
    „Ja, auch auf T-Shirts und Tassen: Auf billigen und schlechten Sachen ist das verboten“, beteuert die Frau.
    „Na gut, aber wenn man den Luftballon aufbläst, bläht sich dann nicht Putins Gesicht auf? Die Backen zum Beispiel?“
    „Aber nein! Ich habe Putin schon so oft aufgeblasen! Auch mein Sohn hat ihn einmal aufgeblasen – bei einem Fest im Kindergarten. War alles in bester Ordnung.“
    Auf mein Schweigen hin bietet Maria an, mit dem Preis auf 3000 [ca. 35 Euro – dek] pro Stück herunterzugehen. Ich lege auf.

     

    Illustrationen © Julia Prokopowa

    Mit dem Namen des Präsidenten verleihen sie den Dingen eine sakrale Macht

    Die Russen verkaufen alles, was der Präsident berührt haben könnte. Was sie dazu bewegt, ist schwer zu sagen und schon gar nicht, ob sie wirklich mit Erfolg rechnen. Mit dem Namen des Präsidenten verleihen sie den Dingen eine sakrale Macht, dann bringen sie ein astronomisches Preisschild an und warten geduldig. Da bietet einer eine schwarze Sportsocke feil, die, wie er behauptet, Putin in der Hektik einer anstrengenden Dienstreise in einem Petersburger Hotel vergessen hat – für 60.000 Rubel [knapp 700 Euro – dek]. Ein kariertes Freizeitsakko – der Verkäufer versichert, es habe Putin gehört. Es lässt sich gut bei Weinverkostungen und in Zigarrenlounges tragen, oder auch bei harmlosen, feuchtfröhlichen Betriebsfeiern in der Regionalstelle irgendeiner großen Eisenbahnfirma. Oder man tut damit einfach so, als wäre man reich.

    Oder das Hockeyshirt von Dynamo Moskau. Am Telefon, meldet sich ein höflicher, gebildeter Mann.
    „Sagen Sie, hat Putin in diesem T-Shirt wirklich gespielt?“
    „Das ist kein T-Shirt, sondern ein Trikot“, erklärt der Verkäufer geduldig. „Dieses Trikot wurde eigens für Putin hergestellt, als er für den HK Dynamo Moskau aufs Eis gehen sollte. Das war, als Andrej Safronow Präsident des Clubs war – vor 2014.“
    Der Verkäufer kennt sich offenbar gut aus mit Eishockey, wahrscheinlich arbeitet er in dem Bereich. Seine Antworten klingen trocken und gewichtig, wie Zitate aus dem Lexikon. Außerdem hat er mehrere Dutzend Anzeigen geschaltet: von einfachen Buttons über Eishockeyschläger bis hin zu Eislaufschuhen, manche davon mit Autogrammen von Spitzensportlern, etwa Wjatscheslaw Fetissow. 
    „Klebt denn der Schweiß des Präsidenten an diesem Trikot?“
    „Putin kam damals gar nicht zum Match. Das Trikot habe dann ich bekommen.“
    Allein die Herstellung eines Trikots koste 12.000 bis 14.000 Rubel [ca. 150 Euro], erzählt der Verkäufer weiter, aber solche Sachen würden ab 1000 Dollar zum Verkauf angeboten. „Das ist nämlich etwas auf seine Art Einzigartiges“, sagt er mit hörbarer Kennermiene.

    Klebt denn der Schweiß des Präsidenten an dem Trikot?

    „Warum einzigartig?“
    „Es steht ‚Putin‘ drauf.“
    „Das kann doch jeder draufschreiben …“
    „Hören Sie, Sie verstehen das wohl nicht ganz: Das Trikot ist von der Firma Lutsch. Und solche Namen werden ohne Abstimmung mit dem FSO nicht aufgedruckt. Lutsch wird ja nicht seinen Ruf und seinen Kopf riskieren – deswegen muss es da eine Genehmigung von oben gegeben haben.“
    „Es ist also kein Tropfen Präsidentenschweiß dran?“
    Der Mann willigt ein, das Trikot für 50.000 Rubel [580 Euro – dek] herzugeben, dann geht er runter auf 30.000 Rubel [350 Euro – dek].
    Da wird es höchste Zeit, sich die Frage zu stellen: Warum 30.000 für ein Trikot ausgeben, das Putin gar nicht getragen hat, wenn man sich genauso gut ein neues bestellen kann? Ich versuchte mehrmals, mit der Firma Lutsch Kontakt aufzunehmen, aber dort taten sie mehrere Monate angestrengt so, als hätten sie meine Aufträge zur Herstellung eines Trikots, wie es der Präsident hat, nicht bekommen. 

    Ein spezielles Genre in diesem Warenkult sind Visitenkarten, Dokumente und Papiere, die der Präsident in verschiedenen Lebensjahren unterschrieben hat (oder auch nicht). Zum Beispiel: „Firmengründung 1993. Sankt Petersburg. Mit Putins Unterschrift. Preis 99.000.“ Mit der Anmerkung: „Bitte keine Anrufe mit dummen Fragen.“
    Ich rufe an.
    „Das Dokument hat meine Mutter bei der Firmengründung bekommen“, sagt Anton aus dem Mikrorayon Dubinki in Krasnodar und fügt sofort hinzu: „Aber fast wäre es auf dem Müll gelandet.“
    „Wieso das?“
    „Als die Firma aufgelöst wurde, blieb bei uns zu Hause eine ganze Aktentasche voller Dokumente zurück“, erinnert sich Anton. „Vor dem Wegwerfen wollte ich sie durchsehen – und fand auf einmal ein Dokument mit Putins Unterschrift. Damals in den 1990ern hat meine Mutter gemeinsam mit einem Geschäftspartner ein Unternehmen gegründet, und WWP war zu dieser Zeit Vorsitzender des Komitees für Außenbeziehungen in Sankt Petersburg. Er hat dieses Dokument eigenhändig unterschrieben. Kriminelle oder korrupte Machenschaften sind mir persönlich in dieser Sache nicht bekannt.“

    ‚Wie kann die Echtheit der Visitenkarte bestätigt werden?‘ ‚Ich versichere Ihnen, dass sie echt ist.‘

    Am teuersten sind Visitenkarten. 
    Nach langem Suchen stoße ich endlich auf etwas Lohnendes: eine Visitenkarte, die aussieht wie jene, deren Echtheit im Jahr 2019 vom Pressesprecher des Präsidenten kommentiert werden musste. Allerdings kostet sie 1.100.000 Rubel [ca. 12.700 Euro – dek]. Für diesen Betrag bekommt man in Orechowo-Sujewo eine ganze Wohnung. 
    Beim x-ten Versuch erreiche ich schließlich die Verkäuferin Olga über WhatsApp. Olgas Profilbild ist eine Fünf-Kopekenmünze von 1916.
    „Sind Sie Journalist?“, fragt statt Olga eine Männerstimme aus dem Hörer.
    „Nein“, sage ich und lüge, ich sei Eventmanager und suche Geschenke für eine Betriebsfeier.
    „Mich rufen nämlich dauernd Journalisten an“, ärgert sich der Mann über bisherige Interessenten.
    „Wie können Sie garantieren, dass die Visitenkarte echt ist?“
    „Die Visitenkarte hat mein Vater bekommen. Er war im Komitee für öffentliche Kommunikation tätig.“
    „Wie kann ihre Echtheit bestätigt werden?“
    „Ich versichere Ihnen, dass sie echt ist.“ Die Telefonnummer des Mannes beginnt mit 995, und Yandex gibt sofort preis, dass sie nicht in Sankt Petersburg registriert ist, sondern von der tschetschenischen Wainach Telekom stammt. 
    „Na gut, aber kann ich ein persönliches Treffen mit Ihrem Vater vereinbaren, immerhin geht es um eine Million Rubel?“
    „Nein, er ist verstorben.“
    Das Gespräch ähnelt immer weniger einem Dialog, und ich entschuldige mich, so gut ich kann. 
    „Aber mein Vater ist auf Fotos drauf – sogar zusammen mit Putin und Peskow.“
    „Kann ich bei einem Treffen diese Fotos sehen?“
    „Nein.“
    „Warum nicht?“
    „Weil alle Fotos im Besitz von Verwandten sind, die sie nicht herzeigen wollen.“
    „Aber …“
    Der Mann meint, ich könne das Foto der Visitenkarte jedem zeigen, der lange mit Putin zusammenarbeitet, und fügt hinzu, eine solche Karte nachzumachen sei einfach unmöglich – sie sei echt. 

    Ich gehe auf Jula und finde dort etwas Billigeres, das der nationale Leader berührt haben könnte. „Souvenir-Medaille Sotschi von Präsident Putin“, 7000 Rubel [80 Euro – dek]. 
    „Erzählen Sie mal, hat die der Präsident persönlich überreicht? Ich muss wissen, ob Putin sie in der Hand hatte oder nicht.“
    „Aber ich bitte Sie, wieso der Präsident?! Glauben Sie, ich würde sie dann noch zu so einem Preis verkaufen? Da würde sie doch 100.000 kosten! Die Medaille wurde in China produziert und für weniger als 1.000 Rubel gekauft.“ 
    „Verstehen Sie, ich brauche Dinge, die Putin berührt hat. Haben Sie solche?“
    „Ja, hab ich. Die Putinmedaille.“
    „…“
    „Für 7.000“, er spricht noch immer von derselben Medaille.
    „Wie beweisen Sie, dass sie echt ist?“
    „Es steht drauf, dass sie vom Präsidenten ist. Solche Medaillen hat Putin nach der Olympiade den Sportlern überreicht.“

    „Und wem konkret hat er diese Medaille überreicht?“
    „Selbst wenn ich Ihnen den Namen nennen würde, würde er Ihnen ohnehin nichts sagen.“
    „Aber so könnte ich immerhin im Internet nachschauen.“
    „Sage ich nicht.“

    Aber eigentlich, warum habe ich überhaupt beschlossen, dass es einen Unterschied macht, ob der Präsident Sachen berührt hat oder nicht? Wer sagt denn, dass das wichtig ist? Und für wen? Die Leute sammeln diese bedeutungsgeladenen Horkruxe in der Hoffnung, dass sie so dem Präsidenten näher sind, und halten das Ersehnte für die Wirklichkeit. 
    Und irgendwann finde ich die Antwort auf diese Frage: Ich entdecke ein Inserat mit Kopien alter Visitenkarten von Putin – 100 Stück zum Preis eines Humpens Importbier. Ich kaufte sie und verkaufte sie sofort weiter, zuerst zu einem durchschnittlichen Avito-Preis von 800.000 Rubel [etwa 8.800 Euro – dek], und dann schrieb ich mit Feststelltaste: GRATIS ABZUGEBEN. Innerhalb eines Tages riefen acht Personen an, aber wie ich die Echtheit des Dokuments beweise, das hat nur einer gefragt. 

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  • Fremdschämen im weißen Kleid

    Fremdschämen im weißen Kleid

    „Die Russen können gut feiern.“ So lautet ein gängiges Klischee, das der Wahrheit entspricht. Aber möchte man bei den Hardcore-Festen a là Hochzeit wirklich dabei sein? Marina Wassiljewa auf Batenka mit einer kleinen Kulturkunde zum Thema große Feste feiern.

    „Guten Abend, meine Damen und Herren! Draußen ist es bitterkalt, aber hier im Saal wärmt uns die herzliche Stimmung. Also nehmt Platz, werte Gäste, macht’s euch bequem, denn so eine Feier, die dauert ihre Zeit. Sucht euch einen gut gelaunten Tischnachbarn und eine hübsche Tischnachbarin. Jeder Dritte ist Kommandeur über eine Feier-Truppeneinheit – zu seinen Pflichten gehört: einschenken, nachschenken, den Tischnachbarn nicht übersehen und sich selbst nicht übergehen.

    Während ihr das erledigt, will ich die Gästeliste überprüfen. Zuallererst die Jubilarin – prächtig wie die Königin von England, schön wie Angelina Jolie, sexy wie Pamela Anderson, klug wie Einstein, tüchtig wie Aschenputtel, reinlich wie Meister Proper – ist anwesend! Und die Gäste – teuer wie die Spieler von Chelsea, lustig wie Regierungsbeschlüsse, feurig wie Shirinowski, großzügig wie arabische Scheichs – alle da! Es kann losgehen! […]“

    So steht es in einem Skript für eine Feier, zu finden in der VKontakte-Gruppe Texte für Feste.

    „Wenn ich das lese, erkenne ich alles wieder“, sagt Nastja aus Ishewsk. „Genau so läuft das ab. Eine irrsinnig aufwändige Hochzeit, auf der ich mal war, fand in Sankt Petersburg statt. Da gab es einen Zauberer, Sandmalerei, einen Schokoladenbrunnen. Die Mutter des Bräutigams hatte eine Schachtel mit exotischen Schmetterlingen mitgebracht. Und dann die Spiele: Triff mit dem Stift in die Flasche. Alle Teilnehmer binden sich ein Band um den Bauch, an dem hinten ein Bleistift oder ein Kugelschreiber baumelt, wie ein Schwanz. Mit dem soll man in eine Flasche zielen. Wenn ich daran denke, ist mir das echt peinlich. Die Finnen haben ein Wort dafür, wenn man sich für jemand anderen schämt. Jemand tut etwas, und du schämst dich.“

    „Es gab durchaus schon mal peinliche Situationen, in denen ich mich geschämt hab“, gibt der Hochzeitsfotograf Walentin zu. „Für den Stumpfsinn und die Blödheit der Leute, die sich bei Spielen irgendwelche Gegenstände hin- und herreichen und die Körper aneinanderreiben.“

    Den angebotenen Aktivitäten kann man sich nicht entziehen

    Bei Nötigungen auf Feiern sehen Anthropologen zwei zentrale Mechanismen am Werk: Erstens ist da der rituelle Aspekt – die Ältesten sind gleichsam Priester, die dafür sorgen, dass die Traditionen streng befolgt werden. Zum anderen – gewöhnliches Mobbing wie in jedem Kollektiv, in dem sich die Mehrheit auf Kosten eines Opfers Bestätigung holt.

    Grafiken © Sascha Krawtschenko
    Grafiken © Sascha Krawtschenko

    An dem Mobbing beteiligen sich in der Regel fast alle Gäste, während die Rolle der Priester bei Familienfeiern die engagiertesten Vertreter der älteren Generation übernehmen – Eltern, Großväter, Großmütter. Sie bestimmen, was wohin kommt, wer sprechen darf und wer nicht, wer was unbedingt gegessen haben muss. Manchmal geht die Priesterrolle auch auf den Moderator über – den Tamada, eine Art Alleinunterhalter.

    Ritual und Mobbing

    Vor ein paar Jahrhunderten hat es im Leben eines Menschen nur ein paar wenige Großereignisse gegeben. Das waren Geburt, Heirat und Tod – Momente, in denen ein Mensch von einem Zustand in einen grundlegend anderen wechselt, daher bezeichnen die Ethnologen diese Ereignisse als „Übergangsriten“. Heute gibt es solche Riten im Grunde nicht mehr: Die Grenzen zwischen den Feiern sind verwischt, Feste wie Geburtstage und Silvester, die man jedes Jahr feiert, sind hinzugekommen. Die Geburt eines Kindes zelebrieren die meisten nicht mehr, weil sie alle Hände voll zu tun haben, Beerdigungen sind immer weniger ritualisiert und gleichen immer mehr jedem anderen Festgelage. Hochzeiten besitzen heute die größte Bedeutung und das größte Gewicht, auch der Ablauf hat sich mit der Zeit fest etabliert: Standesamt, Spaziergang, Essen, Spiele, Tanz.

    Festes Drehbuch sorgt für Wiedererkennung

    Den beiden Mechanismen – Mobbing und Ritual – ist gemeinsam, dass sie einem strengen Drehbuch folgen, ohne jede Improvisation. Und genau deshalb setzt bei Filmen wie Gorko! bei uns dieser Wiedererkennungseffekt ein.

    Kulturanthropologe Michail Okunew erklärt: „Die Witze drehen sich um Alter, Gewicht und Kleidung der Gäste, weil der Moderator Unbekannte zusammenbringen und unterhalten muss – und diese Dinge betreffen ohne jeden Zweifel alle ohne Ausnahme.“

    Während der Feiern führen die Moderatoren häufig Situationen herbei, die es den Gästen schwermachen, sich den angebotenen Aktivitäten zu entziehen, weil alle Blicke auf sie gerichtet sind. Alleinunterhalter Alexander holte zum Beispiel bei einer Veranstaltung einen Gast auf die Bühne, damit der dem jungen Paar gratuliert, aber nachdem der Toast gesprochen war, verkündete Alexander plötzlich laut, der Gratulant würde jetzt „den Mr. Bean tanzen“ und bat den DJ, die Musik zu spielen.

    Und als es ans Brautstraußwerfen ging, forderte er die unverheirateten Frauen auf, vorher Selfies zu machen – erst mit dem ältesten und dann mit dem „sexiesten Mann im Saal“. Alle diese Ankündigungen spricht der Moderator ins Mikrofon, und der, der dann gerade auf der Bühne steht, müsste nicht nur den Tamada enttäuschen, sondern alle Anwesenden, die ihre Blicke auf ihn gerichtet haben und erwarten, dass alles glattläuft und niemand einen Aufstand macht.

    Witze über die Hochzeitsnacht

    „Ein eigenes Thema für Witze ist die Hochzeitsnacht“, erzählt Nastja aus Ishewsk. „Manchmal geht die Feier mehrere Tage lang, und die Gäste kommen am Morgen nach der Hochzeit wieder zusammen. Und dann hörst du irgendeinen Vater oder Onkel sagen: „Sieh an, der Bräutigam kann kaum noch gerade stehen, hat sich wohl mächtig ins Zeug gelegt!“ Oder: „Na Natascha, wie geht’s dir denn so heut‘ Morgen?“ Und natürlich: „Wann kommen die Kinderchen?“ Außerdem lassen sich solche Gäste auch gerne mal volllaufen und baggern dich an. Und du kannst nichts tun und sie zum Teufel jagen, weil deine Mama daneben steht, und wenn du irgendwem eine Abfuhr erteilst, bist du die Zicke. Nein sagen kannst du nicht, das macht alles nur noch schlimmer. Tu lieber so, als hättest du Spaß, dann ist das alles schneller vorbei.“ Nastja meint, man findet man das alles normal, solange man in seiner kleinen Heimat ist, „aber sobald man da rauskommt, merkt man, wie krass das eigentlich ist.

    „In der neunten Klasse war ich auf der Hochzeit meiner ältesten Cousine“, erinnert sich Assja aus Pskow. „Um die fünfzig Leute waren da, und die Schwestern der Frau von Onkel Wassja – jede von ihnen konnte über den ganzen Tisch hinweg irgendwas über die Hochzeitsnacht brüllen oder, dass sie nur ja gleich mit den Kindern anfangen sollen, weil Kinder ja das Wichtigste in der Ehe sind. Für mich war das damals der reinste Schock. Ich war so traurig! In meiner Vorstellung war eine Hochzeit (besonders die meiner Lieblingscousine) was Tolles: Du trägst ein schönes Kleid, bist mit dem Menschen zusammen, den du liebst, alle sind gerührt und beglückwünschen euch.

    Aber stattdessen war ich in einem Schmierentheater gelandet, und jeder konnte ihr die intimsten Fragen stellen, schlüpfrig-debile Anspielungen auf die Hochzeitsnacht machen, und sie saß da in ihrem Kleid, wurde rot vor Scham, schwieg und schaute zu Boden. Nein, natürlich, alle wussten, was eine russische Hochzeit ist, und alle haben genau das erwartet. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendjemand protestiert hätte – wogegen denn? Ist doch normal! Manchmal dachte ich, die Braut würde gleich losheulen und weglaufen, aber alle feierten fröhlich, aßen Salate und tanzten.“

    Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s mal langsam

    Hochzeitsmoderator Alexander lässt Kommentare fallen wie: „Sie sind 70 Jahre alt, Sie können sprechen, solange Sie wollen“, „Sie isst schon seit zwei Stunden, jetzt reicht’s langsam!“ Aber auf die Frage, ob es eine ungeschriebene Sperrliste von Hochzeitswitzen gibt, sagt er: „Man darf nicht intim werden, nicht die Gäste erniedrigen. Vor allem nichts sagen, was irgendwen beleidigen könnte. Auf keinem Gebiet.“

    Dimitri Piterski, einem anderen Alleinunterhalter, zufolge, hänge es vom „Humorniveau“ des Moderators ab, wie gut ein Scherz ankommt. „Der eine kann locker das Thema Scheidung auf einer Hochzeit anschneiden und die Gäste mit einem spontanen Witz zum Brüllen bringen. Wenn man entsprechende Literatur zu der Frage liest, gibt es eine Reihe von Themen, über die man bei Feiern (und generell) keine Witze macht: Religion, Physiologie, Patriotismus, die eigene Überlegenheit. Die Liste ist lang, aber ich für meinen Teil glaube, intelligente Witze kann man zu jedem Thema machen. Nur dumme Witze sind verboten, und noch dümmer ist es, Witze zu machen, wo sie nicht verstanden werden“, sagt Dimitri.

    Das ist eine Art Traumatherapie

    Auch wenn viele, vor allem junge Menschen zugeben, dass sie sich auf Hochzeiten unwohl fühlen, hat das Fremdschämen offenbar auch was Gutes: In so einem Moment bist du froh, dass das gerade nicht dir passiert. Auf VKontakte gibt es eine Gruppe namens Die Hochzeit deiner Klassenkameradin, die sich im Prinzip genau diesem Gefühl widmet.

    In dieser Gruppe kursieren mehrere Videos, die schnell Hunderttausende von Zuschauern haben und zum Beispiel die Braut dabei zeigen, wie sie über das erste Kennenlernen rappt („Dann holst du mich zum Spazierengehn, komm mal mit, und nun kann’s für immer voll abgehn“), oder wo Hochzeitsgäste sich mit vor den Bauch gebundenen Kissen Wettrennen liefern und so weiter. Den Kommentaren nach zu urteilen, gefällt keinem, was er da sieht – aber man schaut es trotzdem. „Das ist eine Art Traumatherapie“, meint Oleg, einer der Abonnenten. „Viele haben das selbst erlebt, ich zum Beispiel sehe mir das an und denke: Gott sei Dank, dass das diesmal nicht ich bin. Oder: Okay, das ist noch schlimmer als bei uns, wenigstens musste bei uns der Bräutigam nicht aus dem Brautschuh trinken.“

    Oleg erzählt, er sei schon auf vielen Hochzeiten gewesen und habe sich oft unwohl gefühlt. Aber trotzdem fand er es auch lustig. „Das Problem ist, dass alles durcheinander geht. Ich singe zum Beispiel gerne Karaoke, aber dann folgt danach gleich irgendein dämliches Ratespiel, wie: Wer von beiden macht später den Abwasch, und dann wieder was Witziges, und du hast keine Zeit zu reagieren. Naja, eigentlich wie im richtigen Leben.“

    Russische Festrituale können nicht als brutal bezeichnet werden

    Der Anthropologe Michail Okunew findet nicht, dass man russische Festrituale als „brutal“ bezeichnen kann. Vielmehr würden diejenigen, die möglichst unbemerkt bleiben wollen, einfach deshalb von den anderen Gästen zum fröhlichen Mitmachen „gezwungen“, weil die Gäste bereits in einem feierlichen, „rituellen“ Zustand seien und wollen, dass alle Anwesenden diesen Zustand mit ihnen teilen. „Wenn man über Gewalt sprechen will, dann gibt es meiner Meinung nach in der russischen Festtradition nur eine Form: Faustkämpfe, die während der Masleniza und an den kleineren Festen danach, an den Wochenenden bis Pfingsten ausgetragen werden. Ich kann nicht bestätigen, dass es in der russischen oder russländischen Tradition versteckte Formen von Gewalt bei Festen gibt, denn das würde den moralisch-ethischen Normen unserer Kultur widersprechen.

    Ich glaube, das heutige Programm – Essen-Spiele-Tanz – hat seine feste Form schon vor gut fünftausend Jahren angenommen, in der Mittelsteinzeit, als die Jäger von einer erfolgreichen Jagd nach Hause kamen oder es einen anderen religiösen oder gesellschaftlichen Anlass zum Feiern gab. Man bereitete Speisen zu, lieferte sich Wettkämpfe, tanzte zu primitiver Musik ums Feuer und versuchte die junge Frau, die einem gefiel, mit einer nonverbalen ‚Unterhaltung‘ über die Erhaltung der eigenen Art zu beeindrucken. Und das Vollstopfen der Kinder mit Essen ist eine ganz normale Sorge darum, dass ein Kind satt wird. Man sollte da nicht unnötig viel Semantik suchen.“

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  • Schanson à la russe

    Schanson à la russe

    Was den Franzosen die Liebe, ist den Russen der Knast? Zumindest ist ein wichtiger Zweig der russischen Populärmusik inspiriert von Lagergesängen, die die Gulag-Insassen einst aus den Weiten der sibirischen Steppe mitbrachten. Pawel Belosludzew hat den russischen Chanson für Batenka unter die Lupe genommen.

    Interesse an der Gefängnis-Subkultur gewann ich als Teenager, als ich einen Mitschüler dabei ertappte, wie dieser ehrfürchtig Michail Krug lauschte. Der Typ pinnte sich auch Bilder mit A.U.E.-Symbolik an die Wand, teilte Zitate von Knastbrüdern in Sozialen Medien und hatte ganz allgemein ein Faible für die Gefängnis-Mythologie. Ich kann mich sogar erinnern, dass er einmal in vollem Ernst zu mir sagte: „Vor dem Bau bist du nie sicher.“ Goldene Worte, danke dir, Wowan.

    Damals schon fragte ich mich: Wie kann es sein, dass erstens ein Kind, und zweitens eines, das – klar! – nie gesessen hat, in den Bann der brutalen Ästhetik krimineller russischer Superhelden gerät? Warum beißen Leute, die mit dieser Kultur absolut nichts zu tun haben, bei Liedern über Tattoos mit Kirchenkuppeln oder Spielkarten-Assen an? Was ist daran für sie romantisch? Ist das krankhafte Empathie oder Liebe zur Exotik? Keine Ahnung, echt. Aber dass gegenwärtig die Gefängnismusikindustrie in die Ewigkeit eingeht, muss ich und müsst ihr wohl einsehen.

    Gefängnisfolklore – erste Dokumentationen

    1908 bereiste der Volkskundler und Komponist Wilhelm Harteveld die rauen sibirischen Weiten, um erstmals die Musikkultur in den Straflagern Sibiriens zu dokumentieren. Seine Sammlung aus gut 200 Liedern über das schwere Dasein der Zwangsarbeiter nannte Harteveld dementsprechend: Lieder der Katorga.

    „Ich bin glücklich, wenn Sie anhand dieser Lieder erkennen, dass die Menschen, die sie gemacht haben, genau solche Menschen sind wie Sie“, begann Harteveld seine Vorträge und meinte das absolut ernst, denn wie wir wissen, unterschied sich die gesellschaftliche Wahrnehmung des Gefängnisses in der Vergangenheit leider nicht sonderlich von der heutigen.

    Die Nacht vor der Strafe, aus der Sammlung Lieder der Katorga
    [bilingbox]

    Verzeih mir, Heimat, schönes Land!
    in Verbannung ich mich fand,
    Auf ewig dort, wo furchtbare Minen sind,
    Wo Türme stehen wie ein Gebirgskamm,

    Harmlosen Spaß gibt es hier nicht,
    nicht Flachland und geschmückte Felder.
    Vorwurf und Verachtung – 
    die werden dort in meine Seele dringen.

    Hier wird die Sehnsucht meine Freundin,
    weit weg von meinen Lieben leb ich als Waise
    Erinnerung und Schmerz der Trennung
    lassen mich leiden bei hundert Jahren Arbeit!~~~«Ночь перед наказанием», из сборника «Песни каторги»

    Прости отчизна, край отрадный!
    В изгнанье вечно я решён,
    Туда, где россыпи ужасны,
    Как башни, где хребты, стоят,

    Где нет невинных развлечений,
    Равнин, украшенных полей
    И где упрёки и презренья
    Должно нести душе моей.

    Там буду жить с подругой-скукой,
    Вдали от милых, сиротой,
    С воспоминаньем и разлукой
    Страдать в работе вековой![/bilingbox]

    18 Jahre später stirbt Harteveld, ohne auch nur zu ahnen, wie weit es sein ethnografisches Erbe noch bringen wird.

    Die Gefängnismusikindustrie des letzten Jahrhunderts (genauer, der Sowjetzeit) hat etwas Paradoxes. Aspekte, die gut nachvollziehbar die Straflagerexistenz aufgreifen, und mit ihr die geächtete Popularisierung und Romantisierung einer kriminellen, marginalen Lebensweise, wurden damals von bekannten Lied- und Chanson-Interpreten besungen: zum Beispiel von Leonid Utjossow:Gop so smykom S odesskogo kitschmana, Irtlatsch Strongilla:Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja, Arkadi Sewerny:Nu, ja otkinulsja, kakoi basar-woksal, Michail Gulko:Berjosy Murka. Es ist aber auch klar, dass die Musiker das nicht aus propagandistischen Motiven heraus machten, sondern wegen des Stils und der damit verbundenen Haltung. Nicht einmal um zielgerichtet Kontakt zum Gefängnis-Milieu bekommen, hatte je einer von ihnen gesessen. Nur Arkadi Sewerny hatte irgendwelche kriminellen Verbindungen, doch darum geht es hier nicht.

    Worin besteht die Problematik des Katorga-Milieus? Ganz einfach: Eine Gefängnis-Musikkultur, die die Gemeinschaft der Häftlinge als einheitliche, unabhängige Stimme hätte repräsentieren können, gab es überhaupt nicht. Sie trug die Bürde eines gesichts- und namenlosen Medienprodukts, das keine Chance hatte, auf den Markt zu gelangen, einfach weil es keine geeigneten Ressourcen und Vertriebswege gab. Durch das Fehlen von Helden und von Möglichkeiten, den Trend zu popularisieren, behielt das Knast-Producing die Form eines Ausflusses lyrischer Stilmittel, wurde aber keineswegs zu einem vollwertigen Konzept, das massentauglich gewesen wäre.

    Grauer Anzug von Alik Berison

    [bilingbox]

    Ein grauer Anzug, die neuen Stiefel knarzen
    – hab ich getauscht gegen die Jacke aus dem Knast.
    Acht Jahre hab ich nun viel Leid erlebt,
    Und nicht nur eines meiner Haare ist ergraut~~~Алик Берисон, «Костюмчик серенький»

    Костюмчик серенький, колёсики со скрипом
    Я на тюремные бушлаты променял.
    За восемь лет немало горя мыкал,
    И не один на мне волосик полинял.[/bilingbox]

    Vermutlich lag das auch an der Kriegs- und Nachkriegskrise: am enthemmten Zustand des Justizsystems und an der fehlenden Meinungsfreiheit.

    Eine neue Welle intellektueller Knast-Erzeugnisse kam in den 1950er Jahren herangerollt, als massenweise politische Gefangene freigelassen wurden. Zwar gab’s die heutigen Informationskanäle noch nicht, dafür aber die mündliche Überlieferung.

    Die Märchen aus der Gefängniswelt verbreiteten sich in Windeseile, und manche von ihnen schafften es sogar in das Liedgut, das man im Hinterhof zur Gitarre sang (Schol Stolypin). Die letzte Welle kam in den 1990ern und gewann nach dem Zerfall der sowjetischen Ordnung an Wucht, als klar wurde, dass man seine Ideen umsetzen kann, ohne bestraft und daran gehindert zu werden. So erschienen Michail Krug, Alexander Djumin, Michail Swesdinski und andere Celebrities des neuen russischen Blatnjaks, den man nun dank erfolgreicher Kommerzialisierung und kultivierter Mimikry den neuen russischen Chanson nennt. Oder den kriminellen – jeder wie er will.

    Der revolutionäre Durchbruch des Genres und dazugehöriger Persönlichkeiten der Subkultur in Radio und Fernsehen erlaubten es der Häftlingsseele, wie ein Dschinn ins Freie zu drängen und endlich der Welt ihre Werte zu lehren. In dieser Zeit wurde auserlesener Blatnjak auf allen Musikkanälen rauf- und runtergespielt, an diesem Hype kam niemand vorbei. Und im Jahr 2000 entstand eine Hochburg für einschlägige Interpreten – der Radiosender Schanson, den täglich allein in Moskau eine Million Menschen hören.

    Trotz seiner Popularität (die übrigens bis dato nicht nachlässt) treten intellektuelle Gesellschaftsschichten gegen die Popularisierung des Chanson auf und sprechen von der Geschmacklosigkeit und Minderwertigkeit des Genres.

    Eines der interessantesten Phänomene rund um den russischen Chanson ist, wie die Leute über ihn denken: die Kritiker negativ, und das Publikum positiv. Wie bei Filmen mit Jim Carrey. Das macht den Reiz aus.

    Symbolische Einsamkeit

    Man geht allgemein davon aus, dass der russische Blatnjak die Musik von Einzelpersonen ist. Dass es immer weiter Soloprojekte sind, mag an der symbolischen Einsamkeit liegen, die im Schaffen von Chansonniers und Chansonnetten häufig durchscheint, oder auch an einer charakterlichen Besonderheit moderner „Katorgaer“. Natürlich gibt es auch Ausnahmen der Regel, etwa Butyrka, Worowaiki, Zona, Pjatiletka und Belomorkanal

    Bild der Vergangenheit von Michail Swesdinski

    [bilingbox]

    Noch nie hat mich jemand Vater genannt,
    auch Ehemann sagte bisher keiner.
    Kann sein, dass mein Leben in Einsamkeit vergehen wird
    und Familiengemütlichkeit werd ich wohl kaum erleben.~~~Михаил Звездинский, «Картина прошлого»

    Меня ещё отцом никто не называл,
    Как мужем до сих пор не называли.
    Быть может, в одиночестве вся жизнь пройдёт —
    Уют семьи увижу я едва ли.[/bilingbox]

    Zum Teil liegt es sicher daran, dass das Genre gewissermaßen eine russische Form der DIY-Kultur ist. In den 1990ern war das auf jeden Fall so, als sich zahlreiche Musiker eigenständig auf den Markt hinauswagten, ohne Unterstützung von Producern, einfach indem sie ihre Alben zu Hause aufnahmen oder in Studios von Freunden. Heute wird der Chanson bereits gesponsert und gut bezahlt, wie man an der Vielzahl an Plattenlabeln sieht, die dank der neuen Beliebtheit des Genres aus dem Boden geschossen sind.

    Die Semantik des Gefängnischansons – Mama, Glaube und Tattoos

    Es ist unmöglich, eine einheitliche Antwort darauf zu finden, was genau denn nun der Kriminal-Chansonnier populär machen will und welchen Überzeugungen er anhängt. Allerdings gibt es doch Gesetzmäßigkeiten. Im Mitteilungsblatt des Kasaner Instituts für Rechtswissenschaften des russischen Innenministeriums erschien 2017 ein Aufsatz von Anton Schalagin und Olga Chrustaljowa zum Thema Gefängnisfolklore im Kontext der kriminellen Subkultur. Darin versuchen die Autoren das ideologische Profil des modernen kriminellen Helden zu klassifizieren. Aufgezählt werden Charakteristika wie: gezieltes Begehen von Finanzdelikten, demonstratives und übersteigertes Konsumverhalten, kriminelle Verbindungen und unmoralisches Verhalten, darunter Geringschätzung althergebrachter Traditionen.

    Die Themen, die die Ästhetik der Gefängnislieder ausmachen, sind dieselben wie vor hundert Jahren. Am häufigsten und typischsten finden sich:

    Die Mutter. Lesen Sie sich die Titel der Knastlieder der 1990er und 2000er Jahre durch, und sehen Sie selbst. Hallo, Mama von Krug, Mutter von Alexander Djumin, Mama von Viktor Petlura. Jeder Chansonnier, der etwas auf sich hält, singt ein Lied über die Mutter. Die Bedeutung der Texte läuft immer auf dasselbe hinaus: „Verzeih mir, Mama“, „Mamachen, schenk mir Wodka nach“. Die Mutter ist im Chanson zum ideologischen Kult erhoben.

    Interessanterweise kommt der Vater in den Liedern viel seltener vor. Vielleicht ist das einfach die Knast-Symbolik. Aber wer weiß.

    Der Glaube. Fast in jedem Lied hört man etwas, das mit der Kirche zu tun hat. Jeder anständige Chansonnier muss ein Lied über erlöschende Kerzen, Kuppeln (egal ob echte oder tätowierte) oder Gebete um die Vergebung seiner Sünden im Repertoire haben. Der Tätowierer richtet mir den Rücken – ein Kloster mit lauter Kuppeln (Alexander Djumin Blagoweschtschenski zentral), Goldene Kuppeln erfreuen mein Herz (Michail Krug Goldene Kuppeln), Gott bewahre uns vor dem Gericht (Andrej Sarja, Dialog s sowestju).

    Russian criminal tattoos und sonstige Knastmoden. Jeder anständige Chansonnier hat ein Lied über Tattoos. So will es die Seele der Kriminalität. Das Tattoo ist in der Gefängnisreligion gleichsam das Geschichtsbuch. Für jeden der persönliche Schutzengel. Ein Lied mit dem Titel Nakolotschka findet man bei mindestens zwei Interpreten: Michail Schufutinski und Alexander Udatscha.

    Ansonsten zählt zur Knastmode auch alles andere aus der Welt des russischen Gefängnisses: So gibt es Lieder über Pritschen, über Diebe im Gesetz, über im Gefängnis verlorene Freunde, Landstreicherei, kriminelle Machenschaften, Banden, Strafkolonien und dergleichen mehr.

    Die Natur. Ja, das Verbrechervolk ist auch zur Wahrnehmung der Umwelt fähig, kann auch ästhetisches und seelisches Vergnügen an der Betrachtung äußerer Schönheit empfinden. Vieles dreht sich in den Naturliedern um die Liebe zu heimatlichen Gefilden.

    Weiße Birke von Alexander Djumin

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    Überm Fluss über dem Wald ein gelockter Ahorn stand
    Verliebt war er in eine Birke mit ihrem weißen Band,
    und wenn über dem Feld der Wind sich legte,
    für die Birke sein Lied sich regte:

    Ach, weiße Birke, ick liebe dir!
    Deinen schlanken Zweig streck aus nach mir
    Verloren bin ich ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit.
    Meine liebe weiße Birke, ich bin zu allem bereit!~~~Александр Дюмин, «Белая берёза»

    Над рекой над лесом рос кудрявый клён,
    В белую берёзу был тот клён влюблён.
    И когда над полем ветер затихал,
    Он берёзе песню эту напевал

    «Белая берёза, я тебя люблю.
    Ну протяни мне ветку свою тонкую.
    Без любви, без ласки пропадаю я.
    Белая берёза, ты — любовь моя»[/bilingbox]

    Die Liebe. Wie denn auch ohne? In der Knastlyrik ist sie natürlich ein wenig seltsam, und eigentlich durch und durch sexistisch (man denke nur an das berühmte Zitat von Michail Krug: „Ich mag keine Frauen, die eine eigene Meinung haben. Sobald eine Frau anfängt zu glauben, sie sei klug und habe Verstand, wie ein Mann, hört sie auf eine Frau zu sein. Wieso soll ich ihr dann in der Straßenbahn den Vortritt lassen, ihr die Hand reichen, wozu Blumen schenken?“), aber es gibt sie. Erinnerungen, romantische Oden, das war’s dann schon.

    Beim Versuch, in den Texten der Knastmusik die wichtigsten Schlüsselwörter auszumachen, erörtert Glaskowa im erwähnten Aufsatz, dass im neuen russischen Chanson drei Gefühle vereint seien, die zur russischen Seele gehören: Kränkung, Sehnsucht und Gram. Kein Wunder. Fast jedes Lied handelt von Enttäuschung vom Leben. Sogar wenn es eigentlich um Tattoos geht. Oder um schöne Mädchen.

    Das Schicksal – die Böse von Iwan Kutschin

    [bilingbox]

    Weiße Rosen blühen, die roten sind gewelkt
    Entweder hab ich den Traum versoffen 
    oder es hat ihn sich jemand gegriffen.~~~Иван Кучин, «Судьба-злодейка»

    Розы белые цветут, красные завяли,
    То ли я пропил мечту, то ль её украли.
    [/bilingbox]

    Opferdarstellung: Fake-Blatnjak

    Noch so ein aufwühlendes Phänomen ist beim russischen Chanson, ähnlich wie beim Rap, die Frage nach der Authentizität, der Glaubwürdigkeit. Während beim Rap die Polemik bei Ghetto- und Straßen-Metaphern ansetzt, lautet hier die Frage: Kann einer, der nie in Haft war, Kriminal-Chansonnier sein? Genrekönig Michail Krug, Sergej Nagowizyn – fast keiner der Blatnjak-Sänger hat je gesessen. Krug outete sich dazu sogar einmal: „Warum wollen denn alle diese Parallele ziehen: Er singt Knastlieder, also hat er gesessen – ich hab nicht gesessen!“

    Ein interessanter Fall war die Sängerin Katja Ogonjok, die zu Lebzeiten (sie starb 2007 im Alter von 30 Jahren) behauptete, sie sei zwei Jahre in Haft gewesen. Im Nachhinein dementierte ihr Producer Wladimir Tschernjakow die Legende. Was ist die Logik dahinter? Warum tun die Leute so, als wären sie kriminelle Autoritäten? Für das Show-Business oder aus Sympathie für die Subkultur? Das Phänomen der Glaubwürdigkeit ist in soziokultureller Hinsicht nicht ausreichend erforscht.

    Gefängnis-Underground

    Kehren wir zur Kriminallyrik als Konzept zurück, so zeichnet sich innerhalb des Gefängnisakademismus auch ein Underground ab – im wörtlichen Sinn das, was nicht aus den Zellen dringt, was nicht kommerzialisiert wird: radikale Selfmades, Amateur-Sänger hinter Gittern und Randerscheinungen aller Art. Sucht man auf Youtube nach „Gefängnismusik“ oder „Blatnjak“, erhält man einen Haufen Nonames, mit alten Handys aufgenommene Videos, in denen Alltagsszenen aus dem Häftlingsleben abgespult werden.

    Die Knastepoche: ein langes, glückliches Leben

    Der Knast braucht keinen Harteveld mehr. Das Internet ermöglicht es den Menschen, ungehindert und selbständig für ihre Ideen und Werte einzustehen. Das betrifft auch die Gefängnisfolklore: Das 21. Jahrhundert ist mit seinem Siegeszug der digitalen Technologien zumindest für jene Leute ein Goldschatz, die in strengen Vollzugsanstalten ein schweres Dasein fristen und keine richtige Gelegenheit zur Selbstverwirklichung haben.

    Sieht man auf dem Bildschirm die Gesichtslosigkeit derer, die vom schweren Los des Gaunerlebens singen, und denkt über die Bedeutung der globalen Knastlyrik nach, dann ist man verwirrt und verunsichert: Welche Art von Mitgefühl ist hier angebracht? Und was das russische Chanson angeht: Wird es weiter bestehen? Dieser Frage kann man nur mit Empirie beikommen, mit einfachen Worten: Warten wir mal hundert Jahre – dann wird man sehen. Zu die Bude.


    In dieser Übersetzung wurden Ausschnitte folgender Lieder zitiert:
    Leonid Utjossow Gop so smykom und S odesskogo kitschmana; Irtlatsch Strongilla: Na Bogatjanowskoj otkrylasja piwnaja; Arkadi Sewerny: Nu, ja otkinulsja, kakoj basar-woksal; Michail Gulko: Berjosy und Murka; Jelena Entina: Shol Stolypin; Michail Krug: Hallo, Mama; Alexander Djumin: Mama und Blagoweschtschenski zentral; Viktor Petlura Mama; Iwan Kutschin: Sudba-Slodejka

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  • Der FSB und mein riesiger rosa Schwanz

    Der FSB und mein riesiger rosa Schwanz

    F – S – B: diese drei Buchstaben haben heute in etwa die gleiche Signalwirkung wie früher KGB. Die Journalistin Olga Beschlej schildert aus eigener Erfahrung, wie der Geheimdienst mit ihr Kontakt aufnahm und welches Kopfkino das in Gang setzte: Ihr persönlicher FSB-Film beginnt mit einer turbulenten Wohnungssäuberung und gipfelt in einem riesigen rosa Vibrator.
    Ein Kabinettstück zu Überwachung und Überwachungsmanie, das diesen Monat im russischen Internet tausendfach geteilt wurde. Wir meinen: vollkommen zu Recht, und teilen den Text nun einmal mehr – auf Deutsch.

    Illustration © Darja Sasanowitsch
    Illustration © Darja Sasanowitsch

     

    „Werfen Sie mindestens eine nutzlose Sache pro Tag weg.“

                    – ADME, 10 Tipps, wie Sie Ihr Zuhause entrümpeln

    I.

    Unlängst war ich auf einer Veranstaltung, auf der erfahrene Journalisten und Autoren von Büchern über Geheimdienste erklärten, was man tun soll, wenn man einen Anruf vom FSB bekommt. „Auf keinen Fall“, sagten sie, „dürft ihr euch mit ihnen auf ein Treffen im Café einlassen. Lasst das Gespräch nicht in deren Dienststelle stattfinden. Geht keine informellen Beziehungen mit ihnen ein. Glaubt nicht, dass ihr sie überlisten könnt.“ Den erfahrenen Kollegen zufolge soll man sofort, nachdem einen der FSB kontaktiert und einen Gesprächstermin vorgeschlagen hat, in allen sozialen Netzen darüber berichten.

    Glaubt nicht, dass ihr sie überlisten könnt

    „Wenn ihr das nirgendwo bekanntgebt, dann schreibt der Agent, der euch angerufen hat, eine Dienstmeldung, dass der Kontakt hergestellt ist und man mit euch arbeiten kann. Irgendwann taucht er wieder bei euch auf. Daher stellt lieber gleich klar, dass ihr einen Knall habt und man mit euch lieber nichts am Hut haben soll. Dann schreibt der Mitarbeiter in seine Dienstmeldung: ‚Hat einen Knall.‘ Und ihr habt eure Ruhe.“

    Diese Anleitung fand ich äußerst beunruhigend. Denn ich war im August 2015 vom FSB zu einem informellen Gespräch geladen worden. Ich hatte abgelehnt, aber nirgends darüber geschrieben.

    Es wurde Zeit, diesen Fauxpas auszubügeln.

    II.

    Das war am 10. August 2015 gewesen.

    Tagsüber.

    Ich kann die Uhrzeit auch genauer sagen, denn um 13:35 schrieb ich meiner Chefin im Office-Chat: „Katja, ich krieg grad einen Anruf vom FSB.”

    Namen, Vornamen und Funktion des FSB-Mitarbeiters habe ich ebenfalls gespeichert. Als er sich vorstellte, habe ich sie gleich notiert. In irgendeinem Dokument, das ich gerade auf meinem Bildschirm offen hatte. Aber was das für ein Dokument war, weiß ich nicht mehr, und ich habe es noch nicht wiedergefunden.     

    Ich habe auch eine Aufnahme des Gesprächs. Auf meinem vorigen Telefon hatte ich ein Programm, das eingehende Anrufe automatisch aufzeichnete. Nicht am selben Tag, sondern erst viel später kam mir in den Sinn, dass diese Aufnahme wichtig sein könnte, und ich schickte sie an meine eigene E-Mail-Adresse. Letztens habe ich sie dort gesucht und festgestellt, dass ich mir regelmäßig E-Mails „ohne Betreff“ schicke, und fand da ein tatsächlich nicht unwichtiges Training für knackige Pobacken. Das Telefon von damals habe ich nicht mehr, also kann ich mir auch das Original nicht mehr anhören.

    Olga Iljinitschna? Hier der Föderale Sicherheitsdienst

    Im Endeffekt will ich darauf hinaus, dass ich gewissermaßen verantwortlich gehandelt habe, trotz des Schauders, der mich an der Kehle packte, als aus dem Hörer eine freundliche junge Männerstimme ertönte: „Olga Iljinitschna? Hier der Föderale Sicherheitsdienst.“    

    Der Anruf überraschte mich in der winzigen Küche meiner Mietwohnung. Ich saß im Pyjama an einem Text und aß gerade die letzten Bissen Rührei. Die Sonne überflutete den Tisch und wärmte mir die Hände. Es war schwül. Der Herr stellte sich vor und lud mich höflich zu einem Gespräch in eine der Dienstellen des FSB ein.  

    Mit Mühe brachte ich heraus:

    „Worum geht es?“

    „Das erfahren Sie bei dem persönlichen Treffen.“

    „Und warum nicht gleich?“

    „Nicht am Telefon.“  

    Einen Moment lang überdeckte pure Fassungslosigkeit alle sonstigen Gefühle in mir.

    „Wieso nicht am Telefon? Werden Sie etwa abgehört?“

    „Wer hört hier mit?“, kommt es verwundert aus dem Leitung.

    „Keine Ahnung. Ich sag das nur immer, wenn ich glaube, dass Sie mich abhören.“

    Wir schwiegen kurz.

    „Olga Iljinitschna, an welchem Tag, und zu welcher Uhrzeit würden Sie gern herkommen?“

    „Kann ich auch ablehnen?“

    „Würde ich Ihnen nicht raten.“

    „Und was passiert, wenn ich nicht komme?“

    „Das wäre nicht in Ihrem Interesse.“

    „Interessiert Sie meine Arbeit?“

    „Kann ich nicht sagen.“

    „Eine konkrete Geschichte?“

    „Ich habe nicht gesagt, dass wir Sie aus dienstlichen Gründen herbestellen.“

    „Sie interessieren sich also für meine Beziehung mit einem 47-jährigen, nicht arbeitenden Mann?“

    Der Mann in der Leitung stockte.

    „Nein.“

    „Aber die restliche Zeit verbringe ich ausschließlich mit Journalismus.“

    Wir schwiegen wieder ein wenig. Und da sagte ich, als ob in meinem Kopf plötzlich etwas angesprungen wäre:

    „Wissen Sie was, ich rufe wohl meinen Anwalt an.“

    III.

    „Hallo, bin ich beim FSB? Hier Beschlej!“

    „Hier ist nicht der FSB, ich habe Ihnen doch meine private Nummer gegeben!“, kommt eine genervte Stimme aus der Leitung. „Warum schreien Sie so?“

    „Ah. Weiß auch nicht. Damit Sie mich gut verstehen. Also, alle sagen, wenn keine offizielle Ladung vorliegt, dann muss ich nicht kommen.“

    „Wer – alle?“

    „Na, die Juristen und Journalisten, die ich kenne. Die sagen, ich kann ablehnen. Und wenn Sie eine Ladung haben, dann komme ich mit meinem Anwalt.“

    Wir sind zivilisiert. Wir verpassen den Leuten während des Gesprächs keine Elektroschocks 

    „Hören Sie, ich habe keine Ladung. Ich möchte Sie zu einem informellen Gespräch zu uns einladen, das Sie in keiner Weise gefährdet. Wovor haben Sie Angst? Wir sind ja nicht das Innenministerium. Wir sind zivilisiert. Wir verpassen den Leuten während des Gesprächs keine Elektroschocks .”

    „War das jetzt ein Scherz?“

    „Nein, wir machen das wirklich nicht.“  

    Wir schwiegen kurz.

    „Na, wie gesagt, ich komme nicht.“

    „Und wenn wir uns in einem Café treffen?“

    „Nein, ich komme trotzdem nicht.“

    Wir schwiegen wieder.

    In der Leitung raschelte es, als ob mein Gesprächspartner Seiten umblätterte.

    „Vielleicht haben wir unsere Bekanntschaft falsch angefangen“, sagte er nun ganz sanft. „Sie sind doch Journalistin. Sind Sie denn gar nicht neugierig, worüber ich mit Ihnen sprechen will?“

    „Nun ja … klar bin ich neugierig.“

    „Ihnen ist doch wohl bewusst, dass der FSB die einzige Quelle für wirklich hochwertige Informationen ist?“

    „Nun ja …“

    „Und Sie, Olga Iljinitschna, verweigern das Gespräch. Wissen Sie, wie viele Ihrer Kollegen eine solche Möglichkeit nie und nimmer ausschlagen würden? Und wissen Sie, wie glücklich viele Journalisten über so eine Gelegenheit wären?“

    „Glücklich?!“

    „Sie haben keine Ahnung, wie froh die Leute manchmal von uns weggehen!“

    „Froh?! Vom FSB?!“

    „Vom FSB! Wir sind Meister im Teamwork, von dem alle Beteiligten profitieren.“

    Olga Iljinitschna, … darf ich Ihr James Bond sein?

    „Aber Moment mal, wenn Sie schon Journalisten haben, zu denen Sie das alles durchsickern lassen, wozu brauchen Sie dann noch mich?“

    „Sie sind ein äußerst interessanter Mensch.“

    „Ich?“

    „Ungewöhnlich. Kreativ. Begabt. Ich würde sogar sagen … herausragend!“

    Etwas regte sich in mir. Der erbärmliche Teil meines Selbst, der immerzu gierig nach Lob und Anerkennung verlangte.  

    „Ach, kommen Sie, herausragend …“

    „Nein, wirklich. Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welchem Genuss ich Ihr Facebook lese. Diese Ironie, dieser Humor.“

    „Im Ernst? Sie lesen mein Facebook?“

    „Sie haben eine große Zukunft! Und Sie könnten uns helfen!“

    Wieder raschelte es in der Leitung.

    „Hier, zum Beispiel, am 5. März: ‚Ich will kein Büro-Nerd sein, ich werde jetzt Bond-Girl‘. Olga Iljinitschna, … darf ich Ihr James Bond sein?“

    Ich stellte mir vor, wie statt einem Aston Martin ein schwarzer Rabe bei mir vorfährt.

    „Nein.“

    IV.

    Die ersten Tage nach dem Anruf des FSB-Beamten war ich tatsächlich damit beschäftigt gewesen, allen meinen Bekannten davon zu erzählen. Wie ich später erfuhr, hatte ich intuitiv fast richtig gehandelt. Fast – denn ein schwerer Fehler war mir trotzdem unterlaufen.

    Würde ich jetzt eine Anleitung schreiben, was man tun und was besser lassen soll, wenn einen der FSB anruft, dann wäre der erste Punkt: ERZÄHLE ES NIE DEINER MAMA.

    „Olga! Du hast bestimmt ein Verfahren laufen!“

    „Aber nein, Mama, was denn für ein Verfahren, ich bitte dich …“

    „Ich sag’s dir!“

    „Es gibt doch nicht mal eine offizielle Einladung.“

    „Aber ein Verfahren!“

    „Was denn für eins?“

    „Irgendeins! Einfach so ruft einen der FSB nicht an! Am Ende sperren sie dich ein?!“

    „Ja, wofür denn?“

    „Wofür sitzen denn jetzt alle? Wegen irgendeinem Repost! Wegen vulgärer Sprache auf Facebook!“

    „Wegen vulgärer Sprache sitzt man noch nicht.“

    „Das sag ich dir jetzt als Mutter: Hör auf so schmutzige Wörter zu benutzen, Tante Tanja liest mit, wie soll ich der noch in die Augen schauen? Was sind das überhaupt für Ausdrücke, ein Mädchen wie du, schämst du dich nicht, wenigstens hast du aufgehört zu rauchen, ich kann nicht glauben, dass meine Tochter …“

    „Mama …“

    „Komm mir nicht mit ‚Mama‘! Der FSB ruft dich an! Am Ende machen Sie noch eine Hausdurchsuchung bei dir.“

    „Ja, wieso denn eine Hausdurchsuchung?“

    „Wieso gab es eine bei Sobtschak? Das arme Mädel, nicht mal anziehen durfte sie sich. Du wirst auch noch völlig nackt auf dem Flur stehen, das sag ich dir schon seit langem, du sollst zuhause Wollsocken anziehen, bei euch zieht’s von unten, durch diesen Spalt unten am Fenster …“

    „Mama …“

    „Olga, merk dir das. Wenn sie da sind, ruf mich sofort an. Ich komme.“

    Illustration © Darja Sasanowitsch
    Illustration © Darja Sasanowitsch

    V.

    Nach drei Tagen begannen dann seltsame Dinge mit mir zu geschehen. Beim Fensterputzen in der Küche fiel mir plötzlich auf, dass in die Außenmauer ein dicker Eisennagel eingeschlagen war. „Wenn sie kommen, kann ich da einen Beutel mit meinem Notebook aufhängen“, dachte ich und ärgerte mich gleich: „Na, da hast du ja was gefunden, worüber du dir den Kopf zerbrechen kannst.“

    Doch der Nagel ließ mir auch am nächsten Tag keine Ruhe.

    „Die schicken doch immer einen rund ums Haus. Der sieht dann, wie ich den Beutel aufhänge. Aber vielleicht auch nicht. Da steht ein Baum. Ich muss schauen, ob man unser Fenster von unten sieht. Verdammt, was soll der schon von dir wollen, du dumme Kuh.“

    Auf dem alten Notebook sind Nacktfotos

    Weitere zwei Tage später stand ich mit Einkaufstaschen unter dem Fenster und versuchte den Nagel zu erspähen.    

    „Man sieht ihn.“

    Die Krise bekam ich in der Nacht auf den sechsten Tag. Ich wachte auf, als hätte ich einen  Stoß in die Rippen bekommen, und dachte: „Auf dem alten Notebook sind Nacktfotos.“ Vor meinem inneren Auge erschien ein schmächtiger Mann um die 35. Hinter einem massiven Schreibtisch. In dunkelblauem Jackett, Krawatte und verschwitztem Hemd. Sein Gesicht kaum zu sehen, weil die Tischlampe auf mich gerichtet war.

    „Olga Iljinitschna, was soll denn das … nach außen hin so ein anständiges Mädchen. Was wird denn da Ihre Mama sagen?“

    Ich sprang aus dem Bett, riss den Schrank auf, zog die Kartons mit dem alten Technikkram heraus. Dieses Notebook funktionierte kaum mehr, doch ich schaffte es, es hochzufahren. Der Ordner mit den unseligen Fotos war so gut verborgen, dass ich ihn eine ganze Stunde lang suchen musste. Schlussendlich war alles gelöscht.

    Gut, dass ich die Fotos noch irgendwo auf CD habe. Shit

    Mir wurde ein wenig leichter. Ich versteckte den Computer wieder im Karton und ging ins Bett. Um die Fotos tat es mir ein bisschen leid. Ich hatte sie mit einer Freundin im vierten Studienjahr gemacht, und wahrscheinlich war ich nie so schön und fraulich wie auf diesen Fotos. Mein Blick so direkt und ruhig, als ob Stehen mit nackten Brüsten ganz normal für mich wäre. Gut, dass ich noch irgendwo die CD habe.

    Shit.  

    Die darauffolgende Stunde suchte ich sie.

    Ich durchwühlte die Kartons und fand eine verstaubte Plastiktüte. Das waren meine Schulsachen. Mir fiel ein, dass die Ermittler bei der Hausdurchsuchung von irgendeinem Oppositionellen die Schulhefte mitgenommen hatten. Ich griff in die Tüte und zog das Russischheft der fünften Klasse heraus. Ich schlug es irgendwo auf. Am Anfang der Seite stand in salatgrüner Kugelschreibertinte: „Diktat über Fremdwörter aus dem Französischen“. Unter der Überschrift tummelten sich Wörter wie „Builljon“, „Champinjon“ und „Kompanjon“. Mangelhaft.

    Ich musste daran denken, wie Mama über dieses Diktat gelacht hatte. Der Mann hinter dem massiven Schreibtisch wieherte auch, den Kopf zurückgeworfen: „Schau, Wassja, Builljon, Champinjon und Kompanjon, ahahahahahaaaa!“ Hinter seinem Rücken tauchte ein Schatten auf, den es ebenfalls vor Lachen schüttelte.

    Es war widerlich. Und dieses dumme, ach so niedliche Diktat schien mir plötzlich intimer als die gynäkologischen Ultraschallbilder, die ich schon in eine extra Tüte gepackt hatte. Ich nahm einen Koffer und legte die medizinische Unterlagen und Schulhefte dort hinein. Diese Sachen wollte ich am nächsten Tag zu einem Freund bringen. Dann kamen meine Notizblöcke von der Arbeit dran. Sie kamen mir alle plötzlich schrecklich kompromittierend vor: Putin und Nawalny auf jeder Seite, die Telefonnummern der Auskunftspersonen, Skizzen und Grafiken, Daten von soziologischen Umfragen, Sätze wie „lasst mich schlafen“ oder „fuck it all“ in den Ecken.

    Bis acht Uhr morgens zerriss ich meine Tagebücher in kleine Schnipsel

    Bis fünf Uhr morgens schrieb ich alles Wichtige heraus und speicherte es in der Cloud, dann zerriss ich die Notizblöcke in winzige Schnipsel. Irgendwann suchte mich die Vorstellung heim, wie der Mann im blauen Jackett die Papierfetzen mit einer Pinzette zusammenfügen würde, doch mit Willenskraft zwang mich, dieses Bild aus meinem Kopf zu jagen.

    Wieder legte ich mich hin. Der Schlaf ließ lange auf sich warten. Ich wälzte mich hin und her. Sah zum Fenster hinaus. Horchte. Döste endlich ein. Träumte etwas Beklemmendes. Gegen sieben Uhr morgens wachte ich mit dem Gedanken auf, dass der FSB bloß nicht erfahren durfte, dass ich im vierten Studienjahr in einen Professor vernarrt war, zu Beginn des Magisterstudiums in einen Schauspieler am Theater Satirikon und in Jane Austens Mr. Knightley, der mir bis heute nicht egal ist.

    Bis acht Uhr morgens zerriss ich meine Tagebücher in kleine Schnipsel.

    Um neun zog der Mann im Jackett meine Spitzenhöschen aus dem Wäschekorb und sagte: „Da haben wir sie, die Schmutzwäsche der Opposition.“ Ich warf die Waschmaschine an.

    Unterdessen wuchs der Müllberg.

    Ich habe mal in einem Artikel mit Tipps zum Ausmisten gelesen, wenn man alles Unnötige loshaben will, dann soll man jeden Gegenstand in die Hand nehmen, ihn ansehen und sich fragen: „Verspüre ich Freude über den Besitz dieses Gegenstandes?“

    Während meiner Vorbereitung auf die hypothetische Hausdurchsuchung stellte ich mir vor, wie ein fremder Mensch meine Sachen anfasst, und fragte mich dabei: „Verspüre ich Entsetzen?“

    Ich warf das Halloweenkostüm aus Schulzeiten weg, die gefakten Chanel-Stiefel, die Gay-Pornos und eine originalversiegelte CD mit einer bizarren Rede von Schewtschuk zur Geschichte Russlands. Das hätte ich alles schon längst wegwerfen sollen, doch jetzt war dieses Zeug nicht mehr überflüssig, sondern bedrohlich. Jedes Ding bekam eine neue Bedeutung.

    Ich wischte den Boden und die Regale. Räumte den Tisch auf.

    Endlich war alles fertig.

    Alles war sauber.

    Alles war leer.

    Im Zimmer zog es ordentlich, der letzte Staub senkte sich in der Sonne. Über den nassen Boden fegte ein kalter Luftstrom. Auf einmal fröstelte es mich. Ich erinnerte mich, dass in einer Schublade in der Kommode meine Wollsocken lagen. Ich öffnete auf gut Glück die unterste, wühlte in den dort vergessenen Klamotten und spürte plötzlich etwas Großes, Hartes, Geschmeidiges.   

    Ich bekam Gänsehaut, als mir einfiel, was dort lag.

    Der Mann im blauen Jackett steckte grinsend die Hand in die Schublade, pfiff beeindruckt und zog einen riesen, rosa Schwanz mit Schaltern zwischen den Anziehsachen hervor.

    „Der gehört nicht mir“, sagte ich.

    Der Mann drückte auf einen Schalter. Der Schwanz begann aggressiv zu zappeln.

    „Wer wird denn zuhause fremde Schwänze aufbewahren?“ merkte der Besucher zu Recht an.

    Nehmt bitte diesen Schwanz in Pflege

    Dieser Penis war ein Geburtstagsgeschenk meiner besten Freundin gewesen, das ich, verstört und fassungslos, schnell und sündig irgendwo versteckt hatte. Und da war er nun. Riesig, lang, in peinlichem Rosa. Stolz wie ein Jedi-Schwert. Das Excalibur der modernen Jungfer.

    Oh Gott, welche Schmach.

    Ich packte den rosa Penis und stürzte zu dem Koffer mit den Sachen, die ich zu Freunden bringen wollte.

    „Nehmt bitte diesen Schwanz in Pflege“, kommentierte das blaue Jackett.

    Ich hielt inne. Stimmt. Seinen Bekannten einen Koffer mit einem Notebook, Heften und Dokumenten zu geben – das ist das Eine. Einen Koffer mit einem Schwanz aushändigen … das kam mir auf einmal schrecklich unanständig vor. Sogar ein bisschen niederträchtig.

    Fast hätte ich ihn in den Müllsack gesteckt, doch dann sah ich den rosa Schwanz in den schrundigen Händen der Obdachlosen im Hof, der Hausmeister, der Müllmänner. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich rannte mit dem Schwanz in der Hand durch die Wohnung. Es muss doch irgendwo einen Ort geben, wo nichts gefunden werden kann.

    Mein Blick wanderte über die leeren Regale, hinüber zu den Bücherbrettern. Hinter den gesammelten Aufsätzen von Dostojewski verstecken? Der Mann im blauen Jackett kicherte fies. Wohin? Wohin damit? Ich überflog die Buchrücken. In meinem Kopf blitzten Satzfetzen auf.

    Ein Mann ging aus dem Haus. Nach dem Tod ihres Mannes begann Sofja Petrowna einen Schreibmaschinenkurs. Sie spielten Karten beim Pferdetreiber Naumow. Wie gelangt man auf diesen geheimnisvollen Archipel? Ihr meine Lieben, ich küsse Euch. Ossja.

    Plötzlich versiegte die Energie, die mich stundenlang angetrieben hatte.

    Verschwand, als hätte es sie nie gegeben.

    In meinem Kopf wurde es leer und still.

    Und dann packte mich endlich eine maßlose Erschöpfung, ich legte den Schwanz entschlossen mitten auf den leeren Tisch und ging schlafen.  

    P.S.

    Der freie Schwanz, wie ich dieses Erzeugnis seither insgeheim nenne, liegt immer noch auf meinem Tisch. Manchmal findet ihn ein Gast unter Stapeln von Papier und Notizbüchern, betrachtet ihn staunend von allen Seiten und legt ihn zurück.


    Illustrationen: Darja Sasanowitsch

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