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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Die belarussische Opposition braucht einen Freund, aber die Ukraine keinen weiteren Feind “

    „Wir sind nicht nur durch ein gemeinsames Schicksal und eine verwandtschaftliche Bande verbunden, sondern auch durch den Wunsch, Freunde zu sein und mit unseren Nachbarn auszukommen.” Mit diesen Worten gratulierte Alexander Lukaschenko der Ukraine am 24. August 2024 zum Unabhängigkeitstag. Eine Antwort von ukrainischer Seite gab es nicht. Denn im dritten Jahr muss sich das Land dem russischen Angriffskrieg erwehren. Einem Krieg, in den auch der belarussische Machthaber unheilvoll verstrickt ist.   

    Bis zum Beginn der großen russischen Invasion im Februar 2022 haben die belarussische und die ukrainische Regierung ein sehr pragmatisches Verhältnis gepflegt. Dieser Pragmatismus scheint jedoch trotz der Kriegsbeteiligung Lukaschenkos für die ukrainische Regierung weiterhin nützlich zu sein. Warum das so ist, erklärt Olga Loiko, Chefredakteurin des belarussischen Online-Mediums Plan B., in ihrer Analyse. 

    Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai
    Die Journalistin Olga Loiko musste ihre Heimat Belarus verlassen / Foto © Siarhei Balai

    Belarus braucht keinen Krieg. Erstens, weil Lukaschenko klar ist, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann. „Wir wollen nicht gegen euch kämpfen. Nicht, weil wir euch so liebhaben, sondern weil dann die Front um 1200 km länger wäre. So lang ist nämlich die ganze Grenze: 1200 km.“ So gab Lukaschenko im Interview mit einem russischen TV-Sender seinen imaginären Dialog mit der Ukraine wieder, wobei er die belarussisch-ukrainische Grenze meinte. Russlands zunächst lasche Reaktion auf den Vorstoß der Ukraine in der Oblast Kursk beweist: Die Ressourcen reichen nicht einmal für die Verteidigung des eigenen Territoriums. Schon früher hatte Lukaschenko auf Vorwürfe, er würde den Bündnispartner nicht tatkräftig genug unterstützen, erwidert, er würde ja gern, aber seine Vertikale würde nicht noch eine Front schaffen. Seit 2020 sind alle Kräfte auf die Bekämpfung des inneren Feindes konzentriert. Das Aufwenden von Ressourcen auf einen Feind im Außen könnte die innere Stabilität des belarussischen Regimes ernsthaft gefährden.  

    Der zweite Grund dafür, sich aus dem Krieg herauszuhalten, ist, dass die belarussische Bevölkerung von diesem Konflikt nicht persönlich betroffen sein will. Umfragen von Chatham House zufolge unterstützte im Dezember 2023 nur rund ein Drittel der Belarussen Russlands Aggression gegen die Ukraine. Und nicht einmal die wollten, dass sich Belarus direkt beteiligt. Eine aktive Teilnahme an den Kampfhandlungen auf russischer Seite zogen nur zwei Prozent der Befragten in Betracht, ein Prozent gab an, auf ukrainischer Seite kämpfen zu wollen. Das sollte man jedoch nicht als antimilitaristischen Konsens missverstehen. Nur 29 Prozent der Befragten waren bereit, eine absolute Neutralität auszurufen, die russischen Truppen aus Belarus abzuziehen und sich auf keine der beiden Seiten zu stellen. Weitere 27 Prozent meinten, Belarus sollte Russland unterstützen und die Ukraine verurteilen, sich jedoch nicht aktiv am Krieg beteiligen.     

    Russland greift zu einer simplen Methode, um seine Staatsbürger in den Krieg zu treiben: Geld. Würde Lukaschenko so wie Putin den Kämpfern einen anständigen Sold anbieten, würde sich womöglich so mancher freiwillig melden. Indessen gibt es genug Bewerber für die Fabrik bei Orscha, in der im Schichtbetrieb Projektile für die russische Rüstungsindustrie hergestellt werden. Nichts Persönliches. Rein geschäftlich.  

    Zeiten blühender Freundschaft 

    Apropos Geschäfte. An Lukaschenkos Friedfertigkeit gegenüber seinen Nachbarn im Süden könnte man zweifeln, wären da nicht seine langjährigen und durchaus lukrativen geschäftlichen Interessen in der Ukraine – sowohl seitens des Staates als auch einzelner belarussischer Staatsbürger, darunter Geschäftsleute aus Lukaschenkos engstem Kreis. Der Krieg hat ihnen Sanktionen, gesperrte Konten und sonstige Unannehmlichkeiten beschert. Natürlich werden auch am Krieg Milliarden verdient, doch dubiose Gewinne aus der Schattenwirtschaft lassen sich nun mal schlecht mit legal erworbenen und in geordneten Bahnen ausbezahlten Einkünften vergleichen. 

    Die Ukraine war vor dem Krieg zweitstärkster Handelspartner des Landes und lag damit zum Beispiel vor China. 2021 machten die Exporte in die Ukraine 5,4 Milliarden US-Dollar aus – das sind 13,6 Prozent des gesamten belarussischen Exportvolumens.      

    Etwa die Hälfte des Gesamtexports bildeten Erdölerzeugnisse. Für Belarus war das ein äußerst lukrativer Markt: Billige Rohstoffe aus Russland und kurze Lieferstrecken schufen optimale Bedingungen für satte Gewinne. In und durch die Ukraine wurden belarussische Düngemittel, Pkw und Busse, Lebensmittel und Strom exportiert. Soweit zu den guten Handelsbeziehungen. Doch die Freundschaft ging tiefer. Wie tief, das kann man an den Lieferungen von Bitumen aus der Raffinerie des Belarussen Nikolaj Worobej sehen, der Lukaschenko und Viktor Medwedtschuk, „Putins Mann in der Ukraine“, nahestehen soll.

    Außer Bitumen lieferten Worobejs Raffinerie und andere Firmen russisches Dieselöl und Kohle in die Ukraine. 2019 segnete das Antimonopolkomitee der Ukraine den Verkauf eines 51-Prozent-Anteils aus dem Grundkapital von PrikarpatSapadtrans an Worobej ab. Dabei handelt es sich um eine Pipeline für den Transport von Dieselöl aus Russland und Belarus über die Ukraine nach Europa. Allerdings beschloss der Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine schon im Februar 2021, also ein Jahr vor der großen Invasion, diese Leitung wieder zu Staatseigentum zu machen.  

    Verbrannte Erde? Nicht unbedingt 

    Der Sanktionsdruck auf belarussische Unternehmen in der Ukraine begann im Oktober 2022, als Wolodymyr Selensky den ersten Erlass über die Anwendung „persönlicher spezieller ökonomischer und anderer Beschränkungsmaßnahmen“ unterzeichnete. So wurden gegen 118 Unternehmen und Organisationen aus Belarus Sanktionen verhängt. Ihre Vermögen in der Ukraine wurden eingefroren, die Handelsverträge aufgelöst, die Lizenzen entzogen.         

    Jetzt spielen sich die ökonomischen Beziehungen im Bereich der Schattenwirtschaft ab. Aus den besetzten ukrainischen Gebieten werden Produkte aus der Landwirtschaft ausgeführt, in Belarus verarbeitet und weltweit verkauft. Umgekehrt wird Glas über eine polnische Handelsvertretung der belarussischen Firma Gomelsteklo in die Ukraine geliefert, weil dort durch die Kriegsschäden ein dringender Bedarf an Fensterglas besteht. 

    Außerdem ist die Ukraine auf Ersatzteile für technische Geräte angewiesen, die sie massenhaft in Belarus eingekauft hat und jetzt für militärische Zwecke nutzt. Auch wenn es vorkommt, dass man wegen des Kaufs eines belarussischen Traktors auf Staatskosten vor Gericht steht. Ein Spiel ohne klare Regeln, dafür mit eindeutigen Interessen und hohen Risiken.  

    Keine Lust auf demokratische Kräfte 

    Das andere, neue Belarus, das von Lukaschenkos Regime ins Ausland vertrieben wurde, pflegt währenddessen aktiv gute Beziehungen zu den USA, der EU und anderen Ländern. Doch weder 2020 noch nach Beginn des großangelegten Krieges gelang es den demokratischen Kräften von Belarus, den Dialog mit der ukrainischen Regierung in Schwung zu bringen. Zuerst waren die Belarussen mit den stürmischen Ereignissen von 2020 beschäftigt, als auf die Präsidentenwahlen ein Massenenthusiasmus folgte, der in nicht minder massenhafte Proteste und Repressionen mündete. Dann stand Selensky angesichts des russischen Einmarsches vor unzähligen Herausforderungen, die für den Fortbestand seines Landes von zentraler Bedeutung waren.   

    Ein ernstzunehmendes Thema für ein Treffen mit der belarussischen Exilregierung bot sich ohnehin nicht an. Spenden an die ukrainischen Streitkräfte und Kämpfer für das Kalinouski-Regiment sind natürlich gern gesehen, aber für Meetings, Bündnisse und Allianzen hat Kyjiw genug andere Kandidaten. Ein beinahe zufälliger Handschlag zwischen Selensky und Tichanowskaja auf einer Veranstaltung in Deutschland im Frühjahr 2023, ein fernmündlicher Austausch von Beistandsbekundungen für die europäische Zukunft – mehr ist da nicht.   

    Was die Ukraine wirklich interessiert, ist bislang nach wie vor fest in Lukaschenkos Hand. Mit ihm scheint die ukrainische Staatsführung Kontakt zu halten und Gespräche zu führen. Im Juni 2024 konnte Kyjiw fünf Personen aus belarussischer Gefangenschaft befreien. Einer davon war Nikolai Schwez, ein Ukrainer, dem Minsk einen Sabotageakt gegen ein russisches A-50-Kampfflugzeug in Matschulischtschi vorwarf. Die Gefangenen wurden gegen Metropolit Jonathan eingetauscht, der in der Ukraine wegen prorussischer Aktivitäten verurteilt war. Lukaschenko plauderte aus Versehen aus, dass dieser Austausch auf die Bitte des russischen Präsidenten hin erfolgt sei. 

    Übrigens wartete der Tag, an dem der Austausch bekannt wurde, mit einer weiteren Überraschung auf. Am Kyjiwer Berufungsgericht wurde die Beschlagnahme eines Teils des Vermögens einer Tochterfirma des belarussischen Staatsunternehmens Belarusneft aufgehoben. Insofern ist das Verhältnis Kyjiws zu Lukaschenko zwar nicht unbedingt besser als zu Tichanowskaja, aber effektiver. Und daran wird sich in nächster Zukunft wohl auch nicht viel ändern.                     

    Angespannte Grenze 

    Sämtliche Kontakte, Übereinkünfte und Andeutungen zwischen Minsk und Kyjiw sind momentan instabil. Nach der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine im Februar 2022, die unter anderem von belarussischem Staatsgebiet aus erfolgte, war das Risiko sehr hoch, dass auch die belarussische Armee in die Kampfhandlungen einbezogen würde. Seitdem kam es im Grenzgebiet immer wieder zu Spannungen. Sowohl Belarus als auch die Ukraine positionierten zusätzliche Kampfeinheiten, um sie dann teilweise wieder abzuziehen. 

    „Ich musste fast ein Drittel meiner Armee zusätzlich einsetzen, um das, was da war, zu verstärken. Dann haben wir über unsere Kontakte zu den ukrainischen Geheimdiensten gefragt: Wozu macht ihr denn das? Sie sagten ehrlich: Ihr wollt uns mit den Russen zusammen von Homel aus beschießen. Aber das hatten wir gar nicht vor“, beteuerte Lukaschenko im August 2024. 

    Ein Konflikt zwischen Minsk und Kyjiw ließe sich heute ohne Weiteres provozieren. Allein die Kamikaze-Drohnen, die ständig über belarussisches Territorium fliegen, bieten dazu allen Anlass. Darüber hinaus finden routinemäßige Manöver statt, zu denen sich das ukrainische Außenministerium bereits geäußert hat: „Wir warnen die Amtsträger der Republik Belarus davor, unter dem Druck aus Moskau katastrophale Fehler zu begehen. Wir rufen ihre Streitkräfte dazu auf, die feindlichen Manöver zu unterlassen und die Truppen abzuziehen.“   

    Die Angst vor einer potenziellen Eskalation bringt Lukaschenko anscheinend dazu, an seinem Bündnispartner vorbeizuverkünden, dieser habe seine Ziele bereits erreicht: „Ihr redet manchmal von Nazis. Die gibt es da gar nicht mehr. Die Ukraine ist entnazifiziert. Ein paar Randalierer laufen vielleicht noch rum, aber die interessieren keinen mehr“, behauptete er unlängst.                             

    Aber Lukaschenko widerspricht sich so oft selbst, dass man lieber auf das schauen sollte, was er tut. Manchmal spricht auch sein Schweigen Bände. Im August 2024 zum Beispiel vermied Lukaschenko es vier Tage lang tunlichst, den ukrainischen Vorstoß in der russischen Oblast Kursk zu bemerken. Von offizieller Seite tat man weder Besorgnis kund noch reagierte man auf die Unterstellungen einiger Z-Blogger, es gebe bei der Vorbereitung des Angriffs eine belarussische Spur. Man analysierte offenbar die Schwachpunkte des Bündnispartners und überlegte, wie sich die Dinge wohl weiterentwickeln mochten. Etliche dieser Szenarien wären für Lukaschenkos Regime alles andere als günstig gewesen. 

    Dieses Rechenbeispiel zum Verhältnis zwischen Kyjiw und Minsk enthält vorerst noch zu viele Variablen. Die belarussischen demokratischen Kräfte brauchen einen Freund, aber Selensky nicht noch einen Feind. Und solange Lukaschenko so viel Macht hat, wird sich Kyjiw auf keine Eskalation einlassen. Wenn man einen Krieg gegen überlegene Gegner führt, ist es wohl am klügsten, auf Pragmatismus zu setzen. Es liegt bei den Gegnern von Lukaschenkos Regime, die Ukraine in ihrem Kampf aufrichtig und konsequent zu unterstützen, ohne beleidigt zu sein, Ansprüche zu stellen oder Gegenleistungen zu erwarten.

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  • Ein Tribunal für Putin

    Ein Tribunal für Putin
    Aufgereiht in Plastiksäcken liegen Opfer willkürlicher Tötungen durch russische Besatzer auf dem Friedhof von Butscha. Ermittler haben sie im April 2022 geborgen, um jedes einzelne Verbrechen nachzuweisen / Foto © IMAGO / ZUMA Press Wire 

    Die Liste russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ist lang. Sie reicht von Folter und Massenmord an der Zivilbevölkerung in Butscha über den Beschuss des Kinderkrankenhauses Ochmatdyt in Kyjiw bis zur Sprengung des Kachowka-Staudamms und ist damit noch lange nicht zu ende. Ermittler und zivilgesellschaftliche Initiativen haben bereits mehr als 140.000 einzelne Taten dokumentiert. Neben dem Tatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehen einige Völkerrechtler auch den Tatbestand des Völkermords als erfüllt an.

    Auf das Entsetzen folgt die Frage: Wie können die Aggressoren zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Möglichkeiten gibt es, Gerechtigkeit für die Opfer herzustellen und wie lassen sich Lehren für die Zukunft ziehen?  

    Die Journalistin Farida Kubangalejewa hat darüber mit zwei ausgewiesenen Experten über diese Frage gesprochen:  

    Der Soziologe und Politikwissenschaftler Michail Sawwa (geb. 1964) war in den 1990-er Jahren Beauftragter für Nationalitätenfragen im Gebiet Krasnodar und lehrte er an der Staatlichen Universität des Kubangebiets Politikwissenschaften. 2013 verbrachte er mehrere Monate in Untersuchungshaft, bevor er in einem konstruierten Verfahren wegen Veruntreuung zu drei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde. 2016 gewährte ihm die Ukraine Asyl. Als Mitarbeiter des Center for Civil Liberties in Kyjiw setzt er sich heute für die Dokumentation und Verfolgung russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine ein. 

    Ilja Schablinski (geb. 1962) lehrte als Professor für Verfassungsrecht an der Higher School of Economics in Moskau. In den 1990er Jahren war er an der Ausarbeitung der russischen Verfassung beteiligt. Von 2012 bis 2019 war er Mitglied im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten. Im Juni 2024 setzte das Justizministerium Schablinski auf die Liste der „ausländischen Agenten“.

     

    Michail Sawwa, Farida Kurbangalejewa, Ilja Schablinski / Montage nemoskva.net

    Farida Kurbangalejewa: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag hat bisher Haftbefehle gegen eine Handvoll offizieller Vertreter der Russischen Föderation erlassen, die an Kriegsverbrechen in der Ukraine beteiligt sind: Präsident Wladimir Putin, die Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa, Generalstabschef Waleri Gerassimow sowie den ehemaligen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. Viele Beobachter ohne professionellen Hintergrund, auch ich, fragen sich: Warum sind es so wenige Personen, die der IStGH zumindest hier zur Verantwortung zieht? Und warum wurden gerade sie ausgewählt? 

    Michail Sawwa: Es sind noch ein paar mehr. Der IStGH hat auch Haftbefehle gegen den Kommandeur der Schwarzmeerflotte und den Kommandeur der Langstrecken-Luftwaffe Russlands erlassen. Grund dafür war der gezielte Beschuss ziviler Infrastruktur der Ukraine im Winter 2023. Damals wurde das System der Energieversorgung zerstört. Genau das hat die russische Regierung auch jetzt wieder vor. 

    Warum gerade diese Personen? Der Internationale Strafgerichtshof stellt erst einen Haftbefehl aus, wenn sehr überzeugende Beweise für ein Verbrechen vorliegen. Bei der Anklage gegen den ehemaligen Vizepräsidenten des Kongo hat er 5000 Zeugen vernommen. Erst wenn jeder Zweifel ausgeräumt ist, wird er tätig. Diese sechs Leute haben praktisch selbst bescheinigt, dass sie Kriegsverbrechen begangen haben. Sie haben gegen Artikel acht des Römischen Statuts verstoßen, das für den IStGH in etwa die gleiche Funktion hat wie das Strafgesetzbuch für nationale Gerichte. 

    Wladimir Putin und seine „Kinderrechtsbeauftragte“ Maria Lwowa-Belowa sind zwei von insgesamt sechs russischen Staatsbürgern, gegen die der Internationale Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine Haftbefehle ausgestellt hat / Foto © IMAGO/ZUMA Press Wire 

    Ilja Schablinski: In der Tat ist die Beweislage in zwei Anklagepunkten sehr klar. Dass Kinder mit ukrainischer Staatsbürgerschaft aus dem Land gebracht und an Familien in verschiedenen Regionen Russlands verteilt wurden, haben Lwowa-Belowa und auch Putin offen gesagt. Und zum Beschuss der ukrainischen Energieversorgungs-Infrastruktur haben sich sowohl Schoigu als auch Gerassimow ziemlich ausführlich geäußert. Auch Putin selbst hat sich ja damit gebrüstet, dass Angriffe auf Kraftwerke verübt werden. Ich denke, das war die Grundlage, auf der der Ankläger des IStGH tätig geworden ist. Die Liste der Kriegsverbrechen, für die auch weitere Verdächtige zur Verantwortung gezogen werden könnten, ist natürlich viel länger. 

    Maria Lwowa-Belowa beim Besuch eines Kinderheims im russisch besetzten Schachtarsk im Gebiet Donezk im August 2023 / Foto © IMAGO/SNA 

    Michail Sawwa: Zum einen wird diese Liste ergänzt werden. Es werden bereits einige weitere Fälle geprüft. Zum anderen ist der IStGH nicht die einzige internationale Instanz, vor der im Ukrainekrieg begangene Kriegsverbrechen verhandelt werden. Für das größte Verbrechen – den Beginn des Angriffskriegs und den Überfall auf ein Nachbarland – ist der IStGH beispielsweise nicht zuständig. Dafür muss ein internationaler Sondergerichtshof eingerichtet werden. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Und der muss nicht unbedingt in Den Haag angesiedelt sein, richtig? 

    Michail Sawwa: Genau. Er kann überall tätig sein – in einem Land oder auch in mehreren Ländern. Das hängt davon ab, wie er letztendlich aussehen wird. Bisher sind nur sehr allgemeine Planungen bekannt. In einer Entschließung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates heißt es zum Beispiel, dass ein internationaler Sondergerichtshof erforderlich ist, ohne dass das näher ausgeführt wird. In der Ukraine ist ein Konzept erarbeitet worden, das sich damit befasst, was im Einzelnen getan werden soll, um die Schuldigen für das Verbrechen des militärischen Angriffs zur Rechenschaft zu ziehen. Auch dort steht, dass unbedingt ein internationaler Sondergerichtshof berufen werden muss. Und es werden auch einige konkrete Angaben gemacht. 

    Ich dokumentiere seit dem 3. März 2022 Kriegsverbrechen. Ich weiß jetzt, dass ich einen Traum und ein Ziel habe, das ich bis ans Ende meines Lebens verfolgen werde: Ich werde darauf hinarbeiten, dass die Leute, die das getan haben, diejenigen, die ihnen den Befehl erteilt haben und alle anderen Beteiligten ins Gefängnis kommen

    Farida Kurbangalejewa: Wie wichtig ist es für die Ukrainer – und für Sie persönlich – dass dieser Gerichtshof in der Ukraine selbst tätig ist? 

    Michail Sawwa: Er wird mit Sicherheit hier tätig sein, zumindest teilweise. Die Ermittler werden hier arbeiten. Was die Richter betrifft, weiß ich es nicht, sie müssen sich nicht unbedingt in der Ukraine befinden. Entscheidend ist für uns etwas anderes: Ich dokumentiere seit dem 3. März 2022 Kriegsverbrechen. Dabei bin ich auch in einem Kampfgebiet im besetzten Teil der Oblast Kyjiw gewesen, wo vor meinen Augen Menschen umgebracht worden. Ich weiß jetzt, dass ich einen Traum und ein Ziel habe, das ich bis ans Ende meines Lebens verfolgen werde. Ich werde darauf hinarbeiten, dass die Leute, die das getan haben, diejenigen, die ihnen den Befehl erteilt haben und alle anderen Beteiligten ins Gefängnis kommen, zur Abschreckung für andere Täter.

    Das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag / Foto © IMAGO/Dreamstime 

    Ilja Schablinski: Ich hoffe darauf, dass die Beteiligten an der Entfesselung dieses furchtbaren, blutigen Angriffskriegs auch in Russland zur Verantwortung gezogen werden. Und zwar wegen der Einleitung des Krieges, für die der IStGH nicht zuständig ist. Ob es dazu kommt, ist ungewiss. Aber ich stimme denen zu, die sagen, dass man darauf vorbereitet sein muss. Man braucht eine Rechtsgrundlage. Im Strafgesetzbuch Russlands gibt es einschlägige Artikel: Nr. 353, „Planung, Vorbereitung und Einleitung eines Angriffskriegs“ und Nr. 354, „Öffentliche Aufrufe zur Durchführung eines Angriffskriegs“ – denken Sie an die russischen Propagandisten. Ich will, dass diejenigen, die letztlich die Schuld am gewaltsamen Tod hunderttausender ukrainischer Bürger und auch meiner russischen Landsleute tragen, auf Grundlage dieser Artikel zur Rechenschaft gezogen werden. Das ist das schlimmste Verbrechen überhaupt. 

    Der Internationale Strafgerichtshof und ein internationaler Sondergerichtshof werden tätig, wenn eine Rechtsprechung auf nationaler Ebene nicht möglich oder nicht gewollt ist. In Ruanda etwa wollten die neuen Machthaber nicht, dass der Prozess im eigenen Land stattfindet, und haben sich an den IStGH gewandt. In Russland gibt es verfassungsrechtliche Einschränkungen, beispielweise dürfen russische Staatsbürger nicht an andere Staaten ausgeliefert werden. Aber das lässt die Möglichkeit offen, dass Personen, die Kriegsverbrechen befohlen und begangen haben, unter einer anderen Regierung verurteilt werden und ins Gefängnis kommen. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Auf welcher Hierarchieebene beginnt die Verantwortung für Kriegsverbrechen? Wenn der Kommandeur der Schwarzmeerflotte den Befehl erteilt, Raketen abzufeuern, ist er offensichtlich schuldig. Aber wie ist es mit demjenigen, der einfach auf den Knopf drückt, und kurz darauf schlägt eine Rakete im Kinderkrankenhaus Ochmatdyt ein? Er führt ja nur einen Befehl aus.

    Am 8. Juli 2024 trifft ein russischer Marschflugkörper die  Kinderklinik Ochmatdyt in Kyjiw. Eltern und Pfleger bergen die Patientinnen aus der Krebsstation. Die Vereinten Nationen stufen den Angriff als Kriegsverbrechen ein / Foto © IMAGO/ZUMA Press Wire 

    Wer das Ziel der Rakete kennt und auf den Knopf drückt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er einen verbrecherischen Befehl ausführt

    Michail Sawwa: Trotzdem macht er sich schuldig. Es gibt den Begriff des „verbrecherischen Befehls“. Das ist alles ziemlich detailliert beschrieben und gehört in guten Armeeeinheiten zur Ausbildung der Soldaten. Wer das Ziel der Rakete kennt und auf den Knopf drückt, muss sich darüber im Klaren sein, dass er einen verbrecherischen Befehl ausführt. Es gibt noch kompliziertere Situationen: Wenn Untergebene ein Kriegsverbrechen begehen und ihr Vorgesetzter nichts davon weiß, ist er trotzdem schuldig. Das ergibt sich aus dem humanitären Völkerrecht, das vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz kodifiziert wurde. Ein Artikel besagt, dass ein Vorgesetzter sich für Kriegsverbrechen seiner Untergebenen verantworten muss, wenn er davon einfach nur hätte wissen können. Der Kreis der Schuldigen ist also sehr viel weiter gefasst, als man im Kreml jetzt meint. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Hierzu wird auch eine andere Auffassung vertreten: Russische Militärangehörige, die ein Kriegsverbrechen begangen haben, sind Kombattanten. Sie führen die Befehle ihrer Offiziere aus und tragen selbst keine Verantwortung für ihr Tun. 

    Ilja Schablinski: Das muss das Gericht klären. Es gibt jedenfalls den Begriff des verbrecherischen Befehls, und im Völkerrecht gibt es das Kriterium der Offensichtlichkeit: Der Befehlsempfänger muss erkennen können, dass er dazu angeleitet wird, eine offensichtlich widerrechtliche Tat zu begehen. Der Befehl, Verwundete, Gefangene oder Zivilpersonen zu erschießen, ist ganz offenkundig illegal. In solchen Fällen können diejenigen, die ihn unmittelbar ausführen, zur Rechenschaft gezogen werden. Aber richtig, grundsätzlich können einfache Soldaten sich darauf berufen, dass sie nicht selbst entschieden haben, einen bewohnten Ort anzugreifen, sondern einen Befehl ausführten. In Butscha haben allerdings, soweit sich das jetzt beurteilen lässt, gewöhnliche Militärangehörige gewütet. Vielleicht auf Befehl von Offizieren, vielleicht auch nicht. Aber wer hat sie gezwungen, eine ganze Familie zu erschießen? Den Bürgermeister eines kleinen Ortes, die ganze Familie? Wer hat sie gezwungen, Dutzenden von Zivilisten die Hände zu fesseln und sie dann mit Nackenschüssen zu töten? Es gibt auch Zeugenaussagen zu den Vergewaltigungen und Morden. Man kann mit Grund vermuten, dass es einfache Soldaten waren, die diese Verbrechen begingen. Aber es kann nicht sein, dass ihr niedriger Dienstgrad sie von der Verantwortung entbindet. 

    Nach der Befreiung der Stadt Isjum im Gebiet Charkiw haben Ermittler Leichen von Bewohnern exhumiert. Einige wurden von den Besatzern zu Tode gefoltert / Foto © IMAGO/Photo News 

    Die russischen Propagandisten wären gut beraten, sich die Akten aus den Strafverfahren zum Genozid in Ruanda genau anzusehen

    Farida Kurbangalejewa: Ilja, Sie haben die russischen Propagandisten erwähnt und gesagt, dass auch sie sich für die Verbrechen verantworten sollten. Auch hier gibt es das Problem, dass sie in gewisser Weise Befehlsempfänger sind. Ich weiß, dass viele dieser Leute meinen, es gehöre eben zu ihrem Beruf, das zu sagen, was ihnen aufgetragen wird. Und wie realistisch ist es überhaupt, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden? 

    Michail Sawwa: Zunächst einmal: Das Argument „Wir machen das nicht freiwillig, sondern beruflich“ wird ihnen nicht weiterhelfen. Anders als Kriegsverbrecher können sie sich ja nicht einmal auf offizielle Anweisungen berufen, die ihnen befahlen, sich genau so zu äußern. Ihre Worte sind ihr eigenes Werk. Dass man dafür tatsächlich ins Gefängnis kommen kann, zeigt das Strafverfahren gegen Mitarbeiter des ruandischen Senders „Radio-Télévision Libre des Mille Collines“. Während des Genozids in Ruanda 1993 hatte dieser Sender zum Mord an den Tutsi aufgerufen. Das geschah in kaschierter Form. Das Volk der Tutsi wurde nicht ausdrücklich genannt, sondern es hieß beispielsweise: Man muss die Kakerlaken töten. Aber das Gericht wies ihnen nach, dass damit die Angehörigen dieser ethnischen Gemeinschaft gemeint waren und dass es sich um konkrete Mordaufrufe handelte. Sie erhielten Gefängnisstrafen von bis zu 25 Jahren. Einige kommen gerade wieder frei, sie sind inzwischen alt geworden. Andere wurden erst sehr viel später aufgespürt und festgenommen, und manche werden bis heute gesucht. Die russischen Propagandisten wären gut beraten, sich die Akten dieses Strafverfahrens genau anzusehen. 

    Ilja Schablinski: Wer Massenmord, Aggression, Sadismus und die Zerstörung von Städten gefeiert hat, muss sich natürlich dafür verantworten. Ich erinnere mich, wie Wladimir Solowjow die Ruinen von Marjinka oder Awdijiwka zeigte und orakelte: „Dieses Schicksal erwartet auch Berlin.“ Es gibt frappierende Beispiele für entgrenzte, gehässige Propaganda. Natürlich ist uns allen klar, dass es einen Regimewechsel braucht, damit diese Terrorpropagandisten zur Rechenschaft gezogen werden können. Meiner Meinung nach ist es letztlich Sache der russischen Gerichte, sich mit diesen Leuten zu befassen. 

    Der TV-Propagandist Wladimir Solowjow während eines Auftritts bei einer Rüstungsmesse in Moskau im September 2024 / Foto © IMAGO/Russian Look 

    Im Moment gibt die gesamte Richterschaft ein klägliches Bild ab. Das ist womöglich die beschämendste Seite der Geschichte des heutigen Russlands. Es bedeutet, dass nicht nur Soldaten Russlands als Eroberer und Marodeure auftreten, sondern alle staatlichen Strukturen gehorsam den Willen des Diktators ausführen und ihren Teil der blutigen und schmutzigen Arbeit verrichten. 

    Aber wir wissen ja aus der Geschichte, dass dieselben Leute anders entscheiden, wenn sich die politischen Verhältnisse ändern, wenn die Angst fort ist und sie halbwegs frei handeln können. Auch nach dem Ende der Stalin-Ära hat sich die Rechtsprechung ja geändert, vielleicht nicht sehr stark, aber immerhin. Man muss die Propagandisten nach Artikel 354 wegen öffentlichen Aufrufs zur Einleitung dieses Angriffskriegs verurteilen und das Strafmaß jeweils individuell festlegen. Einige halten sich zurück, sie überlassen „Experten“ das Wort und verzichten nach Möglichkeit auf eigene Aufrufe und Einschätzungen. Andere treten aggressiv und gehässig auf. Entsprechend größer ist auch ihre Verantwortung. 

    Die Gerechtigkeit kann nicht warten, bis die Massen in Russland endlich aufwachen und dieses Regime stürzen

    Michail Sawwa: Ich stimme Ilja zu, es wäre sehr gut, wenn diese Leute von russischen Gerichten verurteilt würden. Aber wir wissen nicht, ob das passieren wird und wann, und es genügt nicht, nur auf einen politischen Regimewechsel in Russland zu hoffen. Man muss bereits jetzt über diese Leute zu Gericht sitzen, und die Prozessvorbereitungen laufen schon. Ich meine die Einrichtung eines internationalen Sondergerichtshofs für das Verbrechen des Angriffskriegs. Er muss ein sehr breites Spektrum von Verbrechen untersuchen, von den Initiatoren des Krieges bis zu den eben erwähnten Propagandisten. Das ist letztlich doch vor allem ein Fall für ein internationales Gericht. Die Gerechtigkeit kann nicht ewig warten. Wir können und werden nicht warten, bis die Massen in Russland endlich aufwachen und dieses Regime stürzen oder bis die inneren Widersprüche der Elite kulminieren. 

    Ilja Schablinski: Ja, da stimme ich zu: Wenn der Internationale Strafgerichtshof jetzt etwas tun kann, zum Beispiel über ein Mandat entscheiden, Anklage erheben und die Anklagepunkte genau formulieren, dann muss das getan werden. Wenn man auf einen Regimewechsel wartet, schenkt man diesen Leuten Zeit, in der sie einigermaßen sorgenfrei leben können. Nein, sie dürfen nicht vergessen, dass sie furchtbare Verbrechen begehen, dass ihre Worte und Taten ungeheure Opfer nach sich gezogen haben, zerstörte Städte, zerstörte Schicksale. Es muss ihnen schon jetzt ständig bewusst sein. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Der historischen Abfolge nach würde also wohl zunächst im Ausland ein Prozess gegen russische Kriegsverbrecher stattfinden, und erst später wäre ein Verfahren in Russland selbst möglich – ich würde sogar sagen, nicht bei einem Zusammenbruch des politischen Regimes, sondern im Fall einer russischen Niederlage im Eroberungskrieg gegen die Ukraine. 

    Ilja Schablinski: Wohl doch eher bei einem Regimewechsel. Unter einer russischen Niederlage würde ich den erzwungenen Abzug der russischen Truppen vom Territorium der Ukraine verstehen. In diesem Fall könnte sich das Regime leider durchaus halten. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Viele Experten meinen, dass nur eine militärische Niederlage Russlands zum Zusammenbruch des Regimes führen kann. 

    Ilja Schablinski: Das hoffe ich auch. Allerdings war beispielsweise Saddam Hussein nach seiner Niederlage noch 13 Jahre im Amt. Aber generell ist diese Annahme richtig. Solange Russland nicht mit dem Internationalen Strafgerichtshof zusammenarbeitet, wird ein Prozess im vollen Sinn des Wortes kaum möglich sein. Aber ich denke, dass man zumindest die Anklageschriften ausfertigen muss. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Kann man das Verfahren gegen die sechs eingangs erwähnten Kriegsverbrecher schon einleiten, bevor man ihrer habhaft wird? 

    Michail Sawwa: Nein, das wird nicht passieren. Der Internationale Strafgerichtshof führt keine Verfahren gegen Personen durch, die nicht im Sitzungssaal anwesend sind. Deshalb sind die Haftbefehle ausgestellt worden. Vielleicht dauert es sehr lange, bis man ihrer habhaft wird, vielleicht wird es auch nie dazu kommen, aber bis es so weit ist, wird der IStGH auch kein Urteil fällen. Ich möchte aber noch einmal daran erinnern, dass der IStGH  nicht die einzige internationale Gerichtsinstanz ist. Im Moment geht es um die Berufung eines internationalen Sondergerichtshofs, der über das Verbrechen des Angriffskriegs urteilt. Dabei kann man sich an anderen Prinzipien orientieren und in seinen Statuten beispielsweise vorsehen, dass das Gericht auch in Abwesenheit eines Angeklagten verhandeln kann – dass es den Fall untersucht und das Urteil spricht, bevor der Verbrecher in den Gerichtssaal gebracht wird. Bisher ist noch nicht bekannt, wie das genau aussehen wird. 

    Der internationale Charakter eines Sondergerichtshofs sollte durch eine Resolution der UN-Generalversammlung bekräftigt werden statt  im Sicherheitsrat

    Farida Kurbangalejewa: Wenn die russischen Kriegsverbrecher – in Abwesenheit oder Anwesenheit – von einem internationalen Sondergerichtshof verurteilt werden, warum ist es dann Ihrer Meinung nach so wichtig, sie zusätzlich noch in Russland zu verurteilen? Weil es symbolisch bedeutsam ist oder aus praktischen Erwägungen heraus? 

    Ilja Schablinski: Wenn sie in Russland verurteilt werden, kommen sie wirklich ins Gefängnis. Wenn man sie in Abwesenheit verurteilt, werden sie einfach feixen und Hohn und Spott verbreiten. Das hat dann wirklich nur symbolische Bedeutung. Ich halte es für möglich, ein Tribunal einzurichten, aber man muss gut überlegen, auf welcher Rechtsgrundlage das geschehen soll. Das Sondertribunal zu Jugoslawien wurde 1993 durch eine einstimmig verabschiedete Resolution des UN-Sicherheitsrates geschaffen. Russland hat diese Resolution damals sehr engagiert unterstützt. In der jetzigen Situation ist es nicht möglich, einen Gerichtshof auf diesem Weg zu berufen. Also muss es über ein anderes Verfahren geschehen. 

    Michail Sawwa: Ein solches Verfahren gibt es. Diese Sondertribunale werden durch internationale Abkommen geschaffen. Der Internationale Strafgerichtshof ist übrigens auch über ein solches Abkommen zustande gekommen. Wir ukrainischen Experten sind der Auffassung, dass der internationale Charakter eines Sondergerichtshofs durch eine Resolution der UN-Generalversammlung bekräftigt werden sollte, die dem UN-Generalsekretär die Vollmacht erteilt, mit verschiedenen Ländern eine Vereinbarung über den Beitritt zu einem solchen Gerichtshof abzuschließen. Die Resolution würde also nicht im Sicherheitsrat verabschiedet, wo Russland ein Vetorecht hat, das es natürlich in Anspruch nehmen würde, sondern per Mehrheitsbeschluss in der UN-Generalversammlung. Das ist auch eine ziemlich schwierige Aufgabe, aber doch eine lösbare. 

    Radovan Karadžić bei einer Anhörung vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag im Juli 2008. 2016 verurteilte das UN-Kriegsverbrechertribunal den ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska  zu 40 Jahren Haft – unter anderem für den Völkermord in Srebrenica mit 8000 Toten im Jahr 1995 / Foto © IMAGO/Xinhua 

    Ilja Schablinski: Eine Mehrheit zu beschaffen ist möglich. Bei dieser Sache kann man auf die Generalversammlung hoffen. 

    Diese Leute müssen nach ihrer Verurteilung so untergebracht werden, dass sie die restlichen Jahre ihres kläglichen Lebens unter adäquaten, menschlichen Bedingungen verbringen können 

    Farida Kurbangalejewa: Ist es von Belang, wo die Kriegsverbrecher ihre Strafe verbüßen? Julija Nawalnaja hat im Juli dieses Jahres in einem Posting erklärt, sie sollten nicht in einer geheizten Zelle mit Fernseher in Den Haag sitzen, sondern in einer zwei mal drei Meter großen Zelle wie der, in der Alexej Nawalny eingesperrt war und malträtiert wurde. Es ist ja wirklich so, dass es in europäischen Gefängnissen, behaglicher und komfortabler zugeht. Wer dort einsitzt, muss keine besonderen Unannehmlichkeiten fürchten. Und wir alle haben eine Vorstellung davon, wie es in einem typischen russischen Gefängnis aussieht. 

    Michail Sawwa: Ich habe in einer drei mal drei Meter großen Zelle gesessen. Und zwar nicht allein, es war eine Zweierzelle. Das ist wirklich unangenehm, aber das Schlimmste ist der Freiheitsentzug – dass du hinter Gittern bist und keine eigenen Entscheidungen treffen kannst. Ich bin für eine strenge, aber humane Bestrafung. Diese Leute müssen nach ihrer Verurteilung – und die Urteile werden vermutlich hart ausfallen, sie haben sich schon lebenslange Freiheitsstrafen verdient – so untergebracht werden, dass sie die restlichen Jahre ihres kläglichen Lebens unter adäquaten, menschlichen Bedingungen verbringen können. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Diese Aussage dürfte bei vielen Ukrainern auf Unverständnis stoßen. 

    Michail Sawwa: Ja, aber als Menschenrechtsaktivist kann ich in dieser Frage keinen anderen Standpunkt vertreten. Deshalb ist es mir gleichgültig, wer mich wie versteht. Das für mich eine Sache der Überzeugung. 

    Ilja Schablinski: Ich möchte daran erinnern, dass Michail selbst eine schlimme Erfahrung gemacht hat. Er hat das Strafvollzugssystem Russlands unter verschiedensten Bedingungen von innen erlebt. Schon die Beförderung in dem Spezialfahrzeug, mit dem die Angeklagten aus dem Gefängnis ins Gericht gebracht werden, ist eine Tortur. Ich habe mir so einen Transporter nur mal angesehen. Aber Michail hat dort mehrere Stunden verbracht, und zwar nicht nur einmal. Oder in Krasnodar in brütender Hitze in einer Zelle zu sitzen. Ich kenne die auch nur von Besuchen. Michail hingegen „saß auch mal im Kerker“, um mit Brodsky zu sprechen. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Besteht denn die Möglichkeit, dass sie beispielsweise in der Ukraine inhaftiert sein werden? Nach Ansicht vieler Menschen dort wäre das nur logisch, konsequent und gerecht. 

    Ilja Schablinski: Der Internationale Strafgerichtshof entscheidet, in welchem Land die von ihm verurteilten Personen ihre Strafe verbüßen. Das betreffende Land musss den Anerkennungsvertrag für das Römische Statut unterzeichnet haben. Es gibt ein paar Dutzend Länder, die die Bedingungen erfüllen, die Entscheidung liegt beim Strafgerichtshof. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Noch einmal zum Schutz der Rechte der Gefangenen und dem humanen Umgang mit ihnen: Wie soll kontrolliert werden, dass sie nicht gefoltert und geschlagen werden? Genau das passiert im russischen Strafvollzugssystem ja immer wieder. 

    Michail Sawwa: Die Gewähr dafür übernimmt das Land, in dem der Prozess stattfindet. Und die Leute, die von einem künftigen internationalen Sondergerichtshof oder dem bereits aktiven Internationalen Strafgerichtshof verurteilt werden, verbüßen ihre Strafe ja in Ländern, wo es bereits ein stabiles System zur Kontrolle eines humanen Umgangs mit Gefangenen und Untersuchungshäftlingen gibt. Es ist also gewährleistet, dass dort keine Folter stattfindet. Dass sie von sehr vielen Leuten verflucht werden – davor kann sie allerdings niemand beschützen. 

    Ilja Schablinski: In Den Haag selbst gibt es ein Sondergefängnis mit etwa 80 Plätzen, wenn ich mich recht entsinne. Dort sind überall Videokameras installiert. Die ständige Kontrolle gehört zu den Vorkehrungen, die gewährleisten sollen, dass die Untersuchungshäftlinge und Inhaftierten keinen illegalen Maßnahmen ausgesetzt werden. Das Weitere hängt dann davon ab, in welchem Land die Verurteilten einsitzen werden. In Europa wird streng kontrolliert, in Russland herrscht völlige Willkür. Aber es gibt zurzeit wichtigere Fragen als die, wo diese Leute hinkommen werden. 

     

    Farida Kurbangalejewa: In wessen Namen wird die Anklage vorgebracht? Im Namen der Ukraine, also des Landes, das unter der Aggression Russlands gelitten hat, oder im Namen der internationalen Gemeinschaft? 

    Michail Sawwa: Im Namen der internationalen Gemeinschaft. Im Namen der Ukraine sind bereits Urteile wegen Kriegsverbrechen gegen russische Besatzer ergangen, die in Kriegsgefangenschaft gerieten. Solche Verfahren werden in der Ukraine durchgeführt. Aber meist geht es dabei um die Tötung von Zivilpersonen, also Nichtkombattanten. Wenn wir vom Verbrechen des Angriffskriegs selbst sprechen, vom Prozess gegen die oberste Führung Russlands, werden Anklage und Urteil hier fraglos im Namen der internationalen Gemeinschaft ergehen. 

    Ilja Schablinski: Genau. Als der Sondergerichtshof für das ehemalige Jugoslawien eingerichtet wurde, sagte der Vertreter Russlands sogar ausdrücklich, es handle sich um eine Einrichtung ganz neuer Art, durch die nicht im Namen der Sieger über die Verlierer entschieden wird, sondern im Namen der internationalen Gemeinschaft. So ist es, und so soll es auch sein. 

    Kriegsverbrechen müssen möglichst sofort dokumentiert werden, weil die Spuren im Kriegsgeschehen sehr schnell wieder vernichtet werden

    Farida Kurbangalejewa: Michail, bitte erzählen Sie ausführlicher davon, wie Kriegsverbrechen dokumentiert werden. Angenommen, ein Gebiet war von Russland besetzt und wurde dann zurückerobert. Fahren dann Menschenrechtsaktivisten dorthin und sammeln Informationen? 

    Michail Sawwa: Das erste Mal, dass ich ein Kriegsverbrechen dokumentiert habe, war am 3. März 2022 auf dem Gebiet des besetzten Teils der Oblast Kyjiw. Ich beobachtete aus einem Abstand von etwa 400 Metern, wie sich eine russische Militärkolonne über die Fernstraße von Schytomyr auf Kyjiw zubewegte, angeführt von einem Schützenpanzer. Zwei Zivilautos, normale PKWs, fuhren von Butscha her auf die Fernstraße. Sie mussten sie überqueren, um ins nächste Dorf zu gelangen, von wo aus eine freie, nicht von den Russen besetzte Straße nach Kyjiw führte. Der Schützenpanzer feuerte einfach aus seiner Kanone auf die Autos; mehrere Schüsse aus einer 30-Millimeter-Kanone. Als die Kolonne vorbeigezogen war, konnten wir aus der Nähe fotografieren. In jedem Auto waren drei Menschen umgekommen, nur noch die Beine waren zu sehen, die Körper waren von den Geschossen zerfetzt worden. Wir erkannten, dass in jedem der Autos ein Mann am Steuer gesessen hatte und eine Frau und ein Kind mit im Wagen gewesen waren. Wir fanden die Autokennzeichen und fotografierten sie, und so konnten wir die Identität eines der beiden Fahrer feststellen. Es war ein Freiwilliger aus Kyjiw, der einfach nur Menschen herausholen und retten wollte. 

    Ein paar Stunden später schob die nächste russische Kolonne die Autos aufs Feld, in den Straßengraben, und walzte sie nieder. Es blieben keine Spuren von dem Verbrechen. Kriegsverbrechen müssen möglichst sofort dokumentiert werden, weil die Spuren im Krieg nicht lange erhalten bleiben; sie werden im Kriegsgeschehen sehr schnell wieder vernichtet. Wenn wir den Vorfall nicht festgehalten hätten, hätte niemand gewusst, wo man diese Leute suchen soll. Es blieb nicht einmal Material für ein genetisches Gutachten. 

    Im Dorf Berwyzja in der Region Kyjiw sichern Ermittler nach dem Abzug der russischen Armee im April 2022 Munitionsreste / Foto © IMAGO/NurPhoto 

    Auf jeden ukrainischen Ermittler, der sich mit diesen Dingen beschäftigen muss, entfallen einige tausend Fälle von verschwundenen Personen. Die Ermittler kommen bei diesem Ausmaß an menschlichem Leid einfach nicht hinterher 

    Aber das, wovon Sie gesprochen haben, findet auch statt: Befragungen der Opfer und Zeugen von Verbrechen nach dem Ende der Kampfhandlungen. Diese wichtige Aufgabe muss von zivilgesellschaftlichen Organisationen übernommen werden, weil es dafür nicht genug offizielle Kapazitäten gibt. Auf jeden ukrainischen Ermittler, der sich mit diesen Dingen beschäftigen muss, entfallen einige tausend Fälle von verschwundenen Personen. Die Ermittler kommen bei diesem Ausmaß an menschlichem Leid einfach nicht hinterher. Deshalb werden für den ersten Schritt, die Dokumentation der Verbrechen, Experten aus der Zivilgesellschaft benötigt. Es braucht eine geschützte Datenbank, wie wir sie haben, und die offiziellen Vertreter der Strafverfolgungsbehörden müssen darauf zugreifen können. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Von wie vielen Kriegsverbrechen lässt sich bis jetzt mit Bestimmtheit sprechen? Dass die tatsächliche Zahl höher liegt als die der dokumentierten Verbrechen, ist klar. 

    Michail Sawwa: Etwa 140.000. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Entsetzlich. Um welche Art von Verbrechen handelt es sich im Wesentlichen? 

    Michail Sawwa: Bei einem Großteil handelt es sich um Angriffe auf zivile Infrastruktur. Im Gebiet um Kyjiw habe ich solche Vorgänge im März 2022 praktisch täglich dokumentiert. Dorfnachbarn haben mich angerufen und gesagt: „Hier bei uns hat es ‚gehagelt‘, halte das bitte fest.“ Bei diesen Fällen ist meist niemand zu Schaden gekommen, es wurden nur Gebäude oder Straßen zerstört. Hier muss womöglich nicht in jedem einzelnen Fall ein Strafverfahren eingeleitet werden, die Opfer werden einfach entschädigt. 

    Aber es gibt auch sehr viele Morde, bewusste Morde, bei denen die Opfer zuvor gequält wurden wie in Butscha. Ich wohne in der Nähe und habe die Verbrechen dort dokumentiert. Das war gezielter Mord. Und es gibt auch ziemlich viele sexuelle Gewaltverbrechen. 

    Oft handelt es sich auch um Ökozid, die bewusste Schädigung der Natur. Die Zerstörung des Wasserkraftwerks in Kachowka ist zum Beispiel ein furchtbarer Fall von Ökozid, der für unsere Region ziemlich neu ist. So etwas hat es in Europa lange nicht gegeben. Aber man soll nicht denken, dass es das einzige derartige Verbrechen ist. 

    Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms am 6. Juli 2023 versinken weite Teile der Oblast Cherson in den Fluten / Foto © IMAGO/NurPhoto 

    Farida Kurbangalejewa: Haben Sie eine Erklärung für die Grausamkeit der russischen Armee? Die Erkenntnis, wozu sie fähig ist, hat weltweit Entsetzen ausgelöst. 

    Michail Sawwa: Ja. Ich bin eigentlich Experte für Strafverfolgung aus politischen Motiven. Diese Kompetenz hat sich als sehr nützlich erwiesen, weil ich unter anderem Gutachten zu den Gründen dieser Grausamkeit erstellt habe. In Butscha habe ich etwas aufgezeichnet, was wahrscheinlich überrascht. Die Ortsbewohner sagten mir: „Verstehst du, wir haben diese Leute nicht als Feinde gesehen. Sie unterscheiden sich äußerlich nicht von uns. Sie sprechen auch Russisch.“ Das Gebiet um Kyjiw ist weitgehend russischsprachig. Deshalb fühlte man sich dort nicht in Gefahr. Trotzdem haben die Soldaten gemordet. Natürlich mussten wir eine Erklärung dafür finden. Sie sind durch die Z-Ideologie, die Kriegsideologie des „Russki Mir“ auf das bewusste Morden vorbereitet worden. 

    Die Ukrainer sind dehumanisiert worden, das heißt, sie sind für die Besatzer keine Menschen. Genauso war es übrigens bei den Soldaten der Wehrmacht in Nazideutschland. Erst kam die Dehumanisierung, dann folgten die Morde und anderen Verbrechen. In dem Dörfchen Andrijiwka bei Makariw, ebenfalls in der Kyjiwer Oblast, habe ich Anfang April, nachdem es befreit worden war und von den Häusern auf der Hauptstraße nur noch die Schornsteine standen, noch eine erstaunliche Sache festgehalten. Die russischen Soldaten nahmen den Ortsbewohnern die Autos weg und malten ein großes V darauf. In unserer Region war es kein Z, sondern ein V. Dann fuhren sie die Autos einfach kaputt, setzten sie gegen den Zaun oder versenkten sie im See. Wenn man am Ufer entlangging, war da alle fünf Meter ein versenktes Auto. einfach so. Warum? Sie wollten demonstrieren, dass sie die Oberhand haben. Sie wollten zeigen, was sie können, ihre Überlegenheit beweisen und alles, was ihnen einfiel, war tumbe Gewalt. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Gibt es bei Kriegsverbrechen mildernde oder erschwerende Umstände? 

    Ilja Schablinski: Das werden die gleichen sein wie in den nationalen Strafgesetzbüchern. Ein mildernder Umstand wäre, wenn der Angeklagte den Beweis erbringen kann, dass er körperlich oder psychisch gezwungen wurde, das Verbrechen zu begehen und ihm andernfalls der Tod gedroht hätte. Oder wenn er aktiv an der Aufklärung des Verbrechens mitwirkt. Erschwerende Umstände gibt es viele, was lässt sich dazu im Einzelnen sagen? Die Fälle, von denen Michail gerade erzählt hat, Mord an zwei oder mehr Menschen, Mord in Verbindung mit Vergewaltigung und so weiter. Das ist ein sehr weites Feld. 

    Es ist eine Frage der Zeit, bis die Täter hinter Gitter kommen. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird. Aber es wird passieren

    Farida Kurbangalejewa: Wir alle hier wünschen uns einen Prozess gegen Kriegsverbrecher und reden gerade darüber, wie er zustande kommen könnte. Aber wie realistisch ist es Ihrer Einschätzung nach, zu erwarten, dass die betreffenden Personen vor Gericht gestellt werden und dann wirklich eine Haftstrafe verbüßen? 

    Michail Sawwa: Das ist durchaus realistisch. Es ist eine Frage der Zeit. Ich kann im Moment nicht sagen, wie lange es dauern wird, bis sie hinter Gitter kommen, niemand kann das. Aber es wird passieren. Denn sehr viele Leute in der Ukraine, und nicht nur dort, sind äußerst entschlossen und motiviert, das zu erreichen. Wir sind bereit, viele andere Fragen hintanzustellen und einige ganz zu vergessen. Aber wir werden beharrlich, konsequent und über lange Zeit darauf hinarbeiten, dass diese Verbrecher bestraft werden. 

    Im Juli 2024 verurteilte ein Schwurgericht in Brüssel den 65-Jährigen Emmanuel Nkunduwimye wegen mehrfachen Mordes und Vergewaltigung, die er 1995 während des Genozids in Ruanda begangen hat – 30 Jahre zuvor / Foto © IMAGO/Belga 

    Ilja Schablinski: Putin wird irgendwann sterben. Er achtet peinlich auf seine Gesundheit, auf Reisen begleitet ihn ein ganzer Tross von Ärzten. Er hat große Angst vor Attentaten. Aber ihn erwartet das gleiche Schicksal wie Stalin und die anderen blutigen Diktatoren. Für sehr viele Menschen in Russland ist Putins Ableben die Voraussetzung dafür, offen sagen zu können, was sie über diesen Krieg denken. Der Krieg ist in Verbindung mit dem bösen, niederträchtigen Willen eines einzigen Menschen zu sehen. Putin hat eine Gruppe von Fanatikern um sich geschart, aber die Initiative geht ganz klar von ihm aus. Für Millionen Russen ist das auch ein Wahnsinn. Sehr viele Menschen in Russland würden diese Schmach gerne tilgen, und insofern stimme ich Michail zu. So sieht es im Moment aus. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Was passiert, wenn Putin stirbt, bevor ein Prozess gegen ihn beginnt – oder Schoigu, Gerassimow oder andere Kriegsverbrecher? Werden sie dann posthum verurteilt? 

    Ilja Schablinski: Laut Artikel 24 der russischen Strafprozessordnung ist ein Strafverfahren gegen eine Person einzustellen, wenn sie verstirbt. Es gibt allerdings bereits Ausnahmen; einige Personen sind entgegen dieser Bestimmung postum verurteilt worden, zum Beispiel Sergej Magnitski. In diesen Fällen ging es dem Staat darum, jemanden, der ihm die Maske vom Gesicht reißen wollte, für nachweislich schuldig zu erklären. Bei verstorbenen Tyrannen, Mördern und Schlächtern ist die politische und moralische Beurteilung entscheidend. Sie ist wichtig für ihre Anhänger oder die bösartigen, blutrünstigen Fanatiker, die diesen Krieg propagieren und sich an jedem Mord berauschen. Das Urteil über Stalin haben ja schließlich seine Weggefährten gefällt, und ähnlich war es beim philippinischen Diktator Ferdinand Marcos. In einigen Ländern sind Diktatoren, die Kriege entfesselt haben, verhaftet worden, etwa in Argentinien und Griechenland. Wie es bei uns kommen wird, wissen wir noch nicht. Putin versucht ja offensichtlich, eine Armee von Leuten zu schaffen, die diese Gehässigkeit noch auf Jahre hinaus in sich tragen. 700.000 Mann werden von der Front heimkehren. Putin setzt darauf, dass sie ihn verteidigen werden, weil dieser Krieg ihr Lebensinhalt ist. Und doch gibt es Erfahrungen, die besagen, dass Diktatoren, die so etwas tun, nicht ungestraft davonkommen. 

    Michail Sawwa: Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Putin-Regime anomal ist. Als Gegner dieses Regimes müssen wir uns an die Regeln halten. Einen Toten vor Gericht zu verurteilen wäre auch etwas Anomales. Aber denkbar wäre etwa, dass ein internationaler Gerichtshof die Ideologie des Russki Mir verurteilt. Nicht den Menschen selbst, sondern die Idee, die er in die Welt gesetzt hat. 

     

    Farida Kurbangalejewa: Putin hat also eine Chance, der Verurteilung durch einen internationalen Gerichtshof zu entgehen? 

    Michail Sawwa: Ja, aber nur wenn er vorher stirbt. 

    Ich fürchte, dass Russland aus dem Schicksal Deutschlands keine Schlüsse für sich selbst gezogen hat. Ein Teil der Menschen in Russland hat einfach gedacht: „Wir haben recht. Das Dritte Reich war böse, aber unser Reich ist gut, unser Imperialismus ist legitim.“ Sie haben Deutschlands Schicksal als Rechtfertigung des eigenen Imperialismus gesehen 

     

    Farida Kurbangalejewa: Worum geht es bei einem Prozess gegen Kriegsverbrecher – ob in Den Haag oder vor einem internationalen Sondergerichtshof – in erster Linie? Um die Bestrafung der Kriegsverbrecher als solche? Oder um eine Lehre für künftige Generationen, damit sich so etwas nie mehr wiederholt? Allerdings waren ja beispielsweise die Nürnberger Prozesse auch als Lehre für die Zukunft gedacht, aber offenbar haben nicht alle diese Lektion gelernt. 

    Michail Sawwa: Bei einem solchen Prozess steht immer die Gerechtigkeit im Vordergrund. Es gibt sehr viele Opfer und Hinterbliebene, die wollen, dass die Kriegsverbrecher ihre gerechte Strafe erhalten. Die Gerechtigkeit für die Opfer ist weit wichtiger als die Bestrafung an sich. Und wie Sie ganz richtig gesagt haben, halten diese Prozesse auch Lehren für die Zukunft bereit. Die Nürnberger Prozesse – und ich würde hier auch an die Tokioter Prozesse gegen japanische Kriegsverbrecher erinnern – hatten ungeheuer große Bedeutung. Meiner Einschätzung nach hat sich Japan ein für alle Mal ausgetobt. Genau wie Deutschland. Andere Länder, wo die Vorfahren nicht auf der Anklagebank saßen, haben die Erkenntnisse nicht beherzigt. Aber für sie sind neue Prozesse in Vorbereitung. 

    Ilja Schablinski: Die Ideologie muss verurteilt werden. Bei den Nürnberger Prozessen sind bestimmte Aspekte der NS-Ideologie für unrechtmäßig erklärt worden. Heute muss die Ideologie des imperialen russischen Nationalismus verurteilt werden, der lange Zeit, noch vor zehn Jahren, ganz harmlos wirkte. Jetzt hat er sich als blutrünstiges Monster erwiesen. Das muss festgestellt werden. Ich fürchte überhaupt, dass Russland aus dem Schicksal Deutschlands keine Schlüsse für sich selbst gezogen hat. Ein Teil der Menschen in Russland hat einfach gedacht: „Wir haben recht. Das Dritte Reich war böse, aber unser Reich ist gut, unser Imperialismus ist legitim.“ Sie haben Deutschlands Schicksal als Rechtfertigung des eigenen Imperialismus gesehen. Seit dem Amtsantritt des jetzigen Diktators Putin hat der Staat sie dabei unterstützt und ihnen – vor allem in den letzten 15 Jahren – gezielt eingeredet, der russische Imperialismus sei eine Art höhere Existenzform des russischen Staates. Das ist übelster Nationalismus, Hass und Hochmut gegenüber den Nachbarn Russlands. Mit Hochmut und Verachtung fing es an, und während des Krieges kam dann der Hass. Diesem Imperialismus muss ein für alle Mal ein Ende bereitet werden. Um welchen Preis, kann ich nicht sagen. Das Gericht muss dabei seine Aufgabe erfüllen. 

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    Was als traditioneller Krieg begann, ähnelt zunehmend Szenen aus einem Science-Fiction-Film. Einige Übereifrige reden bereits vom vollständigen Verschwinden traditioneller Waffengattungen und dem Ersatz von Soldaten und Panzern durch Roboter. Doch in Wirklichkeit ist dies noch weit entfernt. Das ukrainische Portal Texty.org.ua bilanziert, was sich seit dem Februar 2022 militärisch und technisch verändert hat. 

    Ein Drohnen-Pilot der 57. Motorisierten Brigade bereitet einen Quadrocopter auf den Einsatz in der Regioin Charkiw vor. Durch die FPV-Brille sieht er den Flug, als wäre er an Bord / Foto © IMAGO / ABACAPRESS 

     

    1. Artillerie 

    Die Hauptwaffe zur Bekämpfung des Gegners im taktischen Raum bleibt die Artillerie – sowohl großkalibrige Geschütze als auch Raketenartillerie (wie etwa die amerikanischen Raketenwerfer HIMARS oder die russischen Smersh oder Grad, die eine ballistische Flugbahn haben, aber beim Abschuss durch ein Rohr geleitet werden –  dek). In letzter Zeit berichten einige Experten, dass der Einsatz von Drohnen immer mehr in den Vordergrund rückt, doch bleibt die Artillerie wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg die wichtigste Waffe der Kriegsführung. 

    Nur das Artilleriekaliber hat sich verändert. Während im Ersten Weltkrieg 3-Zoll-Splittergranaten gegen die Infanterie und Geschosse bis zu 300 mm gegen starke Befestigungsanlagen eingesetzt wurden, verursachten im Zweiten Weltkrieg insbesondere 80-120 mm-Mörsergranaten einen erheblichen Teil der Schäden. Heute sind es 152 und 155 mm-Granaten und schwere Mehrfachraketenwerfer. 

    Mit der Integration eines Aufklärungszielradars und moderner Lenkmunition hat das Artillerie-Gegenfeuer eine neue Stufe erreicht. 

    2. Befestigungen 

    Feldbefestigungen erfordern einen erheblichen Aufwand; und während die Russen es sich leisten können, ganze Einheiten zum Graben einzusetzen, haben die ukrainischen Streitkräfte diese Möglichkeit aufgrund des Personalmangels nicht. Außerdem hat sich herausgestellt, dass sowohl Marinestützpunkte als auch Flugplätze praktisch nicht auf Angriffe vorbereitet sind. Deshalb braucht es eine verstärkte technische Ausstattung der Pioniereinheiten aller Teilstreitkräfte. 

    3. Minen 

    Alle Systeme zur Minenverlegung zeigen eine hohe Effektivität. Gleichzeitig wird deutlich, dass es an technischen Lösungen für die Aufklärung und die Überwindung von Minenfeldern fehlt. 

    4. Drohnen und elektronische Kampfführung 

    Viele Experten prognostizierten den breiten Einsatz von Luft- und Seedrohnen. Während dies eingetreten ist, bleibt die Drohnenabwehr jedoch systematisch zurück. Dieser Umstand zwingt die Streitkräfte dazu, neue taktische Einsatzpläne für verschiedene Kräfte anzuwenden sowie spezialisierte Systeme der elektronischen Kampfführung und Flugabwehr zur Bekämpfung von schwer zu erfassenden und niedrigfliegenden Drohnen zu entwickeln. 

    Der massenhafte Einsatz von FPV-Drohnen sowie KI-gelenkter Loitering-Waffen verändert das Bild auf taktischer Ebene des Gefechtsfelds grundlegend. Die Wirksamkeit des Einsatzes von schwer zu erkennenden taktischen Drohnen in niedriger Flughöhe hat sich als viel höher erwiesen als angenommen. 

    5. Flugabwehr 

    Eine gestaffelte Flugabwehr aus Boden-Luft-Raketensystemen hat sich als besonders effektiv erwiesen, um den Einsatz der gegnerischen Luftwaffe über und hinter der Frontlinie zu begrenzen. Dies wiederum führte zu einer raschen Anpassung aufseiten der Russen, welche konventionelle Bomben mit speziellen Modulen zu Gleitbomben umrüsteten.  

    Eigenbeschuss durch Boden-Luft-Raketen mit Zielsuchsensoren stellt bei den ukrainischen Streitkräften ein ernsthaftes Problem dar. Bis zu 30 Prozent der Verluste an Fluggeräten entfallen auf Friendly Fire. Dies erfordert neue Lösungen für Freund-Feind-Erkennungssysteme und die Einleitung der Selbstzerstörung von Raketen im Flug bei Anvisierung eigener Kräfte. 

    Generell hat der Krieg gezeigt, dass Marschflugkörper und ballistische Raketen das wirksamste Mittel sind, um die gegnerische Flugabwehr zu überwinden und Ziele im rückwärtigen Raum zu bekämpfen. Diese Fähigkeiten reichen jedoch nicht aus, um Waffenfabriken und die Hauptverkehrsstränge vollständig zu zerstören. 

    Daher ist damit zu rechnen, dass Raketen entweder mit höherer Sprengladung und höherer Geschwindigkeit entwickelt werden oder der Gegner bis zu zehn Raketen gleichzeitig auf ein Ziel abschießt, so wie zum Beispiel bei der Zerstörung des Wärmekraftwerks Trypillja

    Die von der Ukraine eingesetzten Anti-Schiffs-Raketen haben sich als effektiv erwiesen, um die Flugabwehr von Schiffen durch Einzel- und Doppelschläge zu überwinden, was beispielsweise zur Zerstörung des Flaggschiffs der russischen Schwarzmeerflotte, des Kreuzers Moskwa, führte. 

    Deshalb müssen die russischen Streitkräfte neue Lösungen für den Schutz von Kriegsschiffen und vor allem ihrer Liegeplätze finden, denn Angriffe ukrainischer Seedrohnen haben die russische Flotte bereits gezwungen, nach Noworossisk zu fliehen. Bislang versuchen die Russen Helikopter zur Abwehr einzusetzen, doch das Aufkommen von Seedrohnen mit Flugabwehrraketen wird dieses Problem [aus Sicht der Ukrainer] lösen. 

    6. Gepanzerte Fahrzeuge 

    Der Krieg hat gezeigt, wie anfällig gepanzerte Fahrzeuge für Angriffe aus der Luft sind. Mehr als 90 Prozent der Zerstörungen von gepanzerten Fahrzeugen werden heute durch einfache Hohlladungsmunition verursacht, die von Drohnen abgeworfen wird, beziehungsweise von Kamikaze-Dohnen, die sich auf die Fahrzeuge stürzen. 

    Daher benötigen alle Kampf- und Schützenpanzer sowie gepanzerten Mannschaftstransportwagen Anpassungen, um das Schutzniveau der Panzerung auf der Oberseite zu erhöhen, sowie Ausrüstung mit Systemen der elektronischen Kampfführung zum Schutz vor Drohnen. 

    7. Drohnen-Luftkämpfe 

    Er häufen sich Fälle, in denen russische Drohnen von ukrainischen Kampfdrohnen abgefangen werden. Das erinnert an den Ersten Weltkrieg, als die Hauptaufgabe von Jagdflugzeugen darin bestand, feindliche Aufklärungsflugzeuge zu vernichten. In naher Zukunft ist mit echten Luftkämpfen zwischen Drohnen zu rechnen. 

    8. Sturmangriffe auf Städte 

    Während der Angriffe auf Städte bleibt die im Ersten und Zweiten Weltkrieg entwickelte Praxis der Sturmbataillone relevant. Nur die Taktik ändert sich: Eindringen und Konzentrierung von Personal an den Angriffslinien oder Angriffe mit hochmobilen Trupps. Solche Gruppen zu bekämpfen ist schwierig, doch können die ukrainischen Streitkräfte Erfolge verzeichnen. 

    9. Leichte Fahrzeuge 

    Es besteht dringender Bedarf an der Entwicklung und Bereitstellung von leichten Fahrzeugen wie Quads oder Elektromotorrädern zur Unterstützung von Aufklärungseinheiten und Truppen im rückwärtigen Raum. Auch bestehen weiter systemische Probleme bei der Evakuierung von Verwundeten vom Gefechtsfeld durch spezialisierte Einheiten mit entsprechender Ausrüstung. Zwar gibt es Einsätze von Bodendrohnen, doch sind diese sehr selten. 

    10. Satelliten 

    Die Mittel zur Beschaffung von Aufklärungsinformationen haben sich stark verändert. So setzen die ukrainischen Streitkräfte äußerst effektiv verschiedene Elemente der Weltraumaufklärung und Satellitenkommunikation ein. Um dem etwas entgegenzusetzen, müssen die Russen ihrerseits Satellitenkommunikationskanäle stören und mehr eigene Satelliten ins All bringen, womit sie sich allerdings schwertun. Die ukrainischen Streitkräfte erhalten über ihre Verbündeten Informationen in Echtzeit, was ihnen erlaubt, kurzfristig auf Veränderungen der Lage zu reagieren und den Besatzern das Leben deutlich zu erschweren. 

  • „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

    „Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise”

    Im Mai 2024 brach Pavel Kritchko Richtung Osten auf. Der belarussische Fotograf hatte wegen der Repressionen seine Heimat verlassen und war in Deutschland gelandet. Er fuhr nach Podlachien, eine Region im östlichen Polen, wo eine belarussische Minderheit beheimatet ist. „Während der gesamten Expedition hatte ich das Gefühl, nach Hause zurückzukehren”, sagt Kritchko, „und die gleichen Erfahrungen zu machen, die ich als Kind gemacht habe.” 

    So entstand das Fotoprojekt Podlachien, das sich um die Suche nach Identität dreht. Wir haben mit dem Fotografen gesprochen und zeigen eine Auswahl seiner Bilder.

    Eine alte Eisenbahnbrücke an der polnisch-belarussischen Grenze, nahe dem Grenzübergang Bobrowniki, der im Februar 2023 von den polnischen Behörden geschlossen wurde, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Der Schriftzug МИР (dt. Frieden oder Welt) befindet sich auf belarussischer Seite. Ende Mai 2024 präsentierten die polnischen Behörden einen Plan zur Errichtung von Grenzbefestigungen entlang der gesamten Grenzlinie zu Belarus und Russland. Die Kosten betragen voraussichtlich 2,5 Milliarden Euro.” 

     

    dekoder: Nicht alle unserer Leser haben von der Region Podlachien gehört – erzählen Sie uns ein wenig darüber. Was ist das für eine Region und was ist so besonders an ihr? 

    Pavel Kritchko: Podlachien (poln. Podlasie, belaruss. Padljaschscha) ist eine Region im Osten Polens an der Grenze zu Belarus, wo 56.000 polnische Staatsbürger leben, die im Zensus 2021 angaben, Belarussen zu sein. In der Region gibt es einige belarussische Schulen, an denen belarussische Sprache und Literatur auf dem Lehrplan stehen. Meinem Gefühl nach sind es hauptsächlich das orthodoxe Christentum und die mit kirchlichen Festtagen verbundenen volkstümlichen Bräuche, die die belarussische Gemeinschaft Podlachiens verbinden. Vor allem die ältere Generation beherrscht noch frei die podlachischen Dialekte, während die Jugend sie zwar versteht, aber nicht mehr aktiv nutzt. Jahrzehntelang galten diese Dialekte als Dorfsprache mit geringem Prestige, in letzter Zeit ist das Interesse an ihnen wieder gestiegen, da Aktivisten, Musiker und Schauspieler sie wieder unters Volk bringen. 

    Die Bewohner der grenznahen Wojewodschaft Podlachien waren im 20. Jahrhundert durch den Ersten Weltkrieg und die anschließenden nationalen und religiösen Konflikte einschneidenden Migrationszwängen ausgesetzt. Heute symbolisiert diese Region die Grenze zwischen den Belarussen, die ab 2020 ihr Land verlassen haben, und jenen, die geblieben sind, aber auch zwischen dem Westen (EU) und dem Osten (Belarus, Russland, China). Die angespannte Situation spitzte sich durch den Bau eines Grenzzauns zu, die Migranten aus dem Nahen Osten und Afrika davon abhalten soll, durch Belarus in die EU zu gelangen, aber auch potentielle militärische Konflikte mit Russland verhindern soll.  

    Wie ist Ihr Fotoprojekt zu Podlachien entstanden? 

    Im März 2024 wurde ich in die Internationale Klasse für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Hochschule Hannover aufgenommen, wo ich mit großem zeitlichem Aufwand ein Archiv der Jahre 2020 bis 2023 anlegte: Ein Teil besteht aus Fotos von den Protesten, der andere aus Geschichten aus dem Exil. Das war ein sehr eigentümliches Großprojekt über parallele Realitäten: Belarus, wie ich es 2020 gesehen hatte, und die Belarussen, die – wie ich – im Ausland gestrandet waren. Je länger ich im Exil bin, desto schwächer wird meine Verbindung zu dem Land, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, zu den Menschen und Orten. Gleichzeitig dachte ich darüber nach, dass Podlachien sich genau zwischen diesen beiden Realitäten befindet und dort viele ethnische Belarussen leben, die ungeachtet aller Schwierigkeiten und Veränderungen, die die letzten Jahrhunderte mit sich brachten, ihre Identität zu bewahren wussten. Ich dachte, diese Region könnte ein Bindeglied für mein Großprojekt sein, deshalb fuhr ich im Mai 2024 hin, um sie näher kennenzulernen.  

    Das Projekt als eine Art Spiegelbild ihrer eigenen Suche? 

    Als ich im Frühjahr 2024 durch Podlachien reiste, war ich fasziniert davon, dass ein Teil der ethnischen Belarussen dieser Gegend, oder einfach die Bewohner Podlachiens, sich jahrelang die Identitätsfrage gestellt und eine Antwort darin gefunden hatten, dass sie sich als Einheimische und ihre Dialekte als ihre bezeichneten.  

    Genau darum geht es in meinem Projekt – um das Finden und Bewahren der eigenen Identität. Darüber hinaus ist es auch ein sehr persönliches Thema. Meine Reise durch Podlachien ist eine Zeitreise, auf der ich meine Erfahrungen in verschiedenen Phasen meines Lebens nachempfinde: die Reise mit meinem Vater in sein Dorf vor 30 Jahren, oder das Belarussische Fest in Białystok, das mich irgendwie an Maladsetschna erinnerte, und viele andere Assoziationen.  

    Wie genau haben die Podlachen die Ereignisse in Belarus seit 2020 verfolgt? 

    Schwer zu sagen, weil ich 2020 in Belarus war und nicht gesehen habe, wie man in Podlachien auf die Ereignisse reagierte. Ende 2021 war ich einen Monat lang in Białystok und konnte dort die belarussische Diaspora beobachten, die sich im Exil wiederfand und die das Jahr 2020 zusammengeschweißt hatte. Diese Welle von Menschen, die ab 2020 nach Polen kamen, brachte neue Ideen, frischen Schwung und Energie, sie motivierten die schon früher emigrierten Belarussen, die den Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung helfen wollten und konnten. 

    Ein Beispiel für die Anteilnahme an 2020 ist das Tattoo einer Belarussischlehrerin, die noch nie in Belarus war. Das Tattoo zeigt das Symbol der vereinten Opposition im Wahlkampf 2020. Ebenso kann man die Kundgebungen der lokalen Bevölkerung (sowohl polnischer Belarussen als auch einfach Polen aus Podlachien) zur Unterstützung des Wandels in Belarus erwähnen. Viele Podlachen haben Verbindungen nach Belarus: Manche haben dort Verwandte, manche haben dort gearbeitet, manche sind einfach hingefahren, um billige Zigaretten zu kaufen und zu tanken, manche hatten ein Geschäft für Belarussen, die nach Polen kamen. All das wurde von den Ereignissen 2020 indirekt beeinflusst.  

    Wie ist das Verhältnis zwischen den Podlachen und den Belarussen, die neu dazugekommen sind? 

    In Podlachien leben auch viele Belarussen, die Belarus aus politischen Gründen verlassen mussten. Man kann die Belarussen Podlachiens ins drei Gruppen unterteilen: die ethnische Minderheit (Belarussen, die in Polen geboren wurden, einen polnischen Pass haben, sich aber als Belarussen identifizieren), Belarussen, die vor 2020 emigriert sind, und diejenigen, die seit 2020 das Land verließen, um den Repressionen in Belarus oder dem Krieg in der Ukraine zu entgehen.  

    Die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen drei Gruppen konnte ich nicht abschließend klären. Mein Eindruck war, und das erzählte man mir auch, dass die erste Gruppe in einer anderen Realität lebt als die zweite und dritte Gruppe, sie haben unterschiedliche Interessen: Die Einen kämpfen für den Erhalt der belarussischen Schulen in der Region und für die Kultur, die Anderen müssen zunächst ihren Alltag regeln und sich ein Leben im erzwungenen Exil aufbauen.  

    Wann haben Sie selbst Belarus verlassen? 

    Im August 2021, um an einem Residenzprogramm für Fotografen in Warschau teilzunehmen, organisiert vom Kollektiv Sputnik Photo. Ich hatte ein Ticket für die Rückfahrt, aber angesichts der Umstände ließ ich es verfallen: zuerst die Gerichtsverhandlungen gegen Maria Kalesnikawa und Maxim Snak und die Urteile, dann die Selzer-Prozesse und die Verhaftung des Journalisten (Henadz – dek) Maschejka von der Komsomolskaja Prawda. Irgendwann war ich endgültig überzeugt, dass man nicht mehr offen sagen kann, was man denkt, Freunde rieten mir, ein wenig abzuwarten und nach Möglichkeit nicht sofort zurückzukehren, und schließlich ließen mich die Migrationskrise an der polnisch-belarussischen Grenze und der Beginn des Krieges in der Ukraine meine Rückkehr endgültig vergessen, solange sich nichts geändert hat.  

    War es schwer, sich an ein neues Leben zu gewöhnen? 

    Es war dann gar nicht so leicht, sich einzuleben. Das Schwierigste ist sich einzugestehen, dass es für lange ist. Es gibt einen Zustand der Ungewissheit. Leuten, die Belarus bewusst verlassen, fällt das Ankommen etwas leichter – weil es ihr Ziel ist, sich ein Leben irgendwo im Ausland aufzubauen. Ich würde nicht sagen, dass ich Heimweh habe, mich nach Dingen oder Orten sehne. Ich habe vielmehr das Gefühl, das irgendwo tief in mir vergraben zu haben und mir zu sagen, dass solche Gedanken mich nur daran hindern würden, auf die neue Umgebung einzulassen.  

    Ich habe zweieinhalb Jahre in Polen gelebt, davon fast anderthalb Jahre nur mit einem polnischen Visum [also ohne Reisemöglichkeit, Anm. dek], nun bin ich nach Hannover gezogen, um hier in die Fotografieszene einzutauchen. BelarusTown in Warschau lasse ich ein wenig hinter mir, weil es meine Integration und Sozialisation in der lokalen Gesellschaft auch ein bisschen behindert hat. Jetzt lebe ich in zwei Ländern – Deutschland und Polen: In dem einen studiere ich, im anderen setze ich meine Arbeit an den Geschichten über Belarus fort, weil es dort mehr Belarussen gibt und einfach deutlich mehr passiert. 

     

    Die Umgebung von Terespol nahe dem polnisch-belarussischen Grenzübergang für PKW und Busse, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Dort wird geparkt, geschraubt und gerastet. Im Moment ist Brest-Terespol der einzige offene Grenzübergang für den Personenverkehr aus Belarus, der dortige Übergang kann jederzeit eingeschränkt oder geschlossen werden. Seit April 2022 besteht seitens der EU ein Einreiseverbot für LKW aus Belarus und Russland, auch für den Transit. Belarus reagierte umgehend und zwingt nun auch Spediteure aus der EU, ihre Fracht an der Landesgrenze zu übergeben.” 

     

    Die LKW-Warteschlange zur Ausreise nach Belarus am Zollterminal Koroszczyn, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Der Fahrer, der mich aus Krzyczew in Richtung Terespol mitnahm, war ein Pole, der an den LKW-Warteschlangen Geld verdient. Er ist sehr zufrieden, dass gerade alle anderen Grenzübergänge geschlossen sind: ,Je länger sie geschlossen bleiben, desto besser für mich’.” 
    Das Mädchen Aja. Warschau, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Sie ist die Tochter der belarussischen Musikerin Rusia, deren Projekt Shuma traditionelle heidnische Gesänge mit elektronischer Musik verbindet: Ethno- und Ambient-Elemente, schwerer, hypnotischer Techno und abstrakte IDM (Intelligent Dance Music). Rusias Ziel ist es, das belarussische Kulturerbe zu erhalten und weltweit bekannt zu machen.”
    Ein Tattoo auf dem Arm von Alina Wawrzeniuk zeigt das Symbol der vereinten Wahlkampfstäbe der Opposition bei den belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020. Białystok, 12.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Alina ist Belarussischlehrerin und Leiterin einer Theatergruppe an der Schule Nr. 4 in Białystok. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Journalisten Mikołaj Wawrzeniuk, lebt sie im Dorf Gredele in Podlachien. Beide sind in Polen geboren und identifizieren sich als Belarussen ,Ich habe nie in Belarus gelebt, aber das hindert mich nicht daran, mich als Belarusse zu fühlen’, sagt Mikołaj.”
    Kinder proben ein Schauspiel über Belarus in der Theatergruppe der Belarussischlehrerin Alina Wawrzeniuk an der Schule Nr. 4 in Białystok, 12.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko  
    „Alle Kinder sind außerhalb von Belarus geboren, lernen aber Belarussisch in der Schule, in den meisten Fällen, weil ihre Eltern sich als Belarussen in Polen identifizieren. Ich fragte die Kinder, warum sie in Polen Belarussisch lernen, bekam aber nur Antworten, die eine gewisse Gewohnheit erkennen ließen: Sie gingen in den Kindergarten, wo sie Belarussisch lernten, was sie in der Schule fortsetzten, und selbst nach dem Schulabschluss seien sie weiter in der Theatergruppe aktiv.” 
    Das ehemalige Bahnhofsgebäude in Hajnówka. Heute beherbergt es das Kulturzentrum Stacja Kultury, wo regelmäßig Theaterfestivals, Künstlerresidenzen und andere Kulturveranstaltungen stattfinden, 10.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „In der Stadt gibt es nur wenige Orte, an denen junge Leute ihre Freizeit verbringen können. Ich sprach mit einer Gruppe Teenager darüber, wie sie die Situation der belarussischen Sprache einschätzen, wie Jugendliche ihre Zeit in Hajnówka verbringen und ob sie später weggehen wollen. Andrej, ein 17-jähriger ukrainischer Geflüchteter, unterhielt sich mit mir. Ich sprach belarussisch und polnisch, er verstand alles und antwortete auf Polnisch. Er lebt seit fast zwei Jahren mit seinen Eltern in Polen, zwei seiner Brüder sind an der Front, auch er denkt darüber nach, in die Ukraine zurückzukehren, wenn er 18 wird, um im Krieg zu kämpfen.” 
    Der Imker Marian in der Nähe des Dorfes Krzyczew, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Marian sammelt Honig an der polnisch-belarussischen Grenze. Vor seiner Pensionierung arbeitete er in Brest (Belarus) im Eisenbahndepot und war für die Umspurung der Züge verantwortlich, die die Grenze überquerten. Die Spurweite der Eisenbahngleise in Belarus und Polen unterscheidet sich.” 
    Bewohner des polnischen Dorfes Ciełuszki kehren mit ihrem sowjetischen Wladimirez-Traktor vom Feld zurück, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Das Dorf interessierte mich auch deshalb, weil mein Vater in einem Dorf namens Zeluscha im Gebiet Mahiljou geboren wurde, die Ortsnamen ähneln sich sehr. Ich erinnere mich nicht gut an meine Großeltern väterlicherseits, denn sie starben, als ich noch klein war. Ich kann mich aber sehr gut daran erinnern, wie aktiv sie Landwirtschaft betrieben, welche Tiere sie seinerzeit hatten: Hühner, Schafe, Schweine, Kühe und natürlich einen Gemüsegarten. Der Großvater war seit dem Zweiten Weltkrieg Invalide, er hatte nur ein Bein und ging an Krücken.” 
    In der Nähe des Dorfes Krzyczew, wo der Bug die polnisch-belarussische Grenze bildet, 14.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Ich lief fast zehn Kilometer, um an diesen Ort zu gelangen, wo man ohne Mauer nach Belarus schauen kann. Unterwegs wurde ich dreimal von Fahrzeugen des Grenzschutzes gestoppt. Meine Dokumente wurden kontrolliert, ich wurde befragt, was ich hier mache, warum ich fotografiere, und sie notierten meine Mobilnummer, wahrscheinlich, um später meinen Aufenthaltsort tracken zu können.” 
    Schaufenster in Białystok, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Mich interessierte die Analogie der Hautfarbe der Schaufensterpuppen mit der Situation an der Grenze, wo Belarussen und Ukrainer, die illegal die Grenze überqueren, einfach Schutz und Asyl in Polen erhalten sollen, während Menschen mit anderer Hautfarbe, Herkunft, Religion in der Regel beim Versuch, ins Land zu kommen und um Asyl zu bitten, nach Belarus zurückgeschoben werden. Einige dieser Migranten tragen extra Kreuze bei sich und erklären, dass sie ebenfalls Christen sind, in der Hoffnung auf eine andere Haltung der Grenzsoldaten.” 
    Im Hof eines agrotouristischen Anwesens im Dorf Puchły, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Meine erste Nacht in Podlachien verbrachte ich im Dorf Puchły, wo ich ein Zimmer auf einem Bauernhof gebucht hatte. Ich hatte lange gezögert, da die Anreise ohne Auto kompliziert ist. Letztlich bereute ich die Entscheidung nicht: Nachdem ich angekommen war, lernte ich die Wirtin Maria kennen, mit der ich mich gut verstand und über das Leben, die Welt, mich selbst und die Umstände sprechen konnte. Maria lud mich zum Osterfrühstück mit der Familie ein, denn es sei nicht gut, an diesem Feiertag allein zu sein, ich solle mich wie zuhause fühlen und Teil ihrer Familie sein. Das Frühstück erinnerte mich sehr an die Tradition in meiner Familie, zu Ostern zusammenzukommen.”
    Ausfahrt des Urlaubs-Bauernhofes im Dorf Puchły, unterwegs zum Ostergottesdienst in der orthodoxen Kirche in der Nacht des 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Es ist etwa 23:15 Uhr und sehr dunkel. Langsam gewöhnen sich die Augen an die Dunkelheit. Ab und an ist ein Geräusch zu hören und in der Ferne Licht zu sehen von den Autos, die ebenfalls auf dem Weg zur Kirche sind. Die Kirche verbinde ich mit meiner Großmutter (mütterlicherseits). Wir lebten alle zusammen in einer Wohnung in Minsk, und ich weiß noch, wie meine Oma fast jeden Morgen im gemeinsamen Wohnzimmer eine Kerze anzündete und betete. Ich konnte sie von meinem Zimmer aus durch den Vorhang an der Tür sehen. Im Winter, wenn es morgens noch besonders dunkel war, konnte ich das Flackern der Kerze sehen, das Flüstern der Großmutter hören und das heiße Kerzenwachs riechen.” 
    Ein Junge am orthodoxen Osterfest in der Kirche im Dorf Puchły, 05.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Der Junge erinnert mich an mich selbst, denn ich war etwa in seinem Alter, als ich im Heimatdorf meines Vaters, Zeluscha in Belarus, orthodox getauft wurde. Ich erinnere mich nur undeutlich daran, da ich noch sehr klein war und mir während der Zeremonie heißes Kerzenwachs die Hand verbrannte. Ich glaube, meine Kirchgänge zu Gottesdiensten, Beichten und Kommunionen kann man an zwei Händen abzählen, alle fanden auf Bitten meiner Mutter statt. Sie wollte, dass ich die Tradition und den Glauben bewahre, die ihre Mutter (meine Großmutter) ihr beigebracht hatte. Ich verstand die Bedeutung dessen nicht ganz und beobachtete einfach alle notwendigen Gebräuche.”
    Osterprozession um die Kirche im Dorf Puchły, Polen, 05.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko   
    „Es gehört zu den Ostertraditionen, Ikonen und andere Gegenstände aus der Kirche zu tragen und damit dreimal um die Kirche zu gehen.” 
    Der Text des Liedes Oreszki (dt. Nüsse). Er ist in lateinischer Schrift geschrieben, die Sprache aber eigentlich ein lokaler Dialekt – eine Mischung aus Belarussisch, Ukrainisch, Polnisch und Russisch. / Foto © Pavel Kritchko 
    Mauer an der polnisch-belarussischen Grenze unweit des Dorfes Usnarz Górny, 13.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko
    Eliasz Fionik und Agata auf dem Weg in ihr Musikstudio in Bielsk Podlaski, 07.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „Doroteusz Fionik hat zwei Söhne, Eliasz und Maksym. Maksym unterstützt den Vater stärker bei der Erhaltung der Kulturtradition, er ist Mitglied im traditionellen Liederensemble Żemerwa. Eliasz hingegen scheint all das etwas ferner zu liegen, vielleicht, weil er der Jüngste ist. Er findet, dass ein Akkordeon allein und alte Methoden nicht ausreichen, um die traditionelle Kultur zu fördern. Ihn interessiert eher, wie man die traditionelle Kultur durch moderne Musik zugänglicher machen kann. Deshalb verfolgt er sein eigenes Projekt, komponiert Musik und schreibt Songtexte im lokalen podlachischen Dialekt.” 
    Ein Storch im polnischen Dorf Trześcianka, 04.05.2024 / Foto © Pavel Kritchko 
    „In den belarussischen Legenden ist der Storch (belarus. busel) ein heiliger Vogel, Verbindung zwischen Himmel und Erde, Herr und Beschützer der Ernte, des Himmelsfeuers und anderer himmlischer Elemente. Für viele Belarussen ist der Storch auch etwas Besonderes, das an Zuhause, an die Heimat erinnert. Der Storch wurde in Belarus zum Symbol der nationalen Reinheit und Wiedergeburt. Man glaubt, dass der Storch Erfolg bringt, wenn er sein Nest neben deinem Haus baut, weshalb die Menschen in den Dörfern Plattformen auf den Strommasten anbringen, damit die Störche leichter ihre Nester bauen können.” 

    Fotografie: Pavel Kritchko
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Ingo Petz
    Veröffentlicht am 21.11.2024

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Nicole Tung

    Ein verwundeter ukrainischer Soldat wird bei Kurachowe in ein Frontlazarett eingeliefert / Foto © Nicole Tung 

    dekoder: Die Verteidiger der Ukraine sind im Osten des Landes seit Wochen stark unter Druck. Sie waren Ende September im Frontgebiet zwischen Pokrowsk und Kurachowe. Was haben Sie da erlebt? 

    Nicole Tung: Das Feldlazarett in Kurachowe, in dem ich dieses Foto aufgenommen habe, versorgte einen 90 Kilometer langen Frontabschnitt. Das ist ein riesiges Gebiet. Als der verwundete Soldat auf einer Trage eingeliefert wurde, wand er sich vor Schmerzen. Die Sanitäter hatten ihm diese Plastikspritze zwischen die Zähne gesteckt, damit er da draufbeißen konnte. Unter anderen Umständen hätte die Wunde an seinem linken Bein gut behandelt werden können. Aber das Bein war oberhalb des Knies mit einem Tourniquet abgebunden, um die Blutung zu stillen. Wegen des starken Beschusses konnten die Sanitäter ihn nicht gleich aus der Gefechtszone rausholen. Also lag er einen halben Tag da. Als sie ihn eingeliefert haben war das Bein schon lila. Er flehte immer wieder: „Bitte rettet mein Bein!“.  

    Welchen Eindruck haben sie insgesamt von der Situation an der Front? 

    Die Lage ist sehr ernst. Die Ukrainer verlieren stetig an Boden. Als ich den Versorgungspunkt zum ersten Mal besuchte, befand er sich im zweiten Stockwerk eines Gebäudes in Kurachowe. Beim nächsten Besuch war er in den ersten Stock verlegt worden, weil bereits Gleitbomben in die Stadt flogen. Als ich dieses Foto aufnahm, war die Front nur noch zehn Kilometer oder weniger entfernt. Erkundungsdrohnen kreisten über der Stadt und wir konnten hören, wie die Ukrainer Mörser abfeuerten. Zwei Wochen später musste das Lazarett in einen anderen Ort verlegt werden, weiter weg von der Front.

    Es gab unterschiedliche Phasen in diesem Krieg: Auf den ersten Schock nach dem Überfall folgte eine Euphorie, als die Russen zurückgeschlagen werden konnten. Wie ist die Stimmung in der Truppe zur Zeit? 

    Ich glaube, sie sind ziemlich verzweifelt, weil kein baldiges Ende des Krieges absehbar ist. Die Ukrainer sind sehr innovativ, zum Beispiel beim Einsatz von Drohnen. Aber sie können einfach nicht dieselben Ressourcen mobilisieren, wie Russland sie in die Schlacht wirft. Der Staat bemüht sich verstärkt darum, mehr Männer einzuziehen. Aber sie haben momentan einfach nicht genug Leute. Und wenn die Russen rasch vorrücken, wirkt sich das auch auf die Moral der ukrainischen Soldaten aus. Selbst wenn es in nächster Zeit Verhandlungen geben sollte, könnte das bedeuten, dass so viele Kämpfer vielleicht vergeblich gestorben sind und Russland dennoch große Territorien einnimmt. Eine verbreitete Klage lautet: „Unsere Unterstützer geben uns gerade genug Waffen, damit wir nicht verlieren. Aber nicht genug, um diesen Krieg zu gewinnen.“ 

    Zu Beginn des Krieges hatten sich viele Männer und auch Frauen freiwillig gemeldet, um ihr Land zu verteidigen. Jetzt werden Männer auch gegen ihren Willen eingezogen. Wie wirkt sich das auf die Motivation aus? 

    Wir dürfen nicht vergessen, dass viele Wehrpflichtige heute nur einen oder anderthalb Monate lang ausgebildet werden, bevor sie in den Einsatz müssen. Einige werden Truppenteilen zugewiesen, die russische Stellungen stürmen müssen, das sind die gefährlichsten Einsätze. Ich war in letzter Zeit bei vielen Beerdigungen von Einberufenen. Die waren oft zwischen 40 und 50 Jahre alt, als sie nach vier Wochen Ausbildung an die Front geschickt wurden. Man kann sich denken, dass sich diese Situation auch auf die erfahreneren Soldaten auswirkt, die vielleicht schon seit 2014 kämpfen, wenn sie sehen, wie schlecht die Soldaten ausgebildet sind, die sie unterstützen sollen. 

    Sie sind eine erfahrene Reporterin und haben schon aus vielen Kriegen berichtet, unter anderem aus Syrien. Was ist das Besondere am Krieg in der Ukraine? 

    Zunächst handelt es sich aus historischer Sicht um den größten Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Wir leben im Jahr 2024 und in Europa sitzen Menschen in Schützengräben. Zum anderen ist da die Technik: Wir sehen Artilleriegeschütze aus der Sowjetzeit und gleichzeitig Drohnen, die erst am Morgen zusammengebaut wurden. Und die Soldaten, die sie steuern, gucken durch diese VR-Brillen auf das Schlachtfeld. Dieser Kontrast ist krass. Und schließlich ist da die menschliche Seite: Die Ukrainer sind sehr widerstandsfähig. Sie halten ihr Alltagsleben unter allen Umständen aufrecht. Aber auch das wird langsam zermürbt. Einst lebendige Orte wurden ausgelöscht. In jedem Krieg gibt es Tod und Zerstörung. Aber dieser Krieg fühlt sich wirklich an wie ein Angriff auf die ukrainische Identität und ihre Geschichte. 

     

    Foto: Nicole Tung @nicoletung 
    Bildredaktion: Andy Heller @frau.heller 
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 11.11.2024

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    Fotografische Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Pernille Sandberg

    Links: Die Tänzerin Liza Riabinia bei einer Probenpause. Rechts: Präsentation der Designerin Nadya Dzyak auf der Ukranian Fashion Week / Fotos © Pernille Sandberg

    dekoder: Als wir die Serie „Bilder vom Krieg“ gestartet haben, haben wir nicht an Fotos von Tänzerinnen oder einer Modeschau gedacht. Wie kommt der Krieg auf den Laufsteg?

    Pernille Sandberg: Ich war im Mai auf der Buchmesse in Kyjiw zu Gast und war beeindruckt von der kreativen Szene in der Ukraine. Dabei ist die Idee zu meinem Projekt A State of Uncertainty gereift. Die Menschen dort leben ständig in einem Zustand der Ungewissheit: Ungewissheit über ihre eigene Zukunft. Ungewissheit darüber, was aus ihrem Land wird. Ungewissheit, weil sie schon im nächsten Augenblick ihr Leben verlieren können. Dieses Gefühl wollte ich einfangen. Die Künstlerinnen, die ich dafür porträtiert habe, waren froh darüber, nicht als Opfer gezeigt zu werden, sondern mit ihrer Kunst. Schöpferisch zu arbeiten bedeutet, lebendig zu sein. Wenn Neues entsteht, ist das auch eine Antwort auf die zerstörende Kraft des Krieges.

    Die Frau auf dem ersten Bild wirkt zugleich erschöpft und entschlossen. In welcher Situation ist es entstanden?

    Liza Riabinia ist eine Tänzerin und Choreographin aus Kyjiw. Ich habe sie im September in ihrem Studio im Stadtteil Podil besucht. Sie probte dort zusammen mit einer anderen Tänzerin. Für die Fotosession hatten sie die Idee, die gleiche Kleidung zu tragen, die sie an dem Tag getragen hatten, als die russische Invasion begann. Sie wählten sehr düstere, atmosphärische Musik dazu. Dieses Bild ist in einer Pause entstanden, als Liza völlig erschöpft und verschwitzt aus dem Fenster schaute.

    Wie haben die Künstler in der Ukraine auf den russischen Angriff reagiert?

    Zunächst einmal sind von einem Tag auf den anderen alle Pläne in sich zusammengefallen. Liza hat in unterschiedlichen Ensembles getanzt, auch für internationale Produktionen. Die kamen jetzt nicht mehr in die Ukraine. Früher war sie viel auf Tournee, auch das ist jetzt schwieriger. Und dann kamen auch Zweifel am Sinn ihrer Arbeit: Bringt das, was ich tue, dem Land überhaupt irgendeinen Nutzen? Darf man Bilder malen, während Soldaten ihr Leben für uns opfern? Hat Musik noch einen Sinn? Wozu noch Gedichte schreiben? Wie kann man sich die Zeit nehmen, ein Buch zu lesen, wenn die Welt blutet? Aber mit der Zeit wurde vielen Künstlern klar, wie wichtig ihr Schaffen auch für die Gesellschaft ist. Dass sie den Menschen Freude machen und Lebensmut verbreiten können. Und dass Kunst und Kultur ein Gefühl der Verbundenheit und der Zusammengehörigkeit schaffen.

    Es ist schließlich auch ein erklärtes Ziel der Angreifer, die ukrainische Kultur zu zerstören…

    Kurz bevor ich im Mai zur Buchmesse nach Kyjiw reiste, hatten russische Raketen die Factor-Druckerei in Charkiw zerstört. Unter den Tausenden verbrannten Büchern in den Trümmern waren auch viele Kindenbücher, das hat die Menschen besonders getroffen.

    War es schwer, einen Zugang zu den Künstlerinnen und Künstlern zu bekommen?

    Im Gegenteil. Ich war überrascht, wie offen ich empfangen wurde und wie bereitwillig alle ihre Erlebnisse und ihre Emotionen mit mir geteilt haben. Auch ihre Zweifel und ihre Schwächen. In der Nacht, bevor wir zu einem Fotoshooting verabredet waren, gab es mehrfach Luftalarm. Wir hatten alle kaum ein Auge zugetan und waren ziemlich gerädert. Aber viele Menschen in der Ukraine gehen jeden Morgen in diesem Zustand zur Arbeit. In diesen Situationen trägt niemand eine Maske. Niemand versucht, sich als jemand anderes zu präsentieren, um dir zu gefallen. Da ist kein Platz für oberflächlichen Smalltalk. Diese Ehrlichkeit fand ich sehr befreiend.

    Was ist die Geschichte hinter dem zweiten Bild mit der Prothese auf dem Laufsteg?

    Das war auf der Kyjiw Fashion Week, die in diesem Jahr zum ersten Mal seit der Beginn des Angriffskrieges wieder stattgefunden hat. Die Veranstaltung im Kultur- und Museumskomplex Mystezkyj Arsenal war total überlaufen. Vor jeder Modenschau stand der ganze Saal auf und hat eine Schweigeminute abgehalten und der Armee gedankt, weil auch Dank ihr solche Veranstaltungen stattfinden können. Auf dem Gelände gab es auch eine große Gedenkmauer mit den Porträts von Frauen und Männern aus der Modeindustrie, die als Soldaten oder Zivillisten Opfer des Krieges geworden waren.

    Ist das Model mit der Prothese auch ein Opfer des Krieges?

    Karyna Staschtschyschtschak ist eine Tänzerin aus Odessa, die ihr Bein aufgrund einer Erkrankung in der Kindheit verloren hat. Sie tanzt sehr erfolgreich bei Wettbewerben für lateinamerikanische Tänze. Damit ist sie auch ein Vorbild für die vielen Kriegsversehrten: Auch mit einer Prothese kann man ein gutes Leben führen, sogar tanzen oder bei einer Modeschau auftreten.

    War der Krieg auch in den Kollektionen gegenwärtig?

    Viele Designer haben traditionelle Motive in ihren Kollektionen aufgegriffen als Bekenntnis zur Lebendigkeit der ukrainischen Kultur. Die Farbe Rot hat eine besondere Rolle gespielt, etwa in fließenden Stoffen, die an Blut erinnerten. Mein Eindruck, war, dass der Auftritt gerade den männlichen Models viel bedeutete: Über den Laufsteg zu gehen, die Musik zu genießen, etwas Schönes zu präsentieren und dafür gefeiert zu werden. Und für einen Moment die Angst zu vergessen, dass man vielleicht bald an die Front muss. Ich arbeite selbst in der Fashion-Industrie und habe Mode schon immer Spiegel der Gesellschaft gesehen. Aber zu erleben, welche Freude sie den Menschen in der Ukraine bringt, und dass sie gleichzeitig ihren Schmerz durch ihre Kreationen ausdrücken können, das hatte enorme Kraft.

     

    Fotos: Pernille Sandberg, aus der Serie: A State of Uncertainty
    Bildredaktion: Andy Heller
    Interview: Julian Hans
    Veröffentlicht am: 19.11.2024

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    1. asdasdasd ↩︎
    2. Hier ist einre Fußnote 1, die auch einen Link enthalten kann. ↩︎
    3. Hier ist Fußnote 2, die auch etwas länger sein kann. ↩︎
    4. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. Hier ist Fußnote 3, die noch länger ist. ↩︎
  • „Ein Nato-Beitritt wäre mein Traum“

    „Ein Nato-Beitritt wäre mein Traum“

    Der Omsker Unternehmer Viktor Schkurenko ist einer der reichsten Menschen in Sibirien. Als jemand, der sich offen gegen den Krieg ausspricht, lebt und arbeitet er nach wie vor in Russland. Einige glauben, dass der FSB ihn schützt, andere – seine Steuermilliarden. Sogar Wladimir Solowjow hat bereits gefordert, Schkurenko hinter Gitter zu bringen, aber der Geschäftsmann selbst glaubt an die Gesetze und ist der Meinung, dass er für seine Ansichten nicht belangt werden kann. Jewa Belizkaja und Olessja Gerassimenko erzählen für Holod die Geschichte eines Milliardärs aus Omsk, der vom NATO-Beitritt Russlands träumt. 

    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media
    Der Unternehmer Viktor Schkurenko in seinem Chefsessel / Foto © Holod.media

    Im August 2022 klopfte ein Polizist an die Tür des Omsker Milliardärs Viktor Schkurenko. Der Grund für seinen Besuch war eine anonyme Anzeige – jemandem passte nicht, dass Schkurenko Iwan Urgant zu einer Betriebsfeier eingeladen hatte. Der TV-Moderator hatte sich gleich am ersten Tag der „militärischen Spezialoperation“ in der Ukraine offen gegen die russische Invasion ausgesprochen. Er postete ein schwarzes Quadrat mit der Bildunterschrift „Angst und Schmerz“ in den sozialen Netzwerken. Daraufhin setzte der Erste Kanal seine Show Wetscherny Urgant ab. 

    „Sie wollten mir ein Strafverfahren anhängen“, erzählt Schkurenko, ohne konkret zu sagen, wen er mit „sie“ meint. „Aber die Polizei konnte keinen Tatbestand finden.“ Der Omsker Unternehmer erklärte kurz die Sachlage, woraufhin der Polizist mit den Worten „So ein Blödsinn“ wieder abgezogen sei. 

    Schkurenko hatte keine Angst vor dem Beamten. Es war nicht das erste Mal, dass er mit den Behörden zu tun hatte. 1997 saß er sogar einmal auf der Anklagebank, wegen Steuerhinterziehung. Bei der Urteilsverkündung 2000 ermahnte der Richter, der Schkurenkos Großvater hätte sein können, den damals 28-Jährigen mit erhobenem Zeigefinger, so etwas bloß nicht noch einmal zu tun, und verurteilte ihn zu einer einjährigen Bewährungsstrafe. Seitdem seien die Gesetze der Russischen Föderation und das Strafgesetzbuch seine „Bibel“, sagt der Geschäftsmann. 

    Im April 2024 feierte der Milliardär seinen 52-jährigen Geburtstag. In den vergangenen zehn Jahren ist er regelmäßig unter den Top-10 der reichsten Einwohner von Omsk. Seine diversen Firmen erwirtschaften einen Umsatz von insgesamt 70 Milliarden Rubel [etwa 675 Millionen Euro – dek], die Hälfte davon außerhalb der Region Omsk. „Meine Persönlichkeit besteht zu 90 Prozent aus dem Geld, das ich verdiene“, sagt Schkurenko von sich selbst, „meine politische Einstellung ist nichts weiter als ein Hobby.“ 

    Das „Hobby“ gefällt nicht jedem: Schkurenko sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff – auch außerhalb seiner Geschäftstätigkeit. Mal lädt er Drag Queens zu Betriebsfeiern ein, mal unterstützt er öffentlich Iwan Urgant, mal bringt er den Soziologen Grigori Judin nach Omsk oder den Regisseur Andrej Smirnow, um dessen jüngsten Film Sa nas s wami (dt. Auf uns und euch) einem breiten Publikum zu präsentieren. Der Streifen, der die stalinistischen Repressionen thematisiert, schaffte es nicht in die russischen Kinos. 

    In den 30 Jahren seiner Karriere hat Schkurenko nach eigenen Angaben 280 Geschäfte in Russland und Kasachstan eröffnet, von Hypermärkten bis zu Discountern (u. a. Niskozen, Pobeda, Eurospar). Der Unternehmer besitzt rund 200.000 Quadratmeter an Immobilien, die er verpachtet. Er kauft, übernimmt und investiert aktiv. Er treibt Sport in seinem eigenen Fitnesscenter, kauft Lebensmittel in seinen eigenen Supermärkten, trinkt seinen Kaffee in den Skuratow-Cafés, in die er rund 26 Millionen Rubel investierte, und nach seinem Ableben kann er auf die Dienste eines Krematoriums zählen, das er selbst erbaut hat. 

    Im Januar 2024 eröffnete Schkurenko eine Filiale seiner Handelskette in Moskau und erwarb eine Lizenz für die Einfuhr von Alkohol. Er plant, zum wichtigsten Importeur in ganz Russland zu werden. Er beschäftigt rund 7.000 Arbeitnehmer und zahlt über eine Milliarde Rubel Steuern in den Haushalt der Region Omsk. In dem Ausdruck „zu mutig“, mit dem die Gesprächspartner von Holod Schkurenko gerne beschreiben, schwingen unterschiedliche Emotionen mit: mal Verachtung, mal Bewunderung. 

    „Was hat das denn mit Mut zu tun? Was sage oder tue ich schon groß?“, ereifert sich Schkurenko ist im Gespräch mit Holod. „Umfragen zufolge unterstützen 20 Prozent der Bevölkerung die Spezialoperation nicht. Ich bin eben einer davon. Na und? Das ist meine Meinung, ja! Ich verstoße nicht gegen das Gesetz. Ich halte keine Versammlungen oder Kundgebungen ab. Ich finanziere niemanden, der verboten ist. Ich arbeite kaum mit dem Staat zusammen. Ich bin ein vorsichtiger Mensch, aber ich habe ein soziales Gewissen, das es mir nicht erlaubt, die Füße still zu halten.“ 

    „Wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Bis 2003 war Schkurenko vollkommen loyal gegenüber der Staatsmacht. Als Schüler hatte er Gorbatschow verehrt, als Student unterstütze er Jelzin, und als Unternehmer den frühen Putin, dem er 2000 seine Stimme gab: „Es war doch der reinste amerikanische Traum, besser konnte man es sich nicht ausmalen. Das Bruttosozialprodukt verdoppeln? Wunderbar, was will man mehr? Wie konnte man Putin nicht lieben für diese Idee?“ 

    Die Verhaftung von Michail Chodorkowski 2003 verursachte die ersten Erschütterungen in Schkurenkos Ansichten. Seine Einstellung zum herrschenden Regime veränderte sich nicht über Nacht, aber damals wurde ihm bewusst, dass „etwas falsch lief“. Doch die ungute Vorahnung wurde von den nächsten Wahlen zerstreut. 

    2008 stimmte Schkurenko für Dimitri Medwedew, den er an allen Fronten unterstütze: „Die vier Jahre Medwedew waren eine glückliche Zeit in meinem Leben. Seine Beziehungen zu Obama, was er mit der Wirtschaft gemacht hat – das war ein Wunder! Wie er die Unternehmer vor den Silowiki verteidigte! ‚Freiheit ist besser als Unfreiheit‘ – wie sollte man das nicht unterstützen?“ 

    Vor lauter Begeisterung für Medwedew richtete Schkurenko sich sogar einen Instagram-Account ein. 2012 hatte er in einer Kolumne von Andrej Kolessnikow im Kommersant gelesen, dass der russische Präsident sich als einer der ersten bei dem „bourgeoisen Netzwerk“ angemeldet hätte. „Sein Gespür für die neusten digitalen Technologien war einwandfrei, ich vertraute ihm ganz aufrichtig“, sagt Schkurenko. Er lud sofort die App herunter, lief aus dem Hinterzimmer seines Supermarkts, knipste die Verkaufsregale und postete spontan sein erstes Foto. 

    Nach dem Beginn der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine wechselte Dimitri Medwedew, nun stellvertretender Vorsitzender des russischen Sicherheitsrates, zu militaristischer Rhetorik und wurde zu einem der wichtigsten Wortführer der „Kriegspartei“. „Der einstige Bewunderer von Steve Jobs hat sich in einen Anti-NATO-Fabulisten verwandelt. Er hat seine Wahl getroffen. Aber meine Ansichten waren schon immer liberal und sind es geblieben“, sagt Schkurenko. 

    Seine Meinung gegenüber Medwedew hat der Milliardär geändert, aber Instagram blieb er treu. Es ist bis heute das einzige soziale Netzwerk, das Schkurenko nutzt. Jetzt, 12 Jahre später, hat er rund 7.400 Follower. Genauso vielen Menschen gibt er heute Arbeit. 

    Kein Aktivist 

    Als 2011 verkündet wurde, dass Medwedew den Präsidentenposten räumt und Putin wieder das Ruder übernimmt, war Schkurenko endgültig desillusioniert: „Mir ging es schlecht, ich war dagegen.“ Es ärgerte ihn, dass die Staatsmacht gegen das Gesetz verstoßen hatte. 

    Putin wählte der Milliardär nie wieder. 2012 gab er seine Stimme Michail Prochorow, 2018 Xenia Sobtschak. Er wurde sogar ihr Vertrauensmann für die Oblast Omsk. Denjenigen, die ihm Kurzsichtigkeit vorwarfen, erklärte er, dass Sobtschak, Prochorow und Nawalny für ihn ein und dasselbe wären: Leute, die öffentlich für liberale Werte eintraten, und es wäre ihm egal, ob sie Politiker, Clowns oder Protegés des Kreml seien. Putin betrachtete er als jemanden, der sich schon zu lange an seinen Sessel klammerte. „Also habe ich gegen ihn gestimmt“, sagt Schkurenko. 2024 setzte er sein Häkchen hinter Wladislaw Dawankow. 

    Schkurenko sagt, er sei wütend gewesen, als die Krim an Russland angegliedert wurde; die Wirtschaft stagnierte, die Realeinkommen begannen zu sinken. Er war traurig, als Boris Nemzow ermordet wurde. Er war glücklich, als Chodorkowski freikam und Swetlana Alexijewitsch den Nobelpreis für Literatur erhielt. 2020 war er so empört darüber, dass Medwedew samt der ganzen Regierung zurücktrat, dass er 15.000 Rubel [zum damaligen Kurs etwa 170 Euro – dek] an den TV-Sender Dozhd spendete, der darüber berichtete. Dann hörte er, dass Michail Mischustin zum neuen Premierminister ernannt wurde, und beruhigte sich wieder. Er bereute sogar, dass er so impulsiv mit seinem Geld um sich geworfen hatte. 

    Als Alexej Nawalny mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, checkte Schkurenko auf einer Geschäftsreise nach Tomsk im Hotel Xander ein, in dem auch Nawalny im August 2020 übernachtet hatte. Schkurenko verfolgte das Schicksal Nawalnys, machte sich Sorgen um ihn und „wollte, dass er am Leben bleibt“. Und obwohl der gebürtige Omsker der Meinung war, dass ein politisches Programm nicht auf dem Kampf gegen Korruption gründen könne und eine Führungspersönlichkeit innerhalb der Nomenklatura heranwachsen sollte – wie im Falll von Gorbatschow –, bewunderte er Nawalny für seinen Mut und sein entschlossenes Handeln: „Als Politiker hat er das Richtige getan, als er nach Russland zurückkehrte. Das war mutig, ehrlich, einfach gut!“ 

    Als Nawalny nach seiner Genesung im Januar 2021 erneut verhaftet wurde, verfolgte der Unternehmer die vierstündige Live-Sendung auf Dozhd. Mehr allerdings auch nicht. 

    „Ich bin kein Aktivist, kein Politiker. Ich kann keine Revolution machen. Und ich glaube auch nicht, dass irgendjemand anders sie machen kann. Ich bin nicht für eine Revolution unter Nawalny, sondern für bürgerliche Freiheit, für eine sanfte Revolution! Für einen Machtwechsel, für die Bildung, für liberale Werte.“ 

    Der Unternehmer ist noch nie mit einem Plakat auf die Straße gegangen oder hat an Kundgebungen teilgenommen. Die einzige Massenveranstaltung, an der er in den letzten Jahren teilgenommen hat, war Gorbatschows Beerdigung. Weil er den Tod des ersten Präsidenten der UdSSR als eine „persönliche Tragödie“ empfunden habe, sei er extra nach Moskau geflogen. 

    Er habe nicht die Macht, die Situation im Land zu verändern, sagt Schkurenko. „Für mich geht nichts über die Marktwirtschaft und die westlichen Demokratien. Aber wie soll ich darauf Einfluss nehmen?“, räsoniert er. „Wenn mein Land diese Richtung einschlägt, freue ich mich. Wenn es seinen eigenen, besonderen Weg sucht, bin ich unglücklich. Als Unternehmer kann ich mein eigenes Glück schmieden, aber da sind noch 140 Millionen andere Menschen im Spiel. In dieser Hinsicht hege ich keine Illusionen. Es hat keinen Sinn, sich vor die Schießscharte zu werfen. Ich werde wütend sein, unglücklich, aber ich will keine Revolution machen, sondern Geld!“ 

    Eine Filiale der Supermarktkette „Pobeda” in Omsk – eine von vielen Ketten im Handelsimperium des sibirischen Milliardärs Viktor Schkurenko / Foto © imago 

     

    Erst das Geschäft, dann die Familie 

    Geld macht Schkurenko seit Beginn der 1990er Jahre. Im ersten Jahr seines Studiums an der Wirtschaftsfakultät der Staatlichen Universität Omsk lernte der spätere Unternehmer seinen zukünftigen Geschäftspartner kennen – seinen Kommilitonen und Tischnachbarn Dimitri Schadrin. Sie stellten bald fest, dass sie beide auf The Doors und auf Genesis standen. Schkurenko lud Schadrin zu sich nach Hause ein, um bei Kaffee und Cognac Peter Gabriel zu hören. 

    In den nächsten fünf Jahren paukten sie zusammen für Prüfungen, trieben Sport, gingen mit Mädchen aus und spielten im Studententheater. Dann unternahmen sie gemeinsam ihre ersten geschäftlichen Schritte: 1992 reisten sie zum ersten Mal nach Moskau, deckten sich mit Champagner, Jeans, Zigaretten und Schnaps ein, füllten ein ganzes Zugabteil mit den Kisten und fuhren zurück, um alles zu verkaufen. 

    Innerhalb von drei Jahren schossen die Umsätze so in die Höhe, dass sie dazu übergingen, Schreibmaschinen und Damenstrumpfhosen mit Lastwagen und Militärflugzeugen zu transportieren: „Du gehst zum [Flughafen – dek] Schukowski, wartest auf einen Militärflug von Moskau nach Omsk, verhandelst mit den Piloten und fliegst los. So machte man das damals“, sagt Schkurenko. 

    Der Wendepunkt war das Jahr 1996, als nach der Privatisierung die Banken begannen, die Aktien von ehemaligen Staatsunternehmen und deren Mitarbeitern aufzukaufen. Nicht jeder wollte seine Zeit damit verschwenden, zur Bank zur laufen. Also fingen Schkurenko und Schadrin die Aktieninhaber vor den Werkstoren ab und tauschten die Wertpapiere gegen Bargeld. Auf diese Weise verdienten sie ihre ersten Dollar-Millionen. Nachdem sie ein solides Kapital zusammen hatten, konzentrierten sich die Partner auf Lebensmittel, gründeten eine Firma und eröffneten die erste Lebensmittelkette in Omsk. 2003 wurde das Unternehmen unter dem Namen Schkurenko Handelsgesellschaft registriert. 

    Seinen Erfolg misst Viktor Schkurenko am Umsatz seines Unternehmens. „Für mich ist das Geschäft wichtiger als die Familie“, sagt er. „Familie und Religion sind für normale Menschen, die keinen ausgeprägten Ehrgeiz haben. Meine Religion ist der Kapitalismus. Wachstum als Ausdruck des Erfolgs – bis ins Unendliche! Darin sehe ich den Sinn meines Lebens: nicht stehen zu bleiben. Wenn ich manchmal schlaflose Nächte habe, dann ist es wegen der Geschäfte.“ 

    Einmal verkrachten sich die jungen Geschäftspartner: Schadrin lernte ein Mädchen kennen, nahm Geld aus der Gemeinschaftskasse und kaufte damit eine Einzimmerwohnung. Es war ein Einzelfall, aber prägend – Schkurenko empfand das als Hochverrat. „Wir hatten Erfolg, weil wir uns nach diesem Vorfall gegenseitig in den persönlichen Ausgaben bremsten“, sagt er. 

    Schkurenkos persönliche Ausgaben liegen laut eigener Aussage bei etwa 100.000 Rubel [ca. 950 Euro – dek] im Monat. Wenn seine Familie nicht wäre, für die er etwa eine weitere Million [9.500 Euro – dek] ausgibt, würde er noch asketischer leben, sagt er. 

    Alle sechs Jahre tauscht er seinen Porsche Cayenne gegen einen neuen aus. An den Wochenenden mietet er eine Hütte im Wald und fährt alleine Langlaufski. In der Stadt bewohnt er eine 250-Quadratmeter-Wohnung, die noch nicht abbezahlt und ohne großen Luxus eingerichtet ist. Auf dem Sofa mummelt sich der Millionär in eine Ikea-Decke und liest Sorokin, Pelewin oder Flaubert. 

    Das einzige, wofür er abgesehen vom Geschäft bereit ist, Millionen auszugeben, ist das Reisen. Seine Frau erinnert sich gerne daran, wie sie 2018 in der Karibik am Strand neben Penelope Cruz und Javier Bardem gelegen haben. Ein Jahr später machte die Familie Urlaub auf den Seychellen – auf der teuersten Privatinsel der Welt, North Island. Die Insel bietet Platz für maximal 22 Besucher. Auf Booking.com liegen die Preise für eine Übernachtung in einer Villa auf North Island zwischen acht- und zehntausend Euro. 

    Eine EuroSpar-Filiale in Moskau. Für die Handelskette mit Sitz in den Niederlanden führt Schkurenko das Russland-Geschäft / Foto © Imago 

     

    „Das Land hat einen Fehler begangen“ 

    Drei Tage vor dem Einmarsch in die Ukraine, am 21. Februar 2022, postete Schkurenko ein Foto von einer Ziegelsteinmauer mit einer Antikriegslosung auf Instagram

    Zwei Jahre später kann man in Russland für solche Posts und Kommentare in den sozialen Medien eine Haftstrafe bekommen: bis zu 15 Jahre Straflager. Wie zum Beispiel der Renter Michail Simonow, der für seine Posts auf VKontake sieben Jahre wegen „Diskreditierung der Armee“ hinter Gitter sitzt. Doch Schkurenko glaubt weiterhin an das Gesetz und hat nicht vor, etwas zu löschen: „Das ist weder eine Diskreditierung der Armee noch eine öffentliche Antikriegsaktion. Das war noch vor Beginn der Spezialoperation. Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen. Sie müssen die Gesetze genau lesen! Sie werden nichts finden!“ 

    Als der Krieg ausbrach, war Schkurenko besorgt, aber er war gleichzeitig sicher, dass sein Business das überstehen würde. Und er sollte recht behalten. Nach dem Februar 2022 hat sich für ihn nichts verändert, nur „dass das Geld jetzt zwei Tage unterwegs ist anstatt fünf Minuten“. Auch seine persönliche Haltung ist gleich geblieben: „Ich bin Humanist. Ich halte das für einen Fehler, damals wie heute. Sowohl wirtschaftlich als auch menschlich. Das Wichtigste für ein Land ist das menschliche Kapital, nicht Territorium. Man hätte die Spezialoperation nie beginnen dürfen. Am 24. Februar 2022 hat unser Land meiner Meinung nach einen Fehler begangen!“ 

    Nicht alle seine Mitarbeiter teilen seinen Standpunkt. „Es gibt Leute, die das ganz anders sehen“, sagt der Unternehmer. „Mein Filialleiter hat sich zum Beispiel ein Z auf sein Auto geklebt. Er hat mich mit diesem Auto herumgefahren, beim Abendessen haben wir gestritten … Ich diskutiere auch jetzt noch manchmal mit dem einen oder anderen in der Kantine. Aber ich würde niemals auf die Idee kommen, deswegen jemandem zu kündigen oder sein Gehalt zu kürzen.“ 

    Mit seinem Geschäftspartner Dimitri Schadrin spricht er seit fünf Jahren nicht mehr über Politik. Auch der habe eine „andere Meinung zur Spezialoperation“. Schadrin, ehemaliger Abgeordneter im Stadtparlament von Omsk und in der gesetzgebenden Versammlung der Partei Einiges Russland, leitet heute die Vereinigung der unabhängigen Handelsketten in Russland (Sojus nesawissimych setej) und unterstützt das Vorgehen der Machthaber. 

    „Ob er mein Freund ist? Ich bin 52 Jahre alt, ich brauche keine Freunde!“, erklärt Schkurenko. „Er ist mein guter Bekannter und Geschäftspartner. Manchmal feiern wir unsere Geburtstage zusammen.“ 

    Schadrin selbst wollte sich nicht äußern und hat gebeten, nichts über ihn zu schreiben. 

    „Ich habe eine negative Einstellung zum Staat, aber ich lebe damit, dass meine Steuern in die Verteidigung fließen, denn in erster Linie bin ich Unternehmer“, sagt Schkurenko. „Das ist meine Selbstverwirklichung. Das ist mein erstes, zweites und zehntes Ich. Ich habe nicht vor, irgendwo hinzugehen, ich arbeite hier, ich lebe hier, ich liebe dieses Land. Wenn ich aufhören würde, Steuern zu zahlen, wäre ich kein Unternehmer mehr. Das wäre, als würde ich aufhören zu atmen.“ 

    Durch Staatsaufträge erwirtschaftet Schkurenko Hunderte von Millionen von Rubel, aber insgesamt machen sie kaum mehr als ein Prozent seines Gesamtumsatzes aus. Einem der Geschäftsführer der Handelskette zufolge sind das kleine Aufträge: Sie versorgen regionale und kommunale Krankenhäuser mit Butter, Milch und Quark. 2021 stattete Schkurenkos Firma die für 1.650 Personen ausgelegte Kantine des neuen Universitätsgebäudes mit Backöfen, Kühlschränken und Arbeitsplatten aus, erzählt uns Alexander Kostjukow, Jurist und Vizerektor für Bauwesen an der Staatlichen Universität Omsk. 

    „Wir sind in der Lebensmittelbranche tätig“, erklärt Schkurenko. „Der Staat schreibt die Aufträge aus, meine Mitarbeiter bewerben sich. Ich habe keinen Einfluss auf die Entscheidungen. Sie können Waren an den Staat verkaufen oder nicht, ich sage bei den Besprechungen nicht: ‚Macht keine Geschäfte mit dem Staat‘. Wenn man mir diese Aufträge plötzlich entzieht, habe ich kein Problem damit. Ich habe nicht vor, ihre Zahl zu erhöhen und mich in diese Richtung zu entwickeln.“ 

     In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod
    In jedem Geschäft in Russland hängt so eine Tafel, an der Kunden Informationen über das Unternehmen einsehen können / Foto © Holod

    „Ich würde nie einem Obdachlosen 100 Rubel geben“ 

    Für Schkurenko steht, wie er selbst sagt, sein Unternehmen stets an oberster Stelle. Den Teamgeist seiner Mitarbeiter zu stärken, zahlt sich ebenfalls aus. Auf die weithin bekannten Betriebsfeiern seines Handelsunternehmens, die Schkurenko seit über 20 Jahren organisiert, will er auch angesichts der „Militärischen Spezialoperation“ nicht verzichten. In der Oblast Omsk nennt man sie „jährliche Orgien“, „verrückte Teekränzchen“, „Feste der absoluten Freiheit und Toleranz“. Tausende Mitarbeiter aus acht Regionen, in denen der Omsker aktiv ist, feiern mit, und das Budget für die Party beträgt 20 Millionen Rubel (etwa 186.000 Euro – dek). 2023 kamen die Feiern zum Tag der Stadt Omsk mit einer kleineren Summe aus: 18 Millionen Rubel.          

    Für Schkurenko kommt es gar nicht in Frage, dieses Geld an Arme, Flüchtlinge oder politische Häftlinge zu verteilen: „Wohltätigkeit ist für mich Totschka rosta (dt. Wachstumspunkt), ein Wettbewerb für Dorfschulkinder, die Unternehmer werden wollen. Den finanziere ich. Aber ein Obdachloser wird nie 100 Rubel von mir bekommen!“ 

    Schkurenko behauptet, noch nie auf der Straße Almosen gegeben zu haben. Bekannte von ihm erzählen allerdings, er habe anderer Leute Geldstrafen wegen Demonstrationen oder Äußerungen gegen den Krieg beglichen und an ein Hilfsprojekt für politische Gefangene gespendet. Sie räumen aber auch ein, dass das alles Peanuts für ihn sind. Schkurenko weicht diesem Thema aus.  

    „Ich helfe nur den Starken! Denen, die jung und begabt sind. Den Schwachen gebe ich nichts. Wieso sollte ich, wem bin ich das schuldig?! Ich zahle ja Steuern. Alles andere ist Aufgabe des Staates! Ich verdiene seit vielen Jahren jede Kopeke aus eigener Arbeit, und ich werde dem Staat die sozialen Probleme nicht aus der Hand nehmen. Ich hasse Paternalismus! Und für meine Mitarbeiter veranstalte ich tolle Partys.“  

    Kritische Stimmen, die anonym bleiben wollen, wissen wiederum nichts von seinem Engagement für politische Gefangene, erwähnen aber, dass er Abgeordnete und Beamte protegiert. 2017 etwa zahlte er die Konkursschulden von Alexej Sajapin, einem Abgeordneten der Partei Einiges Russland im Stadtrat von Omsk.  Und 2019 klagte er die Schulden von Wjatscheslaw Tarassow ein, der damals Verwaltungsleiter des Bezirks Tewris in der Oblast Omsk war.  

    Schkurenko sagt hingegen, er habe nie Omsker Beamte gesponsert, sondern nur Unternehmern unter die Arme gegriffen, die er persönlich kannte. Das macht er auch jetzt noch. „Es gibt viele, denen ich was leihe, ja“, sagt er. „[Dem Unternehmer Viktor] Skuratow hab ich 500 Millionen geliehen (etwa 4,6 Millionen Euro – dek), das wissen alle. Na und? Der zahlt mir irre Zinsen.“ Er erkläutert: ‚Irre’ ist immer mehr als das Deposit. Vor ein paar Jahren hat er zum Beispiel einen Kredit mit 18 Prozent Jahreszinsen vergeben.  

    „Wenn mich jetzt ein Gouverneur um einen Kredit für einen guten Zinssatz bitten würde, ich würde nicht nein sagen“, sagt Schkurenko, fügt aber hinzu, dass keine Beamten an ihn herantreten, sondern Geschäftsleute. „Tarassow hab ich Geld geliehen, weil er eine Molkerei besitzt. Nicht viel, drei Millionen Rubel (etwa 27.800 Euro – dek), außerdem ihm persönlich und nicht seiner Firma. Auf die Firma wollte er keinen Kredit aufnehmen. Anfangs zahlte er mir Zinsen, dann hörte er auf. Fünf Jahre hat er das Geld nicht zurückgezahlt. Als er Verwaltungsleiter wurde und wir immer noch nicht quitt waren, hab ich ihn verklagt. Hab sogar verloren, wenn ich mich recht erinnere, weil es verjährt war. Das Geld hab ich also nicht mehr gesehen. Dafür sitzt er jetzt im Gefängnis.“  (Der Politiker wurde im März 2022 wegen schweren Betrugs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt – dek).            

    Schkurenko sagt, für ihn sei auch Sajapin nur ein Unternehmer, mehr nicht. „Er ist kein Staatsbediensteter, er war Abgeordneter im Stadtrat, das ist er jetzt nicht mehr. Er ist absolut kein einflussreicher Mann, er hatte eine Firma, die mit Computertechnik handelt. Und dann war er bankrott, ja. Ich hab ihm tatsächlich geholfen, habe seinen Kredit abgelöst, er hat ihn dann von mir zurückgekauft. Warum ich das gemacht habe? Er hat sich an mich gewandt und um Hilfe gebeten. Ich kenne ihn gut, wir haben schon zusammen Wanderungen gemacht und Wodka getrunken. Wieso sollte ich ihm nicht helfen?“ 

    „Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“ 

    Bei den jährlichen Betriebsfeiern, wo auch schon mal eine Drag-Show, Ritterspiele und Crash-Tests mit Bürotechnik auf dem Programm standen, ist Schkurenko auch persönlich mit von der Partie. Er verbringt die Nacht mit seinen Angestellten, verweigert niemandem ein Selfie oder einen Trinkspruch. Mal kommt er, in einen schwarzen Umhang gehüllt, auf einem Rappen geritten, mal in einem rostigen, mit Graffiti vollgesprühten Shiguli angefahren. 2022 ließ er sich von vier Bodybuildern mit nackten, goldbemalten Oberkörpern auf einem Thron hereintragen. Auf der Bühne erwartete ihn bereits Iwan Urgant. 

    Eine Woche nach dieser Veranstaltung zog der Talkmaster Wladimir Solowjow gegen den Omsker vom Leder. Er nannte Urgant eine „Kackwurst im Eisloch“ und Schkurenko eine „Schande für Omsk und ganz Russland“. Einen Monat später kam Solowjow noch mal auf den Geschäftsmann zurück und zog ihn fünf Minuten lang live auf Sendung als „regionalen Schweinehund und Kotzbrocken“ durch den Dreck. „Noch dazu schnappt er sich den Namen Pobeda (dt. Sieg)“, sagte Solowjow, bezugnehmend auf eine von Schkurenkos Handelsketten. „Steht er schon vor Gericht? Ist seine Firma schon bankrott? Alle 2.500 Deppen (damit sind die Gäste der Betriebsfeier gemeint – Anm. Holod) wandern schnurstracks an die Front, wenn sie auch seiner Meinung sind. Wieso ist dieses Arschloch noch nicht im Knast?“                 

    Für die Unterstützung von Urgant wurde Schkurenko auch vom Regisseur Nikita Michalkow angegriffen. Und der Vorsitzende der Moskauer Abteilung des Verbraucherschutzvereins, Jewgeni Tschirwin, wetterte: „Ein Verräter unterstützt einen Verräter und ist auch noch stolz darauf, das ist unverzeihlich!“ Russlands Urteil über Schkurenko sei gefallen. Tschirwin rief die sibirische Bevölkerung zum Boykott seiner Läden auf, Schkurenko solle von ihnen keinen Rubel mehr kriegen.  

    Eine anonyme Anzeige, ein Besuch von der Polizei und 5.000 Rubel Strafe (etwa 46 Euro – dek) wegen Ruhestörung standen am Ende dieser Geschichte. Der Boykott kam nicht zustande. Der Gesamterlös der Holding wuchs innerhalb eines Jahres in Rubel um zehn Prozent, auch der Einzelhandel erzielte ein Plus, und der Gewinn der Café-Kette Skuratov Coffee, in die Schkurenko investiert, ist um 50 Prozent gestiegen.  

    „Ich habe kein Gesetz übertreten, und wenn ich jemandem auf den Schlips getreten bin, dann ist das nicht mein Problem“, kommentiert Schkurenko die Kritik. „Ich bin gegen Wolodin und alle Gesetze, die sie da der Reihe nach beschlossen haben, aber formell hab ich kein Gesetz gebrochen, insofern sind meine Handlungen nichts Außergewöhnliches. Ich will weder Gouverneur werden noch Bürgermeister oder Abgeordneter. Von mir geht keinerlei Bedrohung aus. Ich trete mit niemandem in Konkurrenz. Gut, vor 20 Jahren hab ich mal meine Steuern nicht gezahlt, aber jetzt zahle ich alles. Sogar in Russland braucht es einen formellen Grund für ein Strafverfahren. Und eine Geldstrafe kann ich ja berappen, wenn nötig.“                           

    Seine Unabhängigkeit, sagt eine Auskunftsperson (ein Oberstleutnant des FSB im Ruhestand Anm. Holod), komme Schkurenko bestimmt teuer zu stehen. „In den Anfangsjahren war ein FSB-Oberst Teilhaber an einer seiner Firmen“, sagt er. „Die Jungs [Schkurenko und Schadrin] hatten eine kryscha und keine nennenswerten Probleme. Das ist eine wichtige unternehmerische Kompetenz: der Zeit und den Möglichkeiten entsprechend für die eigene Sicherheit zu sorgen. Das haben alle gemacht. Schkurenko hat hundertprozentig auch heute noch eine kryscha. Da war zuerst der Oberst, dann noch ein zweiter, und jetzt ein Moskauer General.“ In der Wirtschaftsdatenbank Spark konnte Holod keine Hinweise auf einen eventuellen dritten Teilhaber finden.    

    Schkurenko sagt, seit Jelzins Erlass über die staatliche Strategie zur wirtschaftlichen Sicherheit im Jahr 1996 hätten er und seine Unternehmen „keine kryscha mehr gehabt und auch keine derartigen Angebote erhalten“. „Wir haben keine FSB-Männer und keine Oberste als Teilhaber, hatten wir nie!“, braust er auf. „Aber sollen sie doch glauben, was sie wollen! Na klar, der FSB wird mich beauftragt haben, für Nadeshdin zu unterschreiben und seine Partei zu sponsern. Auch Urgant habe ich unter seiner Fuchtel eingeladen, und Vertrauensmann von Präsidentschaftskandidatin Xenija Sobtschak bin ich auch auf FSB-Befehl geworden …“ Schurenko fängt beinah an zu brüllen. 

    Quellen aus Unternehmertum, Beamtenschaft und Medien sind sich einig, dass Schkurenkos Sicherheit erstens durch seinen Respekt vor dem Gesetz und zweitens durch seine Steuern gewährleistet ist. „Ich bezweifle, dass er überhaupt so etwas wie eine kryscha hat“, sagt Oleg Malinowski, der Chefredakteur von RBK Omsk, der Schkurenko als einen der wichtigsten Schlagzeilenhelden der Region schon lange kennt. „Das Einzige, was ihn schützt, ist sein kluger Kopf. Er ist einer der stärksten Steuerzahler, der Staat profitiert ziemlich von ihm. ’Seine kryscha ist also der Staat selbst, ob es ihm gefällt oder nicht.“ 

    „Ich mache überall in Russland Geschäfte und hänge nicht von den lokalen Behörden ab. Wenn sie mir hier blöd kommen, gehe ich eben woandershin. Lasse alles liegen und ziehe mit meinem Geld in eine andere Region.“ Das Gerede davon, dass er von irgendwem protegiert werde, bringt Schkurenko in Rage. „Hinter meinem Business steht keiner außer mir!“ 

    Ein Jahr nach dem Skandal mit Urgant bat Schkurenko 2023 seine Mitarbeiter, als Märchenfiguren verkleidet zur Betriebsfeier zu kommen. Er erklärte die Party zur Hommage an die TV-Sendung Proisschestwije w strane Multi-Pulti (dt. Ein Vorfall im Land Multi-Pulti) mit Iwan Urgant, Alexej Serebrjakow und Alexander Gudkow. Sie alle haben sich auf die eine oder andere Weise gegen die „Spezialoperation“ geäußert. Kurz vor Jahresende wurde die Sendung ohne offizielle Begründung aus dem Programm gestrichen.  

    Schkurenkos Angestellte erzählen, ihr Chef habe während dieser Feier in der Lastschale eines Hebekrans hoch über der Menge geschwebt. Er trug eine orangenfarbene Perücke und einen schwirrenden Propeller auf dem Rücken. Dreitausend Leute begrüßten ihn mit Jubel und Applaus. „Ich bin heute Karlsson vom Dach!“, schrie der Boss ins Mikrofon. „Zuerst wollte ich mich als Hahn von den Bremer Stadtmusikanten verkleiden, doch das wäre für Solowjow ein gefundenes Fressen gewesen!“      

    NATO-Träume 

    Schkurenko postet seine Ansichten regelmäßig auf Instagram, das in Russland verboten ist – mehrmals im Monat. Seit dem Februar 2022 empfiehlt er den neuen Song des DDT-Leaders Juri Schewtschuk und posiert vor der Skulptur Net wojne (dt. Nein zum Krieg), die mit ebenjener Phrase auf dem Sockel in Novosibirsk steht. Er dokumentiert seine eigenen „Gespräche über das Wichtige“, nämlich wie er auf einem Feriencamp mit den Kindern über Humanismus und Freiheit sprach. Er präsentiert, wie er auf die Auszeichnung des „ausländischen Agenten“ Memorial mit dem Friedensnobelpreis ein Gläschen Calvados hebt. Und er schlägt vor, die nächste Versammlung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation in der Tretjakow-Galerie vor dem Bild Apofeos wojny (dt. Apotheose des Kriegs) von Wassili Wereschtschagin abzuhalten. 

    Die Kommentare unter Schkurenkos Posts sind unzensiert. Die Einen unterstützen und feiern seinen Mut, die Anderen beschimpfen ihn wüst und hetzen ihm die Staatsanwaltschaft auf den Hals. 

    „Ich bin gegen jede Zensur: im Internet, im Krankenhaus, in der Bibliothek“, sagt er. „Gegen die Todesstrafe, gegen das Verbot von Abtreibung, Meinungsfreiheit und kreativer Selbstverwirklichung … Es macht mich fertig, dass man für einen Kommentar im Gefängnis landen kann, dass Regisseure verhaftet und Künstler unter Druck gesetzt werden! Dass Berkowitschs Theaterstück mit der Goldenen Maske ausgezeichnet wird, monatelang aufgeführt wird und dann plötzlich ein ominöser Experte auftaucht, der darin eine Rechtfertigung von Terrorismus sieht!“ 

    Schkurenko wollte Kirill Serebrennikows Ballett Nurejew sehen, doch während er noch den Flug plante, wurde es bereits verboten. „Die Duma diskreditiert sich mit ihren Initiativen selbst, trifft immer noch üblere Entscheidungen. Es ist unfair und tragisch, aber da kann man jetzt nichts machen. Man kann nur zusehen. Und den Menschen zeigen, dass es auch anders geht.“ 

    „Es ist immer noch mein Land“, sagt der Unternehmer. „Aber nicht meine Regierung. Der russische Patriotismus trägt den Abdruck eines Kampfstiefels. Deswegen muss man vorsichtig sein. Aber man darf nicht aufhören, kreativ zu sein, sich in äsopischer Sprache zu äußern. Und ich werde in Metaphern sprechen, um nur ja kein Gesetz zu brechen. Um auf alles gefasst zu sein.“      

    Schkurenko hat Respekt vor „den Stärksten“, vor jenen, die „sich in die Schlacht warfen“ wie Solschenizyn und Pasternak. „Aber außer ihnen gab es noch Tarkowski und Andrej Smirnow, die äußerlich buckelten, aber in ihrem Inneren brodelte es. Als Gorbatschow kam, gingen wir alle auf die Straße, um ihn zu unterstützen. Und wenn eine neue Regierung kommt, werden wir wieder draußen stehen.“ Schkurenko glaubt an die Unausweichlichkeit eines Wandels. „Wir sind ein europäisches Land, und das, was bei uns jetzt passiert, ist widernatürlich. Ich bin überzeugt, dass wir wieder mit Europa kooperieren werden. Dass Russland eines Tages der NATO beitritt. Das wäre mein Traum! Weil wir dann weniger für die Rüstung ausgeben müssten und mehr Geld für Bildung da wäre. Ich warte einfach darauf.“

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  • „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

    „Sie wollten mir die Kinder wegnehmen“

     

    145 politische Gefangene wurden seit Juli 2024 in Belarus freigelassen. Von einem Abflauen der Repressionen kann allerdings keine Rede sein. Die Menschenrechtsorganisation Wjasna konstatiert in ihren monatlichen Analysen „ein unverändert hohes Niveau der politisch motivierten Repressionen“. Mit den bevorstehenden sogenannten Präsidentschaftswahlen zieht das Regime die Daumenschrauben wieder deutlich an. Allein seit Anfang November wurden über 100 Personen festgenommen

    Gleichzeitig werden auch Familien und Verwandte von politischen Gefangenen häufig Ziel der Sicherheitsbehörden. Eine solche Geschichte erzählt das Online-Medium Mediazona Belarus.  

    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat
    Galina Budai, ihre Kinder und der Familienhund / Foto © privat

    Mitte Sommer 2023. Der achtjährige Wanja, seine elfjährige Schwester Marija und der 16-jährige Daniil haben endlich Ferien. In ihrer Wohnung in Minsk finden regelmäßig Durchsuchungen statt. Weil eine Sonderkommission entschieden hat, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. 

    Ihre Mutter Galina Budai versucht bereits seit Monaten, der Kommission zu beweisen, dass mit ihrer Familie alles in Ordnung ist. Galina muss gleichzeitig die Formulare studieren, mit denen die Beamten sie überhäufen, die Kinder erziehen und ihren Mann in der Strafkolonie unterstützen. Im September 2022 wurde der 46-jährige Andrej im Fall Busly ljazjaz (dt. Die Störche fliegen) zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Behörden lassen keine Gelegenheit aus, daran zu erinnern, nach welchem Paragrafen Andrej verurteilt wurde, wie lange er sitzen muss und dass er auf der „Terrorliste“ steht. 

    Offiziell steht die Familie unter Beobachtung, weil Galina und Andrejs Kinder zu Hause unterrichtet werden. Dabei hat sich daran jahrelang niemand gestört. Bis eines Tages der damals 15-jährige Daniil kurz nach 23 Uhr in der Metro von der Miliz aufgegriffen wurde. Er fuhr ohne Begleitung eines Erwachsenen nach Hause. Die Beamten brachten den Teenager auf die Wache und durchsuchten sein Handy. Dort fanden sie ein Abo des Telegram-Kanals von Nexta

    „Sie fragten ihn aus, wo seine Eltern sind“, erzählt Galina. „Er sagte, wo ich bin, und dass sein Vater in Untersuchungshaft sitzt. Sie wollten wissen, weswegen, da hat er geantwortet: ‚Wegen nichts.‘ Die Antwort schmeckte ihnen gar nicht, sie fingen an zu brüllen und ihn zu beschimpfen. So was kennt er von zu Hause nicht. Sie haben ihm richtig Angst eingejagt, und mir auch, als ich ihn abholen kam. Zum Abschied sagten sie, so was verjährt nicht, und wenn er sechzehn wird, kommen sie ihn wegen diesem Kanal holen.“ 

    *** 

    Über den Vorfall wurde die Einzugsschule der Kinder informiert. Weil sie zu Hause unterrichtet werden, gehen sie dort nur für die Prüfungen hin. Die Eltern haben sich immer selbst um den Unterricht gekümmert: Galina ist diplomierte Pädagogin und hat eine entsprechende Zusatzausbildung abgeschlossen. Nach Daniils Verhaftung verlangte die Schulleiterin, dass die Kinder umgehend wieder die Schulbank drücken. Für Galina kam das gar nicht in Frage. 

    „Für mich sind die Mängel des belarussischen Schulsystems offensichtlich. Wir sind zum Beispiel gegen jeglichen Militarismus, gegen den Krieg und jede Form von Gewalt. Von Freunden wissen wir aber, dass diese Themen jetzt an den Schulen zum Alltag gehören.“ Weil Galina sich weigerte, die Kinder zur Schule zu schicken, wurde eine Sonderkommission darauf angesetzt, die Familie als „sozial gefährdet“ einzustufen. Über das Schicksal der Familie entschieden die Leiterin der Bildungsabteilung im Exekutivkomitee, die Schuldirektorin, eine Beamtin vom Sozialdienst, Milizionäre und aus irgendeinem Grund sogar Feuerwehrleute. „Die Dame vom Sozialdienst erzählte irgendwas von Pflegeeltern und Adoption“, erinnert sich Galina. 

    Dass die Kinder in einer akkreditierten Online-Schule angemeldet sind und ausgezeichnete Noten haben, dass die Mutter Pädagogin ist und keiner in der Familie je irgendwie auffällig geworden ist, interessierte die Kommission nicht im Geringsten. Die Familie wurde für drei Monate als „sozial gefährdet“ eingestuft. In dem Gutachten hieß es, die Eltern würden „den Grundbedürfnissen der Kinder nicht nachkommen und den Erhalt der obligatorischen allgemeinen Sekundarschulbildung (in jeglicher Form) verhindern“. Es wurden „Maßnahmen zur Beseitigung der Ursachen und Bedingungen, die zur Schaffung eines ungünstigen Umfelds für die Kinder geführt haben“ festgesetzt. 

    *** 

    Daraufhin begannen die ständigen Kontrollen – nicht nur durch die Schule, sondern auch durch den Sozialdienst, das Bezirkskrankenhaus und – seltener – durch die Polizei. „Ich saß nicht untätig herum, sondern versuchte, den Beschluss des Exekutivkomitees anzufechten, aber vergeblich“, sagt Galina. 

    Das Bildungsministerium, an das sich Galina ebenfalls wandte, äußerte sich widersprüchlich. Ein Anwalt, den sie konsultierte, sagte, das Dokument könne auf unterschiedliche Weise ausgelegt werden: Es ließe offen, ob häuslicher Unterricht nun verboten oder erlaubt war. „Ich pochte auf mein Recht, meine Kinder zu Hause zu unterrichten, und sah seitens des Ministeriums oder der Schule keine Spur von Unterstützung. Keinen Funken Menschlichkeit. Die Schule interessiert sich nur für die Ideologie, die Zukunft der Kinder ist ihr völlig egal“, meint Galina. 

    Für die Kinder, die 70-jährige Großmutter, die in der Familie lebt, und für Galina selbst bedeutete die Aufmerksamkeit des Staates eine enorme Belastung. Die Lehrer, Sozialarbeiter, Ärzte und anderen Beteiligten kamen meist ohne jede Vorwarnung, höchstens ein Anruf 15 Minuten vor dem Besuch. Die Familie musste immer in Alarmbereitschaft sein. Die Kontrolleure überprüften, ob im Haus genug zu essen war, ob die Kinder Arbeitsplätze hatten, die richtigen Hefte und Lehrbücher. Sie durchwühlten die Dokumente und sahen nach, ob die Kinder alle vorgeschriebenen Impfungen hatten. Zu beanstanden gab es nichts – außer, dass der Vater im Gefängnis war und die Kinder zu Hause lernten anstatt in der Schule. Nach drei Monaten kam die Kommission wieder zusammen. Der Status als „sozial gefährdet“ wurde verlängert. 

    „Wir standen alle unter Schock, wir waren sicher gewesen, dass sie uns endlich in Ruhe lassen würden. Aber nein, es gab weder Mitgefühl noch Verständnis. Mir kam es damals vor, als hätte der Staat mehr Anrecht auf die Kinder als ich. Er wollte entscheiden, wie sie lernen, mit wem sie Umgang haben und so weiter.“ Wegen der fremden Leute im Haus standen die Kinder extrem unter Stress, sie machten sich Sorgen um die Mutter und vermissten ihren Vater, dem sie regelmäßig Briefe schrieben. 

    „Er hat immer sehr viel Zeit mit den Kindern verbracht. Er spielte mit ihnen, fuhr die Kleinen mit dem Fahrrad herum, machte Touren mit unserem Großen. Sie waren es gewohnt, dass Mama die Hausarbeit macht und sie unterrichtet. Papa war für sie Freizeit, Ferien. Er dachte sich immer Abenteuer für sie aus: bei Hitze im Springbrunnen baden, mit dem Großen nachts heimlich Schawarma essen fahren oder mitten in Minsk einen Igel aufspüren und ein Video von ihm machen. Er steckte voller verrückter Ideen.“ 

    Andrej Budai war Im Juli 2021 verhaftet worden. Nach der Festnahme kamen Mitarbeiter des GUBOPiK mehrfach zu ihm nach Hause, durchsuchten die Wohnung nach Waffen – alles vor den Augen der Kinder. Andrej Budai leitete zuvor ein Bauunternehmen. 

    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat
    Die Familie nach ihrer Auswanderung nach Litauen / Foto © privat

    *** 

    In der Zeit, in der die Familie als „sozial gefährdet“ galt, sprach Galina mehrfach mit dem Schulamt. Einmal sagte man ihr: „Ihnen ist doch wohl klar, dass Sie diesen Status nicht ewig behalten werden. Beim nächsten Mal übergeben wir Ihre Akte einfach der Staatsanwaltschaft, und dann geht es bis hin zum Kindesentzug.“ 

    „Man hat mir also zu verstehen gegeben, dass sie mir die Kinder wegnehmen, wenn ich nicht pariere“, erinnert sich Galina. Das war der Moment, in dem sie zum ersten Mal ernsthaft darüber nachdachte, das Land zu verlassen. Für 2023 war bereits die dritte Sitzung der Kommission anberaumt. 

    „Im Herbst wollten wir Andrej in der Kolonie besuchen. Wir wollten ihn so gerne sehen, bevor wir wegziehen, aber die Lagerleitung hat uns nicht zu ihm gelassen. Diese Situation zog sich bis zum Winter hin, der Druck wurde immer größer. Dann brach der Kontakt zu meinem Mann ab.“ Später erfuhr Galina, dass Andrej in eine andere Kolonie verlegt worden war. 

    *** 

    Galina reiste mit ihren Kindern nach Litauen aus. Die Großmutter blieb und bekam noch mehrmals Besuch von diversen Behörden, die wissen wollten, wo die Kinder sind. Die Familie hatte immer noch den Status „sozial gefährdet“. „Aber das ist nicht mehr unsere Sache“, sagt Galina. 

    In Litauen hat die Familie nun eine Aufenthaltserlaubnis, aber vor Galina liegen noch viele Herausforderungen: Arbeit finden, in die Krankenversicherung aufgenommen werden, die Sprache lernen und den Kindern dabei helfen und darauf achten, dass sie ihren Vater nicht vergessen. „Wir beten für ihn und unterstützen ihn, so gut es geht. Wir erinnern uns an gemeinsame Momente mit ihm, was er zu wem gesagt hat. Denken daran, dass wir ein Team sind. Wie unser Team am Ende abschneidet, hängt davon ab, wie jeder einzelne von uns mit der Situation umgeht. Auch wenn mein Mann physisch nicht anwesend ist, sind wir trotzdem immer zusammen.“ 

    Der älteste Sohn Daniil ist in den letzten Monaten merklich erwachsener geworden, er möchte seiner Mutter eine Stütze sein. Marija und Wanja vermissen ihren Papa sehr. Wanja habe lange nicht darüber gesprochen, erzählt Galina, aber jetzt habe er ihr anvertraut, dass sein Papa ihm fehle und es ihm wehtue, andere Jungen mit ihren Vätern zu sehen. Zu Hause in Belarus hatte Wanja eine ganze Sammlung von selbstgezüchteten Veilchen, die er zurücklassen musste. Jetzt hat Wanja auch in der neuen Heimat sein Hobby wiederaufgenommen und kümmert sich um seine Blumen. 

    Andrej Budai befindet sich währenddessen in der Strafkolonie IK-2 in Bobruisk, wo er regelmäßig in den Strafisolator gesperrt wird. Am 23. September 2024 wurde eine neue Anklage gegen den Politgefangenen verhandelt: wegen „böswilligen Ungehorsams gegen die Lagerverwaltung“. 

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