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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    Schebekino – Krieg im russischen Grenzgebiet

    In der Rhetorik des Kreml ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine bis heute bloß eine „militärische Spezialoperation“ – ein begrenztes Unterfangen, das irgendwo in der Ferne stattfindet, aber den Alltag der Menschen in Russland nicht weiter beeinträchtigt. Diese Erzählung verliert immer stärker an Glaubwürdigkeit, je mehr der Krieg auch in Russland zu spüren ist: sei es durch Drohnenangriffe auf Moskau oder Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet. 

    Für die Menschen in der Oblast Belgorod ist der Krieg schon lange eine Realität, die sich nicht ignorieren lässt. Von dort rückten im Februar 2022 russische Besatzungstruppen auf die ostukrainische Stadt Charkiw vor, nahmen die Region unter Beschuss und provozierten entsprechend Gegenfeuer auch von ukrainischer Seite aus. Zum Brennpunkt auf russischem Gebiet entwickelte sich die grenznahe Kleinstadt Schebekino mit einst rund 40.000 Einwohnern, von denen viele die Stadt inzwischen verlassen haben. Die Region geriet jüngst in die Schlagzeilen, nachdem russische Freiwilligenverbände, die für die Ukraine kämpfen, die Grenze mit gepanzerten Fahrzeugen überquerten und Sabotageakte auf russischem Staatsgebiet verübten. Dazu bekannten sich die Legion Freiheit Russlands sowie das Russische Freiwilligenkorps (RDK) um den Neonazi Denis Kapustin, der auch in Westeuropa kein Unbekannter ist.

    The Insider war vor Ort unterwegs und berichtet von leeren Straßen, zerstörten Häusern und von Menschen, die sich von ihrer Regierung im Stich gelassen fühlen. Eine Reportage aus der russischen Grenzstadt Schebekino, wo der Krieg inzwischen in voller Wucht angekommen ist.


    1. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“

    „Wir wissen, was ihr in Moskau denkt. Ihr denkt, wir wären irgendein Dorf. Nicht mal den Namen der Stadt könnt ihr richtig schreiben!“, beschwert sich einer der Sicherheitsbeamten in der Grenzstadt Schebekino, mutmaßlich ein Mitarbeiter des FSB. „Wir kriegen hier alles ab, und bei euch kommen nicht mal gescheite Nachrichten darüber, was hier los ist!“

    Wir sitzen im Keller des Polizeireviers in Schebekino. Hier wurde ich hergebracht, weil ich die kaputte Fensterscheibe eines Schönheitssalons auf der zentralen Einkaufsstraße der Stadt fotografieren wollte. Das Geschoss hatte das Kulturzentrum getroffen, aber die Detonationswelle hat Fensterscheiben im Umkreis von zig Dutzend Metern bersten lassen. Die Soldaten tauchten aus dem Nichts auf. „Jeder, der hier fotografiert, ist ein potentieller Spion der ukrainischen Armee!“, sagten die bewaffneten Männer, nahmen mir Handy und Ausweis ab, setzten mich ins Auto, fuhren mich aufs Revier und brachten mich dann in den Keller. Vielleicht, um mich einzuschüchtern, vielleicht aber auch zum Schutz vor den Einschlägen: An jenem Tag wurde Schebekino vier Mal beschossen, es donnerte fast ununterbrochen über unseren Köpfen.

    Nach einem Einschlag irgendwo in der Nähe geht das Licht aus. Das Verhör wird im Dunkeln fortgesetzt. Keiner von den Polizisten hat sich mir vorgestellt. Sie suchen ukrainische Kontakte, scrollen durch die Fotos in meinem Handy, das entsperrt war, als sie es mir aus der Hand gerissen haben. Wollen DNA-Proben und Fingerabdrücke nehmen, aber die Technik macht nach dem Einschlag nicht mit. Der Ton wird weicher, als sie irgendwo in meinen Nachrichten eine Bestätigung dafür finden, dass ich wirklich Journalistin bin. Die Presse interessiert sie in dieser Situation weniger.

    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider
    Schebekino am Morgen / Foto © The Insider

    „Solche Spielchen spielen wir hier nicht. Wir haben keine Zeit für einen Krieg gegen Journalisten, wir führen hier einen echten. Nur die bei euch in Moskau wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen“, sagt genervt der eine Mitarbeiter, der sich mir immer noch nicht vorgestellt hat. Er muss sich sichtlich beherrschen, keine direkte Kritik an der Zentrale zu üben, aber das gelingt ihm nur mäßig. Genau wie der Großteil der Bevölkerung der Oblast Belgorod sind auch die hiesigen Behörden empört über die Gleichgültigkeit des Kreml gegenüber den Ereignissen im Grenzgebiet und das Ausbleiben jeglicher Hilfe. Nach knapp vier Stunden darf ich den Keller verlassen.

    Auch die hiesigen Behörden sind empört über die Gleichgültigkeit des Kreml

    Mein Gesprächspartner ärgert sich, dass sie in der Oblast „nicht einmal den Kriegszustand“ ausgerufen hätten: „Offiziell war das hier nur eine Antiterroroperation, aber die wurde beendet. Jetzt gibt es hier gar keinen besonderen Status. Aber wir arbeiten immer noch genau so“, versucht mir der Polizist die Festnahme, Durchsuchung und Befragung zu erklären.

    Wir verlassen das Revier, der Mitarbeiter begleitet mich zu unserem Auto, das beim Krankenhaus von Schebekino in einer Seitenstraße wartet. „Schreiben Sie lieber was darüber, wie wir trotz der ganzen Sache hier versuchen zu arbeiten“, klagt der Polizist. Das Stadtzentrum hat sich während meiner Stunden im Keller verändert: Die Bürgersteige sind mit Glasscherben übersät, hinter dem Polizeigebäude steigen schwarze Rauchwolken auf. Drei Tage später wird auch das Polizeirevier getroffen, in dem ich gerade verhört wurde.

    2. „Unser russisches Donezk oder Mariupol“

    Die Folgen von Putins Krieg sind in Schebekino seit dem Beginn der „Spezialoperation“ spürbar. Nach dem 24. Februar stand der Landkreis regelmäßig unter Beschuss, aber es handelte sich dabei um einzelne Gegenschläge. Die Oblast Belgorod diente als Aufmarschgebiet für die Offensiven gegen Charkiw und Sumy, und auf den Feldern, Äckern und rund um die Ortschaften herum war regelmäßig russische Kriegstechnik stationiert. Auch solche, mit der die Ukraine beschossen wurde. Doch eine derartige Eskalation hat in Schebekino niemand erwartet. Noch am 25. und 26. Mai war es in der Stadt verhältnismäßig ruhig, nur gelegentlich donnerte es. „Das ist die Luftabwehr“, sagten die Bewohner und schenkten dem nicht allzu viel Beachtung. Die Kinder spielten weiter auf der Straße, die Rentnerinnen hatten es nicht eilig, ihre angestammten Plätze auf den Bänken zu verlassen. Am Morgen des 27. Mai heulten in der Stadt die Sirenen los. Die waren allerdings im Zentrum kaum zu hören – im Gegensatz zu den Explosionen direkt über den Köpfen. An diesem Tag wurde Schebekino vier Mal angegriffen. Mit jedem Tag nahm die Intensität der Beschüsse zu.

    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider
    „Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann“ / Foto © The Insider

    Während wir die Lenin Straße entlangfahren, gibt es wieder Luftalarm. Wir halten an, steigen aus und laufen in einen Hof, in den Pfeile mit der Aufschrift „Schutzbunker“ weisen, aber wir finden nur eine abgeschlossene Kellertür. Wir warten ein paar Minuten, aber es kommt niemand, der uns aufschließen könnte. Etwas abseits bemerke ich ein paar Frauen, die eine Haustür aufhalten – der Hausflur ist offenbar der einzige Platz, wo man sich in diesem Hof vor den Einschlägen verstecken kann. Die Frauen winken uns zu, wir gehen rein. In diesem Moment ertönt direkt über uns ein lauter Knall, alle schreien auf.

    Wenn es pfeift, sind es die Ukrainer, wenn es Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere Leute

    „Wer war das? Unsere Leute oder die anderen?“, fragt eine Frau in einer Mischung aus Russisch und Ukrainisch und späht aus der Tür. Viele ältere Bewohner der Oblast Belgorod sprechen Surshyk. „Wenn es pfeift, dann sind es die Ukrainer, wenn es einfach nur Bumm-Bumm macht, dann schießen unsere. Wenn es pfeift, ist es gefährlicher, dann ist was im Anflug.“

    „Unsere Leute“, so die hiesigen Bewohner, positionieren ihre Kriegstechnik am Stadtrand von Schebekino. Den Geräuschen nach zu urteilen, werden die Geschosse wenige Kilometer von uns entfernt abgefeuert. Vergangenen Sommer standen die Armeefahrzeuge mitten in der Stadt – Ural- und KamAZ standen auf dem Krankenhausgelände, das an eine große Militärbasis erinnerte. Die Einfahrten wurden von Bewaffneten mit Maschinenpistolen kontrolliert. Zutritt bekam man nur mit Genehmigung. Jetzt ist das Krankenhaus leer. Nach dem Beginn der massiven Beschüsse wurden die Patienten nach Belgorod verlegt. Geblieben sind nur ein paar diensthabende Ärzte.

    Am 28. Mai meldete Wjatscheslaw Gladkow, Gouverneur der Oblast Belgorod, 116 Einschläge im Stadtgebiet Schebekino, am 30. Mai waren es bereits 215, am 1. Juni dann der Rekord mit 850 und am 2. Juni 371. Unter den Beschüssen leiden neben der Stadt Schebekino auch die Grenzdörfer Nowaja Tawolshanka und Murom. Letzten Sommer hatte das russische Militär zwischen Murom und Archangelski eine große Reparatur-Basis für Militärtechnik aufgeschlagen. Als die Oblast Charkiw okkupiert war, konnte man hier Raketenwerfer und andere Kampffahrzeuge sehen.

    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider
    Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen wurden / Foto © The Insider

    Ende Mai boten die Ladenflächen noch Schutz. Fast alle Schaufenster wurden mit Sandsäcken gesichert, damit die Menschen nicht von Glassplittern getroffen werden. Aber einige Tage später wurden die Geschäfte geschlossen. Jetzt besteht Schebekino aus leeren Straßen, zerstörten Häusern und brennenden Dächern. Von den Zerstörungen betroffen sind sowohl Hoch- und Einfamilienhäuser als auch Verwaltungsgebäude; ein Wohnheim, zwei Fabriken und zahlreiche Autos sind ausgebrannt. In der Stadt gibt es seit Tagen weder Strom noch Wasser, der öffentliche Verkehr und das Mobilfunknetz sind zusammengebrochen. Am 1. und 2. Juni bildeten sich an den Tankstellen Staus. Die Einfallstraßen in die Stadt sind in alle Richtungen gesperrt und werden von ganzen Militärbrigaden kontrolliert. Bis zum 1. Juni konnte man Schebekino noch durch die Ortschaft Titowka erreichen, dann wurde auch diese Straße gesperrt.

    „Die Stadt ist leer, alles brennt, Rauchsäulen, hungrige Hunde, die von ihren Besitzern zurückgelassen wurden, suchen nach Fressen. Ein furchtbarer Anblick“, erzählt eine Einwohnerin, die Schebekino am 2. Juni verlassen hat.

    „Unsere schöne, saubere Stadt ist jetzt quasi ein russisches Donezk oder sogar Mariupol. Sie haben sie ihren waghalsigen Abenteuern geopfert“, beklagt Wadim, der in Schebekino geboren und aufgewachsen ist.

    3. Die Geiseln von Schebekino

    Schebekino ist die erste russische Stadt, die die Bewohner wegen des von Putin entfesselten Krieges verlassen müssen, allerdings wurde keine offizielle Evakuierung ausgerufen. Aber weil die Stadt gesperrt ist, wird es für viele zur echten Herausforderung, hier rauszukommen.

    Am 1. Juni haben die Behörden Busse bereitgestellt, die die Menschen von Schebekino nach Belgorod bringen sollten. Aber zu den Sammelpunkten außerhalb der Stadt mussten die Menschen irgendwie selbst kommen. Manche legten mehrere Kilometer zu Fuß zurück. Ältere und gebrechliche Menschen waren tagelang dem Beschuss ausgesetzt. Auch ihre Angehörigen konnten sie nicht abholen, weil die Stadt gesperrt war. Die Einwohner von Schebekino richteten Selbsthilfe-Chats ein, in denen sie dringend jemanden suchten, der ihre Eltern oder Haustiere aus der Stadt bringt.

    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider
    „Wer kann, rettet sich auf eigene Faust“ / Foto © The Insider

    „Bitte, holt uns hier raus, wir haben Kinder, unsere Mutter ist krank. Was sollen wir tun??? Helft uns bitte!!! Irgendjemand, bitte!!!“, schreibt eine Einwohnerin. Und solche Nachrichten gibt es Dutzende, wenn nicht Hunderte.

    „Die Menschen in Murom bei Schebekino haben seit acht Tagen keinen Strom, im benachbarten Siborowka seit vier Tagen“, kann man in den sozialen Netzwerken lesen. „Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung – nehmen Anfragen entgegen und schweigen sich aus. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust. In Murom bricht die Verbindung immer wieder weg.“

    Die Behörden haben es nicht eilig mit der Evakuierung. Wer kann, rettet sich auf eigene Faust

    In den Chats bitten die Menschen Freiwillige, ihre Haustiere zu füttern, die angeleint zu Hause geblieben sind. Manche warten nicht nur für Hunde und Katzen auf Hilfe, sondern auch für Hühner und Ziegen.

    „Familie, drei Erwachsene, ein Kind, 7 Jahre, Kreis Schebekino, Maslowaja Pristan. Mit Vieh: 14 Ziegen, 30 Hühner, 9 kleine, gutmütige Hunde, 2 Katzen. Suchen gezwungenermaßen ein neues Zuhause, ein Haus, mit Möglichkeit für Tierhaltung“, lautet eine Hilfsanfrage.

    Allerdings gibt es auch Personen, die weniger Schwierigkeiten haben, sich durch die Oblast zu bewegen, als die Belgoroder selbst, zumindest in den Grenzgebieten – und zwar ukrainische Diversionsgruppen und die Kämpfer des Russischen Freiwilligenkorps (RDK). Ihr Auftauchen sorgt kaum mehr für Verwunderung bei der einheimischen Bevölkerung.

    4. „Das ist keine Grenze, sondern eine offene Tür“

    „Unsere Grenze ist nicht nur löchrig, sie ist freizügig wie ein Stringtanga! Also schon eine Unterhose, aber alles offen. Genauso ist das bei uns“, – der Belogoroder Jewgeni versucht gar nicht erst, seine Emotionen im Zaum zu halten. Er ist vor 16 Jahren aus Norilsk hierher zu den Eltern seiner Frau gezogen. Die Region schien ihm das Paradies auf Erden: ein großes Haus, bestes Klima, 60 Kilometer bis ins ukrainische Charkiw. Er erzählt, dass sie früher oft hin- und hergefahren seien: Aus der Ukraine konnte man günstig und bequem nach Europa oder nach Asien fliegen. Jetzt geht das Ehepaar nach Pensa.

    „Unsere Eltern und die Kinder haben wir schon vorgeschickt. Ich musste unbezahlten Urlaub nehmen. Wir sind direkt von der Fabrik aus losgefahren. Ich habe zu viel Angst, um hierzubleiben, ich verliere lieber Geld als mein Leben“, sagt Jewgenis Frau.

    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google
    Schebekino liegt nur wenige Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt / Kartendaten © 2023 Google

    Wir stehen an der Ausfahrt von Schebekino an einer geschlossenen Gazprom-Tankstelle. Das ist reiner Zufall: In diesem Gebiet ist kein Empfang, das Navi spinnt und statt uns nach Belgorod zu führen, schickt es uns irgendwo Richtung ukrainische Grenze. Dorthin sind es von hier noch drei Kilometer, gleich hier ist die Kreuzung, wo man nach Woltschansk abbiegen muss, dort geht es dann zum Grenzübergang Schebekino. Und genau dort gab es laut Medienberichten am 1. Juni einen Versuch, von ukrainischer Seite aus die Grenze zu durchbrechen, und es kam zu einem Panzergefecht.

    Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da

    Die Abzweigung Richtung Grenzübergang Schebekino liegt verlassen da. Früher war hier offensichtlich ein Checkpoint, aber der steht jetzt verwahrlost da. Leere Befestigungen, eine offene Schranke, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“. Solche wurden verwendet, um entlang der ukrainischen Grenze die „Wagner-Linie“ zu ziehen. Die ist von hier aus zu sehen. Als das Verhältnis zwischen der Söldnertruppe und dem Verteidigungsministerium schlechter wurde, hieß diese Linie in den staatlichen Medien übrigens nicht mehr Wagner-Linie, sondern wurde zur „Belgoroder Verteidigungslinie“.

    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider
    Leere Befestigungen, ein Schild „Zollkontrolle“ und ein Haufen riesiger Beton-Dreiecke, so genannte „Wagner-Zähne“ / Foto © The Insider

    Diese Befestigungsanlagen aus Betonkegeln scheinen ein Eindringen auf russisches Gebiet allerdings nicht wirklich zu verhindern. Russische Freiwilligeneinheiten, die den ukrainischen Streitkräften angegliedert sind, posten fast täglich Fotos und Videos aus russischen Grenzdörfern. Normalerweise geben sie keine Adresse an, aber in vielen Fällen kann man diese über Google Maps zurückverfolgen, vor allem wenn die Aufnahmen mit Drohnen gemacht wurden.

    So ist etwa auf einem Video vom 1. Juni die Zerstörung von militärischem Gerät zu sehen, das russische Soldaten im Dorf Nowaja Tawolshanka versteckt hatten, in der Gegend um die Pestschanaja Straße. Ein Foto von einem Panzer mit weiß-blau-weißer Flagge hat die Legion Swoboda Rossii [dt. Freiheit Russlands] am Anfang der Saretschnaja Straße in demselben Dorf gemacht. Von dort sind es bis zur ukrainischen Grenze nur 500 Meter. Diese russischen Grenzdörfer, in denen das russische Freiwilligenkorps RDK herumspaziert, hat keiner evakuiert. Das Dorf Nowaja Tawolshanka zum Beispiel hat rund 5000 Einwohner – alles lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken.

    Die Bewohner von Nowaja Tawolshanka sind lebende Schutzschilde für die russischen Soldaten, klagen die Belgoroder in den sozialen Netzwerken

    Die Videos der Legion Freiheit Russland zeigen, wie sich in den Wohnhäusern russische Soldaten verschanzen, die ihre Schützenpanzer am Gartenzaun oder einfach direkt vor den Häusern parken. Beim RDK, dem russischen Freiwilligenkorps, heißt es, es sei das russische Militär, das grenznahe Dörfer beschießen würde, um die Positionen des RDK zu vernichten. 

    Den Sicherheitsmann an der Tankstelle wundern die Versuche, die Grenzübergänge zu stürmen, offenbar nicht. Ihm zufolge kommen regelmäßig Ukrainer ungehindert in die Oblast Belgorod und kehren genauso unbehelligt wieder zurück. Die russische Regierung habe es nicht eilig, die Grenze abzusichern.

    „Die gehen aus und ein, als wären sie hier zu Hause. Wieso auch nicht, die Grenze steht offen wie eine Tür“, ärgert sich der Mann. „Kürzlich schau ich über die Felder, und da seh ich, wie etwa einen Kilometer weit weg etwas in der Sonne glänzt. Ich seh genauer hin – ein Pickup. Er wendet und beginnt zu schießen, er hatte ein Maschinengewehr oder einen Granatwerfer montiert, keine Ahnung. Die standen da eine Weile und schossen, dann fuhren sie gemächlich wieder zurück. Ohne Angst vor einem Gegenschlag – sie wissen ja, dass da keiner kommt.“

    5. „Wir sitzen den dritten Tag im Keller – für das Land ist Donezk leider wichtiger“

    Ein schwerer Schlag war für die Belgoroder auch das Schweigen der staatlichen Medien zur Lage in ihrer Region. Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender detailreich von den Erfolgen der russischen Armee rund um Awdijiwka in der ukrainischen Oblast Donezk. 

    „Wir sind denen allen scheißegal. Wir sitzen den dritten Tag im Keller, mein Kind hat schrecklich Angst, kann die ganze Zeit nicht raus. Aber für das Land ist Donezk offenbar wichtiger“, beschwert sich Tatjana aus Schebekino in den sozialen Netzwerken.

    Während sich die Bewohner von Schebekino vor dem Beschuss versteckten, berichteten die Staatssender von den Erfolgen der russischen Armee in der Ukraine

    „Seit dem frühen Morgen hagelt es Raketen, alles brennt. Aber die großen Sender wissen anscheinend nicht mal, dass Schebekino existiert“, empört sich der User Konstantin Seliwanow.

    Der erste russische Fernsehsender Perwy Kanal widmete dem heftigen Angriff auf die Stadt am 27. Mai gerade mal eine Minute. In den Kommentaren zum Social-Media-Auftritt des Senders begannen die Leute zu fordern, dass diese Situation nicht weiter vertuscht wird, aber die Reaktion der Senderleitung beschränkte sich offenbar darauf, das Wort Schebekino zum Tabu zu erklären. Kommentare zum Thema Schebekino wurden entfernt. Findige User fingen an, Schebekino in lateinischer Schrift zu schreiben, um den Filter zu umgehen, aber dann wurde die Kommentarfunktion komplett ausgeschaltet. 

    In den sozialen Medien von Belgorod wurde unter den Hashtags #SchebekinoistRussland und #fürSchebekino zu Flashmobs aufgerufen, um die Aufmerksamkeit der staatlichen Medien zu erregen. „Die halbe Stadt ist zerstört. Keiner will uns verteidigen. Russen, helft uns“, schreibt eine Bewohnerin im Chat und bittet um Verbreitung ihres Appells.

    Die Hartnäckigkeit der Belgoroder hat mittlerweile tatsächlich Früchte getragen. Die staatlichen TV-Kanäle berichten nun doch über Schebekino, widmen dem Thema mehr Sendezeit. Aber wie heißt es so schön – hätten sie doch lieber geschwiegen: Der russische Abgeordnete Andrej Guruljow rief in der Sendung Solowjow Live dazu auf, „anzugreifen und plattzumachen, auch Schebekino … wenn’s sein muss mit Gleitbomben“. Offenbar hält er Schebekino für eine ukrainische Stadt. Und in der politischen Talk-Show 60 Minuten auf dem Sender Rossija-1 konnten sich Putins „Experten“ mit ihren schlauen Gesichtern nicht einmal den Namen der Stadt richtig merken, von der sie sprachen – mal sagten sie Schmjakino, dann wieder Schimekino.

    Das demonstrative Desinteresse seitens der staatlichen Medien macht sogar Bewohner wütend, die der Regierung gegenüber ansonsten loyal sind, hier aber das Gefühl haben, die ganze Oblast würde im Stich gelassen, die Leute würden verarscht und als lebende Schutzschilde missbraucht. Wie sich das auf die Umfragewerte der Regierung in der Region auswirkt, wird man sehen. Aber wohl kaum positiv.

    Es sind jetzt merklich weniger Zetts zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt

    „Es war interessant zu beobachten, wie nach der Ankündigung der Mobilmachung plötzlich Autos mit Spuren von abgerissenen Z-Stickern zu sehen waren“, erzählt Kristina [Name geändert – The Insider], Journalistin bei einer Belgoroder Zeitung. Sie hat den Eindruck, dass die Mobilmachung die Stimmung in der hiesigen Bevölkerung beeinflusst hat. Belgorod, wo wir Kristina treffen, scheint sich im letzten Jahr tatsächlich verändert zu haben. In etlichen Freiwilligen-Chats beklagten die Administratoren im Frühjahr, dass die Spenden weniger geworden seien. Die hurra-patriotischen Billboards Für Putin und Für Russland wurden stellenweise durch Plakate ersetzt, die dazu aufrufen, Vertragssoldat zu werden. An den Türen der Geschäfte und in den Fenstern von Gebäuden im Zentrum und in der ganzen Stadt sind jetzt merklich weniger Zs zu finden – vor einem Jahr noch sah man sie auf Schritt und Tritt. Heute prangt dafür auf jedem Haus ein Wegweiser zum Schutzraum.   

    6. Schutzraum betreten nur mit Gasmaske

    Das Artilleriefeuer auf Schebekino hat die Frage nach der Verfügbarkeit von Schutzräumen in Belgorod aufgeworfen. Aufgrund der Menge der Hinweisschilder könnte man annehmen, die Behörden seien dieses Thema ernsthaft angegangen. Wie sich jedoch zeigt, blieb es bei den Wandmalereien. Ich suche in dem Wohnblock, in dem ich eine Wohnung gemietet habe, nach einem Schutzraum.

    „Sie schaffen es sowieso nicht bis zu einem Schutzraum, wenn die zu schießen anfangen“, sagt eine Nachbarin. „Wenn die Sirene heult, muss man im nächstmöglichen Haus über die Gegensprechanlage jemanden rufen, und der kommt dann raus und schließt den Keller auf.“ „Ganz ehrlich, mein liebes Mädchen“, mischt sich eine zweite Nachbarin ein, „diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen!“

    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider
    Der untere Rand der Tür eines Schutzraums in Belgorod steckt in Erde und Geröll / Foto © The Insider

    Nach den Angriffen auf Schebekino hat sich die Situation mit den Belgoroder Schutzräumen nicht verändert, meint die Lokaljournalistin. Und tatsächlich, die Pfeile an den Häusern führen zu Kellern, die abgeschlossen sind.  

    Der „Schutzraum“ sieht aus, als hätte ihn lange keiner mehr geöffnet: Von der kaum anderthalb Meter hohen Tür steckt der untere Rand in Erde und Geröll. Aus dem verschlossenen Keller dringt ein ekelerregender Gestank.

    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider
    „Diese Keller sind so verdreckt, daran sterben Sie schneller als von den Raketen“, sagt eine Nachbarin / Foto © The Insider

    Ein Gemeindebediensteter hilft mir, doch noch in so einen Schutzraum zu gelangen, aber das bereue ich sofort. Die Nachbarin hatte recht: Ohne Gasmaske hält man es in dem Keller maximal eine Minute aus, genauso lang, wie man den Atem anhalten kann. Der Mann, der mir den Keller zeigt, ist vorsorglich draußen stehengeblieben.

    7. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“  

    Belgorod hat die meisten evakuierten Einwohner von Schebekino aufgenommen. Erst mal in mehrere Auffanglager. In der ersten Nacht schliefen tausende Menschen Schulter an Schulter: Die Betten wurden ganz dicht aneinander aufgestellt, es gab keine Privatsphäre und zu wenig Hygieneartikel und Kindernahrung – die wurden von Freiwilligen gebracht. Jeder hatte eine Fläche von zwei Quadratmetern.  

    Dann wurden die Evakuierten in Wohnheimen der technischen Fachschulen und der Staatlichen Universität Belgorod untergebracht. Dafür wurden allerdings Studenten aus ihren Zimmern geworfen, noch dazu, wie Betroffene erzählten, um zwei Uhr nachts. Ihnen wurden Zimmer mit Kakerlaken und ohne jeglichen Komfort angeboten, und wer protestierte, dem wurde nahegelegt, auszuziehen.

    Viele aus Schebekino wollen nach wie vor nicht wegziehen – und dafür gibt es einen Grund: In so einer temporären Unterkunft kann man ein Jahr oder noch länger festsitzen, wie es Leuten aus dem Grenzdorf Sereda im Stadtgebiet Schebekino passiert ist. Das Dorf wurde gleichzeitig mit zwei anderen – Shurawljowka und Nechotejewka – gleich als erstes evakuiert im Frühjahr 2022. Die Menschen leben immer noch in Auffanglagern. Wegen der Artilleriefeuer können sie nicht nach Hause zurück, aber so viel Geld, dass sie sich eine neue Wohnung kaufen oder wenigstens mieten können, bekommen sie vom Staat nicht.

    Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle

    Zudem ist es in den Auffanglagern nicht immer ungefährlich. Das Zentrum, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss. Ein Wachmann kam ums Leben. „Von Schebekino nach Schebekino evakuiert“, hieß es in den sozialen Medien verächtlich. Erst danach wurden die Menschen endlich an einen halbwegs sicheren Ort gebracht. Wobei natürlich niemand weiß, wie lange dieser Ort noch sicher sein wird: In Schebekino hatte auch keiner erwartet, einmal direkt an der Frontlinie zu wohnen.

    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider
    Das Auffanglager, in dem die Leute aus Sereda untergebracht wurden, befand sich in Grenznähe und stand daher genauso unter Beschuss / Foto © The Insider

    Die Behörden könnten die Situation für die Bewohner verbessern, indem sie in der Oblast den Notstand ausrufen. In diesem Fall bekämen kinderreiche Familien 15.000 Rubel [etwa 165 Euro – dek], alle anderen 10.000 Rubel [etwa 110 Euro – dek] für die Miete einer Wohnung. Aber noch kann davon keine Rede sein: Die Regierung tut weiterhin so, als hätte sie die Grenze unter Kontrolle und als gäbe es auf russischem Staatsgebiet keinen Krieg.

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  • Unter dem Einfluss der russischen Welt

    Unter dem Einfluss der russischen Welt

    In seiner Amtszeit seit 1994 hat Alexander Lukaschenko mit dem Einfluss Russlands in Belarus geschickt gespielt, den Kreml auch teilweise immer wieder ausgespielt, wenn er zumindest zeitweise der EU entgegengekommen ist. Der russischen Führung ist es nie gelungen, eine wirkliche Kontrolle über den Machtapparat Lukaschenkos aufzubauen. Im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020, der Radikalisierung des politischen Systems in Belarus oder der Rolle der belarussischen Führung im russischen Krieg gegen die Ukraine hat Russland potentielle außenpolitische Ausweichmanöver für den belarussischen Machthaber aber deutlich eingeschränkt. 

    Kann Russland diese Situation soweit nutzen, um seinen ideologischen Einfluss in Belarus zu stärken? Mit dieser zentralen Frage beschäftigt sich der belarussische Journalist Alexander Klaskowski in seiner Analyse für dekoder.


    Das russische private Militärunternehmen Wagner hat eine finstere Reputation. Es ist in einer Reihe von Staaten als verbrecherische oder terroristische Organisation eingestuft. Seine Söldner sind jetzt in der Ukraine am Werk. Der Vorschlaghammer ist zu einem Symbol der Abrechnung mit jenen geworden, die die Wagner-Leute für „Verräter“ halten.

    Diese spezifische Reliquie der Russki Mir wird nun – signiert von einem der Wagner-Männer – in einem belarussischen Museum als Exponat ausgestellt. Dabei empören sich nur jene Belarussen laut, die sich in der politischen Emigration befinden. Wer vor Ort ist, schweigt lieber. Es wird gemunkelt, dass Wladimir Gabrows Initiativen unter der Schirmherrschaft des belarussischen KGB stehen.

    Der ehemalige Angehörige der Fallschirmjäger steht jedenfalls in der Gunst der Regierung und taucht regelmäßig im Staatsfernsehen auf. Ende vergangenen Jahres überreichte Bildungsminister Andrej Iwanez ihm die Urkunde Für die aktive Beteiligung an der militärisch-patriotischen Erziehung der jungen Generation. Gabrow kann sich auch mit der Dankbarkeit von Alexander Lukaschenkos Präsidialadministration brüsten.

    Das Experiment einer „sanften Belarussifizierung“ ist gescheitert

    Dabei hatten sich glühende Verfechter der Russki Mir in Belarus vor wenigen Jahren noch längst nicht so wohl gefühlt. Lukaschenko hatte zwar dem Kreml die Treue geschworen, war aber auch auf der Hut geblieben. Er widersetzte sich nach Kräften dem Vormarsch der russischen Soft Power, die er zu Recht als Bedrohung für seine Herrschaft ansah.

    Unter anderem bemühten sich die belarussischen Behörden, die Märsche am Tag des Sieges, die Moskau im Rahmen des Unsterblichen Regiments im gesamten nahen Ausland initiierte, wenn nicht zu verbieten, so doch möglichst klein zu halten. So verweigerte die Minsker Stadtverwaltung einem Verein mit diesem Namen die Registrierung. Lukaschenko erklärte, dass es in Belarus seit langem schon die Aktion Belarus gedenkt gebe und die Russen die Idee „einfach geklaut“ hätten.

    Die Geheimdienste des Regimes erstickten im Keim Kosakeninitiativen, mit denen belarussische Jugendliche geködert werden sollten. Lukaschenko erklärte klipp und klar: „Das sind gar keine Kosaken. Es gibt Menschen, denen ist völlig egal, wie sie ihr Geld verdienen. Die werden von jemandem in Russland bezahlt. Wir sehen das …“ Ende 2017 verurteilte ein Gericht in Minsk drei belarussische Autoren der russischen Nachrichtenagentur Regnum zu fünf Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Sie wurden der Volksverhetzung angeklagt, weil sie – so die Gutachter – in ihren Beiträgen die Souveränität von Belarus in Frage gestellt und beleidigende Aussagen über das belarussische Volk sowie dessen Geschichte, Sprache und Kultur gemacht hätten.

    Eine Weile liebäugelte Lukaschenko sogar mit einer „sanften Belarussifizierung“. Dabei bemühte er nationale Narrative, um ein Gegengewicht zum Druck aus dem Kreml zu bilden. Die Regierung ließ etwas mehr Freiheit für Kultur- und Bildungsinitiativen des nationalbewussten Teils der Gesellschaft. 2018 wurden im Zentrum von Minsk sogar eine Demonstration und ein Gedenkkonzert anlässlich des hundertsten Jahrestages der Belarussischen Volksrepublik genehmigt. Zehntausende versammelten sich mit den historischen weiß-rot-weißen Flaggen.

    Als dann aber 2020 gleich Hunderttausende mit diesen Flaggen auf die Straße gingen, um gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen zu protestieren, verstand Lukaschenko, dass er einen Geist aus der Flasche gelassen hatte. Er griff zu brutalen Repressionen, und die historische Flagge wurde zu einem Symbol des Faschismus erklärt. Bis heute werden Teilnehmer der friedlichen Demonstrationen ausfindig gemacht und hinter Gitter gebracht.

    Aktivistin Bondarewa gegen Socken, Lateinisches und Denkmäler 

    Dafür sahen einige Adepten der Russki Mir ihre Zeit als gekommen. Ein Beispiel hierfür ist die unermüdliche Aktivität von Olga Bondarewa aus Hrodna. Unabhängigen Medien zufolge ist Bondarewa in Polen wegen Zigarettenschmuggels vorbestraft. 2020 jedoch kamen ihre Hasstiraden gegen Protestierende der Regierung ganz gelegen.

    Nachdem Bondarewa ein „aufrührerisches“ Gemälde in einer Ausstellung von Ales Puschkin, einem dezidiert nationalbewussten Künstler, gemeldet hatte, wurde der Künstler angeklagt und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Bondarewa erreichte auch, dass von dem Gelände des Privatmuseums von Anatoli Bely in der Stadt Staryja Darohi die Skulpturen einer Reihe belarussischer historischer Persönlichkeiten entfernt wurden.

    Sie führte einen leidenschaftlichen Feldzug gegen Socken mit belarussischen Aufschriften; gegen nicht genehme Bücher; gegen Exkursionsleiter, die Belarussisch sprachen und deren Auslegung der belarussischen Geschichte, die angeblich von der offiziellen abwich; gegen einen Priester, der eine Andacht „für die Krieger und Verteidiger der Ukraine“ abgehalten hatte. Die rastlose Aktivistin machte auch vor der lateinischen Schrift nicht Halt, die unter anderem für das Belarussische verwendet wird und die sie als Instrument der Polonisierung anprangerte.

    Irgendwann ging die übereifrige Aktivistin selbst den Bürokraten und Propagandisten des Regimes auf die Nerven. Umso mehr, als sie begann, führende Repräsentanten und Mitarbeiter staatlicher Medien, die ihren Kriterien nicht genügten, grob zu beschimpfen. „Was geht in ihrem kranken Hirn vor?“, empörte sich über Bondarewas Ausfälle Swetlana Warjaniza, stellvertretende Vorsitzende der Gebietsorganisation Hrodna der regimetreuen Bewegung Belaja Rus.

    Nicht, dass die Funktionäre unbedingt gegen Bondarewa wären. Aber sie wollen wegen ihrer Aufrufe auch nicht von ihren Vorgesetzten eins auf die Mütze bekommen. Nach dem Motto: Warum habt ihr sie nicht im Auge gehabt? Warum habt ihr den Aufruhr zugelassen? Also haben wohl einige von ihnen damit begonnen, diese Aktivistin dezent in die Schranken zu weisen.

    Im Februar verweigerte die Miliz Bondarewa die Einleitung eines Strafverfahrens, nachdem sie angeblich in einem Telegram-Kanal beleidigt worden sei. Auch könnte ihr Rechtsstreit mit dem Parlamentsabgeordneten Igor Marsaljuk in einem Fiasko enden. Der hatte ihre Ausfälle nicht länger ertragen und sich an den Generalstaatsanwalt gewandt, damit dieser eine rechtliche Bewertung der Aktivitäten von „pseudopatriotischen Bloggern“ vornimmt.

    Auf der anderen Seite scheinen sich lokale Behörden wohl doch ein wenig vor Bondarewa zu fürchten und ihren „Signalen“ lieber Folge zu leisten. So wurde kürzlich bekannt, dass in der Ortschaft Selwa auf geheimnisvolle Weise das Denkmal der Dichterin Laryssa Henijusch verschwand, die unter Stalin zu 25 Jahren Gulag verurteilt worden war.

    Die Propaganda des Kreml hat zusätzliche Freiräume bekommen

    Allerdings gibt es in Belarus nur wenige Verfechter der Russki Mir, die so besessen sind wie Bondarewa. Man kann sich denken, dass diese Leute in den Augen der meisten Belarussen wie skurrile Freaks wirken. Der Soziologe Filipp Bikanow, der im vergangenen Jahr eine Studie zur nationalen Identität durchführte, stufte lediglich vier Prozent der Befragten als „Russifizierte“ ein. Zahlreiche weitere Studien haben bereits festgestellt, dass die Wenigsten für einen Beitritt von Belarus zu Russland sind. Die erklärten Anhänger der Russki Mir bilden in Belarus also keine kritische Masse. Ganz anders als 2014 auf der Krim und im Donbass.

    Bikanows Kategorisierung zufolge gibt es im Land jedoch nicht wenige „sowjetische“ Belarussen (nach seinen Berechnungen rund 29 Prozent), die ebenfalls für russische Propaganda empfänglich sein könnten. Und für die gibt es seit 2020 mehr Freiräume. 

    Lukaschenkos Medien wiederholen zahlreiche Narrative des Kreml. Unabhängige belarussische Medien werden systematisch als extremistisch eingestuft und aus dem Land vertrieben; wer sie innerhalb des Landes liest, wird bestraft. Die Miliz überprüft bei ihren Opfern, welche Telegram-Kanäle sie abonniert haben, um „Aufrührer“ aufzuspüren. Es ist jedenfalls sicherer, nur konforme Inhalte zu konsumieren. Umfragen zufolge gewinnen die kremltreuen und die staatlichen belarussischen Medien, die ihnen nach dem Mund reden, infolge durchaus an Einfluss.

    Der Führer schaufelt der Unabhängigkeit des Landes ein Grab

    Nach 2020 haben die Verfechter der Russischen Welt ihre Position auch im Verwaltungsapparat merklich gefestigt, sowohl in Lukaschenkos unmittelbarer Umgebung als auch – und insbesondere – in den Sicherheitsbehörden.

    Der ehemalige politische Gefangene Konstantin Wyssotschin erinnert sich an seinen Aufenthalt in der GUBOPiK, der Hauptverwaltung zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität und Korruption, einer Abteilung des Innenministeriums, die sich zur politischen Polizei gemausert hat: „Was mich verblüffte: An allen Bürotüren hängen Flaggen mit dem Z, und in den Räumen hängen zwei Portraits – eins von Lukaschenko und eins von Putin.“ Das Z nutzen die russischen Militärs zur Markierung ihres Geräts beim Einmarsch in die Ukraine. Es wurde auch zu einem propagandistischen Symbol der Aggressoren.

    Viele belarussische Offiziere erhielten ihre Ausbildung in Russland und haben dort noch Freunde. Manch einer, so wird gemunkelt, ist neidisch auf die Bezahlung der russischen Offiziere und Generäle. Verteidigungsminister Viktor Chrenin bezeichnete Lukaschenko und Putin öffentlich als „unsere Präsidenten“. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Seite die Befehlshaber der belarussischen Armee und anderer Sicherheitsstrukturen (und nicht nur dort) im kritischen Moment stehen werden, wenn ihre Hirne von der Propaganda des Kreml gewaschen sind und sie praktisch in imperialen Kategorien denken.

    Als prorussisch gelten unter anderem der stellvertretende Innenminister Nikolaj Karpenkow (der früher die erwähnte GUBOPiK leitete), Oleg Romanow, der Chef der vor kurzem gegründeten Partei Belaja Rus, der Staatssekretär des belarussischen Sicherheitsrates Alexander Wolfowitsch sowie die Vorsitzende des Rates der Republik Natalja Kotschanowa. Letztere genießt das uneingeschränkte Vertrauen Lukaschenkos, der ihr verantwortungsvolle und heikle Aufgaben überträgt. Sie gilt sogar als mögliche Nachfolgerin des alternden Führers.

    Zum orthodoxen Weihnachtsfest entzündete Lukaschenko eine Kerze in der Kirche des am Stadtrand von Minsk gelegenen St. Elisabeths-Klosters, das als Hochburg von Anhängern der Russki Mir bekannt ist. Unter anderem wurden hier Spenden(gelder) für die russischen Aggressoren gesammelt, was bei den Opponenten des Regimes für Empörung sorgte. Das Staatsoberhaupt nahm das Kloster jedoch in Schutz: „Ihr macht das richtig. Achtet nicht auf dieses Dutzend gekaufter Leute.“

    Dabei ist offensichtlich, dass Lukaschenko Bauchschmerzen hat, den Aggressor uneingeschränkt zu unterstützen, weil ihm dafür perspektivisch ein Platz auf der Anklagebank im Internationalen Gerichtshof droht. Aber was soll er tun? Die Zeiten, da der belarussische Herrscher, wenn ihn der Kreml zu sehr bedrängte, die Zähne fletschen und sogar Wirtschaftskriege führen konnte, sind vorbei.

    Der Wendepunkt war die gewaltsame Niederschlagung der Proteste 2020. Um sich im Sattel zu halten, bat Lukaschenko Putin um Hilfe. Der bot ihm die starke Schulter und erntete dafür Begeisterung von Lukaschenkos Gefolgsleuten und Silowiki. Doch dann forderte Putin für die Rettung des verbündeten Autokraten einen grausamen Preis: Moskau nutzte Belarus als Aufmarschgebiet für den Überfall auf die Ukraine, beschmutzte das Regime durch die Beteiligung an seinem Eroberungskrieg und will jetzt in Belarus taktische Atomwaffen stationieren, wodurch der Nachbar noch stärker an Russland gefesselt wird.

    Angesichts dieser höheren Gewalt wählte Lukaschenko den Weg der Zugeständnisse an den Kreml – Zugeständnisse an den Westen und die Opposition kamen für ihn grundsätzlich nicht in Frage.

    Der belarussische Herrscher hat sich selbst in eine Zwickmühle gebracht: Obwohl er sich der Gefahr einer schleichenden imperialen Expansion durch Russland sehr wohl bewusst war, ist er jetzt dazu gezwungen, der Russki Mir immer weiter die Tür zu öffnen, damit er sich selbst hier und jetzt an der Macht halten kann. Somit schaufeln nicht die „prorussischen Freaks“ der belarussischen Unabhängigkeit das Grab, sondern der Führer des Regimes selbst.

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  • Unmoral als System

    Unmoral als System

    Der Mensch sei von Natur aus schlecht, alle Ideale per se utopisch und Wahrheiten manipuliert – viele halten solche Aussagen auch heute noch für Grundprinzipien des Menschseins. Aus dieser Sicht erscheint jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft sinnlos, argumentiert Andrej Archangelski. Die Zukunft als solche wird zum Feind, die Ablehnung progressiver Werte, der Amoralismus werden zum eigenen Wertesystem. Dies macht für Archangelski die Ideologie des Putinismus aus und die zynischen Grundlagen eines Totalitarismus 2.0. Auf Carnegie politika fragt er, wie eine Rückkehr zur Moral möglich sein kann.


    Anfang der 2000er Jahre tauchte im öffentlichen Diskurs in Russland ein bemerkenswerter Begriff auf – nepolschiwzy, frei übersetzt „die Nichtlügner“. Der Begriff ging auf Alexander Solschenizyns 1974 erschienenen Essay Schit ne po lschi (dt. Nicht nach der Lüge leben) zurück und war in erster Linie eine abwertende Bezeichnung für Menschen, die antisowjetisch eingestellt waren. Aber er hatte auch einen tieferen Sinn: Der Begriff verhöhnte nicht nur die sowjetische Hölle, sondern bestritt selbst die Möglichkeit, nicht nach der Lüge zu leben.

    Die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, war der ideelle Kern der Perestroika

    Dabei war die Aufforderung, ohne Lüge zu leben, der ideelle Kern von Gorbatschows Perestroika: Damals glaubte die Gesellschaft, dass man aufhören müsse, sich gegenseitig anzulügen, um die angestauten Probleme zu lösen. Und genau das wurde in den 2000er Jahren plötzlich wieder absurd und utopisch. „Erzähl ihr mal, wie man ohne Lüge lebt“, sang [der Sänger der bekannten Band Leningrad] Schnur über eine Petersburger Prostituierte, mit der er natürlich Mitgefühl hatte.

    Hier liegt auch die Wurzel der Putinschen Ideologie: Im Unterschied zum offiziellen Patriotismus und den traditionellen Klammern wurde sie zwar nie öffentlich verkündet, aber dennoch wurde den Menschen konsequent und unermüdlich eingeimpft: Ohne Lüge zu leben, ist eine Utopie. Alle lügen. Der Mensch ist in seinem Kern ein niederes Wesen, das sich niemals bessern wird; jegliche „große Umwälzungen“ werden nichts in ihm ändern; er wird, wo auch immer sich ihm die Gelegenheit bietet, stehlen und lügen. Niemand bleibt sauber, unter keinen Umständen.

    Dieses Konzept hielt auch Einzug ins Propagandafernsehen, wo es jedes Mal herangezogen wird, wenn die russische Staatsmacht sonst nichts mehr zu bieten hat. Zum Beispiel, als sich nicht länger verheimlichen ließ, dass unsere Sportler gedoped waren. „Das machen doch alle“, war von der Propaganda schließlich abfällig zu vernehmen, nachdem sie sich wochenlang darüber ausgelassen hatte, dass Feinde ihnen das Zeug „untergejubelt und in den Tee gemischt“ hätten.

    „Das machen doch alle“

    „Das machen alle.“ Das heißt mit anderen Worten: „Es gibt keine Heiligen“, keiner ist besser als der andere. Niemand ist rein. Genau darauf baut Putins gesamte Ideologie auf, und sie ist in diesem Sinne sehr praktisch. Wenn niemand besser ist als der andere, wenn alle gleich schlecht sind (die im Westen sowieso) – was wollen die dann von uns?

    Das ist Putins Moral, denn es regiert sich leichter, wenn es grundsätzlich nichts gibt, was man menschliches Ideal nennen könnte. Wenn es kein Ideal gibt, dann eröffnet sich ein grenzenloser Raum für Interpretationen, dann kann es gar keine Wahrheit geben – denn alles ist Manipulation. Damit wird auch der politische Handlungsspielraum extrem groß. „Es gibt keine Heiligen“ – dieses oberste Gebot des Zynismus hat uns die Propaganda in den letzten 20 Jahren unterschwellig eingetrichtert, parallel zu offiziösen Auslassungen über unsere moralische Überlegenheit.

    Der Krieg fügt sich in diesem Sinne sehr gut in Putins Ideologie, und zwar mit seiner totalen Amoralität. Alle sollen mit in den Dreck gezogen werden, auch die, die vielleicht noch sauber waren („Ihr werdet euch nicht reinwaschen können“): die Befürworter, die Gegner, die Neutralen. Mit der Entfesselung dieses Krieges hat das Putin-Regime mit einem Schlag alle früheren moralischen Grundfesten weggefegt; man kann heute unmöglich eine weiße Weste tragen – es sei denn, man lässt sich freiwillig vom System missbrauchen.

    Alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf

    „Das ganze Leben gründet auf Betrug, alle Politiker sind Lügner, Lügen ist ihr Beruf.“ Diese Vorstellung von der immanenten Amoralität des bourgeoisen Lebens (natürlich im Gegensatz zum sowjetischen) stammt aus der Hauptquelle des sowjetischen Wissens über den Westen: der Zeitschrift Krokodil und ähnlichen Publikationen. In den 2000er Jahren diente sie als Basis für die stillschweigende Legitimierung der Ideologie in Putins Russland. Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Kapitalismus von Natur aus unmoralisch ist.

    Der Amoralismus, der sich in den 2000er Jahren in Russland etablierte, war zunächst nur eine Lücke, eine weltanschauliche Leerstelle, die sich nach dem Zerfall der UdSSR auftat. Die „Suche nach einer nationalen Idee“ war damals die wohl letzte freie öffentliche Debatte in Putins Russland, und sie führte zu nichts. Doch irgendwann stellte sich zur allgemeinen Verwunderung heraus, dass alles auch einfach so funktioniert.

    Ideelle Leere bietet mehr Raum als jedes Dogma 

    Dieser Hohlraum anstelle der einstigen Sowjetideologie war zunächst ungewohnt, aber dann wurde er für den Kreml gewissermaßen zu einer postmodernen Entdeckung. Das Wertevakuum, die Ungewissheit, die ideologische Schwammigkeit des 21. Jahrhunderts entpuppte sich als etwas, das besser funktioniert als sämtliche Dogmen oder Deklarationen. Die ideelle Leere bietet per Definition mehr Raum als jedes Dogma. In der Politik ist Amoralität überaus praktisch, weil sie einen extrem breiten Korridor an Möglichkeiten eröffnet.

    Der Amoralismus eignet sich zwar nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis, als etwas, „über das man nicht spricht, aber das alle wissen“. Der Amoralismus hat jedoch nicht nur einen praktischen Nutzen, er ist auch das beste Mittel gegen die Zukunft – Russlands Hauptproblem am Anfang des 21. Jahrhunderts.

    Amoralismus eignet sich nicht als offizielle Doktrin, aber als implizite Lebenspraxis

    Die totalitären Regime des 21. Jahrhunderts erschaffen im Gegensatz zu denen des 20. Jahrhunderts keine neuen Utopien – sie speisen sich aus den Utopien der Vergangenheit. Der Hauptfeind des Totalitarismus 2.0 ist die Zukunft als solches. Hier eignet sich der Amoralismus hervorragend als Ideologie. Im Unterschied zu progressiven Postulaten („Der Mensch kann mit der Zeit besser werden“) basiert der Amoralismus auf dem Gegenteil: Die menschliche Natur kann grundsätzlich nicht verändert werden, der Mensch wird immer so und so bleiben. Folglich ist auch jede Hoffnung auf die Zukunft sinnlos.

    Die autoritären Regime des neuen Typs gründen bewusst auf der Angst der Bevölkerung vor der Zukunft. Gleichzeitig flüstern sie ihren Bürgern ein, dass „alles Gute längst geschafft ist“, dass die Menschheit ihr Potenzial bereits ausgeschöpft habe. Weiter geht es nicht; man kann nur in der Ewigkeit verharren oder die Stufen in die Vergangenheit hinabsteigen und versuchen, die Geschichte von neuem durchzuspielen. Im Amoralismus bleibt die Zeit quasi stehen.

    Ein weiterer Aspekt des Amoralismus als Ideologie ist der Kampf gegen das Ideal. Grundsätzlich und gegen jedes. Ja, dieses Wort darf es gar nicht geben. Nicht umsonst wurde die Intelligenzija (die in Russland als die einzige Hüterin von humanistischen Idealen gilt) die letzten 20 Jahre sorgfältig und zielgerichtet verlacht.

    Wie befreit man sich aus dem Fangeisen des Amoralismus? 

    Wie aber befreit man sich aus diesem Fangeisen des Amoralismus? Wie durchbricht man den Abwärtsstrudel, den Teufelskreis? Alle denkenden Russen – sowohl die, die gegangen, als auch die, die geblieben sind – befinden sich heute in Geiselhaft dieses Postulats: Eine Zukunft zu erschaffen ist nicht mehr möglich. Und tatsächlich ist es jetzt so gut wie unmöglich, sich eine bessere Zukunft vorzustellen, weil man zuerst den Albtraum der Gegenwart überwinden muss. Jeder Versuch, unter diesen Umständen nach Idealen zu suchen, ist utopisch. Im besten Fall wird man zum Gespött der Leute.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache. Selbst die russische Sprache scheint nicht besonders geeignet für Variantenreichtum, für Wahrscheinliches und Relatives. Sie eignet sich nur für das Ewige und Unveränderliche. Über die Zukunft nachzudenken ist per Definition eine unsichere, wackelige Angelegenheit. Doch wir werden es wieder lernen müssen. Man kann dem Amoralismus heute nur auf Augenhöhe begegnen, indem man über die Zukunft nachdenkt, diskutiert und reflektiert – egal, wie utopisch und unwahrscheinlich das auch erscheinen mag.

    Über die Zukunft zu sprechen ist jetzt eine riskante Sache

    Die Rückkehr zur Moral ist zudem unmöglich ohne die Rückkehr zur Politik im europäischen Sinne – als Raum von konkurrierenden Ideen und Wettbewerb. Denn freie Politik ist heute die praktische Umsetzung der Moralität, die das Gegenteil von Amoralismus ist. Moral wird im gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt und formuliert. Politik ist die kollektive Verkörperung der Moral im 21. Jahrhundert, aber natürlich nur die echte Politik und nicht ihr Surrogat. Genau dort, in der Politik und den damit verbundenen Prozessen (in erster Linie Wahlen), werden in einem ganz praktischen Sinne die Grenzen zwischen Gut und Böse verhandelt.

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  • „Als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da“

    „Als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da“

    Wahlen unter tatsächlich fairen und freien Bedingungen – mit diesem Ziel ging das Bündnis um Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa im Sommer 2020 in den politischen Kampf gegen den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko. Zehntausende Belarussen waren bereits in der Zeit des Wahlkampfs zu den Kundgebungen des Dreigestirns gekommen. Was folgte, waren Proteste, Gewalt, Festnahmen und Repressionen, die bis heute andauern. Tichanowskaja und Zepkalo mussten ins Exil. Wie ihre Mitstreiterinnen war Kolesnikowa eigentlich keine Politikerin, sondern Musikerin und Projektmanagerin. Dann wurde sie im Zuge der Repressionen verschleppt, festgenommen und schließlich zu elf Jahren Haft verurteilt. Mittlerweile ist sie seit über 1000 Tagen in Haft.

    Das belarussische Online-Medium Zerkalo zeichnet sowohl ihren Lebensweg und ihren Sprung in die Politik detailliert und kenntnisreich nach, als auch die Bedingungen ihrer heutigen Haft. 


    Maria Kolesnikowa wurde 1982 in Minsk in eine Ingenieursfamilie geboren. Ihre Familie erzählt von ihrer glücklichen Kindheit: „In den 1980er Jahren gab es so viele Jolka-Feste mit den klassischen Figuren, mit Väterchen Frost und Schneeflöckchen, im Kindergarten, in der Schule, im Betrieb der Eltern, sodass die Festtagsstimmung und die Feierlaune ziemlich lange anhielten“, erinnert sich Marias Vater, Alexander Kolesnikow. „Ich weiß noch, wie Mascha einmal fragte: ‚Wie viele Väterchen Frost und Schneeflöckchen gibt es eigentlich auf der Welt?‘, weil sie bei jeder Feier anders aussahen. Sie war oft ganz aufgeputscht von den vielen bunten Eindrücken, der allgemeinen Euphorie und der Freude, Liebe und Herzlichkeit überall, und es war nicht einfach, sie zu beruhigen. In diesen Momenten war sie sehr aktiv, fröhlich und lustig. Mit einem Wort: glücklich. Wir alle waren glücklich!“

    Maria war die ältere von zwei Schwestern. „Mascha ist von Natur aus ein sehr guter, empathischer und kommunikativer Mensch“, erzählt ihre Schwester Tatsiana Khomich. „Sie bemüht sich immer, mit Menschen aus verschiedenen Bereichen in Kontakt zu kommen, weil sie daraus etwas Neues schöpfen, etwas lernen kann. Sie hat einen starken Gerechtigkeitssinn. Sobald sie eine Ungerechtigkeit wahrnimmt, spricht sie sie an, geht auf die Menschen zu. Ich weiß noch, wie sie in der Kindheit immer als große Schwester für mich eintrat, wenn mich jemand beleidigte. Sie war immer eine Anführerin. Menschen sind gern mit ihr zusammen, weil sie die Gabe besitzt, andere zu inspirieren.“

    Schon als Kind liebte die zukünftige Politikerin Musik. „Unsere Mutter vermittelte uns internationale Klassik, unser Vater die Klassiker der Rockmusik. Wir hörten Rachmaninows Konzerte genauso wie die Rock-Oper Jesus Christ Superstar. Von klein auf fügte sich das für uns wunderbar ineinander. Mit unserer Mutter reisten wir durch Europa und besuchten immer Opern, Konzerte, Museen und Ausstellungen“, erinnert sich Maria.  

    Nach dem Abschluss der 9. Klasse an der Schule Nr. 184 in Minsk begann Maria ihre Ausbildung am Minsker Glinka-Konservatorium, mit Spezialisierung auf Flöte. In einem Interview erzählte sie, dass sie in ihrem Jahrgang das einzige Mädchen neben 15 Jungs gewesen sei. „Ich hatte große Schwierigkeiten, mit den Jungs auszukommen, aber so habe ich gelernt, mit der Männerwelt zu kommunizieren. Damals war man der Ansicht, ein Mädchen müsse sich in diesem schwierigen Fach nicht allzu sehr anstrengen, da sie in drei Jahren ohnehin heiratet und Kinder bekommt. Eine professionelle Zukunft sah man nur für Männer. Das traf mich damals sehr schwer, ich war immer überzeugt, alles schlechter als ein Junge zu machen. […] Wir hatten das gleiche Recht auf Bildung, aber kein Recht auf gleiche Behandlung?“ 

    Das Projekt über die Freiheit

    Hartnäckig machte Kolesnikowa weiter. Nach dem Konservatorium begann sie ein Studium an der Musikhochschule und verdiente ihr Geld im Orchester der Oper, in einem Ensemble und im Orchester des Präsidenten. Nach dem Diplom durchlief sie zwei Jahre lang das Graduiertenprogramm der Musikakademie, um dann 2007, mit 25 Jahren, nach Deutschland zu gehen. An der Hochschule für Musik in Stuttgart begann sie ein Studium der Alten und Neuen Musik. 

    Die nächsten zwölf Jahre verbrachte sie im Westen und besuchte Belarus nur selten, entwickelte sich als Musikerin und Projektmanagerin weiter. „Ich stehe mit eigenen Projekten auf der Bühne, werde aber auch zu Auftritten mit anderen Projekten eingeladen“, erklärte sie vor den Wahlen 2020. „In Europa ist es üblich, dass du als Musikerin deine Ideen selbst verwirklichst. Von der Bühnenverkabelung bis zum Flyerdruck – ich kann alles, auch Stühle aufstellen, weil ich es oft genug selbst gemacht habe. Auch für finanzielle Fragen, wie die Förderung von Musikprojekten, konnte ich Lösungen finden. In Deutschland habe ich wirklich eine Schule in Management, Abrechnung und Organisation durchlaufen.“

    Im Jahr 2019 änderte sich alles. Kolesnikowas Mutter starb während einer geplanten Herzoperation in einem Minsker Krankenhaus. Ihr Tod veranlasste Maria zur Rückkehr. „Mir war bewusst, wie allein mein Vater nun war, der 38 Jahre lang mit meiner Mutter zusammengelebt hatte. Ich hatte das Bedürfnis, mehr Zeit als vorher mit meiner Familie zu verbringen. […] Wäre meine Mutter am Leben geblieben, hätte ich vielleicht nicht das gemacht, was ich heute tue, weil dann auch ihre Meinung eingeflossen wäre“, erklärte sie. Zufall oder nicht, noch im selben Jahr beteiligte sich Kolesnikowa an einem Projekt über Freiheit. „Ich spielte Bassflöte, auf einem Bildschirm liefen Filmaufnahmen vom Ploschtscha-2010. In den ersten Wochen im Wahlkampfteam musste ich oft an dieses Projekt denken“, erzählte Maria. 

    Bekanntschaft mit Babariko und Start im Wahlkampfteam

    In Belarus organisierte Kolesnikowa die Vortragsreihe Musiklektionen für Erwachsene, die sehr gut ankam und jeweils bis zu 120 Besucher anlockte. 2019 nahm sie am Projekt Orchester der Roboter teil, in dem Schüler lernten, Robotermusiker zu programmieren. Doch ihr wichtigstes „Baby“ war das OK16. 2017 hatte der bekannte belarussische Mäzen und Chef der Belgazprombank, Viktor Babariko, für drei Millionen Dollar die ehemaligen Werkshallen der Minsker Werkzeugmaschinenfabrik MZOR gekauft, wo noch im selben Jahr ein neuer Kulturstandort namens OK16 öffnete. Zu dieser Zeit kontaktierte Maria Kolesnikowa Babariko zum ersten Mal auf Facebook, im Jahr darauf lernten sie sich persönlich kennen. 

    „2018 organisierte ich ein großes Projekt und kam mit fünf deutschen Künstlern nach Minsk. Wir veranstalteten gemeinsam Performances, Bildungsprojekte und Diskussionen im OK16. Es war ein durchweg ehrenamtliches Projekt, einfach internationaler Austausch. Und dort lernten wir uns kennen“, erinnerte sie sich in einem Interview mit Tut.by.

    In der kurzen Zeit seines Bestehens wurde das OK16 zu einem zentralen Punkt auf der kulturellen Landkarte von Minsk. Kolesnikowa wurde künstlerische Leiterin und traf Babariko häufig bei Veranstaltungen. Sie besprachen auch gemeinsame Projekte, die im OK16 stattfanden: „Damals zeigte sich, dass unsere Wertvorstellungen sehr nah beieinander liegen. Als ich dann von seinem Vorhaben hörte, für das Präsidentenamt zu kandidieren, konnte ich das nur unterstützen.“ 

    Am 12. Mai 2020 machte Babariko seine Kandidatur öffentlich. Acht Tage später wurde seine Initiativgruppe registriert. „Eduard (Babarikos Sohn, Anm. der Zerkalo-Redaktion) und ich waren vom ersten Tag an dabei, dann kamen immer mehr Leute dazu“, berichtete Maria dem Portal Tut.by.

    Veronika Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa am Tag, als ihr Bündnis bekannt gegeben wurde, dem 17. Juli 2020 / Foto © Tut.by

    Ein Herz wurde zu ihrem Symbol

    Iwan Krawzow zufolge, der ebenfalls Mitglied des Wahlkampfteams war, übernahm Kolesnikowa praktisch sofort die Führung: nicht formal, sondern einfach, weil sie sowohl unter ihren Mitstreitern als auch inmitten gänzlich unbekannter Menschen Autorität ausstrahlte. „Es ist eine Illusion, dass man aus einer beliebigen Person jemanden machen kann, den die Menschen lieben sollen. Autorität und Leadership sind keine einfachen Dinge, sie hängen von Charaktereigenschaften ab, von Handlungen, vom Umgang mit Menschen und auch von der Gesamtsituation, dem politischen Prozess, an dem sich jemand beteiligt. Mascha ist eine gute Managerin, sie kann mit Menschen arbeiten. Das war von Beginn der Wahlkampagne an sichtbar. Sie versteht es, den besten Zugang zu unterschiedlichen Charakteren zu finden. Sie hat Erfahrung als Projektleiterin, die sie in den letzten Jahren im Kulturbereich sammelte“, erzählt Krawzow. Er erinnert sich, dass Kolesnikowa im Juni 2020, als das Team immer größer wurde, schnell das professionelle Niveau der Neuzugänge einschätzen konnte und problemlos zuordnete, in welchem Bereich sich die Person am besten einbringen konnte. 

    Zum Symbol der Kampagne wurde ein Herz, das Kolesnikowa immer und überall, wo sie auftrat, mit ihren Fingern formte. Selbst im Gerichtssaal, bereits hinter Gittern. Das Symbol sei nicht ihre Idee gewesen, erzählte Maria Tut.by: „Das war Teamwork, eine große Anzahl von Menschen hat gemeinsam die Entscheidung getroffen, was es wird. Aber wir denken, dass dieses Zeichen die Mission von Viktor und seinen Anhängern sehr gut wiedergibt, nämlich gegenseitigen Respekt, Liebe, Selbstachtung. Das alles steckt in diesem Herz.“

    Parallel zu Kolesnikowas effektiver Arbeit erlebte die Gesellschaft einen ungekannten Aufbruch. Die Registrierung eines Präsidentschaftskandidaten erforderte 100.000 Unterschriften. Babarikos Stab reichte rund 365.000 Unterschriften ein, von denen die Verwaltung etwa 165.000 als gültig anerkannte. Das reichte für die Registrierung als Kandidat.

    Doch Babarikos Kandidatur wurde noch im Keim erstickt. Am 18. Juni wurden er und sein Sohn in der Strafsache „Belgazprombank“ festgenommen. Es war abzusehen, dass auch die Mitglieder seines Teams Repressionen zu befürchten hatten, doch Maria gab nicht klein bei. „Meine Kunst wäre keinen Heller wert, wenn ich sagen würde: ‚Ach, was soll’s, ist mir zu chaotisch bei euch, ich fahre wieder nach Stuttgart, trinke Sekt auf dem Balkon und freue mich über die Rosen!‘ Es ist sinnlos, Kunst zu schaffen, mit der ich mein Leben lang über Freiheit und über die Hürden der Zensur spreche, wenn ich dann in einem Moment, in dem ich tatsächlich helfen und etwas verändern kann, einfach weggehe“, erklärte sie ihre Haltung im Juni 2020.

    Wahlkampf für Tichanowskaja

    Zu diesem Zeitpunkt war Maria das bekannteste Gesicht in Babarikos Wahlkampfteam. Sie hatte gemeinsam mit dem Team seine Dokumente bei der Zentralen Wahlkommission eingereicht. Doch am 14. Juli, da saß er bereits hinter Gittern, wurde seine Registrierung abgelehnt, ebenso die von Waleri Zepkalo. Allerdings ließ die Wahlkommission die damals praktisch unbekannte Swetlana Tichanowskaja als Kandidatin zu. 

    Am 16. Juli fand das schicksalsträchtige Treffen der drei Wahlkampfteams – Babariko, Zepkalo, Tichanowski – statt, bei dem beschlossen wurde, die Kräfte zu vereinen. „Damals kamen alle drei Teams zusammen, und es brach eine heiße Diskussion aus. Aber dann schlug Mascha vor: ‚Lasst uns doch zu dritt weitermachen‘. Und gemeinsam sind wir dann ziemlich weit gekommen“, sagte Veronika Zepkalo, die das Team ihres Mannes vertrat. Bei diesem Treffen einigten sich alle auf fünf Grundprinzipien: zu einer Stimmabgabe ausschließlich am 9. August aufzurufen; sich für die Befreiung der politischen und wirtschaftlichen Gefangenen einzusetzen; die Präsidentschaftswahl zu wiederholen; die Wähler über Möglichkeiten zum Schutz ihrer Stimmen zu informieren; sich an Initiativen für faire Wahlen zu beteiligen. 

    Das vereinte Wahlkampfteam führten Tichanowskaja, Zepkalo und Kolesnikowa gemeinsam an, „die drei Grazien“, wie sie bald genannt wurden. Sie wurden zum Symbol einer friedlichen Bewegung für Wandel, aber auch für eine vereinte belarussische Opposition. Aufwärmzeit gab es keine. Bereits am 19. Juli fand die erste Kundgebung mit Swetlana Tichanowskaja in Dsershinsk statt. Wie Tut.by anmerkte, wurde die kaum publikumserfahrene Kandidatin auf der Bühne von Kolesnikowa und Zepkalo unterstützt, und der Ablauf der Veranstaltung wurde erweitert und verbessert, zum Standard für alle weiteren Kundgebungen. Zuerst sprach Tichanowskaja über ihren Mann, seinen Kampf und darüber, dass ihre Kandidatur nur die Reaktion auf seine Festnahme bei einer Kundgebung am 29. Mai in Grodno sei. Maria und Veronika sprachen dann über die Probleme im Land und über die fünf Prinzipien, auf die sich die drei Teams geeinigt hatten. 

    Kolesnikowa prägte während der Kampagne gleich mehrere markante Aussagen, die Tut.by zusammengetragen hat: „Belarussen, ihr seid unglaublich“, „Liebe ist stärker als Angst“, „Die scheppernde Rostlaube der Regierung zerfällt in voller Fahrt“, „Jeder von uns sollte sagen: Ich kann alles ändern“, „Wir haben uns verändert, und zwar für immer“ und „Ihr wisst, was wir machen werden: dieses System mit allen gesetzlichen Mitteln beackern“. 

    Ich habe Angst, dass es nie enden wird

    „Ab dem Zusammenschluss verbrachten wir fast die ganze Zeit zusammen. An manchen Tagen hatten wir drei bis vier Kundgebungen, ständig Interviews, Pressekonferenzen, Auftritte, Fahrten. Es gab keine freien Tage, wir waren ständig irgendwo unterwegs. Auf den Autofahrten durch das ganze Land lernten wir das gesamte Imbissangebot der Tankstellen kennen. Kein Tag verlief nach Plan. Wir wussten nicht, ob wir am Abend nach Hause zurückkehren, ob wir es zurück ins Büro schaffen. […] Es gab auch unangenehme Situationen. In einer Stadt wurden wir vor der Kundgebung gewarnt, dass auf dem Dach eines naheliegenden Gebäudes Scharfschützen gesehen wurden. Später, als wir auf die Bühne traten, zeigten die Menschen in Richtung des Gebäudes und riefen, da seien Scharfschützen. Ich schlug vor, sie zu begrüßen. Wir wandten uns alle drei um und winkten den Scharfschützen einfach zu“, erinnert sich Veronika Zepkalo. 

    Am 30. Juli fand im Minsker Park der Völkerfreundschaft eine Kundgebung statt, die zu diesem Zeitpunkt die größte in der Geschichte des unabhängigen belarussischen Staates. Menschenrechtsaktivisten schätzten die Zahl der Teilnehmer auf 63.000. 

    Drei Tage zuvor sagte Kolesnikowa in einem Interview diese – im Nachhinein betrachtet – prophetischen Worte: „Ich habe keine Angst im klassischen Sinne. Ich habe Bühnenangst, aber ich gehe trotzdem auf die Bühne und mache meine Arbeit. Ich habe Angst, dass es nie enden wird, wenn wir jetzt nicht all unsere Kraft aufbringen. Wenn es aber jetzt nicht endet, dann machen sie uns alle platt. Dann bleibt hier nichts übrig von frei denkenden Menschen, von Menschen, die bereit sind, ihre Unzufriedenheit zu äußern, von Menschen, die ihr eigenes Unternehmen aufbauen wollen. Die IT-Leute denken vielleicht, es geht sie nichts an, weil sie für Externe arbeiten, aber auch sie sind betroffen. Wenn sich jetzt nichts ändert, dann ändert sich nie etwas. Und mit ,jetzt‘ meine ich den 9. August plus einige Zeit für den Prozess. Der Prozess ist im Gange, und es ist die einzige Chance auf Veränderung. Wenn wir das nicht hinkriegen, können wir alle unsere Koffer packen und das Land verlassen.“

    […]


    Veränderung lag in der Luft, dennoch sollte es anders kommen. Ab dem 9. August 2020 kam es zu massiven Protesten. Hunderttausende gingen auf die Straßen, nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern auch in vielen anderen Städten, und sogar in Dörfern. Der Staat reagierte mit brutaler Gewalt, alleine in der ersten Woche der Proteste wurden Tausende festgenommen. In den Gefängnissen wurden die Menschen geschlagen und gefoltert. Swetlana Tichanowskaja wird von den Machthabern gezwungen, das Land zu verlassen. Die Opposition ruft einen Koordinationsrat ins Leben, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten soll. Aber auch dessen Führungsmitglieder werden nach und nach inhaftiert oder fliehen außer Landes.


    Karpenkows Drohungen und der zerrissene Pass

    Am 7. September wurde Maria festgenommen. Eine Leserin von Tut.by erzählte, wie sie auf dem Prospekt der Unabhängigkeit hinter sich das Klappern von Absätzen hörte, sich umdrehte und Kolesnikowa erkannte. Es war etwa 10.05 Uhr am Vormittag. 

    „Ich hatte sie schon einmal live gesehen, deshalb erkannte ich sie. Ich wollte noch zu ihr hingehen, mit ihr reden und mich bedanken, dann überlegte ich es mir anders, dachte, sie muss bestimmt müde sein. Ich ging also weiter, spielte noch kurz mit dem Gedanken, mich umzudrehen und ihr mit den Händen ein Herz zu zeigen. Beim Nationalen Kunstmuseum sah ich einen dunklen Kleinbus mit der Aufschrift Swjas (dt. Netz) auf der Seite, an der Rückseite stand die Marke Sobol. Ich lief weiter, dann hörte ich, wie ein Handy auf dem Asphalt aufschlug, dann Fußgetrappel, ich drehte mich um und sah, wie maskierte Leute in Zivil Maria in diesen Kleinbus zogen. Ihr Telefon war heruntergefallen, einer der Männer hob es auf, sprang in den Kleinbus, und sie fuhren weg“, berichtete sie. 

    Wohin Maria gebracht wurde, blieb unklar. Tut.by bekam von Innenministerium, Untersuchungsausschuss und Wirtschaftsbehörden die einstimmige Auskunft, es lägen keine Informationen über eine Festnahme vor. Sie alle logen. 

    Später berichtete Maria in einem Brief, was mit ihr geschehen war: „Nach meiner Verschleppung wurde ich gewaltsam ins Büro von Nikolaj Karpenkow gebracht, dem Chef des GUBOPiK, der mich anschrie, beleidigte und einschüchterte. Das ,Gespräch‘ fand im Beisein zweier anderer Herren statt: Gennadi Kasakewitsch, erster Stellvertreter des Innenministers, und Andrej Pawljutschenko, Chef des OAZ [Operatives Analysezentrum]. Sie stellten mir ein Ultimatum: entweder, ich verlasse das Land und kann jenseits der Grenze machen, was ich will, oder sie bringen mich außer Landes – lebendig oder zerstückelt. Sie brechen mir die Finger, sie sperren mich für 25 Jahre ein, ich werde Hemden fürs Militär nähen … Das Gespräch dauerte mehrere Stunden, mit einer Pause zur ,Erholung‘ in einer Einzelzelle.“

    Da die Politikerin nicht ausreisen wollte, beschloss man, sie gewaltsam außer Landes zu bringen. An diesem Tag wurden in Minsk zwei weitere Aktivisten aus Babarikos Wahlkampfteam festgenommen, Anton Rodnenkow und Iwan Krawzow. Sie hatten nach Maria gesucht und wurden vor ihrem Haus aufgegriffen. Schon am Abend des 8. September gaben sie eine Pressekonferenz in Kyjiw. 

    Kolesnikowa zerriss ihren Pass

    Rodnenkow und Krawzow berichteten, dass sie am frühen Morgen (des 8. September) in einen Kleinbus gesetzt und zum Grenzübergang Alexandrowka an der ukrainischen Grenze gebracht worden seien. Krawzow hätte Kolesnikowa in die Ukraine bringen sollen, um die Situation im Land zu „deeskalieren“. Maria trafen sie erst in der neutralen Zone, hinter der belarussischen Grenzlinie. Laut Plan sollten alle drei in einem Auto in die Ukraine fahren. 

     „Kaum hatten sie Mascha aus dem Kleinbus geholt, da begann sie schon im Befehlston ihre Freilassung zu fordern und die Vorgangsweise der Beamten strafrechtlich einzuordnen“, erzählte Krawzow. „Als sie dann im Auto saß und ihren Pass sah, schnappte sie ihn sich und zerriss ihn in viele kleine Stücke. Dann warf sie die zerknüllten Fetzen aus dem Fenster unbekannten jungen Leuten zu, die das Auto umringten. Schließlich kletterte sie durch das Fenster aus dem Auto und rannte zurück zur belarussischen Grenze.“  

    Dort wurde Maria von denselben Leuten verhaftet, die sie hergebracht hatten. Am 9. September, dem dritten Tag nach der Festnahme, wurde bekannt, dass Kolesnikowa sich im Untersuchungsgefängnis Nr. 1 [Minsk, Waladarka] befand. Einige Tage später wurde sie nach Shodino überführt, wo sie bis zum Januar des Folgejahres blieb, als man sie wieder nach Minsk zurückbrachte. Kolesnikowa wurde angeklagt, zu Handlungen aufgerufen zu haben, die auf die Gefährdung der nationalen Sicherheit abzielen. 

    Gefängnisalltag

    In einem Interview mit der BBC berichtete Kolesnikowa ausführlich über ihr Leben hinter Gittern: „Ich wache jeden Morgen um 6:00 Uhr frisch und munter auf. In meinem früheren Leben wäre das unvorstellbar gewesen. Um 6:30 Uhr beginnt das Frühstück im Gefängnis, es gibt Brei, Saft, Brot und Tee. Doch ich esse nie so früh und lasse es stehen. Dann ,dusche‘ ich, indem ich Wasser in der Schüssel erwärme. […] Um 8:00 Uhr kommt die Kontrolle, danach lerne ich zwei bis drei Stunden lang Fremdsprachen oder lese auf Deutsch oder Englisch. Das ist meine produktivste Zeit. Gegen 9:00 Uhr habe ich Ausgang. Der Gefängnishof ist drei mal drei Meter groß (in Shodino war er größer). Aber auch so schaffe ich es, 40 bis 50 Minuten zu laufen und mache anschließend noch 30 Minuten lang Übungen. 

    Nach dem Ausgang frühstücke ich: belegte Brote oder, selten, Brei mit Trockenfrüchten, unbedingt aber einen starken Kaffee. Ich räume meine Zelle auf, und auch darin liegt eine gewisse Freude: den Ort, an dem du dich befindest, sauberer, gemütlicher und besser zu machen. Wenn keine Treffen mit Anwälten oder Verhöre anstehen, lese ich im Anschluss zwei, drei Stunden lang. […]

    Während der gesamten Zeit war ich in fünf verschiedenen Zellen, mit jeweils anderer Belegschaft. Meine jetzige Zelle ist sehr klein, 2,5 mal 3,5 Meter, es gibt zwei Pritschen für vier Personen, eine Toilette, Waschbecken, Fernseher, Wasserkocher, eine Kanne, Schüsseln, einen Tisch, eine Bank. Durch das Fenster und das Gitter ist der Himmel zu sehen. 

    In Belarus ist das Rauchen an öffentlichen Orten verboten, sogar an Haltestellen, doch im Gefängnis gilt das nicht. Hier rauchen fast alle und überall: in den Zellen, Gängen, Diensträumen. Das gefährdet nicht nur meine Gesundheit, sondern auch meinen Beruf als Flötistin.“ 

    Wir ergänzen, dass Kolesnikowa im Gefängnis keine Flöte und auch nicht immer Noten haben darf. 

    […]

    Krankheit und Operation

    Ende 2022 verschlechterte sich Kolesnikowas Gesundheitszustand rapide. 

    Ihr Anwalt hatte sie zuletzt am 17. November in der Strafkolonie besucht. Später wurde bekannt, dass Maria in die Isolationshaft verlegt worden sei. „In der Arrestzelle war es sehr kalt, Maria schlief praktisch nicht. Um sich aufzuwärmen, bewegte sie sich die ganze Zeit und legte an einem Tag rekordverdächtige 15.000 Schritte in der kleinen Zelle zurück. In den Tagen vor der Krankenhauseinweisung verlor Maria immer wieder das Bewusstsein, sie litt unter erhöhtem Blutdruck und Übelkeit. Einmal wurde sie in der Dusche ohnmächtig und zog sich beim Sturz Schrammen an den Beinen zu. Der Gefängnisarzt meinte nur, sie hätte jeden Morgen im Strafraum die Möglichkeit gehabt, ihre Probleme zu melden, hätte dies aber unterlassen. Dabei hat sie Tabletten gegen den Bluthochdruck bekommen, die man ihr ohne eine Anzeige gesundheitlicher Beschwerden wohl kaum gegeben hätte“, erzählten ihre Mitstreiter. 

    Am 28. November wurde sie für weitere zehn Tage in die Isolationszelle gebracht. Ihr Anwalt wurde mit der Begründung, sie habe keinen Antrag auf ein Treffen mit ihm gestellt, nicht zu ihr durchgelassen. Er unternahm zwei weitere Versuche, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Am nächsten Tag hieß es, Kolesnikowa sei im Krankenhaus. Zu Bluthochdruck, Übelkeit und Ohnmacht waren am Nachmittag noch starke Bauchschmerzen hinzugekommen, sie war buchstäblich umgefallen. Maria wurde in die chirurgische Abteilung [des Gefängniskrankenhauses] gebracht, jedoch schon am Abend in die Unfallklinik in Gomel verlegt, weil sie operiert werden musste. Sie hatte einen Magendurchbruch. 

    Kolesnikowas Diagnose war die Folge eines Magengeschwürs. Ein Durchbruch tritt auf, wenn das Geschwür die Magenwand „durchschlägt“ und der Mageninhalt (mitsamt der Salzsäure, die die Nahrung zersetzt) in den Bauchraum fließt. Zu einer solchen Perforation kommt es in 10 bis 15 Prozent der Fälle eines Magengeschwürs, in der Regel begleitet von starken, stechenden Schmerzen. Trotz hochentwickelter Medizin bleibt die Behandlung von Magendurchbrüchen eine komplizierte Aufgabe für Chirurgen: Die Sterblichkeit bei entsprechenden Operationen liegt, je nach Quelle, bei 5 bis 18 Prozent (teilweise sogar 25 Prozent). 

    Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen

    Noch am selben Tag, dem 28. November, wurde Kolesnikowa mittels Laparoskopie (Bauchspiegelung, minimalinvasiver Eingriff) erfolgreich operiert. Sie wachte aus der Narkose auf, ihr Zustand blieb aber weiterhin kritisch. Ihr Vater fuhr in die Klinik, doch sein Gespräch mit den Ärzten fand im Beisein von Mitarbeitern des Innenministeriums statt. Die Ärzte weigerten sich, dem Vater die Diagnose mitzuteilen: Dafür sei angeblich Marias schriftliche Zustimmung nötig. 

    Am 1. Dezember erfuhr Zerkalo von einem Insider, dass nach wie vor weder Familienangehörige noch Anwalt Maria besuchen durften. Sie erfuhren auch nichts über ihren Zustand. „Man sagt ihnen ganz trocken, alles sei in Ordnung, und es werde alles Nötige getan“, sagte er. Ärzte und Pflegepersonal mussten Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnen, im Falle einer Zuwiderhandlung drohten sechs Jahre Gefängnis. Erst am 5. Dezember wurde Kolesnikowa zurück ins Gefängniskrankenhaus verlegt und konnte dort ihren Vater treffen. Das zehnminütige Treffen fand unter Aufsicht des Arztes und mehrerer Gefängnisbediensteter statt. 

    „Endlich kann ich wieder ein bisschen laufen, etwa eine Stunde am Tag, ich steigere langsam Tempo und Schrittzahl, heute 5000. Das ist ein echter Rekord für mich, nachdem ich mich vom 29. November bis letzte Woche fast gar nicht bewegt habe. Es ist noch nicht alles wieder gut, aber ich bin positiv und optimistisch und will unbedingt gesund werden! Also, mach dich bereit: deine Draniki und Schaschliks stehen bald ganz oben auf meiner Speisekarte“, schrieb Kolesnikowa ihrem Vater am 27. Dezember 2022. Doch das war eher ein Aufmunterungsversuch, denn tatsächlich ging es Maria eher schlecht. „Kolesnikowa liegt auf der Krankenstation, ihr Zustand ist nicht sehr gut, sie ist völlig abgemagert“, erzählten Mitinsassinnen zu Beginn des Jahres 2023. 

    Zur selben Zeit entzog das Justizministerium Wladimir Pyltschenko, Kolesnikowas und Eduard Babarikos Anwalt, die Lizenz. Aufgrund mangelhafter Qualifikation könne er seinen Beruf nicht ausüben. Am 16. Januar wurde Kolesnikowa wieder in den regulären Strafvollzug verlegt. Sie geht wieder zur Arbeit, sei aber „nach der Schicht sehr müde“. Ihren Mitstreitern zufolge gehe es ihr gut, sie lege langsam Gewicht zu.  

    „Ich weiß ganz genau, dass jede Schwierigkeit vorübergeht“, schrieb sie in einem ihrer Briefe in die Freiheit. „Warum also traurig sein und sich sorgen, wenn doch auf jeden Fall der Moment kommt, an dem sie vorbei geht? Wozu Lebenszeit auf etwas verschwenden, das sinnlos ist und mir sogar schadet? Ich lebe so, als wäre all das Entsetzliche und Absurde um mich herum gar nicht da.“

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  • Krieg im Kindergarten

    Krieg im Kindergarten

    Seit September 2022 beginnt die russische Schulwoche mit den sogenannten Gesprächen über das Wichtige – verpflichtende Unterrichtseinheiten, bei denen es um die „militärische Spezialoperation“, den „kollektiven Westen“ und generell eine „patriotische Erziehung“ geht. Doch die beschränkt sich nicht nur auf den Schulbereich: Tarnanzüge, Gewehre und Schmetterlingsminen zum Ausmalen – Irina Nowik berichtet für 7×7 über eine fortschreitende Militarisierung an russischen Kindergärten.


    In einem Raum mit großen Fenstern tanzen 15 Kinder. Sie schwenken bunte Tücher in drei Farben: weiß, blau und rot. An einem der Fenster hängt die russische Trikolore. Es spielt ein munteres Kinderlied der Band Wolschebniki dwora (dt. Die Zauberer vom Hof):

    „Lass über der Welt wehen deine Fahnen
    Wir tragen alle deinen stolzen Namen,
    Russland, wir sind alle deine Kinder, 
    Und das heißt, wir werden siegen!“

    Und der Refrain: „Russland, deine Kinder sind wir. Russland, deine Stimmen brauchen wir.“

    Dieses Video hat die Redaktion von Olga bekommen. Ihre Tochter Polina (beide Namen auf Wunsch der Mutter geändert) ist fünf und lebt mit ihren Eltern und ihrem großen Bruder in Sankt Petersburg, wo sie die Vorschulgruppe eines staatlichen Kindergartens besucht.

    Auf einem anderen Video, das Olga uns schickt, sieht man die Väter in Trainingsanzügen marschieren. Im Hintergrund läuft das Armeelied U soldata wychodnoi (dt. Der Soldat hat heute frei) in der Interpretation des sowjetischen Vokal- und Instrumentalensembles Plamja.

    Beide Videos hat die Petersburgerin während einer Feier aufgenommen, die anlässlich des 23. Februars, zum Tag des Vaterlandsverteidigers, im Kindergarten ihrer Tochter stattfand. Nach den Neujahrsferien hatte die Erzieherin in den Elternchat geschrieben, dass es an diesem Tag eine offene Unterrichtsstunde im sportlich-patriotischen Stil geben würde und alle Kinder mit Fliegermütze und tarnfarbenem T-Shirt kommen müssten.

    Papa muss in der Armee dienen – und der Sohn auch

    Olga war geschockt von dieser Ankündigung und antwortete im Chat, dass sie dagegen sei. Ausnahmslos alle anderen Eltern waren aber dafür und überwiesen dem Elternkomitee Geld für die Mützen.

    Polina wollte gerne an der Feier teilnehmen. Um ihre Tochter nicht zu enttäuschen, besorgte Olga eine weiße Mütze und ein blaues T-Shirt und flocht ihr weiß-blaue Bänder in die Zöpfe. „Ich zog sie extra in den Farben der weiß-blauen Flagge an. Ich weiß nicht, ob das irgendwem von den Eltern oder Erziehern aufgefallen ist.“

    Die Väter nahmen an den Spielen teil, die Mütter schauten zu und machten Fotos. Alle Aktivitäten drehten sich um das Motto, dass Papa in der Armee dienen muss – und der Sohn auch. Eine der Aufgaben für die Väter bestand darin, anstelle eines Gewehrs einen Fleischwolf auf Zeit zusammenzubauen.

    Im Kindergarten Planeta detstwa (dt. Planet der Kindheit) in Ujar bei Krasnojarsk feierte die jüngste Gruppe Karamelki (dt. Bonbons) ebenfalls den 23. Februar. „Die Kinder sagten mit Liebe, Hingabe und Stolz Gedichte über Vaterlandsverteidiger auf, sangen das Lied My soldaty, brawyje rebjata (dt. Wir Soldaten, tapfere Burschen) und spielten mit den Vätern die Spiele Maskirowka (dt. Tarnung), Saminirui pole (dt. Miniere das Feld) und Soberi bojepripassy (dt. Sammle die Munition ein)“, schrieb die Kindergartenleitung in die Gruppe im sozialen Netzwerk VKontakte.

    Auch in den älteren Gruppen des Kindergartens fanden solche Veranstaltungen statt. Die Vorschulklasse Zwetnyje ladoschki (dt. Bunte Händchen) bekam Besuch von einem Veteranen des Afghanistan-Kriegs, Juri Prichodkin. „Sowohl die Teilnehmer als auch die Fans (die Mütter) waren ergriffen, und die Jungen wurden motiviert, in den Reihen der russischen Armee zu dienen“, kann man in derselben Gruppe nachlesen.

    Lernen, wie man eine Kalaschnikow zerlegt

    An einem anderen Tag bekamen die Kindergartenkinder von Angehörigen der Junarmija, der Jugendarmee, gezeigt, wie man eine Kalaschnikow zerlegt.

    „Unser Kindergarten will seine Vorschulkinder für die Junarmija begeistern. Den Kindern hat es gut gefallen, wir haben die Vorschulgruppen ausgewählt, weil sie damit schon was anfangen können. Das war eine Vorbereitung auf den Tag des Vaterlandverteidigers. Es war ein Erfolg auf ganzer Linie, die Kinder haben so etwas zum ersten Mal gesehen. Natürlich möchten sie den strammen, tapferen Soldaten nacheifern“, berichtet die Leiterin des Kindergartens, Irina Kossuchowa.

    Es gibt da so einen Buchstaben

    In den Kindergärten gab es schon Kriegspropaganda bevor in den Schulen die patriotischen Unterrichtsstunden Gespräche über das Wichtige eingeführt wurden. Bereits am 17. März 2022, knapp einen Monat nach Kriegsbeginn, wurden im Dorf Kurtamysch, Oblast Kurgan, erstmals Kindergartenkinder in Z-Form aufgestellt. Im Autonomen Kreis der Chanten und Mansen und in den Oblasten Omsk und Samara mussten die Kinder Bilder von Panzern und Soldaten malen. In Chakassien mussten sich die Kinder allen Ernstes hinknien und Z-Bilder hochhalten. Das Symbol trug die Farben des Georgsbands, daneben stand: „Wir lassen die Unseren nicht im Stich.“

    Die Eltern sind oft nicht einverstanden mit solchen Veranstaltungen, aber nicht alle haben den Mut, sich gegen das System zu stellen, besonders nach der Geschichte mit Mascha Moskaljowa, einer Fünftklässlerin, deren Vater wegen einer Antikriegszeichnung seiner Tochter zu zwei Jahren Strafkolonie verurteilt wurde. Eine Lehrerin hatte sich über die Schülerin beschwert. Eine weitere Fünftklässlerin aus Moskau, Warwara Galkina, wurde vom Schuldirektor persönlich denunziert, weil sie die Heilige Javelin vor dem Hintergrund einer blau-gelben Flagge als Profilbild hatte. Warwaras Mutter musste zur Polizei und die Wohnung der Familie wurde einer Hausdurchsuchung unterzogen. Über Denunziationsfälle bei Vorschulkindern ist bisher nichts bekannt, aber das bedeutet nicht, dass man in der Zukunft davor gefeit ist.

    Anfang April 2022 beschloss offenbar die Leitung eines Kindergartens in Tscheboksary, dass es mit Bildern und Liedern nicht getan ist, und trug den Kindern und deren Eltern auf, für die russischen Soldaten Geschenke zu sammeln. Auf der Liste standen Schokolade, Kekse und andere Süßigkeiten, außerdem Konserven, Zahnpasta, Zahnbürsten, T-Shirts und Socken.

    Diese Kinder werden in dem Glauben aufwachsen, dass sie von Feinden umgeben sind, die sie oder ihre Eltern umbringen wollen

    Der Pädagoge und Gründer des Instituts für informelle Bildung Dima Sizer ist überzeugt, dass derartige Propaganda-Veranstaltungen den Kindern einen ungesunden Patriotismus einimpfen können: „Was wir den Kindern im Alter von fünf oder sechs Jahren vorlegen, begleitet sie in der Regel ihr Leben lang. Leider ist es so, dass man Kindern eine bestimmte Einstellung zu Menschen, zu ihrem Land, ihrer Familie einpflanzen kann. Diese Kinder werden in dem Glauben aufwachsen, dass sie von Feinden umgeben sind, die sie oder ihre Eltern umbringen wollen“, sagt Sizer gegenüber der 7×7.

    Seit Beginn des Ukraine-Kriegs nimmt die Militarisierung der patriotischen Veranstaltungen und Aktivitäten immer weiter zu. Im Kindergarten Oduwantschik (dt. Pusteblume) in dem burjatischen Dorf Syrjansk gab es eine feierliche Einweihung einer Gedenkecke mit Fotos von im Ukraine-Krieg gefallenen Vätern. An der Eröffnung nahmen Ehefrauen und Verwandte der Soldaten teil.

    In der Region Perm zeigten Veteranen, die in Afghanistan und Tschetschenien gekämpft haben, den Kindern, wie man mit Gewehren schießt. In gleich mehreren Kindergärten der Oblast Belgorod bekamen die Kinder Ausmalbilder, auf denen sie Schmetterlingsminen und Gegenstände erkennen sollten, in denen man diese Minen nicht verstecken kann. Das war Teil eines speziellen Leitfadens für Vorschulkinder zum Verhalten bei einem Artilleriebeschuss.

    Schmetterlingsminen beziehungsweise PFM-1 sind hochexplosive Minen, die gegen Infanteristen eingesetzt werden. Wer auf eine solche Mine tritt, wird sofort in die Luft gesprengt. Einem Bericht von Human Rights Watch zufolge sollen im ukrainischen Isjum solche Minen sowohl von den russischen als auch von den ukrainischen Streitkräften gelegt worden sein, obwohl ihr Einsatz gegen das völkerrechtlich verankerte Verbot von Antipersonenminen verstößt.

    Anstatt den Kindern von alldem zu erzählen, präsentierte man es ihnen in spielerischer Form. In dem Ausmalbuch waren außerdem Übungen zu den verschiedenen Sprengstofftypen und Merkverse wie dieser zu finden:

    „Hörst du’s knallen, renne schneller
    mit den Großen in den Keller“

    Diese Leitfäden wurden offenbar erstellt, um die Kinder auf die Lebensrealität im Grenzgebiet vorzubereiten. Die Eltern beschwerten sich, dass man auf diese Weise ihren Töchtern und Söhnen die Kindheit wegnehmen würde.

    Glorifizierung von Helden

    Die Forschung kennt keine vergleichbaren Beispiele der Militarisierung aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges. Was jedoch nicht bedeutet, dass die sowjetische Propaganda nicht auch mit Kindern gearbeitet hat, sie ist bloß anders vorgegangen.

    In erster Linie erzählte man Kindern, dass alle Kapazitäten an die Front gehen müssten. Stalin sagte: „Das Land muss seine Helden kennen“, und so wurden während des Kriegs Helden glorifiziert – tatsächliche und ausgedachte, wie zum Beispiel die 28 Panfilowzy. Der Historikerin Tamara Eidelman zufolge war der Grundgedanke, dass ein Held jemand ist, der sein Leben „für die Heimat, für Stalin“ hergibt, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, während Stalin als der große Beschützer vor den Faschisten gezeichnet wurde. Zwischen Faschisten und Deutschen wurde ein Gleichheitszeichen gemacht; das wichtigste Gefühl des Sowjetmenschen war der Hass auf sie. Wladimir Putin spricht heute von einer „übermäßigen Dämonisierung Stalins“ und vermittelt die gleiche Idee: Er beschütze Russland vor den „ukrainischen Faschisten“.

    So wie sowjetische Kinder Briefe an Veteranen des Zweiten Weltkriegs geschrieben haben, sollen jetzt im Rahmen der Aktion Brief an den Soldaten russische Kinder Briefe an Soldaten verfassen, die in der Ukraine kämpfen. In einem Kindergarten in Ufa wurden dafür Bilder und Grußkarten gebastelt. Von manchen Kindern dort ist der eigene Vater an der Front. In den sozialen Netzwerken beschwerten sich Eltern, dass ihre Kinder gezwungen würden, an der Aktion teilzunehmen.

    Die verschiedenen Institutionen des Bildungssystems wählen dabei das Format, das sie für ihre Schützlinge als am besten geeignet und am interessantesten erachten. Ein offizielles Programm, das im ganzen Land einheitlich für den Patriotismus-Unterricht gelten würde, gibt es nicht.

    Vor dem 23. Februar 2023 hat es in Polinas Kindergartengruppe keine Militärveranstaltungen gegeben. Die offene Stunde, zu der alle in Fliegermützen kommen mussten, war das erste derartige Ereignis seit Beginn des Krieges. Als Polinas Mutter Olga die Erzieherinnen fragte, warum sie diese Feier überhaupt veranstalten würden, antwortete man ihr, die Kinder der Vorschulgruppe seien jetzt alt genug, „das alles zu wissen“. Olga hält die offene Stunde für eine persönliche Initiative von einer Erzieherin, der sich dann das Elternkomitee angeschlossen habe mit dem Vorschlag, eine Sammelbestellung für die Fliegermützen aufzugeben.

    „Ich sagte, meine Tochter braucht keine Mütze, und gab kein Geld dazu“, erzählt Olga.

    Ihren Standpunkt hat Olga nicht nur im Elternchat klargemacht, sondern auch direkt gegenüber der Erzieherin. Die reagierte gelassen, aber je näher der 23. Februar rückte, desto öfter fragte sie nach, ob Olga nicht vielleicht doch eine Mütze kaufen wolle. Sie argumentierte, dass die Kinder ohne sie nicht am Wettlauf teilnehmen könnten: Die Jungen und Mädchen sollten bis zu ihrer Fliegermütze rennen, sie aufsetzen und wieder zurückrennen.

    Amulettpuppen für die Soldaten an der Front

    Solche Veranstaltungen werden immer mehr, und sie nehmen immer kreativere Formen an. Während die Mobilisierten teure Ausrüstung, Visiere, Wärmebildkameras, Quadrocopter, Nachtsichtgeräte und Ferngläser aus eigener Tasche kaufen müssen, beschlossen die Erzieherinnen des Kindergartens Nr. 50 in Sennaja, Oblast Saratow, das Sicherheitsproblem auf ihre Weise zu lösen: Sie ließen die Kinder Amulettpuppen für die Soldaten basteln. „Diese Püppchen sollen den Soldaten positive Energie, Wärme und Schutz vermitteln. Damit alles gut ausgeht und unsere Jungs gesund und munter wieder nach Hause zurückkehren“, liest man in der Ankündigung.

    Dima Sizer zweifelt nicht an der Entscheidungsautonomie des Vorschulpersonals: „Eine einheitliche Doktrin wäre zumindest nachvollziehbar, man könnte sie meiden und sich nach anderen Formen der Erziehung umsehen, die es immer noch gibt und die auch im Gesetz verankert sind“, sagt Sizer. „Aber wenn ein Kind aus dem Kindergarten kommt und erzählt, dass eine Erzieherin sich etwas ausgedacht hat, nur weil sie der ganzen Welt vorauseilt in Sie-wissen-schon-was, dann sind wir, verzeihen Sie den Ausdruck, wirklich am Arsch.“

    Seit 2012 gab es für das Vorschulalter 21 verschiedene Lehrpläne. Ein Kindergarten konnte selbstständig ein oder mehrere fertige Programme auswählen oder nach dem Muster eines staatlichen Modells sogar selbst eines schreiben. Am 28. Dezember 2022 verabschiedete das Bildungsministerium der Russischen Föderation einen Erlass über das „einheitliche föderale Programm für Vorschulerziehung“. Die Ausarbeitung hat gerade mal einen Monat gedauert. Das Ziel des Dokuments sei „die Schaffung einer einheitlichen Vorschulbildung in Russland“. Der Fokus der Beamten liegt dabei vor allem auf der patriotischen Erziehung, auch vom traditionellen Flaggenhissen ist die Rede. Das Programm soll den Verfassern zufolge den Grundstein für „Staatsbürgerschaft und Patriotismus“ legen.

    Noch ist das neue Programm nicht landesweit in Kraft, aber in Nowosibirsk hat man die Eltern bereits vorgewarnt, dass sich ab September 2023 alle staatlichen Kindergärten danach richten werden.

    Die Urenkel der großen Sieger

    Der gemeinsame Lehrplan wird als Doktrin dargestellt, was eigentlich nicht stimmt. Das Dokument schreibt zum Beispiel nicht ausdrücklich vor, dass die Kinder Z-förmig aufzustellen sind. Laut Dima Sizer ein wichtiges Detail: „Kindergärten und Schulen haben noch immer einen großen Handlungsspielraum. Erziehung funktioniert generell so, dass sie sehr von den Akteuren abhängt. Was im Klassenzimmer passiert, ist immer noch das, was der Lehrer macht, und nicht das, was das Ministerium vorschreibt. Nicht unbedingt der Widerstand des Lehrers, sondern seine Haltung, die Art und Weise, wie er dieses Programm umsetzt.“

     

    Putin besuchte im September 2023 neue Kindergärten und Vorschulen. / Foto © Mikhail Klimentyev/Sputnik Russia/imago images

    Wo die Einen eine Möglichkeit zum Manövrieren sehen, führen die Anderen Befehle von oben aus. So fand Ende April in der Region Krasnodar eine Militärparade statt, an der mehrere Kindergärten aus Jeisk teilnahmen. Die Veranstaltung stand unter dem Motto Wir sind die Urenkel der großen Sieger. Zusätzlich zu den russischen Trikoloren wehte eine rote Flagge mit Hammer und Sichel. Zur Blasmusik marschierten Kinder und Erzieher in den Uniformen der verschiedenen Truppen: Land-, Luft- und Seestreitkräfte. Alle Kinder trugen Uniformen. Bürgermeister Roman Bublik verkündete „den Beginn einer glorreichen Tradition“ – die Parade soll nun jährlich stattfinden.

    Julia Galjamina, Politikerin, Bürgerrechtsaktivistin und Mitbegründerin der Bewegung Mjagkaja sila (dt. Soft Power), glaubt, dass auf das Denken in der frühen Kindheit weniger die Propaganda als die Atmosphäre wirkt. Wenn beispielsweise im Kindergarten ein Kult des Sterbens und Tötens propagiert wird, dann beeinflusst das die moralische Entwicklung des Kindes negativ.

    Im September 2022 hat die Leitung des Kindergartens Mosaika (dt. Mosaik) in der Region Perm 98.600 Rubel in die Ausarbeitung, Herstellung und Installation von Plakaten und sogenannten patriotischen Ecken im öffentlichen Raum gesteckt. In diesen Ecken kann man die russische Symbolik kennenlernen oder Postkarten aus seiner Heimatregion bewundern.

    „Etwas von der Propaganda wird ganz sicher bei den Kindern hängenbleiben“, meint Psychologin Anastassija Rubzowa. „Was genau, können wir nicht vorhersehen. Wir wissen nur, dass Kinder noch mehr als Erwachsene zu Fragmentierung, Polarisierung oder Schwarzweißdenken neigen. Für sie existiert nur der gute Held oder der schlechte Bösewicht, da gibt es keine Grautöne. Die Propaganda festigt diese Polarisierung. Kinder, die damit aufwachsen, neigen auch später dazu, die Realität stark zu vereinfachen, sie künstlich in Schwarz und Weiß aufzuteilen.“

    Patriotismus ist für sie unmittelbar mit Militarismus verbunden

    Jewgeni Roisman, ehemals Bürgermeister von Jekaterinburg und nun politischer Häftling, sagte bereits 2017 zum Thema patriotische Erziehung: „Plötzlich meinen alle, uns Patriotismus beibringen zu müssen … Sie laufen rum und erklären: Wir sorgen für die militär-patriotische Erziehung der Jugend. Meine Guten, wollt ihr nicht lieber für eine pazifistisch-patriotische Erziehung der Jugend sorgen? Nein, wollen sie nicht, denn Patriotismus ist für sie unmittelbar mit Militarismus verbunden. Das ist eine totale Verdrehung: Sie reden von Heimatliebe, dabei wollen sie in Wirklichkeit kämpfen.“

    Nach Ansicht der Psychologin Anastassija Rubzowa wirkt sich Krieg auf Kinder wie auf Erwachsene immer destruktiv aus. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine merkt Rubzowa einen sprunghaften Anstieg der Angst. Man wisse nicht, welche Gefahren wann und wo lauern. Die Eltern würden dieses Gefühl auf die Kinder übertragen, die unruhiger werden, schlechter schlafen, schlechter lernen und öfter krank werden, was wiederum den Eltern noch mehr Kummer bereite. Das sei eine Endlos-Spirale.

    Die Situation bedrohe nicht nur die Sicherheit der Eltern, sondern auch den psychisch-emotionalen Zustand des Kindes, bei dem die Botschaft ankommt, seine Familie wäre von mehreren feindlichen Ringen umzingelt. Rubzowa erklärt: „Der innere Kreis besteht aus Bekannten, Lehrern, Klassenkameraden, Arbeitskollegen der Eltern, es gibt aber auch einen äußeren Kreis – das ist wohl der furchterregende Westen, das böse Amerika, von dem alle im Fernsehen reden. Das Kind wächst mit dem Weltbild auf: ‚Die Welt ist ein furchteinflößender Ort, an dem man keine Freunde hat.‘ So wird es kaum zu einem kooperativen Erwachsenen werden.“

    „Wir Erwachsenen haben unser Land zu dem gemacht, was es jetzt ist. Und wenn wir unsere Kinder auf tickenden Zeitbomben aufwachsen lassen, werden sie traumatisiert sein. Deshalb müssen wir als Erwachsene die Verantwortung dafür übernehmen und die Tragödie, die in der Zukunft passieren kann, minimieren“, sagt Julia Galjamina.

    Wir Erwachsenen haben unser Land zu dem gemacht, was es jetzt ist

    Was können Eltern tun, um ihre Kinder bestmöglich von der Propaganda abzuschirmen? Auf diese Frage hat 7×7 unterschiedliche Antworten bekommen.

    „In den letzten Monaten habe ich öfter ein Beispiel angeführt: Eine Frau kommt von der Arbeit nach Hause und sagt zu ihrem Mann: ‚Mein Chef belästigt mich sexuell. Er hat mir unter den Rock gefasst, aber nur ein paar Mal. Sonst ist er ein netter Chef, und das Büro ist gleich über die Straße.‘ Ich würde mich wundern, wenn der Mann erwidert: ‚Bleib da, sag nichts, es ist doch so praktisch.‘ Warum sagen wir über unsere Kinder: ‚Es wurde ja nur einmal vergewaltigt, ist doch nicht so schlimm, dafür ist der Kindergarten gleich um die Ecke.‘ So kann das doch nicht funktionieren“, sagt Dima Sizer.

    Julja Galjamina äußert sich weniger kategorisch. Sie meint, Eltern können und sollen ihren Kindern erklären, dass Menschen eben verschiedene Meinungen haben und sie nicht einverstanden sind mit dem, was im Kindergarten gesagt wird.

    Zum 9. Mai bereitet Polinas Kindergartengruppe ein Konzert vor. Diesmal hat die Erzieherin Olga gefragt, ob Polina daran teilnehmen will, und Olga auf ihren Wunsch hin das Programm gezeigt. Die Kostüme sind diesmal keine Tarnanzüge und Fliegermützen, dafür ist ein „Georgsbändchen am Revers (links)“ obligatorisch.

    „Das geht halbwegs in Ordnung, keine Zetts und kein Moshem powtorit (dt. Wir können das wiederholen). Ich habe zugestimmt“, sagt Olga.

    In Polinas Kindergarten hängen wenigstens keine Zetts, meint Olga. Im Kindergarten ihres Sohnes, den er bis letztes Jahr besuchte, hingen ausgedruckte Plakate mit Schriftzügen wie Sa swoich (dt. Für die Unseren) oder Swoich ne brossajem (dt. Wir lassen die Unseren nicht im Stich). Olga vermutet, dass es eine Initiative der Kindergartenleitung war – die Plakate hingen nicht nur im Gruppenraum, sondern auch am Eingang und im ganzen Gebäude.

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  • Bystro #44: Wer ist Swetlana Alexijewitsch?

    Bystro #44: Wer ist Swetlana Alexijewitsch?

    Als erste Vertreterin der belarussischen Literatur überhaupt erhielt die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch 2015 den Literaturnobelpreis – „für ihr vielstimmiges Werk, das dem Leiden und Mut in unserer Zeit ein Denkmal setzt“, wie es in der Begründung der Jury hieß. 

    Wie wurde die 1948 im westukrainischen Stanislaw geborene Alexijewitsch, die sich bis heute auch immer wieder zu politischen Entwicklungen äußert, zur Schriftstellerin? Wie hat sie ihre dokumentarische Prosa entwickelt? Welche Autoren haben sie geprägt? Auf diese und andere Fragen antwortet die Slawistin und Literaturwissenschaftlerin Nina Weller in einem Bystro.

    Русская Версия


    1. Wie wurde Swetlana Alexijewitsch zur Schriftstellerin? 

    Alexijewitsch hat schon als Schulmädchen Gedichte und Erzählungen geschrieben, die in Zeitschriften gedruckt, beziehungsweise im Radio gesendet wurden. Nach dem Studium der Journalistik in Minsk arbeitete sie als Korrespondentin kleiner Regionalzeitungen in den Gebieten Gomel und Brest und (wie ihre Eltern) als Lehrerin. Anfang der 1970er Jahre kehrte sie nach Minsk zurück und war ab 1976 für die Redaktion der Literaturzeitschrift des belarussischen Schriftstellerverbandes Njoman tätig. Sie erprobte damals unterschiedliche Gattungen, schrieb Erzählungen, Essays, Reportagen und entwickelte sukzessive ihre zwischen dokumentarischem und literarischem Schreiben angesiedelte Form. In ihrem ersten, aus Zensurgründen nie veröffentlichten, von ihr selbst als zu journalistisch empfundenen Buch Ja ujechal is derewni (dt. Ich bin aus dem Dorf weggegangen) thematisierte sie das dörfliche Leben, das auch ihre Kindheit sehr geprägt hatte. Bereits dieses Buch basierte auf Zeitzeugengesprächen. Zur besonderen Form des vielstimmigen Schreibens inspirierte sie der Schriftsteller und Menschenrechtler Ales Adamowitsch, der ihr Kollege bei Njoman war und der neben russischen Klassikern wie Dostojewski ihr wichtigstes Vorbild werden sollte. 

    2. Was ist der literarische, inhaltliche Kern ihres Schaffens?

    Alexijewitschs Schaffen kreist um das Alltagsleben des sowjetischen Menschen im Ausnahmezustand der historischen Katastrophen und im Zwielicht des utopischen Versprechens. In ihren Büchern collagiert sie Berichte, Erinnerungsfetzen, Gedanken gewöhnlicher Menschen zu ihren persönlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, dem Afghanistankrieg, der Tschernobyl-Katastrophe und den gesellschaftlichen Umbrüchen in (post)sowjetischen Zeiten. Ihr Werk erzeugt eine „Geschichtsschreibung von unten“, jenseits der offiziellen sowjetischen Erzählungen von Heroismus und Patriotismus. Alle ihre Bücher basieren auf einer Vielzahl von Zeitzeugengesprächen, die Alexijewitsch unter Verzicht auf eine auktorial wertende Erzählerstimme zu einem chorischen Gesamtwerk komponiert, sodass die erzählende Zeugnisliteratur stets mehr als nur die Summe einzelner Stimmen ergibt. Es sind „kollektive Romane“, Roman-Oratorien, die von Schmerz und Leid erzählen und zugleich dem Vergessen entgegenwirken sollen. Sowohl in ihrer Methode der vielstimmigen dokumentarischen Prosa als auch in ihrem moralisch-humanistischen Anspruch an das Schreiben war Alexijewitsch von Anfang an nachhaltig von Ales Adamowitsch und Daniil Granin beeinflusst. 

    3. Welche Bücher gehören zu ihrem Hauptwerk?

    Die aus fünf Büchern bestehende Folge Golossa Utopii (Die Stimmen der Utopie) gilt als ihr Hauptwerk. Darin hat sie eine Chronik des tragischen 20. Jahrhunderts vom Zweiten Weltkrieg bis zum Ende der Sowjetunion erschrieben und ihre Form der Dokumentarprosa weiterentwickelt. Die Herangehensweise des vielstimmigen Erzählens setzte sie erstmals im Buch U woiny ne shenskoje lizo (Der Krieg hat kein weibliches Gesicht) ein. Es basiert auf Gesprächen mit Kriegsteilnehmerinnen und zeigte den bis dato verdrängten Blick von Frauen auf die zermürbende Kriegsrealität. Es konnte, wie auch Poslednije swideteli (Die letzten Zeugen) mit Erinnerungen an Kriegskindheiten, erst 1985 in zensierter Fassung erscheinen. In Zinkowyje maltschiki (Zinkjungen, 1989) wird vom Krieg der Sowjetunion in Afghanistan und seinen Folgen erzählt, in Tschernobylskaja molitwa. Chronika buduschtschewo (Tschernobyl – Eine Chronik der Zukunft, 1997) von den Auswirkungen der Reaktorkatastrophe im Jahr 1986. Ein kollektives Gesamtbild des Lebens und Leidens im sowjetischen Kommunismus und der postsowjetischen Ära collagierte sie in ihrem Opus magnum Wremja sekond chend (Secondhand-Zeit, 2013). 

    4. Wie ist ihr Verhältnis zu Belarus? 

    Alexijewitsch kam in der sowjetischen Westukraine zur Welt. Ihre Mutter ist Ukrainerin, ihr Vater Belarusse. Nach dessen Militärdienst übersiedelte die Familie nach Belarus, wo sie die belarussische Staatsbürgerschaft annahm. Auch wenn Alexijewitsch ausschließlich auf Russisch schreibt und oft ihre Nähe zur russischen Kultur und zu einem kosmopolitischen Kontext betont, positioniert sie sich klar als Belarussin und belarussische (nicht russische) Autorin. Ihre breite Anerkennung als Vertreterin der belarussischen Literatur in Belarus und in der internationalen Welt erfolgte, wenn auch nicht unumstritten, spätestens mit der Verleihung des Literaturnobelpreises 2015. Noch 2013 hatte sie die belarussische Sprache in einem Interview mit der FAZ als „bäuerlich und literarisch unausgereift“ bezeichnet. Später nahm sie von ihren Äußerungen vehement Abstand und betonte die Gleichberechtigung des Belarussischen und Russischen als Literatursprachen im Kosmos einer mehrsprachigen belarussischen Literaturgeschichte. Den Belarussen gilt sie – wie seinerzeit der Schriftsteller Wassil Bykau – als moralische Stimme.

    5. Sie hat sich 2020 den Protesten in Belarus angeschlossen und musste daraufhin das Land verlassen. Ist sie immer noch politisch aktiv?

    In vielen Interviews zeigte sich Alexijewitsch 2020 überwältigt davon, wie viele Menschen in Belarus, über alle Generationen und sozialen und biografischen Hintergründe hinweg, für demokratische Werte, Menschenwürde und ein Ende der Diktatur auf die Straße gingen und trotz der massiven Gewalt seitens des Staates friedlich blieben. Sie gestand, einen derartigen Protestwillen dem belarussischen Volk nicht zugetraut zu haben. Umso entschiedener positionierte sie sich auf Seiten der Opposition und des Protests und äußerte öffentlich scharfe Kritik am Vorgehen Lukaschenkos. Im August 2020 wurde sie in die Führung des Koordinationsrates der Opposition berufen, der den Machtwechsel vorbereiten und begleiten sollte. Infolge dessen geriet sie selbst unter massiven Druck der staatlichen Behörden. Im September 2020 versuchten unbekannte Männer, sie in ihrer Privatwohnung einzuschüchtern, woraufhin sie zu einer Pressekonferenz direkt vor ihrer Wohnungstür einlud und Diplomaten aus mehreren Ländern sie zur Unterstützung in ihrer Wohnung besuchten. Ende September 2020 verließ sie Belarus und hat sich seither aus dem aktiven politischen Leben weitgehend zurückgezogen. Stattdessen arbeitet sie in Berlin an einem neuen Buch über die Ereignisse nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen, über die Proteste, ihre Niederschlagung und die Folgen für die belarussische Gesellschaft. 

    6. Sie hat auch einen eigenen Verlag ins Leben gerufen. Was ist das für ein Projekt?

    Den Pfljaŭmbaŭm-Verlag (belaruss. Пфляўмбаўм) gründete sie, nach langjähriger Vorarbeit, gemeinsam mit Alena Kaslowa, der jetzigen Verlagsleiterin. Das Verlagsprogramm umfasst ausschließlich Autorinnen, bisher in erster Linie belarussische, darunter auch jene, die bislang kaum oder gar nicht wahrgenommen wurden. „Wir schaffen eine eigene Frauenwelt mit ähnlichen Anschauungen. Die Männerwelt hat überhaupt keine Ahnung, dass diese Frauenwelt existiert“, sagte sie vor der deutschen Presse anlässlich der Verlagsvorstellung auf der Leipziger Buchmesse 2023. Zu den ersten Publikationen gehören etwa Gedichtbände der Dichterinnen Natallja Wischneŭskaja, Sinaida Bandaryna und Jaŭhenija Pfljaŭmbaŭm, der Namensgeberin des Verlages. Auch Werke von zeitgenössischen Schriftstellerinnen wie Tanja Skarynkina und Eva Viežnaviec, deren Roman Was suchst Du, Wolf? mit dem renommierten unabhängigen Jerzy Giedroyc-Preis in Belarus ausgezeichnet wurde, gehören zum Programm. Die Existenz solch eines Verlages gleicht in Zeiten der massiven Repressionen gegen unabhängige Verlage durch die Machthaber in Belarus einem kleinen Wunder. Inzwischen befindet sich der Verlag in Vilnius. 

     

    Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.

    Text: Nina Weller
    Veröffentlicht am 31.05.2023

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  • „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

    „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

    Unterstützen die Leute in Russland den Krieg gegen die Ukraine? Das scheint eine zentrale Frage sowohl für Forschende, als auch für Journalistinnen und Journalisten zu sein, die sich mit dem Land beschäftigen. Die renommierte Journalistin Jelena Kosjutschenko gibt eine Antwort darauf: Die Menschen wollen keinen Krieg. Warum? Weil es unmöglich ist, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder selbst sterben zu wollen. Doch Umfragedaten belegen, dass Putin weiterhin über eine hohe Unterstützung unter Russinen und Russen verfügt, was wiederum die Folge einer massiven „medialen Strahlung“ der Propaganda ist. Wie funktioniert die Propaganda und wie trifft sie auch die Menschen, die für sich glauben, gegen Propaganda immun zu sein? Was hat das heutige Russland mit Faschismus zu tun? Und welche Verantwortung tragen die Journalisten der unabhängigen Medien? Darüber hat das russische Projekt Otschewidzy (dt. Augenzeugen) von TV2media mit Jelena Kostjutschenko gesprochen. 


    TV2.media: Wie hat der Krieg Ihr Leben verändert?

    Jelena Kostjutschenko: Ich war 17 Jahre lang bei der Novaya Gazeta. Unsere Zeitung gibt es nicht mehr, ihr wurde die Lizenz entzogen. Ich denke, unter anderem wegen meiner Reportagen aus der Ukraine. Ich kann nicht nach Russland zurückkehren. Ich kann nicht zu meiner Mutter, zu meiner Schwester, meiner Katze. Die wichtigste Veränderung ist jedoch, dass mein Land Menschen tötet, Ukrainer. Ich weiß nicht, ob es irgendein Volk gibt, irgendein Land, das mir näher wäre als die Ukraine. Alle meine russischen Bekannten haben Verwandte in der Ukraine, und alle meine ukrainischen Bekannten haben Verwandte in Russland. Das ist ein so dermaßen unfassbares … ich wollte Verbrechen sagen, aber es ist schlimmer als das. Es gibt keine Worte dafür … Es gibt das Wort Krieg, aber das beschreibt eigentlich nichts. Es werden einfach tagtäglich in meinem Namen Menschen ermordet. Damit zu leben ist sehr schwer. 

    Spüren Sie eine persönliche Schuld oder Verantwortung für diesen Krieg?

    Natürlich. Ich war Journalistin, bin sehr viel gereist, habe sehr viel gesehen. Ich wusste um den Faschismus in Russland. Endgültig klar wurde mir das wahrscheinlich 2015, als das Gesetz gegen „LGBT-Propaganda“ beschlossen wurde und LGBT zum ersten Mal als sozial minderwertig bezeichnet wurde, als sozial minderwertige Bevölkerungsgruppe. Das ist bereits eine faschistische Kategorie, wenn wir die Bevölkerung in Gruppen einteilen und bestimmen, wer einen Platz in der Gesellschaft hat und wer nicht. Dann habe ich in einem psychoneurologischen Internat (PNI) gearbeitet. Das ist ein System von Internierungslagern, in denen Menschen mit psychischen und neurologischen Diagnosen eingesperrt werden. Ihnen werden alle Rechte entzogen, sie werden dort ihr Leben lang festgehalten, bis zum Tod. Ich wusste, dass es bei uns im Land Faschismus gibt, gleichzeitig dachte ich, es genügt, wenn ich meine journalistische Arbeit mache. Tja, ich habe mich wirklich sehr bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten, kann keinen Regimewechsel herbeiführen.              

    Ich habe mich wirklich bemüht, aber ein Text kann gegen Faschismus nichts ausrichten

    Irgendwie hatte ich diese illusorische Vorstellung, dass man als Journalist nirgendwo [aktiv] teilnehmen dürfe … Natürlich habe ich an Protestaktionen teilgenommen, das schon, aber erstens nicht so oft, wie ich gekonnt hätte, und zweitens … Ich glaube, es ist mittlerweile für jeden offensichtlich, oder? 2022 mit hübschen Plakaten auf die Straße zu gehen — damit ändert man nichts am Regime. 

    Ja, natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet. Einen solchen Krieg habe ich nicht für möglich gehalten. Nicht einmal 2014, nicht einmal, als Russland am 24. Februar in der Ukraine einmarschiert ist. Als ich meine Tasche packte, um für Recherchen in die Ukraine zu fahren, da nahm ich einen Pullover mit, Unterwäsche, Socken, Reservejeans, einen Schutzhelm, einen Vorrat an Medikamenten für eine Woche und sagte zu meiner Freundin: „Das kann höchstens ein paar Tage dauern“.

    Natürlich fühle ich mich verantwortlich, und natürlich weiß ich, dass ich sehr viel mehr hätte tun können, aber irgendwie war mir mein Komfort wichtiger, oder vielmehr habe ich keine Katastrophe erwartet

    Warum unterstützen in Russland so viele den Krieg?

    Ich kenne in Russland niemanden, der den Krieg unterstützt. Ich kenne Leute, die diesen Krieg für gerecht und unvermeidlich halten. Aber nicht einmal die wollen Krieg. Worauf beruht unser Optimismus, abgesehen von dem biologischen Gefühl, dass alles vorbeigeht, alles gut wird? Niemand wollte Krieg, die Menschen wollten keinen Krieg. Es ist ja eigentlich unmöglich, Krieg zu wollen, zum Mörder werden oder sterben zu wollen. Manche Leute glauben einfach, dass wir nicht die ganze Wahrheit wissen, dass unsere Regierung einen sehr triftigen Grund haben muss, solche entsetzlichen Verbrechen zu begehen. Manche wiederum fühlen sich einfach nicht in der Lage, dem Krieg etwas entgegenzusetzen. In Russland zu leben bedeutet sehr oft, sich machtlos zu fühlen.  

    Warum glauben die Leute Putin?

    Dafür wird ja sehr viel Aufwand getrieben, von sehr klugen, begabten, zielstrebigen Menschen mit einem gigantischen Budget. Unsere Propaganda ist ein Phänomen, ich weiß gar nicht, womit man das vergleichen könnte. Während meines Studiums schrieb ich eine wissenschaftliche Arbeit über Propaganda im Dritten Reich und dachte, das sei ein historisches Thema. Ich fand das alles schrecklich interessant, aber ich hätte nie gedacht, dass ich dieses Wissen tatsächlich einmal brauchen könnte. Aber unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten. Goebbels hatte nur den Rundfunk und die Zeitungen. Wir haben Radio, Zeitungen, Internet, Soziale Netzwerke, Fernsehen – ein gigantisches, enorm mächtiges Rüstzeug zur Einflussnahme. Ganz neue Technologien, ganz neue Narrative.    

    Unsere Propaganda stellt selbst Goebbels in den Schatten

    Mich amüsiert es, wenn Leute, vor allem aus der Bildungsschicht, sagen: „Wir lassen uns nicht von der Propaganda beeinflussen“. Die Propaganda erwischt alle. Sie verfolgt einfach mehrere Ziele. Das Hauptziel der Propaganda ist natürlich, alle davon zu überzeugen, dass Putin recht hat. Aber wenn das zum Beispiel nicht gelingt, dann versucht sie eben zu überzeugen, dass alles nicht so eindeutig ist, nach dem Motto: „In manchen Punkten hat er recht, in manchen nicht. Wir kennen ja nicht die ganze Wahrheit.“ Wenn auch das nicht funktioniert, will sie dich überzeugen, dass dein Leben zerstört wird, wenn du dich widersetzt. Hier schaltet sich der Repressionsapparat ein, der mit jedem Tag brutaler wird. Gerade erst wurde jemand wegen zwei Kommentaren im Internet zu sieben Jahren Haft verurteilt. Wenn auch diese Strategie nicht aufgeht, dann reden sie dir ein, dass du allein bist, dass nur du so denkst. Sonst niemand. Und wenn das nicht gelingt, dann machen sie dir klar, dass du nichts dagegen tun kannst. Zusammengenommen funktioniert das. Es wirkt einfach alles auf unterschiedlichen Ebenen. 

    Kann man die Leute umstimmen, die vom Fernsehen „verstrahlt“ sind?

    Man muss. Meine Mutter sieht zum Beispiel fern. Soll ich etwa meine Mama Putin überlassen? Das wird nie passieren. Ich hab sie gern, sie hat mich gern, und wir reden jeden Tag miteinander. Nicht immer erfolgreich. Manchmal unterhalten wir uns fünf Minuten, dann sagt sie: „Ich kann nicht mehr weiterreden“. Dann reden wir zwei Tage nicht über den Krieg, bis sie sagt: „Lass uns reden“ und wir wieder fünf Minuten reden. So bewegen wir uns ganz langsam aufeinander zu.   

    Meine Mutter ist 75 Jahre alt. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist

    Wir müssen außerdem verstehen, dass das Angst macht. Wir verlangen von den Leuten eine schreckliche Erkenntnis. Meine Mutter ist 75 Jahre alt, sie war eigentlich Chemikerin, aber in den Neunzigern, als für die Wissenschaft kein Geld da war, wurde sie Lehrerin, sie unterrichtete Kinder. Sie ist wirklich ein sehr guter, kluger Mensch. Sie liebt ihr Land, und ich liebe es auch. Aber ich möchte, dass sie begreift, dass ihr geliebtes Land ein Mörder ist. Dass in ihrem Land Faschismus herrscht. Derselbe Faschismus, den ihr Vater im Krieg besiegt hat. Dass sie jahrzehntelang Lügen aufgesessen ist. Sie wurde belogen und hat alles geglaubt. Und in ihrem Namen werden Menschen getötet. Das mit 75 Jahren zu begreifen – wie soll das gehen? Aber jede noch so entsetzliche Wahrheit ist besser als die Lüge. Weil mit Lügen Morde vertuscht werden. Wir alle sind Mittäter dieser Morde. Ob stillschweigend oder nicht, Mittäter sind wir. Dieses Lügenkonstrukt müssen wir um jeden Preis durchbrechen, auch wenn es sehr schmerzhaft ist. 

    Wir alle sind Mittäter dieser Morde

    Oft wird Putins Regime mit einer Sekte verglichen, von der man nicht mehr loskommt. Wie gerechtfertigt ist dieser Vergleich?

    Es gibt durchaus Gemeinsamkeiten. Vor allem das sogenannte Prinzip der narzisstischen Verführung. Damit locken totalitäre Sekten Menschen an. Das funktioniert so, dass sie einem sagen: „Eigentlich bist du gut. Sogar sehr gut, du bist kein Versager. Du bist nicht schwach, nicht willenlos, nicht dumm. Aber du hast es schwer, stimmt’s? Stimmt, ja. Und weißt du, warum du es so schwer hast? Weil die Menschen um dich herum dir schaden, sie sind deine Feinde. Aber wie gut, dass du zu uns gefunden hast, wir werden dich lieben, dich unterstützen, uns um dich kümmern. Wir werden dir sagen, was du tun und wie du leben sollst.“ Genau das macht die Propaganda: „Russland ist frei von Sünde. Russland kann überhaupt keinen Schaden anrichten.“

    Bei meiner Arbeit in der Ukraine war ich in der Abteilung für Gerichtsmedizin in Mykolajiw, wo die Leichen hingebracht werden. Dort habe ich viel Zeit verbracht. Die Leichen lagen einfach übereinandergestapelt, weil die ukrainischen Leichenschauhäuser nicht auf solche Mengen ausgerichtet sind. Sie lagen auf dem Boden, in der Garage, die dafür geräumt wurde, sie lagen in den Kühlräumen aufgeschichtet übereinander. In einem lagen auf einem Haufen die Leichen von zwei Mädchen, zwei Schwestern von siebzehn und drei Jahren. Arina Butym und Veronika … Sie wurden durch Splitter getötet, als Mykolajiw beschossen wurde. 

    Meine Mutter rief mich täglich an und versuchte mir zu erklären, was passiert, was ich da eigentlich sehe. Ich sagte immer: „Lass es einfach“, aber sie versuchte es immer wieder. Und ich sage: „Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.“ Und sie sagt: „Das können keine russischen Soldaten gewesen sein. Das kann nicht sein. Na hör mal! Wie denn?“ Als Butscha geschah, schrie sie mich einfach am Telefon an: „Nein! Nein, unmöglich! Unmöglich!“ Es ist entsetzlich zu akzeptieren, sich einzugestehen, dass russische Soldaten so etwas tun können. Und auch früher schon getan haben. In Tschetschenien, in Syrien. Sie haben es getan. Viele, viele Jahre lang wurde die Idee des unschuldigen Russlands, die Idee, dass wir immer im Recht waren, dass wir keine historische Schuld tragen, dass unser Land niemals einen Fehler begangen hat, die wurde so richtig in die Köpfe eingehämmert. 

    Ich sage: ,Mama, ich habe heute tote Kinder gesehen. Tote Kinder, sie wurden getötet.‘ Und sie sagt: ,Das können keine russischen Soldaten gewesen sein‘

    Das ist ja auch wirklich ein schöner Gedanke. Stellen Sie sich mal vor: Man lebt so vor sich hin und hat das Gefühl, einem absolut gerechten Staat anzugehören, der in seiner ganzen Geschichte niemals etwas Böses getan hat. Das ist einfach toll!
    Manche Behauptungen der Propaganda widersprechen ja sogar dem offiziellen Geschichtsunterricht, das wundert mich schon. Zum Beispiel die Behauptung, Russland beginne keine Kriege, sondern beende sie. Das stimmt ja nicht. Wir haben sehr viele Kriege begonnen. Genau wie viele andere Länder auch. Aber nein, da ist auf der einen Seite das trockene Geschichtsbuch, das übrigens momentan umgeschrieben wird, und auf der anderen Seite haben wir großartig konzipierte Sendungen mit Analysen, ganz bunte, kitschige Filme darüber, was für ein makelloses Land und was für ein unglaubliches Volk wir sind, ganz anders als die anderen. Das wurde alles sehr, sehr lange vorbereitet, man kann nicht sagen, dass alles ganz plötzlich am 24. Februar passiert ist. Es geschah für uns plötzlich, weil wir … Ich spreche mal für mich: weil ich eine dumme, faule Optimistin war. 

    Wovor haben Sie am meisten Angst?

    Dass Russland diesen Krieg gewinnt. Das würde den Tod für mein Land bedeuten. Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung. Damit meine ich nicht die vielen Menschen, die noch sterben werden, bis Russland siegt. Das wird die absolute Zerstörung unserer nationalen Identität. Das lässt den Faschismus erst recht erblühen. Auf diesen Krieg wird der nächste Krieg folgen, weil Faschismus immer expansiv ist. Es werden noch mehr Menschen sterben, das wird ein Schrecken ohne Ende. Das ist es, wovor ich am meisten Angst habe.      

    Es gibt nichts Ungeheuerlicheres als einen Sieg in einem ungerechten Krieg. Wenn Russland diesen Krieg gewinnt, wird das die absolute Zerstörung

    Wie sehen Sie die Zukunft Russlands?

    Ich glaube, dass es eine Zukunft gibt, dass wir nicht verschwinden werden. Aber was passiert ist, kann man nicht mehr rückgängig machen. Es gibt keine Wiedergutmachung, nichts kann die Toten wiedererwecken. Aber ich glaube, wir werden die Möglichkeit haben, zu begreifen, was wir angerichtet haben, und irgendwie damit weiterzuleben. Und natürlich werden wir schon andere sein, wenn wir das begreifen, und das Leben wird ein anderes sein, sonst gibt es einfach nur … Auslöschung. Ich glaube, wir werden alle sehr viel arbeiten müssen, sowohl jetzt als auch später. Für Selbstmitleid ist da keine Zeit. Ich bin 35 Jahre alt, und ich frage mich, ob mein Leben ausreichen wird. Womöglich nicht. Aber ich glaube, wir müssen jetzt alle sehr viel arbeiten und sehr lange leben. Das wird kein einfaches Leben sein, aber immerhin ein Leben.      

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    Totale Aufarbeitung?

    „Solange die Hälfte des Landes im Zombie-Zustand verharrt, wird nichts besser“

    Fake-Satire als Propaganda

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    „Putins Siegeskult erinnert an Kriegskult in Nazi-Deutschland“

    Wie Putin lernte, die Ukraine zu hassen

  • Krieg und Propaganda entschlüsseln

    Krieg und Propaganda entschlüsseln

    Propaganda tötet – auf diese Formel kann man die Ergebnisse einer Studie aus dem Jahr 2014 bringen, die den hetzerischen Einfluss des ruandischen Radiosenders RTLM auf die Teilnahme am Völkermord in Ruanda 1994 nachgewiesen hat. Obwohl die Geschichte reich an Beispielen für die Macht der Propaganda ist, war es für Teile der liberal-demokratischen Kreise Russlands lange Zeit üblich, die Propagandasendungen im Staatsfernsehen zu belächeln: Zu absurd seien die Postulate, zu abwegig, dass sie jemand überhaupt für bare Münze nehmen könnte.

    Mit dem 24. Februar 2022 fand ein radikales Umdenken statt: Die jahrzehntelange Propaganda, so heißt es nun oft in unabhängigen russischen Medien, habe den Boden für die russische Aggression gegen die Ukraine bereitet. Propaganda sei der Treibstoff des Krieges, sie bediene Ressentiments, schüre Hass und Angst. 
     
    Nicht nur in Russland und Belarus, auch in Westeuropa gibt es laut Umfragen viele Menschen, bei denen die russische Propaganda verfängt. Warum funktioniert sie überhaupt – im 21. Jahrhundert? Wie funktioniert sie? Und was kann man ihr entgegenhalten? Solchen Fragen widmet sich dieses Dossier. 

    Inhalte

    Leitfäden der Propaganda

    „Ihr seid keinen Deut besser“ – Whataboutism in der Kreml-Rhetorik

    „Putin will das Imperium wiedererrichten – das steht außer Frage“

    Wörterbuch des Krieges

    Fake-Satire als Propaganda

    Recht auf Zerstörung

    Mörder mit Tapferkeitsorden

    Die schwindende Macht der Angst

    Russisches YouTube

    Пропаганда и война: декодирование

    „Tagtäglich werden in meinem Namen Menschen ermordet“

    Krieg im Kindergarten

    Shamans Kampf

    Alexej Gromow

    Die unzivile Gesellschaft und ihre Rolle im Krieg

    Ded Putin – „Der Großvater der Nation“

    Wie man mit Z-Patrioten spricht

    Z-Pop

    Wir danken den Schamanen für die Stärkung der Streitkräfte!

    LGBTQ-Verbot: „Ein gigantischer Raum für Willkür“

    Im Netz der Propaganda

    Immer mehr Razzien bei privaten LGBT-Treffen

    Unerforschte Ufer: postsowjetische Fotografie

    Sergej Kirijenko

    Konstantin Ernst

  • Geburt und Tod der Russischen Welt

    Geburt und Tod der Russischen Welt

    „Identitätskrise“, „Wertevakuum“, „kollektives Trauma“, „postimperiales Syndrom“ – nach dem Zerfall der UdSSR hat die russische Gesellschaft viele verschiedene Diagnosen bekommen. Zahlreiche Politiker und Intellektuelle haben in dieser turbulenten Zeit deshalb unterschiedliche Sinnangebote unterbreitet. Einer dieser Entwürfe stammte von den Polittechnologen Pjotr Schtschedrowizki und Efim Ostrowski. Demnach sollte Russland kein aggressives Imperium sein, sondern eine progressive Welt, die „neue Zukunftsbilder entfaltet“ und über eine starke Anziehungskraft verfügt – vor allem für die Menschen, die „auf Russisch denken und reden“. Diese Welt bekam einen Namen: russki mir – die „russische Welt“. 

    Analog zur Frankophonie oder zum British Commonwealth war die „russische Welt“ ursprünglich ein Kulturkonzept. Es war die Idee einer friedlichen Wiederherstellung der Identität Russlands, Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und Einbindung seiner in der ganzen Welt zerstreuten Diaspora.

    Es kam anders: Bereits seit den frühen 2000er Jahren hat der Kreml immer wieder versucht, diese Idee zu instrumentalisieren, sie ideologisch aufzuladen und zur Durchsetzung des russischen Einflusses im postsowjetischen Raum einzusetzen. Historiker Ilja Budraitskis zeichnet für das Onlinemedium Posle (dt. Danach) die Geschichte und Umwandlung von russki mir von seiner Entstehung in den 1990er Jahren bis zum Angriffskrieg gegen die Ukraine nach.


    Collage © Posle.Media
    Collage © Posle.Media

    In seiner Rede kurz vor Kriegsbeginn bezeichnete Wladimir Putin die Ukraine als „integralen Bestandteil unserer Geschichte, Kultur und unseres geistigen Raums“. Daraus ergibt sich für ihn eine unmittelbare militärpolitische Folgerung: Die Grenzen dieses „geistigen Raums“ müssen mit den Staatsgrenzen der Russischen Föderation übereinstimmen. Die Idee einer Einheit von Kultur und Armee, von Staat und Sprache, von nationaler Identität und Staatsbürgerschaft ist bekannt als Doktrin des russki mir – der „russischen Welt“. In den letzten zwei Jahrzehnten wurde sie vom Kreml konsequent verfolgt, bis sie endgültig zu einem Schlüsselelement wurde, das einem ganzen Volk sein Existenzrecht abspricht und einen Angriffskrieg rechtfertigt. Was verbirgt sich hinter dem Konzept der „russischen Welt“, und wie ist es entstanden?

    Russisch sprechen, denken und fühlen

    Der Begriff russki mir taucht in Moskaus intellektuellen Kreisen bereits in den 1990er Jahren auf, als Reaktion auf das Bedürfnis nach einer umfassenden kulturellen Definition der russischen Identität, die sich von nationalistischen und revanchistischen Definitionen abheben sollte. Anfang der 2000er Jahre wurde das Konzept jedoch um neue Inhalte erweitert und allmählich zur offiziellen Staatsdoktrin entwickelt. Im Oktober 2001 erläuterte Putin auf dem sogenannten „Weltkongress der [im Ausland lebenden] Landsleute“ zum ersten Mal sein Verständnis dieser Doktrin: Die „russische Welt“ bestehe aus Millionen von Menschen außerhalb der Russischen Föderation, die „russisch sprechen, denken und fühlen“. Die Zugehörigkeit zur „russischen Welt“, so Putin, sei eine freiwillige Entscheidung; sie sei „eine Frage der geistigen Selbstbestimmung“. Und weil „Russland konsequent den Weg der Integration in die globale Gemeinschaft und Wirtschaft“ gehe, hätten „unsere Landsleute alle Möglichkeiten, ihrem Heimatland in einem konstruktiven Dialog mit internationalen Partnern zu helfen“. Man merkt Putins Rede an, dass er sich damals viel mehr für die „russisch gesinnten“ Bewohner von London, Paris oder New York interessierte als für den Donbass oder Nordkasachstan. Das Jahr 2001 war so etwas wie Putins Flitterwochen mit dem Westen: Russland unterstützte aktiv die militärische Operation der USA in Afghanistan, während im eigenen Land liberale Wirtschaftsreformen durchgeführt wurden, die auch ausländische Investoren anziehen sollten. Insofern ist die „russische Welt“ auch als einflussreiche und wohlhabende Diaspora zu verstehen, die in einer globalisierten Welt Russland einen wichtigen Wettbewerbsvorteil bringen könnte.

    Das Jahr 2001 war so etwas wie Putins Flitterwochen mit dem Westen

    Die Idee der „russischen Welt“ als „kultureller und menschlicher Ressource“ auf dem Weltmarkt beschrieb detailliert der kremlnahe Polittechnologe Pjotr Schtschedrowizki bereits im Jahr 2000. Er trat als Verfechter der „russischen Welt“ als „humanitär-technologischem Ansatz“ auf und stellte sie dem serbischen Szenario einer „gewaltsamen Lösung territorialer und ethnokultureller Probleme“ entgegen.

    Mitte der 2000er Jahre hatte Putins Russland jedoch als Rohstofflieferant seinen festen Platz in der Weltwirtschaft eingenommen, und die Entwicklung „kultureller Ressourcen“ rückte in den Hintergrund. Gleichzeitig versetzten die „Farbrevolutionen“ 2003 in Georgien und 2005 in der Ukraine der politischen Vorherrschaft Moskaus im postsowjetischen Raum einen schweren Schlag. Das Vertrauen des Kreml in seine informellen Beziehungen zu den lokalen Eliten wurde enttäuscht, während die allmähliche Abkühlung der Beziehungen zum Westen eine aktive Informationskampagne notwendig machte. 

    Die russischsprachige Bevölkerung als Instrument der Einflussnahme 

    Die „russische Welt“ wurde nun vollständig von den politischen Interessen des russischen Staates bestimmt: Die russischsprachige Bevölkerung des nahen Auslands musste zu einem Instrument der Einflussnahme werden, und aus Sympathie für Russland aufgrund seiner Geschichte und Kultur (und in diesem Sinne auch für Russland als Erbe der Sowjetunion) musste Unterstützung für seine Außenpolitik werden. Zu diesem Zweck wurden Mitte der 2000er Jahre Projekte wie die Stiftung Russki Mir, der Fernsehsender Russia Today, das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit und das Rossotrudnitschestwo geschaffen. Jede dieser Institutionen spielte in der Förderung der russischen „Soft Power“ seine eigene Rolle: RT beispielsweise konzentrierte sich auf „alternative Nachrichten“, die die Positionen der westlichen Medien in Frage stellten und für den Kreml günstige Interpretationen des Weltgeschehens anboten, während das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit ein Netzwerk konservativer Experten schuf, die Putins Russland als Bollwerk Europas gegen „Linksliberalismus“ und Feminismus zeichneten.

    Die ‚russische Welt‘ wurde als Konglomerat von ‚Werten‘ verstanden, deren Förderung im Interesse des Staates ist

    Die „russische Welt“ wurde nicht mehr einfach als die internationale Gemeinschaft der Russischsprachigen verstanden, sondern als Konglomerat von „Werten“, deren Förderung im Interesse des Staates ist. Es fand eine „Sicherheits-Politisierung der russischen Welt“ statt, wie die ukrainische Forscherin Vira Ageyeva es nannte: Der kulturelle Einfluss war de facto nicht mehr von der „nationalen Sicherheit“ und dem Schutz vor äußeren Bedrohungen zu trennen. Als der stellvertretende Chef des russischen Generalstabs Alexander Burutin 2008 die Gründung des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit begrüßte, hob er dessen Bedeutung für die „Informationskriege“ hervor, deren Objekt „die Menschen und ihre Weltbilder“ seien.

    Waffe in einem unsichtbaren Krieg

    In dieser Interpretation weichen die Grenzen zwischen „Soft Power“ und „Hard Power“ auf, und die Inhalte der „russischen Welt“ – Sprache, Kultur, das Gefühl einer „Verbindung zu Russland“ – sind nichts anderes mehr als eine Art Waffe in einem unsichtbaren Krieg. In der Interpretation des Kreml ist die „russische Welt“ lediglich eine Antwort auf die Expansion des Westens, der Begriffe wie „demokratische Wahlen“ oder „Menschenrechte“ als Mittel zur Schwächung Russlands einsetze. In dieser Interpretation besitzen „Werte“ keinen Wert an sich, sondern sind Instrumente für nationale Interessen. Und während jeder Menschenrechtsaktivist oder Oppositionelle innerhalb Russlands als Kanal für den westlichen Einfluss gebrandmarkt wurde, wurden die Träger russischer Kultur außerhalb Russlands zu Agenten des politischen Einflusses gemacht.

    Sprache, Kultur, das Gefühl einer ‚Verbindung zu Russland‘ – sind nichts anderes mehr als eine Art Waffe in einem unsichtbaren Krieg

    Nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs im Donbass 2014 ist die „russische Welt“ endgültig von den Zeichen der „Soft Power“ befreit und zum Irredentismus geworden – das heißt zu einem Programm zur Wiedervereinigung verlorener „historischer Gebiete“, wenn nicht innerhalb der Russischen Föderation, so doch in der direkten Umlaufbahn ihrer politischen und militärischen Präsenz. Patriarch Kirill erklärte in einer Rede, die „russische Welt“ sei „eine eigene Zivilisation von Menschen, die sich heute mit unterschiedlichen Namen bezeichnen – Russen, Ukrainer und Weißrussen“. Die Zugehörigkeit zur „russischen Welt“ ist in dieser Lesart keine Frage der persönlichen Entscheidung, sondern durch das Schicksal – per Herkunft und Geburtsort – bereits vorbestimmt. Für den Kreml-Strategen Wladislaw Surkow ist die „russische Welt“ überall dort, wo man „die russische Kultur schätzt, die russischen Waffen fürchtet und unseren Putin respektiert“. Teil der „russischen Welt“ zu sein bedeutet also, in irgendeiner Form ein Untertan Putins zu sein, seine Autorität anzuerkennen und sich ihr zu unterwerfen. Man kann sich keine Formel vorstellen, die den völligen Zusammenbruch aller bisherigen Vorstellungen von der „russischen Welt“ als „Soft Power“ deutlicher offenbaren würde: Russland darf nicht einfach für seine hohe Kultur geliebt werden, auch sein politisches und soziales Modell findet niemand attraktiv, dafür ist es in der Lage, mit seiner militärischen Macht Angst und Schrecken zu verbreiten.

    Scheitern der „russischen Welt“

    Die staatlichen Institute, die seit einem Jahrzehnt mit dem Aufbau der „russischen Welt“ betraut sind, haben sich als fruchtlos erwiesen, als ein weiterer Mechanismus zur Einverleibung riesiger Haushaltssummen. Selbst die Russisch-Orthodoxe Kirche, von der sich unmittelbar nach Kriegsbeginn Millionen ukrainischer Mitglieder abwandten, erlitt einen moralischen Bankrott. Das Scheitern der „russischen Welt“ als „Soft-Power“-Strategie ist jedoch nicht allein auf Korruption zurückzuführen, sondern vor allem auf die antidemokratische Weltsicht der russischen Staatselite, die zutiefst davon überzeugt ist, dass das einfache Volk unter keinen Umständen sein eigenes Schicksal bestimmen darf. Die eigentliche „russische Welt“ – die zig Millionen russischsprachigen Menschen – wurde nicht als Partner in einem gleichberechtigten Dialog, sondern als „Aktiva“ des Staates gesehen, die es zu verwalten und zu seinem Vorteil zu nutzen gilt. 

    Das Scheitern der ‚russischen Welt‘ als ‚Soft-Power‘-Strategie ist jedoch nicht allein auf Korruption zurückzuführen

    Heute ist diese „russische Welt“ buchstäblich zur Geisel und zum Opfer eines Staates geworden, der einen verbrecherischen Krieg führt. Es waren vor allem russischsprachige Ukrainer, die unter den russischen Bomben in Mariupol und Charkiw starben oder flüchten mussten. Die Logik des Kreml läuft auf eine grausame Formel hinaus: Wenn man die „russische Welt“ nicht unterwerfen kann, dann muss man sie zerstören. Daraus folgt, dass die russische Kultur und Sprache nur dann eine Zukunft haben können, wenn man sie auf den Trümmern des Putin-Staates aufbaut. 

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  • Der Abgrund ist bodenlos

    Der Abgrund ist bodenlos

    Die Repressionsmaschinerien des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko und die seines russischen Kollegen Wladimir Putin werden schon lange miteinander verglichen. In Belarus rollt seit der Niederschlagung der Proteste im Jahr 2020 eine ungeheure Repressionswelle gegen jeglichen vermuteten Widerstand, die russische Führung hat auf ihrer Seite die Maßnahmen gegen Medien, Zivilgesellschaft und Andersdenkende vor allem seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine verschärft. Für Meduza erklärt der belarussische Politikanalyst Artyom Shraibman detailreich die Eigenheiten und Formen der Repressionen in Belarus – die möglicherweise als Blaupause für die Ausweitung der Unterdrückung in Russland dienen könnten.


    Die Nachricht, dass der Politiker Wladimir Kara-Mursa zu 25 Jahren Straflager verurteilt wurde und Alexej Nawalny vermutlich ein vergleichbares Verdikt erwartet, ruft bei vielen Russen Angst und Befremden hervor. Für die Belarussen bestätigt sich wieder einmal der schon zum Klassiker gewordene, traurige Witz über die beiden Regime und die Fernsehserie. 

    In einem Interview mit Juri Dud erklärte der belarussische Comedian Slawa Komissarenko den Unterschied zwischen dem belarussischen und dem russischen Regime so: 

    Wir schauen beide dieselbe Serie, aber ihr seid bei der dritten Staffel und wir schon bei der fünften. Und manchmal schauen wir zu euch rüber und sagen: „Oh, bei euch wird es bald auch ziemlich interessant!“

    Das ist nicht nur ein Witz. Betrachtet man das Ausmaß und die Brutalität der Repressionen, hat Belarus tatsächlich fast auf allen Etappen von Lukaschenkos Regierungszeit Wladimir Putins Regime übertroffen. Eine Ausnahme stellte lediglich der kurze Zeitraum von 2015 bis 2019 dar, als Minsk versuchte, sich korrekter zu benehmen, um das Verhältnis zum Westen aufzubessern. Doch danach wurde die „Balance“ wiederhergestellt. Die gescheiterte Revolution 2020 rief Repressionen einer Intensität hervor, die in der poststalinistischen Geschichte sowohl in Russland wie auch in Belarus ihresgleichen sucht. 

    Obwohl, eine Ausnahme gibt es noch, nämlich geplante Morde an Journalisten und Politikern. Für Belarus war und bleibt das eine eher untypische Maßnahme, die Minsk nur ein einziges Mal ergriff – in den Jahren 1999-2000, als das Regime zwei belarussische Politiker, Viktor Gontschar und Juri Sacharenko, sowie den Journalisten Dimitri Sawadski und den Geschäftsmann Anatoli Krassowski verschwinden ließ und vermutlich auch ermordete. Damals zeigten selbst die offiziellen Ermittlungen, dass die Lukaschenko nahestehenden Silowiki Viktor Scheiman und Dimitri Pawlitschenko in die Sache verwickelt waren. In Putins Russland dagegen standen Morde an Politikern, Journalisten und Überläufern durch den Geheimdienst – oder gescheiterte Versuche, sie zu verüben – immer schon auf der Tagesordnung.

    Bei allen anderen repressiven Praktiken sind die belarussischen Silowiki grausamer und weniger selektiv – und haben damit vor den russischen Kollegen gewissermaßen einen Vorsprung. Man kann nicht behaupten, dass sie ihre Erfahrungen austauschen. Um neue Formen der Gewaltanwendung und der Menschenrechtseinschränkung zu finden, müssen sich die russischen Silowiki ihre nächsten Schritte nicht unbedingt von den Belarussen abschauen, es gibt da keine Patente und kein Knowhow. Jedes Regime verfolgt da seinen eigenen Plan. Doch da die belarussischen Silowiki diesen Weg schon früher eingeschlagen haben, ist die Beobachtung ihrer Methoden sinnvoll für Russen, die verstehen möchten, wie ihr eigenes Regime möglicherweise weiter degradieren wird. 

    Folter – für die Silowiki Routine

    Zunächst kam es in Belarus zu einer Normalisierung von physischer Gewalt bei Festnahmen, in den Polizeidezernaten und Untersuchungshaftanstalten. Folter und Prügel sind auch für russische Silowiki nichts Neues, doch in Belarus ist Gewaltanwendung bei Festnahmen aus politischen Gründen seit 2020 Routine. Es passiert nicht mit jedem, aber mit zu vielen, um es bloß als Exzesse einzelner Beamter abzutun. 

    Während der Proteste 2020 war das Verprügeln der Festgenommenen eine zusätzliche präventive Maßnahme. Die 15 Tage Haft sollten nicht wie eine zu schwache Bestrafung wirken, die den Protestierenden keine Lektion erteilt. Heute wird häufig geschlagen und gefoltert, wenn sich jemand weigert, sein Mobiltelefon zu entsperren. Ein weiterer Grund kann schlichte Bosheit oder Rache der Silowiki für angebliche Beleidigungen sein, zum Beispiel, wenn sie jemanden verdächtigen, persönliche Daten von Mitarbeitern des Innenministeriums geleakt zu haben. 

    Neben der Gewalt ist auch die demonstrative Erniedrigung der Verhafteten auf Video zur gängigen Praxis geworden. Im Juni 2022 wurde ein Häftling vor laufender Kamera gezwungen, mit Nadeln und Tinte eine Tätowierung mit einem Hakenkreuz zu entfernen. Anderen Aktivisten malte man zur Aufnahme von „Reue-Videos“ etwas ins Gesicht oder klebte ihnen Protestutensilien an.

    Die Gefangenen werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr

    Zur physischen Gewalt kann man auch die Haftbedingungen der politischen Gefangenen rechnen, die Arreststrafen verbüßen. Die Menschen verbringen die langen Wochen ihres Freiheitsentzugs – teilweise mehrere 15-tägige Fristen nacheinander – in überfüllten Zellen, ohne Bettzeug und Matratzen, ohne Dusche, Ausgang und Pakete von Angehörigen (manchmal werden Medikamente durchgelassen), ohne Recht auf Korrespondenz und Treffen mit einem Anwalt. Sie werden zweimal pro Nacht geweckt, das Licht brennt rund um die Uhr. Viele beklagen die Folter durch Kälte, wenn sie ohne warme Kleidung in unbeheizte Zellen gesperrt werden. Auch die Strafgefangenen unterliegen vielen Einschränkungen, doch das Haftregime der „Arresthäftlinge“ ist bislang deutlich strenger. 

    Alle sind jetzt „Extremisten“

    Anfang Mai 2023 zählen belarussische Menschenrechtler fast 1500 politische Gefangene im Land (bei einer Bevölkerung von etwas mehr als neun Millionen). Dabei räumen selbst die Menschenrechtler ein, dass diese Zahl zu niedrig angesetzt ist, da viele Angehörige  die Festnahmen lieber nicht öffentlich machen, um die Haftbedingungen nicht zu verschlimmern. 

    Die Mehrheit der politischen Gefangenen wurde aufgrund zweier Tatbestände verurteilt – wegen Teilnahme an den Protesten 2020 und nach den sogenannten Diffamierungsparagrafen, also dem Vorwurf der „unangemessenen Meinungsäußerung“. Das sind die Paragrafen zur „Beleidigung des Präsidenten“ und einzelner Amtsträger sowie zum „Schüren von Hass“ gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen (gemeint sind wohl die Silowiki) und – in letzter Zeit immer öfter angewandt – der Paragraf zur „Diskreditierung der Republik Belarus“.

    Das Schüren von Hass wird dabei so breit wie nur möglich ausgelegt. Es kann ein zu grobes Wort in Bezug auf die Sicherheitskräfte in den sozialen Netzwerken oder in einem Nachbarschafts-Chat sein. Hunderte Menschen sitzen im Gefängnis, weil sie in den sozialen Netzwerken Freude über den Tod eines Angehörigen der KGB-Spezialeinheit geäußert haben, der bei der Stürmung der Wohnung des Minsker Informatikers Andrej Selzer im Herbst 2021 erschossen wurde, oder weil ihnen Selzer leid tat, der erschossen wurde, als die Spezialkräfte das Feuer erwiderten.

    Es genügt an einem der Sonntagsmärsche teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten

    Die Teilnahme an den Protesten wird in Belarus zum Verbrechen, sobald man während der Aktionen eine Straßenspur betreten hat. Dann greift nämlich Artikel 342 der Strafprozessordnung, „Organisation, Vorbereitung oder aktive Teilnahme an Handlungen, die die gesellschaftliche Ordnung stören“. Dieser Artikel wird inzwischen aufgrund der großen Zahl von Menschen, die nach ihm verurteilt werden, „Volksartikel“ genannt. Es genügt, in Minsk oder einer anderen Stadt, an einem der großen Sonntagsmärsche 2020 teilgenommen zu haben, um bis zu vier Jahr Gefängnisstrafe zu erhalten. Bis heute werden nach diesem Paragrafen Verhaftungen vorgenommen: Die Silowiki finden immer neue Fotos von diesen Märschen und identifizieren die Menschen, die teilweise schon vergessen haben, dass sie überhaupt auf der Straße waren. 

    Ähnlich wie in Russland, doch in weit größerem Ausmaß, nutzen die belarussischen Machthaber die Extremismusgesetze zur Repression. Fast alle nichtstaatlichen Medienunternehmen sind bereits als „extremistisch“ eingestuft (zum Beispiel Zerkalo.io, Nasha Niva, Radio Svaboda, Belsat), ebenso populäre Telegramkanäle (Nexta, Belarus golownogo mosga), Blogs (zum Beispiel die der Oppositionspolitiker Swetlana Tichanowskaja und Waleri Zepkalo) und selbst einzelne Chatgruppen, darunter Nachbarschafts-Chats in Wohngebieten, wenn darin irgendwann Protestaktivitäten besprochen wurden. 

    Ein Ehepaar saß mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet haben

    Das Abonnement einer „extremistischen“ Quelle auf Telegram ist ein Straftatbestand. Um das nachzuweisen, fordern die Silowiki bei der Festnahme meist die Entsperrung des Mobiltelefons, überprüfen die Abonnements in den Messenger-Apps und versuchen, gelöschte Daten wiederherzustellen. 2021 saß ein Ehepaar insgesamt mehr als 200 Tage in Haft, weil sie einander in einem privaten Chat Nachrichtenartikel weitergeleitet hatten. 

    Noch schlimmer ist dran, wer Gemeinschaften oder Organisationen angehörte, die als „extremistisch“ gelten, oder mit ihnen zusammenarbeitete. Das betrifft auch Personen, die unabhängigen Medien Kommentare oder Informationen lieferten, selbst wenn es nur ein Foto von einer Schlange vor einem Geschäft ist. Ein führender Militärexperte, Jegor Lebedok, sitzt eine fünfjährige Haftstrafe ab, weil er dem „extremistischen“ Euroradio einige Interviews gab. Die Ehefrau des (zu 15 Jahren verurteilten) Bloggers Igor Lossik, Darija Lossik, wurde zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil sie dem Fernsehsender Belsat über ihren Mann berichtete. Die vierjährige Tochter der beiden blieb dadurch ohne Eltern zurück und lebt nun bei den Großeltern. 

    Für „extremistisch“ hält die belarussische Regierung auch Solidaritätsfonds wie BySOL und ByHelp, die Spenden zur Unterstützung der Repressionsopfer von 2020 sammeln. Damit wird jede Spende auch im Nachhinein zum Verbrechen, auch wenn der „Extremismus“ dieser Fonds erst 2021 festgestellt wurde, nachdem ein Großteil der Spenden schon eingegangen war. Doch da Zehntausende gespendet haben und viele von ihnen aus der IT-Branche kommen, also im Falle einer Verhaftungswelle das Land schnell verlassen würden, verzichten die Machthaber auf Strafverfahren und ziehen ihnen lieber Geld aus den Taschen. Personen, deren Bankdaten bei Spendenüberweisungen genutzt werden, erhalten systematisch Besuch vom KGB und werden aufgefordert, für die staatliche Wohltätigkeit zu  „spenden”. Dabei werden weit höhere Summen verlangt, als die Repressionsopfer empfingen. Wer ein Geständnis unterschreibt, entkommt einem Strafverfahren, aber das Geständnis eines begangenen „Verbrechens“ bleibt für die Silowiki ein praktisches Druckmittel für die Zukunft.

    Sie liquidieren Vereine von Umweltschützern, Menschen mit Behinderungen, Vogelkundlern und Fahrradfahrern

    Ein weiterer Hebel zur Vernichtung des Dritten Sektors ist, neben den Extremismusparagrafen, die banale Zerstörung der nichtstaatlichen Strukturen. Die belarussischen Machthaber gehen diese Frage nicht gezielt an und spielen auch nicht mit hybriden Formen der Repression, wie etwa der Erklärung von Personen zu „ausländischen Agenten“. Vielmehr liquidieren die Silowiki seit Juni 2021, als die EU ein weiteres Sanktionspaket verabschiedete, hunderte NGOs, selbst solche, die weit abseits aller „politischen“ Strukturen agieren. Zum Beispiel Vereine von Umweltschützern und Historikern, Kulturorganisationen und wohltätige Stiftungen, Vereine von Menschen mit Behinderungen, Vereinigungen von Polen und Litauern in Belarus, Vereinigungen von Stadtforschern, Vogelkundlern und Fahrradfahrern. Die Tätigkeit im Namen einer nichtregistrierten Organisation ist ebenfalls eine Straftat. 

    Das Regime der Stille

    Alle genannten repressiven Praktiken sind auch in Russland bekannt – wenngleich nicht im selben Ausmaß. Doch das belarussische Regime ergreift oft eine Reihe weiterer Maßnahmen, die in Russland bislang nicht regelmäßig angewandt werden. 

    Viele aufsehenerregende Gerichtsprozesse werden in den letzten Jahren in Belarus unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt – nicht einmal die Verwandten der Angeklagten sind zugelassen. Dadurch ist es unmöglich, Näheres über die Anklage zu erfahren, selbst die Namen politischer Häftlinge bleiben manchmal unbekannt. In öffentlichen Gerichtsverhandlungen ist es Polizisten, die oft typisierte Zeugenaussagen vorlesen (der Angeklagte sei „die Straße entlanggelaufen, habe geflucht und sich der Festnahme widersetzt“), häufig erlaubt, ihre Aussage unter Pseudonym und mit Maske zu machen, damit sie nicht identifiziert werden. 

    In einem „Regime der Stille“ versucht man auch bekannte politische Gefangene, Oppositionsführer, zu versenken. Häufig wird ihren Anwälten die Lizenz entzogen oder sie werden selbst festgenommen. Regelmäßige Twitter-Nachrichten, wie bei Alexej Nawalny, sind in Belarus undenkbar: Für den Versuch, eine politische Botschaft aus dem Straflager zu schmuggeln, kann ein Anwalt seine Zulassung verlieren oder selbst hinter Gitter kommen. 

    Eine weitere belarussische Eigenheit ist die Todesstrafe, die in Russland aktuell mit einem Moratorium belegt ist. Im Frühling 2022 wurde in Minsk entschieden, ihren Anwendungsbereich auszuweiten. Jetzt kann die Höchststrafe nicht nur für brutale Morde, sondern auch für den „Versuch eines Terroranschlags“ verhängt werden, seit März 2023 zusätzlich auch für „Staatsverrat“. Bislang gibt es aber keine Fälle, in denen diese Strafe verhängt wurde. 

    Anfang 2023 nahm Minsk die sowjetische Praxis wieder auf, politischen Emigranten die belarussische Staatsbürgerschaft zu entziehen, die sie von Geburt an hatten. Das Gesetz tritt im Juli 2023 in Kraft. Voraussichtlich wird es auf führende Oppositionspolitiker im Exil angewandt, die zur Einleitung dieser Prozedur bereits in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. 

    Angeblich politisch Illoyale werden systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen

    Bei einigen weniger brutalen Formen der Repression zeichnen sich die belarussischen Silowiki durch Akribie und eine totalitäre Herangehensweise aus. Beispielsweise haben sie ein Register von hunderttausenden Belarussen angelegt, die irgendwann einmal wegen angeblicher politischer Illoyalität auf den Radar gekommen sind, ob sie nun an den Protesten teilgenommen und dafür eine Nacht gesessen oder einfach vor den Wahlen 2020 für einen alternativen Präsidentschaftskandidaten unterzeichnet haben. Seit 2021 werden diese Menschen, je nach Schwere ihrer „Sünde“, systematisch aus staatlichen Beschäftigungsverhältnissen entlassen, aus Banken, Staatsunternehmen, medizinischen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, inklusive dem Verbot, je wieder im staatlichen Sektor Anstellung zu bekommen. 

    Auch ethnische Gruppen werden vermehrt ins Visier genommen. Ukrainer, die in staatlichen Organisationen arbeiten oder einfach schon länger in Belarus leben, berichteten von Befragungen beim KGB, zum Teil unter Einsatz von Lügendetektoren – damit sollen potentielle Informanten der ukrainischen Geheimdienste aufgespürt werden. Angestellte staatlicher Institutionen mit polnischen Wurzeln, die über eine Karta Polaka verfügen (ein Dokument, das Vereinfachungen bei der Einreise nach Polen gewährt), berichten, dass sie auf diese Karte verzichten müssen, um ihre Arbeit zu behalten. 

    Der Abgrund ist endlos

    Ob Putins Regime exakt den Weg des belarussischen Systems einschlagen wird, ist unvorhersehbar. In Belarus gab es einen nachvollziehbaren Auslöser für den Ausbruch der Repressionen – den Revolutionsversuch von 2020. In Russland wurden die Repressionen im Kontext des Kriegs verschärft. Doch es besteht ein reales Risiko, dass den Russen eine viel breitere Eskalation der inneren Repressionen erwartet, sobald der Kreml sein Potential auf dem ukrainischen Schlachtfeld als erschöpft betrachtet und die Frustration über diesen Misserfolg irgendwohin kanalisiert werden muss. Zum Beispiel auf die verstärkte Säuberung des Landes von „Verrätern“ und „inneren Feinden“, die dem gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Sieg der Armee im Wege stehen. 

    Die wichtigste belarussische Lektion ist, dass der Abgrund bodenlos ist. Die „roten Linien“ von gestern haben heute keinen Bestand mehr, einzelne Exzesse der Exekutive werden zur Norm. Die Gesellschaft passt sich an die Brutalität des Regimes an, und unter der Last der täglichen Nachrichten ertappen sich die Menschen bei einer erschreckenden Erleichterung, wenn jemand statt zehn Jahren Haft nur zwei bekommen hat. 

    Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel

    Das Regime weiß vielleicht selber nicht immer, wie weit es die Schrauben anziehen kann, aber es wird die Grenzen des Erlaubten nach und nach verschieben. Repressionen verhalten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für eine Ausdehnung gibt, erreicht es jeden Winkel, bis die herrschenden Eliten oder die Gesellschaft Widerstand leisten.  

    Und das geschieht nicht immer, weil ein konkreter Verbrecher beschlossen hat, den Terror auf die Spitze zu treiben. Repressionen sind ein sich selbst erzeugender Mechanismus. Sie bringen die Klasse ihrer Profiteure hervor – der karriereversessenen Silowiki, für die der Kampf gegen die „Feinde“ zum Karrierebooster und zum Stachanow-Wettbewerb untereinander wird. Wenn solche Stimuli erst im System wirken, braucht es keine Kommandos von oben mehr, um neue Formen der Gewalt zu entwickeln. 

    Die menschliche Psyche hält sich an den üblichen, wenn auch informellen Normen der Koexistenz mit dem Staat fest. Doch die belarussische Erfahrung lehrt, dass diese Normen äußerst labil sind, wenn die Machthaber in den Abgrund der Reaktionen rollen, die Gesellschaft aber zu atomisiert und zu verängstigt ist, um Widerstand zu leisten. Die Unfähigkeit, rechtzeitig zu begreifen, dass frühere Tabus nicht mehr aktuell sind, hat viele Belarussen die Freiheit gekostet. Sie konnten nicht rechtzeitig vor der Bedrohung fliehen, weil sie es einfach nicht für möglich hielten, dass es so etwas geben kann.

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