Wladimir Putin gibt der ukrainischen Regierung die Schuld am blutigen Terroranschlag in der Crocus City Hall. Bei einer Videokonferenz mit Regierungsmitgliedern und Leitern der Sicherheitsbehörden sagte er am Montag: „Wer profitiert davon? Diese Übeltat kann bloß ein Glied sein in einer ganzen Kette von Versuchen derer, die seit 2014 mittels des Kiewer Neonazi-Regimes gegen unser Land kämpfen.“ Putin sagt zwar, dass die Täter radikale Islamisten waren, doch die Hintermänner sieht er in Kyjiw und Washington: „Es geht darum, Panik in unserer Gesellschaft zu schüren und gleichzeitig dem eigenen Volk zu zeigen, dass für das Kiewer Regime noch nicht alles verloren ist.“
Auch russische Staatsmedien wiederholen diese These der „ukrainischen Spur“ – ebenfalls ohne dafür Beweise zu präsentieren. Terrorismusforscher wie Peter Neumann vom Londoner King’s College halten eine solche Version für absurd und sehen gewichtige Indizien für eine Urheberschaft der Tat bei der Terrororganisation Islamischer Staat.
Auch Ruslan Lewijew hält die These der „ukrainischen Spur“ für unsinnig. Lewijew ist Gründer des unabhängigen Investigativ-Netzwerks Conflict Intelligence Team (CIT), das sich seit 2014 mit seinen Open-Source-Recherchen zu den russischen Kriegseinsätzen in der Ukraine und in Syrien einen Namen gemacht hat. Im Interview mit Republic spricht Lewijew darüber, warum Putin die Warnungen der US-Geheimdienste über einen bevorstehenden Terroranschlag ignoriert hat und warum der Islamische Staat insbesondere seit Russlands Beteiligung im Syrienkrieg durchaus Motive hat, Anschläge in Russland zu verüben.
Farida Kurbangalejewa, Republic:Putin hat vor wenigen Tagen vor führenden FSB-Generälen erklärt, bei den Warnungen über in Russland geplante Terroranschläge handle es sich um Täuschungsmanöver westlicher Staaten. Haben Sie eine Erklärung für dieses Verhalten?
Ruslan Lewijew: Er versucht, jede Nachricht für die Propaganda in Russland zu nutzen. Denn wir befinden uns ja angeblich in einer Art Krieg mit dem Westen, das haben hochrangige Staatsbeamte oft verlautbaren lassen. Und Amerika immer mal mit etwas in Zusammenhang zu bringen, ist für Putin ja ganz nett. In den vielen Jahren beim KGB und dann auf dem höchsten Posten in Russland waren Menschen um ihn versammelt, die ihm das liefern, was er sehen und hören will: Dass die westlichen Geheimdienste listige Taktiken verfolgen. Ich glaube, dass er bereits selbst an die Welt glaubt, die er geschaffen hat, eine absolute Fantasiewelt, die aus seiner Propaganda und seinen Lügen besteht. Das heißt, dass er die Realität nicht so wahrnimmt, wie sie ist.
Welche Vorwürfe erhebt der IS-Khorasan (ISPK) gegen Russland? Ich habe mir vor unserem Gespräch eine Auflistung ihrer Terroranschläge angesehen – hauptsächlich fanden die in Afghanistan und Pakistan statt. Warum jetzt plötzlich in Russland?
Leider ist das ein Punkt, bei der ein Großteil der russischen Gesellschaft nicht aufgepasst hat. Wir [CIT – dek] analysieren Russlands Vorgehen in Syrien seit 2015. Dabei wurde auch deutlich, wie die russische Gesellschaft, einschließlich der unabhängigen Medien dieses Thema ignoriert haben.
Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen
Die Russen haben regelmäßig Stellungen von IS-Kämpfern und von Al-Qaida attackiert. Aber vor allem haben sie die Freie Syrische Armee angegriffen. Also die Soldaten, die gegen Bashar al-Assads Regime kämpften. Dabei haben die russischen Soldaten ihre Waffen wahllos eingesetzt. Das ist auch jetzt der Fall, wenn die russische Armee ukrainische Städte bombardiert. Und da die syrischen oppositionellen Gruppen nicht über Luftabwehrsysteme verfügen, konnte sie dort noch freier die Städte überfliegen und Bomben abwerfen.
Es gab Massen von Bildern, wie russische Flugzeuge Bomben abwarfen, die auf Wohnviertel, Märkte und Krankenhäuser fielen. Menschen werden in Stücke gerissen und sterben, darunter auch Kinder. Dann kommt der Zivilschutz – die Weißhelme, die in Russland als Unterstützer der Terroristen bezeichnet werden. Sie versuchen, Menschen aus den Trümmern zu retten, und die russische Luftwaffe wirft erneut Bomben auf sie. Auch die Retter kommen ums Leben.
Wir haben schon damals gesagt, dass diese Aktionen weitreichende Folgen für Russland haben werden. Dass die Terror-Gruppen anfangs „Tod für Amerika“ skandierten und dazu aufriefen, den imperialistischen Westen und all diese Ungläubigen zu bekämpfen. Aber seitdem die Russische Föderation [in Syrien – dek] eingegriffen hat, hat sich ihr Fokus sofort auf Russland verlagert. Jetzt heißt es „Tod für Russland für das, was es den Muslimen antut“.
Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland verübt werden
Die Menschen in Russland haben es damals überhaupt nicht mitbekommen, aber die muslimische Welt hat sich das gut gemerkt und sie wird sich noch über Generationen hinweg daran erinnern. Die Islamisten werden ihre Propaganda dafür einsetzen, dass mehr Terroranschläge gegen Russland und gegen Russen verübt werden. Ich bin mir absolut sicher: Selbst wenn das Putin-Regime in den nächsten Jahren fällt und ein demokratischer Präsident an die Macht kommt – die Terroranschläge in Russland werden trotzdem weitergehen. Weil sich für die Terroristen dadurch nichts ändert. „Es sind doch dieselben Russen, die Muslime bombardiert haben. Und überhaupt: Es sind Ungläubige, also muss man weiterhin Terroranschläge verüben“. Das ist für sie die Hauptsache.
Seitdem Putin an der Macht ist, hat es viele Terroranschläge gegeben, besonders viele gab es aber vor 2014. Denn dann begann der Krieg in Syrien, und viele Anhänger des radikalen Islam gingen dorthin, um zu kämpfen. In der Folge wurde es in Russland relativ ruhig. Müssen wir damit rechnen, dass jetzt die Zeiten zurückkommen, in denen es regelmäßig Bombenanschläge gibt? Wie am Flughafen Domodedowo im Jahr 2011 oder in Wolgograd im Jahr 2013?
Tatsächlich gab es weiterhin kleinere Terroranschläge: Zum Beispiel 2016, als eine Kinderfrau in Moskau einem Dreijährigen den Kopf abschlug und dann mit dem abgetrennten Kopf durch die Straßen lief und rief: „Das ist für das, was ihr in Syrien tut.“ Im selben Jahr ermordete ein Terrorist den russischen Botschafter in der Türkei: Er schoss ihm in den Rücken und rief ebenfalls, dies sei für das, was Russland in Syrien tue. Es gab weitere Terroranschläge, zum Beispiel in den Regionen des Nordkaukasus, die ebenfalls unbemerkt blieben, weil die Medien ihre Schwerpunkte anderswo legten.
Es sieht tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück
Aber grundsätzlich stimme ich Ihnen zu. Offensichtlich haben viele Menschen, die sich zu radikalen Strömungen des Islam bekennen, versucht, nach Syrien zu gehen, weil in diesem Krieg die wichtigste Schlacht geschlagen wurde. Vor diesem Hintergrund ging die Zahl großer Terroranschläge in Russland zurück. Und jetzt sieht es tatsächlich so aus, als käme die Zeit vor zehn Jahren zurück.
Tatsächlich ist Russland hier kein Sonderfall. Erst vor ein oder zwei Monaten sollen Anschläge in Deutschland vereitelt worden sein. Das zeigt, dass Terroristen jetzt auf der ganzen Welt aktiv sind. Aber natürlich haben sie Russland ganz besonders im Visier.
Umso mehr als der IS-Ableger Khorasan vor allem in Afghanistan aktiv ist. Dort tritt er als erbitterter Gegner der herrschenden Taliban auf. Deren wichtigster Verbündeter wiederum ist Russland. Das Problem ist, dass die Taliban ebenfalls ein repressives Regime errichtet haben. Viele Kämpfer der Taliban und von Al-Qaida laufen zum Khorasan über, weil sie der Ansicht sind, dass die Taliban die Scharia falsch auslegen. In der Folge planen sie dann neue Terroranschläge gegen Russland.
Welche Folgen wird dieser Anschlag haben?
Zunächst wird es natürlich Druck auf die Migranten [in Russland] geben: Razzien in ihren Unterkünften, Kontrollen in der Metro und im öffentlichen Nahverkehr. Vielleicht werden sie auch an der Grenze strenger kontrolliert. Und natürlich werden die repressiven Gesetze jetzt verschärft umgesetzt: Überwachung, Kontrolle von Medien und Messengern. Das sind die Maßnahmen, mit denen man jetzt zuerst rechnen muss.
Der Terror ist zurück in Russland: Am Abend des 22. März 2024 dringen bewaffnete Männer in den Konzertsaal Crocus City Hall am Stadtrand von Moskau und töten mindestens 137 Menschen. Es ist das blutigste Attentat seit den Terrorattacken der 2000er Jahre wie etwa den Geiselnahmen im Dubrowka-Theater 2002 oder in der Schule von Beslan 2004.
Zu der Tat hat sich die Terrororganisation Islamischer Staat bekannt. Gleichzeitig deuten Kreml und Staatsmedien auf eine angebliche Spur in die Ukraine, jedoch ohne dafür Beweise zu liefern. In russischsprachigen Sozialen Medien spekulieren außerdem viele User, ob nicht sogar der Inlandsgeheimdienst FSB dahinter steckt, und sehen eine Parallele zu den Explosionen von Wohnhäusern 1999.
Am Sonntag, zwei Tage nach dem Anschlag, wurden vier der mutmaßlichen Täter dem Moskauer Basmanny-Gericht vorgeführt. Alle trugen offensichtliche Spuren von Misshandlung und Folter: Blutergüsse, Schürfwunden, eine geschwollene Wange, einer der Beschuldigten wurde gar im Rollstuhl in den Gerichtssaal gebracht, ein anderer hat einen Verband über dem Ohr. Zuvor kursierten auf Telegram Aufnahmen, wonach einem der mutmaßlichen Täter bei einem Verhör ein Ohr abgeschnitten und ihm in den Mund geschoben wurde. Eine andere Aufnahme soll einen Beschuldigten zeigen, der mit heruntergelassener Hose auf dem Boden liegt und mit Strom an den Genitalien gefoltert wird. Von einem CNN-Journalisten auf die Folterspuren der Beschuldigten angesprochen, sagte Kremlsprecher Dimitri Peskow: „Ich lasse diese Frage unbeantwortet.“
Was so eine zur Schau gestellte Brutalität bedeutet und was sie über den russischen Staat verrät, fragt der Politologe Kirill Rogow in einem Kurzkommentar auf Facebook. Kirill Rogow ist Direktor des Portals Re:Russia und Gastwissenschaftler am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.
Zu den verbreiteten Mythen über Putin gehört, dass er Judo betrieb und dort eine Technik gelernt habe, bei der man den Angriff des Gegners dazu nutzt, die Energie seines Angriffs gegen ihn anzuwenden. Dieser Quatsch wurde hunderte Male wiederholt. Trotzdem bin ich der Meinung, dass da wenig Wahres dran ist. Dabei hat Putin wirklich eine ganz spezielle Art, auf Krisen zu reagieren, das ist tatsächlich sein Markenzeichen. Und das ist es wert, dass man sich das mal genauer anschaut.
Die Technik besteht in Folgendem: Wenn eine Krise deine Schwäche aufdeckt, muss die Wut des Vergeltungsschlags auf den losgelassen werden, der sich in Reichweite befindet. Das ist in der Regel nicht der, der für deine Schwäche verantwortlich ist. Doch das spielt keine Rolle. Denn vor allem die Heftigkeit und Wirksamkeit des Schlages sollen den Eindruck deiner Schwäche aufheben, der durch die zuvor erlittene Niederlage entstanden ist. Das ist der Sinn dieser Technik.
Die Wucht des Vergeltungsschlags soll nicht den Gegner beeindrucken, sondern den Zuschauer
Wenn du einen Schlag einstecken musstest, schlage einfach den, dem du in diesem Moment eine verpassen kannst. Und werde wieder Sieger. Dass der Zorn in die völlig falsche Richtung losgeht, ist egal. Die Leute merken das nicht. Sie werden dich als Gewinner sehen und nicht als Verlierer. Das bedeutet: Die Wucht des Vergeltungsschlags soll nicht den Gegner beeindrucken und erschrecken, sondern den Zuschauer.
So auch nach dem Geiseldrama im Moskauer Dubrowka-Theater und der gescheiterten Befreiungsoperation, bei der durch die Inkompetenz der Sicherheitskräfte viele Kinder ums Leben kamen. Putin ging damals plötzlich auf die Leitung des Senders NTW los und beschuldigte sie, die Befreiungsaktion gestört zu haben. Dasselbe geschah nach dem Terroranschlag in Beslan, bei dem mehr als 330 Menschen ums Leben kamen und Putin daraufhin die Gouverneurswahlen in Russland abschaffte.
Wir werden noch erfahren, wer zur Vergeltung ins Visier genommen wird nach der Demütigung Putins, der gewarnt wurde und den Schlag trotzdem nicht abgewehrt hat. Teilweise ist die Logik des Vergeltungsschlags jedoch bereits jetzt erkennbar.
Putins hauptsächliche Reaktion sind tägliche Episoden von öffentlichem Sadismus
Putins hauptsächliche Reaktion auf diesen schrecklichen Terroranschlag sind sich Tag für Tag wiederholende Episoden von öffentlichem Sadismus gegenüber denjenigen, die als Verdächtige im Zusammenhang mit dem Terroranschlag festgenommen wurden. Im Prinzip stammt die gesamte Bildsprache dieser Episoden von den islamistischen Terroristen selbst – das Aufschlitzen von Kehlen und Enthauptungen vor laufender Kamera, die Zurschaustellung von Menschen, die bis an die Grenzen des Erträglichen gefoltert werden. All dies hat die doppelte Funktion, den Terror so darzustellen, wie er ist: als Mechanismus der Einschüchterung, und die Schaffung der Geschlossenheit im Hass. Die von der Präsidialadministration angeregte Errichtung von „spontanen Gedenkorten“ in russischen Städten (wie nach der Ermordung Nawalnys), ergänzt nur das Programm des kollektiven Hasses. Der Terror ist eine Manifestation des Hasses. Terror und Hass bilden das Gegenstück zum Gesetz, sie heben es auf, indem sie etwas über das Gesetz stellen.
Dieser öffentliche Terror wendet sich gleichermaßen gegen sein Objekt [die Terroristen – dek], wie auch gegen diejenigen, die die Unumstößlichkeit des offiziellen Narrativs in Zweifel ziehen. Der Terror richtet sich gegen die russischen Bürger, weil er den Hass als Antwort normal werden lässt. Auch auf ihre Fragen und ihr Nichteinverständnis. Auch in Bezug auf den Terroranschlag.
Denn nach allem, was wir in den letzten Tagen erfahren haben, befremdet Folgendes am meisten: Wenn ihr diese Leute schon so schnell gefasst habt und die so naiv und ungeschickt waren, um richtig vom Tatort zu fliehen – wie kommt es dann, dass ihr den Terroranschlag nicht verhindern konntet? Es liegt doch auf der Hand, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Aber die Bilder vom demonstrativen Sadismus sind dazu da, diese Frage emotional zu verwischen.
Und ihr sprecht von Judo. Ich verstehe nicht, was das mit Judo zu tun hat.
dekoder: Herr Palinchak, ein Soldat schaukelt auf einer Kinderschaukel. Was war da los?
Mykhaylo Palinchak: Im Februar war ich zusammen mit einem Journalisten in einem Dorf nahe der Front im Donbas. Einige Soldaten haben uns eine zerstörte Schule gezeigt. Während mein Kollege Interviews führte und ich Bilder machte, wurde einem der Soldaten langweilig und er setzte sich auf die Schaukel. Als er merkte, dass ich ihn fotografiere, stand er sofort auf.
Beide Bilder strahlen etwas von dem kühnen Widerstandsgeist aus, mit dem die Ukrainer die Welt verblüffen. Manchmal wirkt es, als warteten ausgerechnet wir im Westen auf eine Aufmunterung durch die Ukrainer, um selbst nicht zu verzagen.
Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass ihr eine Wahl habt. Ihr habt die Wahl, hinzusehen, was in der Ukraine passiert, oder wegzuschauen. Die Nachrichten aus der Ukraine zu verfolgen oder nicht. Wir Ukrainer haben diese Wahl nicht. Wir können die Nachrichten nicht einfach abschalten, denn das passiert mitten unter uns. Wir können nicht davor weglaufen. Wir haben keine Wahl als zu kämpfen. Und wer kämpft, braucht Motivation und Hoffnung. Er muss an sich glauben, sonst kämpft er vergeblich.
Der Hund auf dem zweiten Bild hat offenbar die richtige Einstellung. Ist es am gleichen Ort entstanden?
Nein. Das war in einem anderen Dorf an der Grenze zwischen der Oblast Mykolajiw und Oblast Cherson. Anfang März habe ich einige freiwillige Helfer begleitet, die die Menschen in den befreiten Gebieten im Osten versorgen. Wir sind drei Stunden über Land gefahren, bis wir dort ankamen. Das Dorf war besetzt gewesen, bei heftigen Kämpfen wurden fast alle Gebäude zerstört. Heute leben dort noch 25 Menschen. Sie versuchen, ihre Häuser wieder aufzubauen. Das Dorf liegt so weit entfernt von der nächsten größeren Stadt, dass nur selten Hilfe kommt. In Kyjiw und anderen Großstädten bemüht sich die Verwaltung, die Schäden nach jedem Angriff schnell zu beseitigen und Gebäude wieder aufzubauen. Aber obwohl dieses Dorf schon im September 2022 befreit wurde, sieht es immer noch so aus, als wäre die Front erst vor kurzem darüber hinweggegangen. Es stecken noch immer Granaten und Blindgänger in den Gärten. Man bekommt dort eine Ahnung davon, was es heißt, dass große Gebiete der Ukraine mit Minen und Artilleriegeschossen verseucht sind. Trotzdem ist die Moral dieser Menschen hoch. Sie wollen ihr Leben weiterleben, sie wollen ihre Häuser wieder aufbauen. Sie brauchen nur etwas Unterstützung.
Bringen die Helfer Lebensmittel?
Die Organisation, mit der ich unterwegs war, bringt vor allem Saatgut. Die Menschen dort leben von dem, was sie selbst anpflanzen. Früher haben sie Melonen und Tomaten angebaut. Jetzt sind die Gewächshäuser und die Traktoren zerstört und die Felder mit Munition verseucht. Niemand kann sagen, wie lange es dauern wird, das alles wieder aufzubauen.
Fühlen sich die Menschen allein gelassen?
Ich glaube, sie verstehen, dass die Regierung nicht überall zugleich sein kann. Gerade wurde die Stromversorgung wiederhergestellt, aber es geht eben sehr langsam voran. Ich finde, da gibt es auch eine Lücke in der Berichterstattung über den Krieg: Die konzentriert sich meistens auf die Raketenangriffe auf Kyjiw und andere große Städte oder auf die Frontbewegungen. Das Leben der Menschen in dem großen Raum dazwischen wird oft vergessen. Neulich habe ich mit einem Minenräumer gesprochen, der hat mir erzählt, dass sie in der Oblast Charkiw vor der russischen Vollinvasion jeden Monat Hunderte Alarme hatten, weil Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden. Dieser Krieg ist jetzt bald 80 Jahre her, und es wird immer noch Munition gefunden. Und jetzt kommt die Munition aus dem neuen Krieg noch dazu.
Seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine versucht der Staat mit äußerster Härte, Proteste gegen den Krieg zu unterdrücken. Die Organisation OWD-Info spricht in ihrem aktuellen Bericht von fast 20.000 Festnahmen und über 800 strafrechtlich Angeklagten und Verurteilten im Zusammenhang mit Antikriegsprotesten.
Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew wurden am 6. März 2022 bei Protesten in Moskau festgenommen und anschließend wegen versuchter Brandstiftung eines Gefangenentransporters angeklagt. Schutschkow wurde später zu knapp zehn Jahren und Sergejew zu knapp acht Jahren Haft verurteilt. Anfang Februar dieses Jahres wurden die beiden Männer aus Omsk an einen unbekannten Ort gebracht. Erst einen Monat später erfuhr die Initiative Sona solidarnosti (dt. Solidaritätszone), die Antikriegsaktivisten unterstützt, dass die beiden in Gefängnisse in Krasnojarsk überstellt worden waren. Schutschkow hat inzwischen selbst Strafanzeige erstattet und spricht von Gewalt und Folter während der Haft. Mediazona berichtet über den Fall.
Zelle Nr. 169 – Prügel und Androhung von Vergewaltigung
Am 17. Februar trafen die Anti-Kriegs-Aktivisten Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew im Untersuchungsgefängnis SISO-1 in Krasnojarsk ein. Dort verbrachten sie etwas mehr als eine Woche, danach sollte Anton Shutschkow für die ersten Jahre der Haft nach Minussinsk und Wladimir Sergejew nach Jenissejsk überstellt werden.
Wie Anton Shutschkow seiner Anwältin Xenia Iwanowa erzählte, war er [im Krasnojarsker SISO-1 – dek] am 20. Februar zu einem Gespräch mit dem Ermittlungsbeamten aus der Zelle geholt worden. Auf dem Weg konnte er ein paar Worte mit Wladimir Sergejew wechseln, der ihm erzählte, dass er die Nacht davor in der Zelle Nr. 169 verbracht und „unter Druck“ eine „Einwilligung zur Kooperation“ unterschrieben habe.
Ich sollte horchen, was die Zellengenossen reden
Auch Anton Shutschkow wurde am selben Tag auf Kooperation angesprochen. „Sie schlugen mir vor, ihnen zuzuarbeiten: zu horchen, was die Zellengenossen reden, zu beobachten, wer verbotene Sachen versteckt. Ich habe abgelehnt“, erzählte er seiner Anwältin.
Am 21. Februar kam auch Anton Shutschkow in die Zelle Nr. 169, vor der ihn Wladimir Sergejew schon gewarnt hatte. Dort erwarteten ihn drei Häftlinge, die laut Aussage des Aktivisten über sein Verfahren Bescheid wussten: Sie sagten, sie wüssten alles über ihn, pöbelten herum und nannten ihn mit seinen 40 Jahren verniedlichend „Antoschka“. „Einer war ein kahlrasierter Muskelprotz, der sagte, er sei 31. Der Zweite war angeblich um die 40, ehemaliger Offizier. Vom Dritten weiß ich nur noch, dass er so zwischen 25 und 30 war“, beschrieb sie Anton Shutschkow.
Noch am selben Tag verprügelten ihn diese Männer, weil er die Kooperation mit den Behörden verweigerte. Wie er später in der Anzeige beim Ermittlungskomitee angab, erfolgte das mit dem Wissen und auf Anweisung der SISO-Bediensteten.
Sie steckten mich mit dem Kopf ins Klo und schlugen mir auf den Kopf
„Sie sagten: Schreib deine Erklärung oder wir vergewaltigen dich. Ich weigerte mich. Da steckten sie mich mit dem Kopf ins Klo und schlugen mir auf den Kopf, in den Nacken, auf den Rücken. Ich dachte, sie hätten mir eine Rippe gebrochen, aber es war ein Knorpel verschoben. Mein Rücken war blau. Einer hielt mich an den Armen fest, der andere an den Beinen. Sie zogen mir die Hose runter und drohten, mich mit der Klobürste zu vergewaltigen, weil kein Schrubber da war“, erzählte Shutschkow.
Weil er ihnen das durchaus zutraute, erfüllte Shutschkow die Forderungen der Häftlinge. „Ich sage mich von extremistischem Gedankengut los und verpflichte mich dazu, den Strafvollzugsbehörden der Region Krasnojarsk und den russischen Geheimdiensten beim Aufdecken von Verbrechen zu helfen“, zitierte er den Text seiner Erklärung der Anwältin gegenüber.
Mit dieser Erklärung war es aber noch nicht getan — Shutschkow musste einen kurzen Lebenslauf verfassen und Fragen der Häftlinge beantworten: Was er über Sergejews Verbindungen zur Ukraine wisse, ob dieser mit Drogen handle (er antwortete, dass er davon nichts wüsste), und wer ihm, Shutschkow, private Briefe schreibe. „Ich sagte, das seien ganz normale Leute. Sie fragten mich, wer von der Organisation Tschorny krest (dt. Schwarzes Kreuz) mit mir in schriftlichem Austausch stände“, berichtete Anton Shutschkow. Ein paar Tage zuvor war die Federazija anarchitscheskogo tschornogo kresta (dt. Föderation des anarchistischen schwarzen Kreuzes) auf die Liste der „unerwünschten Organisationen“ gekommen.
Dann wurde Anton Shutschkow in die vorherige Zelle zurückgebracht, doch seine früheren Zellengenossen waren gegen „zwei Wiederholungstäter“ ausgetauscht worden, die ihn unter Druck setzten, ja nicht die Kooperation zu verweigern, und ihn „verbal angriffen und demütigten“.
Am 26. Februar wurde Anton Shutschkow ins Gefängnis [in Minussinsk – dek] überstellt.
Im Gefängnis – neue Forderungen
Derzeit befindet sich Anton Shutschkow im Gefängnis in Quarantäne. Seine Anwältin Xenia Iwanowa berichtete Mediazona, dass es ihm gut gehe und er sich „um Zuversicht bemühe“. Sie habe ihren Klienten zuletzt am 4. März gesehen.
„Zu dem Zeitpunkt scheint er im Gefängnis von Minussinsk besser aufgehoben zu sein, weil er mit nur einer Person, einem Muslim, zusammen in Quarantäne ist. Im Grunde hat er dort Ruhe, ich habe ihm einen Brief und ein Antwortschreiben zum Ausfüllen geschickt. Ich hoffe, er schreibt mir, wie es in der neuen Zelle ist und wie sein Tagesablauf aussieht, wenn ihm seine endgültige Zelle zugewiesen wird“, sagt die Anwältin.
Shutschkow fordert in seiner Anzeige, die Zellengenossen, die ihn misshandelt haben, strafrechtlich zu verfolgen, und die Kameraaufzeichnungen sicherzustellen, auf denen vielleicht zu sehen ist, wie er von Zelle zu Zelle geführt wird. Außerdem fordert er, von den Aufsehern eine Begründung für diesen Zellenwechsel zu verlangen. Seine Anwältin Xenia Iwanowa hat die Anzeige bereits beim Ermittlungskomitee eingebracht. „Ich habe diesen Fall auch bei der Staatsanwaltschaft angezeigt. Auch die Tatsache, dass ihm danach zwei Wiederholungstäter in die Zelle gesetzt wurden. Jemand, der zum ersten Mal inhaftiert ist, darf nämlich nicht mit Häftlingen zusammengesperrt werden, die zum wiederholten Mal verurteilt sind“, erklärt sie.
Sie machen Druck und ich schweige – nein, das muss an die Öffentlichkeit
Allerdings befürchte Shutschkow ihren Worten zufolge, dass nach dieser Beschwerde eine fabrizierte Anklage gegen ihn erhoben werden könnte. „Er geht davon aus, dass ihm angesichts seiner langen Haftstrafe so oder so noch weitere Paragraphen angehängt werden. Ich versuche, ihm klarzumachen, dass es trotzdem nicht so einfach ist, aus dem Nichts eine Anklage zu erheben. Neuerliche Anschuldigungen kommen meistens dann hinzu, wenn man etwas mit Zellengenossen bespricht, die einen verraten, oder wenn man einen schweren Verstoß begeht“, sagt die Anwältin. Trotz seiner Befürchtungen habe Shutschkow der Publikation seines Berichts über die Folter jedoch zugestimmt, betont Iwanowa. „Sie machen Druck und ich schweige – nein, das muss an die Öffentlichkeit“, zitiert sie ihren Mandanten.
Die Bediensteten des neuen Gefängnisses haben dem Aktivisten ebenfalls eine Kooperation vorgeschlagen, aber Iwanowas Einschätzung nach war das eher „ein Routinevorgang“ und hatte nichts mit den Geschehnissen in der Untersuchungshaft zu tun. Laut Iwanowa sah dieser Vorschlag so aus, dass Shutschkow „jede Woche einen Bericht über Gehörtes und Gesehenes“ abgeben solle. Als Shutschkow ablehnte, wurde ihm nahegelegt, noch mal darüber nachzudenken.
„Aber er will ganz grundsätzlich nicht mit den Behörden kooperieren, weil das seinen moralischen Prinzipien widerspricht“, erklärt Iwanowa. Als Shutschkow ins Gefängnis überstellt wurde, erzählte er laut Iwanowa anderen Häftlingen, dass er in der Untersuchungshaft gezwungen worden war, eine Kooperationserklärung abzugeben: „Die Reaktionen waren unterschiedlich, die einen sagten, es sei verständlich, dem Druck nachzugeben, die anderen meinten, man müsse sich zu wehren wissen. Bei Anton Shutschkow schwingt Reue mit, dass er sich anders verhalten und nicht hätte unterschreiben sollen, aber ich versuche ihm beizubringen, dass unter Bedrohung des Lebens und der Gesundheit jedes Verhalten gerechtfertigt ist.“
Anti-Kriegs-Aktion. Wofür Shutschkow und Sergejew verurteilt wurden
Anton Shutschkow und Wladimir Sergejew, die beide vor einigen Jahren aus ihrer Heimatstadt Omsk nach Moskau zogen, wurden gleich zu Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, nämlich am 6. März 2022, in der Nähe des Puschkin-Platzes festgenommen. Damals gab es in Moskau noch Demonstrationen gegen den Krieg, und zu einer davon waren die beiden Männer unterwegs. Die Silowiki, die sie aufhielten, kontrollierten ihre Ausweise und den Inhalt ihrer Rucksäcke. Danach nahmen Shutschkow und daraufhin auch Sergejew Methadon-Kapseln ein, um sich umzubringen – das gelangte auf die Body-Cams der Polizisten.
Da Sergejew Molotow-Cocktails im Rucksack hatte, wurden die zwei Freunde festgenommen. Auf die Frage, warum sie die dabeihätten, wenn sie zu einer Demonstration gehen, sagte Sergejew, bereits unter Methadon-Einfluss: „Wir dachten uns, wir könnten ein paar eurer Flohkisten abfackeln.“
Ihr werdet sitzen, ihr Missgeburten. Auf einem Flaschenhals, bis der Hintern blubbert
Auf dem Video der Polizei ist zu hören, wie einer der Silowiki den beiden droht: „Ihr werdet sitzen, ihr Missgeburten. Auf einem Flaschenhals, wie verdammte Petuchi, bis der Hintern blubbert, das versprech ich euch verfickten Wichsern.“
Schon auf dem Weg zur Polizeistation ging es Shutschkow schlecht. Er verlor das Bewusstsein und kam in die Sklifossowski-Klinik für Erste Hilfe. Dahin kam nach einer Weile auch Sergejew. Die Ärzte diagnostizierten jeweils eine Methadon-Vergiftung.
Zehn Tage später wurden sie wegen versuchten Rowdytums in der Gruppe unter Einsatz von Waffen angeklagt. Aufgrund eines Berichts des FSB, in dem Shutschkow und Sergejew als „überzeugte Anhänger einer radikal-anarchistischen Ideologie“ bezeichnet wurden, die „eine gewaltsame Veränderung der verfassungsmäßigen Grundlagen“ Russlands zum Ziel habe, wurde die Anklage noch verschärft und geändert auf: Vorbereitung eines Terroranschlags durch eine Gruppe von Personen.
Wladimir Sergejew gestand seine Schuld zuerst ein und erklärte, er habe seinen Protest „gegen die Militäroperation in der Ukraine und die Konfrontation mit dem Westen“ zum Ausdruck bringen wollen. Vom Ermittler gefragt, wie er denn seine Botschaft habe vermitteln wollen, wenn er doch beinah Selbstmord begangen hätte, sagte Sergejew: „Der Sinn meiner Tat wäre klar gewesen, egal ob ich am Leben bleibe oder nicht. Ich war bei einer Anti-Kriegs-Demo und habe protestiert.“
Er sagte auch gegen Shutschkow aus, dass dieser 1,5 Gramm Methadon gekauft und einen Teil davon ihm gegeben habe. So kam für seinen Freund noch ein Paragraph hinzu: Absatz von Drogen in erheblichen Mengen. Später zog Sergejew sein Geständnis zurück und erklärte, er habe es unter dem Druck der Silowiki abgelegt, die ihn verprügelt haben.
Shutschkow hat nie ein Geständnis abgelegt, sondern blieb dabei, dass er von den Molotow-Cocktails in Sergejews Rucksack nichts gewusst und lediglich seinen Suizid geplant habe. „Ich habe [das Methadon] genommen, um nicht mehr zu sehen, was auf der Welt abgeht: der Krieg in der Ukraine, die Ereignisse im Donbass, ich habe auch Angst vor einem Atomkrieg“, erklärte er. „Daher wollte ich mir das Leben nehmen, um nicht zu sehen, wo das hinführt – ich hatte auch Angst, dass die jungen Menschen in die Armut rutschen.“
Letztes Jahr im April verurteilte das Zweite Westliche Militärkreisgericht Anton Shutschkow zu zehn und Wladimir Sergejew zu acht Jahren Haft. Später wurden diese Freiheitsstrafen um zwei Monate gekürzt. Die ersten drei Jahre müssen sie im Gefängnis verbringen, daher wurden beide 4000 Kilometer von Moskau entfernt in die Oblast Krasnojarsk gebracht.
Der Anwältin Xenia Iwanowa zufolge sind in Schutschkows Profil drei Katergorien vermerkt: Suizidgefährdung, Propaganda für eine extremistische Ideologie und Neigung zu Drogen- und Alkoholkonsum.
„Er möchte in der Näherei arbeiten und ins Fitnessstudio gehen“, sagt Iwanowa. „Er will sich bei mir melden, falls es wegen seines Urteils Probleme mit der Arbeit geben sollte.“
Update vom 14. März, 11:25: Die Anwältin ist hier nicht mit ihrem richtigen Namen genannt. Zudem wurden auf ihre Bitte hin im Text einige geringe Änderungen vorgenommen, um ihren Klienten vor weiteren Risiken zu schützen.
Im Gegensatz zu russischen Vereinen und der russischen Nationalmannschaft dürfen Vertreter des Fußballs aus Belarus weiterhin an europäischen Wettbewerben teilnehmen. Belarussische Vereine und der Verband wurden im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und der Verstrickung der belarussischen Staatsführung in die Großinvasion nicht sanktioniert. Während es ein Verein wie BATE Borissow in der Vergangenheit sogar in die Gruppenphase der Champions League schaffte und sich auch andere Vereine für die Gruppenphasen der europäischen Wettbewerbe qualifizieren konnte – mittlerweile befindet sich der belarussische Fußball in einer tiefen Krise. Ein entscheidender Grund dafür ist auch die enge Verstrickung des Fußballs mit dem politischen und staatswirtschaftlichen System von Alexander Lukaschenko. Die Führung über den Fußball übernehmen also keine Experten, sondern vor allem staatliche Funktionäre, die auch die politische Kontrolle sicherstellen sollen. Die organisierten Fanszenen des Landes wurden durch Repressionen und Verfolgung nahezu vollständig zerschlagen, sodass die Spiele der höchsten Klasse des Landes kaum noch Zuschauer anziehen.
Lukaschenko, der sich bekanntlich eher für Eishockey begeistert, zeigte sich bei einem kürzlich einberufenen Treffen mit Sportfunktionären wenig begeistert vom Zustand des Fußballs im Land. In einem Beitrag für das Online-Medium Reform.by erklärt Igor Lenkewitsch nicht nur dem Leser, sondern indirekt eben auch Lukaschenko, warum der Staatschef und sein Machtwahn das eigentliche Problem für den Fußball sind. Ein tiefer Einblick in die Machtspielchen des belarussischen Fußballs.
Kürzlich lenkte Alexander Lukaschenko die Aufmerksamkeit wieder einmal auf „die beliebteste Sportart unserer Bevölkerung“. Die Ergebnisse seien mau, die Spielergehälter unangemessen hoch. Und noch dazu habe der neue Chef des Fußballverbands dem Sportminister irgendeine Information vorenthalten. Dabei ist es ausgerechnet das staatliche System mit seinen Entscheidungen, das den belarussischen Fußball immer tiefer und tiefer in den Abgrund reißt.
Keine der bisherigen Manöverkritiken Lukaschenkos hatten positive Auswirkungen auf den hiesigen Fußball. In Erinnerung geblieben ist eine Konferenz zur Entwicklung des Fußballs im Jahr 2018, an deren Beginn Lukaschenko den damaligen Vorsitzenden des Belarussischen Fußballverbandes Sergej Rumas sowie die anderen anwesenden Funktionäre und Trainer fragte: „Schämt ihr euch nicht für den Zustand des Fußballsports in unserem Land?“ Aus den Fotos dieser Veranstaltung kann man schließen, dass sie sich schämten. Sie sitzen mit gesenkten Köpfen da.
Im belarussischen Fußball stecken zu viel Staat und äußerst wenig Eigenständigkeit
Bei dieser Konferenz wurde beschlossen, eine einheitliche Trainingsmethodik für den Fußballnachwuchs einzuführen. Damit sollte, so die Idee, der Fußball aus seinem Tief geholt werden. Zudem erklärte Lukaschenko damals, der Belarussische Fußballverband müsse reorganisiert werden. „Es müssen kompetente Leute gefunden und ein guter Verband geschaffen werden, der die Trainer unterstützt, kontrolliert und steuert“, sagte er. Ein Jahr später legte Rumas sein Amt nieder. Als Nachfolger kam der ehemalige Militärkommissar der Oblast Brest, der Parlamentsabgeordnete Wladimir Basanow. Die im Land etablierte Tradition, ehemalige Sicherheitskräfte und Militärs an der Spitze von Sportverbänden zu installieren, ist schon zum Gegenstand allgemeinen Spotts geworden. Die jahrelange Praxis zeigt, dass es keinen Effekt hat, auf militärische Ordnung und harte Disziplin zu setzen, um eine bestimmte Sportart voranzubringen. Im Sport genügt es nicht, „Im Laufschritt Marsch“ zu rufen und das Wort „schnell“ zu ergänzen. Da müssen Profis ran. Das heißt auch, dass sie sich an der Arbeit beteiligen, auf Positionen unter dem jeweiligen Militärkommissar. Ab da greift die Theorie der negativen Auslese – diejenigen, die dem Militärkommissar widersprechen, leben sich im System nicht ein. An der Oberfläche schwimmen die, die noch das dümmste Unterfangen unterstützen. Wir ergänzen noch das dünne politische Eis, auf dem sich die vaterländischen Sportler und Funktionäre bewegen und erhalten die zwei Schlüsselprobleme des belarussischen Sports: In ihm steckt zu viel Staat und äußerst wenig Eigenständigkeit.
Bankier – Artillerist – Tierwirt
Der Bankier Rumas wurde gegen den Artilleristen Basanow ausgetauscht – und für den einheimischen Fußball schämte man sich immer mehr und mehr. Es gibt den Ausdruck „Fremdschämen“, bei uns müsste man dafür den Begriff „Fußballscham“ einführen. Die Ergebnisse der Nationalmannschaft und der anderen Ligen wurden immer schlechter. Zu dem Zeitpunkt, als die bereits erwähnte Konferenz stattfand, in der Spielzeit 2018/19, spielte BATE Borissow noch in der Europe League. Seitdem ist kein belarussischer Verein mehr über die Qualifikationsrunde hinausgekommen. Von der Nationalmannschaft ganz zu schweigen – die Anzahl der Spiele ohne Sieg droht als Errungenschaft ins Guinness-Buch der Rekorde einzugehen.
2021 machte Lukaschenko dem neuen Vorsitzenden des Belarussischen Fußballverbands (ABFF) Basanow bereits die Hölle heiß. Und wieder ging es um Scham. „Ich verstehe nicht, warum du die Spieler gestern aufs Feld gelassen hast. […] Es war beschämend, zuzuschauen“, maßregelte er den Verbandschef. „Es ist erbärmlich, was der Fußball heute bietet, das geht gar nicht.“ Auch der Sportminister, Sergej Kowaltschuk, bekam da sein Fett weg. Und was brachte es? Nichts. Sie plauderten und gingen ihrer Wege. Umgehende organisatorische Konsequenzen folgten nicht. Bassanow blieb nur eine Amtszeit in seiner Funktion als Verbandschef. 2023 wurde schon der dritte Fachmann Vorsitzender des ABFF: Nikolaj Scherstnjow, ehemaliger Vorsitzender der Witebsker Gebietsverwaltung, Absolvent der tierwirtschaftlichen Fakultät der Witebsker Staatlichen Akademie für Veterinärmedizin.
Als Kommentar zu diesem Ringelspiel an der Spitze des Belarussischen Fußballverbands stellte ein Bekannter von mir eine interessante Hypothese auf. Zuerst wurde beschlossen, dass es dem Fußball an finanziellen Mitteln mangele, und man ernannte einen Bankier. Dann, dass man lernen müsse, zielgenau zu treffen. Da wurde ein Artillerist engagiert. Und dann begriffen sie, dass Selektion notwendig sei. Also holten sie einen zuchterfahrenen Tierwirt. Lustig? Nun ja. Obwohl es in dem beschriebenen Konstrukt, anders als in der Realität, wenigstens eine gewisse Logik gibt. Von Selektion hatte man ja schon 2018 gesprochen. Sogar ein entsprechendes Programm war ausgearbeitet, bestätigt und eingeführt worden. Und nun, sechs Jahre später, fordert Lukaschenko wieder ein, dass innerhalb von sechs Monaten Ordnung ins System des Fußballtrainings gebracht werden müsse.
Negative Selektion
Nach den Ereignissen von 2020 riefen viele belarussische Fußballer dazu auf, die Gewalt im Land zu stoppen. Wohlbemerkt – sie forderten keinen Machtwechsel oder eine Überprüfung der vom Regime verkündeten Wahlergebnisse. Sie hofften einfach nur, das Land könne in einen gewissen Gesetzesrahmen zurückkehren. Und schon das genügte, um auf „schwarze Listen“ zu gelangen. Die Spieler blieben faktisch arbeitslos zurück – ihnen wurde verboten, für die Klubs zu spielen, bei denen sie unter Vertrag standen.
Die Geschichte zieht sich nun schon längere Zeit hin. Ein gefragter Spieler hat das Land verlassen, um bei ausländischen Meisterschaften für eine zweit- oder drittklassige Mannschaft anzutreten. Ein anderer kehrte dem großen Sport gezwungenermaßen den Rücken. Ein dritter zeigte offen Reue, um sich von der Schuld freizukaufen.
Dem Vernehmen nach rührt aus dieser Gemengelage auch der Konflikt des neuen Verbandschefs Scherstnjow mit dem Sportministerium und dessen Oberhaupt Kowaltschuk, den Lukaschenko in seiner Ansprache erwähnte. Scherstnjow kann man zum Vertreter einer Politik des „eine neue Seite aufschlagen” zählen – er tritt dafür ein, dass alle Spieler, gegenüber denen politische Zweifel bestanden, ohne zusätzliche Auflagen eine Amnestie erhalten. Kowaltschuk wiederum forderte „aktive Buße“, beispielsweise sollen die Spieler eine Begnadigungskommission durchlaufen. Bislang steht es 1:0 für das Sportministerium: Die Rückkehrkommission der Republik Belarus entschied im Januar, sieben Fußballspieler wieder spielen zu lassen. Allerdings stehen auf der „schwarzen Liste“ bedeutend mehr Namen. Es ist anzunehmen, dass die unterschiedlichen Auffassungen dazu die Ursache des Konflikts zwischen Verbandschef und Sportminister sind.
Verlierer dieses verdeckten Machtgerangels ist der Fußball
Wobei es auch in der Vergangenheit Konflikte zwischen Ministerium und Verband gab: Es war ein Kampf um Einflusssphären. Tatsache ist, dass der Fußballverband einen Großteil der finanziellen Mittel für seine Tätigkeit und Projekte von der FIFA und dem Europäischen Fußballverband (UEFA) erhält. Dadurch ist der Verband weniger abhängig vom Staat und vom Sportministerium als andere unserer nationalen Sportverbände. Das ärgerte die Chefetage des Ministeriums. Zu Zeiten des einflussreichen Verbandschefs Sergej Rumas wurde dem Ministerium oft mit klaren Worten eine Abfuhr erteilt. Mit Basanow änderte sich die Situation deutlich, der Belarussische Fußballverband hob nun bei jeglichen Anordnungen des Ministers oder seiner Vertreter die Hand zum Mützenrand. Es ist anzunehmen, dass das Sportministerium jetzt, indem es mit Scherstnjow bricht, die Bewahrung eines für sich selbst günstigen Beziehungsmodells einfordert. Der Verbandsvorsitzende wiederum bemüht sich, nach Möglichkeit der Hyperaufsicht des lästigen Ministeriums zu entkommen. Zumal Scherstnjow größeres Gewicht hat als sein Vorgänger Basanow.
Es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichen
Verlierer dieses verdeckten Machtgerangels ist der Fußball. Die Spieler, darunter auch starke, gemessen an unserer Nationalliga, sitzen auf der Ersatzbank. Oder sie verlassen das Land. Letztlich sinkt dadurch das Niveau der Landesmeisterschaft. Und darin besteht die negative Selektion – es spielen nicht die Besten, sondern die politisch Verlässlichen. Die Fans ignorieren demonstrativ die Spiele und zeigen damit ihre Einstellung zu alldem. Das Regime sollte sich also zunächst selbst an die These der Trennung von Sport und Politik erinnern, bevor es sie auf internationaler Ebene einfordert.
Als weiteres Problem kommt die Begrenzung der Trainer- und Spielergehälter hinzu, die der Staat ab der Saison 2021 eingeführt hat und bis heute unablässig weiter herabsetzt. Das zieht starke Legionäre aus der Landesliga ab, die oft noch weitere Landsleute mitnehmen. Zudem sind die Möglichkeiten der Klubs zur Sponsorensuche durch die allgemeine wirtschaftliche Situation des Landes eingeschränkt. So verlor Naftan Nowopolozk beispielsweise vor Kurzem das Unternehmen als Sponsor, dessen Namen der Fußballklub trägt. Auch die Beschränkung des Einsatzes von Nachwuchsspielern auf dem Platz ist nicht förderlich, da es dazu zwingt, die Spieler abhängig vom Geburtstag und nicht von Fähigkeiten und Trainingsstand einzusetzen. Und das ist nur die Spitze des Eisberges. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen, die die Entwicklung des einheimischen Fußballs fördern sollten, gereichen ihm also in Wirklichkeit zum Nachteil.
Die Regierung soll den Fußball besser aus ihrem Interessenfeld streichen
Dennoch suggeriert man weiterhin lebhafte Geschäftigkeit. Heute wurde zum wiederholten Mal entschieden, die „Technologie zur Ausbildung des Fußballspielers“ zu ändern. Zum wievielten Mal? Auch der aktuelle Anlauf im Fußball wird also offensichtlich ohne Erfolg bleiben. Häkchen gemacht, geredet, weitergezogen. Mit weiteren Rücktritten, Umbesetzungen und Programmen ist der Sache auch nicht zu helfen. Denn die Praxis zeigt: Je mehr sich der Staat in eine Handlungssphäre einmischt, desto schlimmer wird die Situation in dem Bereich.
Die Regierung soll den Fußball besser endlich vergessen, aus ihrem Interessenfeld streichen, so als würde er überhaupt nicht existieren. Kein Geld geben, aber auch keine Ratschläge. Dann lernt die Fußballwelt entweder, selbständig zu schwimmen, oder sie geht unter. Wohin der Weg eben führt. Ein solch radikaler Ansatz wäre übrigens der Entwicklung des gesamten belarussischen Sports zuträglich, nicht nur im Fußball.
Nach einer Präsidentschaftswahl mit handverlesenen Gegenkandidaten hat die russische Wahlkommission dem 71-jährigen Wladimir Putin am Sonntagabend ein Ergebnis von mehr als 87 Prozent zugeschrieben. Die unabhängige Wahlbeobachtungs-Organisation Golos hat diesmal nicht nur Manipulationen bisher nie dagewesenen Ausmaßes festgestellt, sondern auch unmittelbaren Zwang von Polizei und Geheimdiensten gegen Wählerinnen und Wähler. Wozu der ganze Aufwand, wenn eh niemand dem Kreml glaubt? Die Redaktion von Republic hat mit Maxim Trudoljubow vom Kennan Institute darüber gesprochen, was Putin mit der Wahl bezweckt und welche Aussichten eine demokratische Opposition in Russland noch hat.
Jewgeni Senschin/Republic: Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Lage in Russland?
Maxim Trudoljubow: Putin hat keinen langen Krieg geplant, doch im Endeffekt ist der lange Krieg zum Kernstück geworden, nach dem er sein ganzes Regime ausrichtet und um das herum er die Gesellschaft konsolidiert, so sieht er es.
Meiner Ansicht nach sollte die Abstimmung dazu führen, den Krieg von maximal vielen Menschen absegnen zu lassen und im Nachhinein die Unterschrift von Millionen Bürgern Russlands für Entscheidungen zu bekommen, die er vor langer Zeit im Alleingang getroffen hat.
Natürlich sind sich Putin und seine Kumpane der Kontroverse bewusst: Ist es Putins Krieg oder der Krieg von ganz Russland? Und sie wissen auch, dass er im Westen von Anfang an als Putins Krieg galt. Doch Putin möchte das korrigieren, damit alle die Verantwortung dafür tragen. Einige Tage vor dem Einmarsch hatte er den Sicherheitsrat um sich versammelt, am ersten Kriegstag hat er führende Geschäftsleute zusammengerufen, dann traf er sich noch mit anderen Gruppen vor laufender Kamera. Und so sammelte er Zustimmung für den Krieg. Und jetzt möchte er die Zustimmung des Großteils der Bevölkerung. Also ist die Abstimmung eine Abstimmung für den Krieg, damit Putin sagen kann: „Das ist nicht nur mein Krieg, das ist der Krieg von ganz Russland.“ Er will alle ins Boot holen.
Für den Westen ist das ein schlechtes Signal. Sie schauen auf die Ergebnisse dieser „Wahlen“: 80 Prozent für Putin, also 80 Prozent für den Krieg. Also haben wir alles richtig gemacht, als wir mit unseren Sanktionen nicht nur das Putinsche Establishment beschränkt haben, sondern alle Bürger Russlands. Bei weitem nicht alle wollen tiefer in die Materie des russischen Lebens eindringen und verstehen, was diese Ergebnisse wirklich bedeuten.
Wie schätzen sie die Chancen der Opposition nach dem Tod Nawalnys ein? Es gibt da sehr konträre Meinungen. Durch den Tod werde die Opposition böser, radikaler, entschlossener und so weiter. Die Rockgruppe Nogu svelo hat sogar schon ein Lied darüber geschrieben. Aber es gibt auch die entgegengesetzte Meinung: Der Tod hat die Opposition in eine Depression stürzen lassen, hat gezeigt, dass ihre Chancen die Innenpolitik Russlands zu beeinflussen gen Null gehen.
Ich war tatsächlich viele Jahre sehr pessimistisch. Aber ich glaube, dass wir nun wirklich Optimismus brauchen. Derzeit meinen viele, dass das Spiel verloren ist und man das Land nicht ändern kann. Aber das ist nicht so. Kein Land ist dazu verdammt, auf immer mit dem gleichen Regime zu leben. Die Geschichte liefert eine Menge von Beispielen. Es gibt keine „Sklavenmentalität“, die Neigung einer ganzen Nation zu einem spezifischen System. Wir wissen, dass sich alles ändert.
Das ist definitiv auch in Russland möglich. Sobald sich die Umstände ändern, wird ein Tauwetter einsetzen, die Leute werden sich zusammenschließen und gemeinsam auf die Straße gehen. Aber wann kommen diese Umstände? Darauf gibt es leider keine gute Antwort. Dabei ist es völlig offensichtlich, dass es in der Gesellschaft keine massenhafte Unterstützung für den Krieg gibt, so wie es auch keine massenhafte Unterstützung für Putin gibt. Dafür gibt es haufenweise Indizien. Beispielsweise weigern sich Leute bei Umfragen zu antworten und sagen, dass sie keine Meinung zum Krieg hätten. Das heißt, dass sie vor etwas Angst haben, und nicht, dass sie das Handeln des Kreml gutheißen. Aber wenn sich die Umstände ändern, wird ihre Haltung zum Vorschein kommen.
Andererseits ist das bloße Warten und Hoffen auf eine Schwächung des Regimes unangenehm. Diejenigen, die Russlands Zukunft noch nicht begraben wollen, müssen an dieser Zukunft arbeiten und ein konkretes Bild von ihr erschaffen. Sie sollten sich außerdem der Bildung widmen, für sich und für ihre Kinder, die im Bewusstsein aufwachsen sollten, das das heutige Regime Russlands eine historische Anomalie ist. Die Leute, die die Macht an sich reißen konnten, sind nicht ewig, ihre Zeit ist begrenzt.
Aktuell findet ein unsichtbarer Kampf darum statt, was die nachfolgende Generation tun wird. Heute ist eine Generation an der Macht, die in den 50er Jahren geboren und in den 70er und 80er des vergangenen Jahrhunderts erzogen wurde. Sie wuchsen auf in einer Atmosphäre der Enttäuschung, des Unglaubens und Zerfalls der Ideale. Der Glaube an den Kommunismus war schon vorbei, aber ein anderer noch nicht entstanden. Es entstand ein Bewusstsein des historischen Scheiterns. So bildete sich diese Generation von Greisen, die sich um ihre Kränkungen sorgen und Revanche suchen. Natürlich gibt es in dieser Generation auch beispielsweise einen Oleg Orlow, einen der Gründer von Memorial, der, verurteilt für die „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“, aktuell eine Haftstrafe absitzt. Doch an der Macht ist genau der boshafte Teil dieser Generation.
Wichtig ist, dass es eine neue Generation gibt, die Generation Nawalnys, die Ende der 1980er und in den 1990er Jahren erwachsen wurde. Für sie ist die Zukunft kein leeres Wort. Und Putin hat den Anführer dieser neuen Generation umgebracht. Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Ja, die Vertreterinnen und Vertreter dieser Generation befinden sich gerade in der Depression und im Schock. Aber ihnen bleibt trotzdem eine Vision von Zukunft und Hoffnungen, die mit dieser Zukunft verknüpft sind. Heute wird um die Herzen dieser Generation gekämpft und um die Herzen jener, die noch jünger sind. Es liegt heute an uns allen, diese Depression zu überwinden.
Im November 2023 hat das Oberste Gericht in Russland die „internationale LGBT-Bewegung“ als „extremistische Organisation“ eingestuft. Abgesehen davon, dass die Bewegung für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi- und Transpersonen gar keine Organisation ist, warnten Beobachter vor einer neuen Verfolgungswelle. Kaum jemand traut sich noch, offen lesbisch oder schwul zu leben. Inzwischen erhöht die Polizei aber auch den Druck auf private Treffpunkte. Ende Februar wurden in mehreren Regionen Russlands nicht-öffentliche LGBT-Partys kontrolliert. Der Ablauf war überall ähnlich: Maskierte stürmten die Veranstaltungsräume, Partygäste und Personal mussten sich bäuchlings auf den Boden legen, einige wurden festgenommen. Takie dela hat Experten dazu befragt, was das alles bedeutet und was da noch zu erwarten ist.
Am 26. Februar verkündete die Krasnojarsker Queer-Bar Elton ihre Schließung. Zwei Tage zuvor hatte Jekaterina Misulina , die Leiterin der Liga für ein sicheres Internet, das Lokal öffentlich angeschwärzt: Sie hatte eine Drag-Show anlässlich des Tags des Vaterlandsverteidigers eine Provokation genannt und angekündigt, die Sache anzuzeigen. Am nächsten Tag erschien auf dem Telegram-Kanal des Innenministeriums für die Region Krasnojarsk ein Video über die Razzia im Elton, bei der zwölf Personen festgenommen wurden. [Takie dela veröffentlicht Bilder von den Razzien –dek].
„Insgesamt wurden bei dem Einsatz 19 Personen kontrolliert, teils Gäste, teils Personal des Etablissements. Zudem wurden Besucher befragt“, teilte die Polizei mit. Begründet wurde die Razzia mit einem Verdacht auf die Verbreitung verbotener Substanzen und illegelen Ausschanks alkoholischer Getränke. Gegen den Clubbesitzer wurde eine Untersuchung eingeleitet. Am 25. Februar tauchte in den Medien die Meldung auf, dass die Bar ihren Social-Media-Auftritten zufolge geschlossen würde.
Wir können nicht mehr für Eure Sicherheit garantieren
„Leider können wir unsere Bar nicht weiterbetreiben. Die Schließung des Elton ist hiermit offiziell“, zitierte die Zeitung Prospekt Mira die Geschäftsführung. „In einer Situation, in der nichts als Hass propagiert wird und man nur noch darauf aus ist, die Einen gegen die Anderen aufzuhetzen, können wir eure Sicherheit und die Sicherheit unserer Mitarbeiter nicht mehr garantieren. Das Leben und die Gesundheit von uns allen ist aber das, was am meisten zählt!“
Der Barbesitzer Dennis Schilow erzählte dem Sender 7-moi Krasnojarsk, wie er nach der Razzia Mitteilungen von den Strafverfolgungsbehörden bekam, in denen sie andeuteten, dass sie den weiteren Betrieb der Bar nicht zulassen würden. „Ich verstehe nicht, wieso einzelne Bevölkerungsgruppen in so ein negatives Licht gerückt werden. Unter solchen Umständen macht die Arbeit keinen Spaß. Wir können keine Partys feiern und daher auch unsere Mitarbeiter und die Steuern nicht bezahlen.“
Im Dezember 2023 gab es schon einmal Polizeikontrollen im Elton. Damals wurden 20 Personen festgenommen, und gegen den Klub wurde Anzeige wegen „LGBT-Propaganda“ erstattet. Das Verfahren wurde aber eingestellt, weil kein Gesetzesverstoß festgestellt werden konnte.
„Wir hatten uns schon gefreut, dachten, sie würden uns in Ruhe lassen, weil sie ja doch keine ‚Gay-Propaganda‘ gefunden hatten. Doch da beschloss ein Gast, sich bei Misulina zu beschweren. Was für die Krasnojarsker Polizei offenbar wieder ein Anlass für einen Besuch bei uns war“, sagt Artjom Demtschenko, der Geschäftsführer des Elton. Er kennt zwar das eigentliche Ziel der Razzien nicht, nimmt aber an, dass dahinter politische Interessen stehen. „Wahrscheinlich wollen sie uns und unsere Gäste einschüchtern“, glaubt Demtschenko.
Am 25. Februar kamen aggressive Mitglieder der nationalistischen Bewegung Sewerny tschelowek (dt. Nordmensch) in die Bar, was auf dem Telegram-Kanal der Organisation vermeldet wurde: „Mit Toleranz meinte der Präsident, dass wir uns mit eurer Existenz eben abfinden müssen, aber doch nicht, dass ihr auf eure Rechte pochen könnt! Ihr habt nämlich keine, ihr Sodomiten!“, hieß es in dem nationalistischen Telegram-Kanal.
Demtschenko erzählt, dass die Nationalisten seine Mitarbeiter bedrohten und in die Bar eindrangen, um die Gäste zu verprügeln. „Einige waren nach draußen gegangen, um zu rauchen, aber als sie diese Meute sahen, rannten sie gleich ohne Jacke davon. Wir wollten den Vorfall zur Anzeige bringen, aber die Polizei wehrte ab – angeblich, weil niemand zu Schaden gekommen war“, sagt Demtschenko. Und fügt hinzu: „Es muss also erst einer umgebracht oder zusammengeschlagen werden, bevor wir Anzeige erstatten können.“
Die Bar Elton ist nicht das einzige Lokal, das die Polizei in letzter Zeit auf „LGBT-Propaganda“ hin kontrolliert hat. Am 18. Februar stürmten Polizisten in Koltuschi im Gebiet Leningrad eine private LGBT-Party und verprügelten die Gäste.
Alle, die als Jungs geboren sind – aufstehen!
Ausschnitte aus dem Video des Polizeieinsatzes wurden auf REN TV ausgestrahlt, unter dem Titel LGBT*-Party gegen die SWO(Militärische Spezialoperation). Auf den Bildern waren Menschen zu sehen, die auf dem Boden lagen, und durch die Räume stürmten maskierte Polizisten. Laut der Menschenrechtsorganisation OWD-Info war die Weitergabe der Aufnahmen an den Fernsehsender illegal.
„Hände hinter den Kopf, los, alle! Und jetzt alle, die als Jungs geboren sind, aufstehen und da drüben an die Wand stellen!“, schreit einer der Silowiki in dem Video. In dem Fernsehbeitrag hieß es, die Polizei habe eine Hausdurchsuchung gemacht und Sachen mit LGBT-Symbolik, „verdächtige Dokumente“ und „handgeschriebenes oppositionelles Material“ beschlagnahmt. Ein Partygast erzählte dem Portal Parni + (dt. Jungs +), dass die Polizisten sie vier Stunden lang auf dem kalten Boden liegen ließen und jeden schlugen, der sich rührte. Nicht einmal auf die Toilette durften sie gehen:
„Sie machten derbe Witze und beschimpften uns aufs Übelste. Sie gingen zu jedem hin und fragten: Bist du ein Junge oder ein Mädchen? Und wenn sie sich bei jemandem nicht sicher waren, welches Geschlecht er oder sie hat, musste sich diese Person von einer Ermittlungsbeamtin untersuchen lassen. Ein Mädchen musste ihren Rock hochschieben und ihre Leggings straffziehen, mein Freund musste seine Operationsnarben herzeigen. Und ständig diese Fragen: Ja, wo ist denn nur dein Penis geblieben?“, erzählte einer der Betroffenen Mediazona.
Auch in Tula wurde in der Nacht auf den 18. Februar eine Veranstaltung aufgelöst: die Amore Party – ein Fest der „Liebe, Offenheit und Sexualität“ im Kulturzentrum Tipografija. Uniformierte ohne Dienstabzeichen befahlen den Teilnehmern, sich auf den Boden zu legen, verprügelten einige und zwangen sie, Kniebeugen zu machen und die Hymne von Tula zu singen. Einige Partygäste wurden nach dem Paragrafen zur LGBT-Propaganda angezeigt. OWD-Info zufolge „sagten die Leute ohne Dienstabzeichen von sich, sie hätten am Einmarsch in der Ukraine teilgenommen“.
In Petrosawodsk platzten am 20. Februar Männer vom FSB und von der Nationalgarde in eine geschlossene Queer-Party im Nachtclub Full House, wie Karelija.News berichtete. „Wie wir unseren Quellen entnehmen konnten, steht eine Einwohnerin von Petrosawodsk unter Verdacht, diese LGBT-Community organisiert zu haben. Als Veranstaltungsraum für einschlägige Themenabende habe sie diesen Gastronomiebetrieb genutzt“, heißt es da.
Rückzug der LGBT-Community ins Internet
Solche Razzien wertet der Jurist Maxim Olenitschew als Einschüchterungsmaßnahmen gegen LGBT-Personen: „In der derzeitigen Form sind diese Aktionen rechtlich nicht gedeckt, aber die Staatsmacht setzt die Exekutive dazu ein, alle Arten von Treffpunkten der LGBT-Community zu schließen und ihre Gegenwart in der russischen Gesellschaft zu unterbinden“, sagt er.
Das passiert vor dem Hintergrund, dass sich nach dem Verbot der „LGBT-Bewegung“ durch das Oberste Gericht fast alle Organisationen, die dieses Thema betrifft, ins Internet zurückgezogen haben. „Die einzigen Offline-Plattformen, die in Russland noch verfügbar sind, sind eben LGBT-Clubs und Bars, weswegen die russischen Strafverfolgungsorgane diese ins Visier nehmen“, sagt Olenitschew. Er geht davon aus, dass die Exekutive den Gerichtsentscheid weiterhin auf diese Art umsetzen wird, weswegen ein Teil der LGBT-Lokale schließen wird: Sie können ihre Tätigkeit so nicht fortsetzen.
„Manche Lokale versuchen, sich anders zu orientieren, und üben Selbstzensur, um weiterbestehen zu können“, erklärt der Jurist. Manche Clubs verabschieden sich zum Beispiel von ihren Travestie-Shows, andere streichen die Drag-Queens aus dem Programm. „Die Polizei darf nichts zu beanstanden haben.“
Derzeit würden nach den Razzien noch keine Verfahren nach dem neuen „Extremismus“-Paragrafen eingeleitet, sondern wegen „Schwulenpropaganda“, was nur eine Ordnungswidrigkeit darstellt, erklärt Olenitschew. „Das Verbot der LGBT-Propaganda ist seit zehn Jahren in Kraft. Es ist so unklar und vage formuliert, dass die Strafverfolgungsbehörden es praktisch als Vorwand für alle Amtshandlungen benutzen können, die sie für notwendig erachten“, erklärt der Jurist.
Derartige Maßnahmen der Silowiki sind die erste Stufe der Einschüchterung, ist der Psychologe Iwan Iwanow überzeugt, der mit LGBT-Personen arbeitet. „Trotz der Razzien werden weiterhin Gäste in die LGBT-Clubs kommen. Einerseits, weil ihnen die Gefahr nicht vollends bewusst ist, andererseits aber auch, weil man Menschen nicht davon abhalten kann, sich miteinander zu treffen. Sie werden sich einfach besser verstecken“, lautet die Schlussfolgerung des Psychologen.
Um einem Strafverfahren zu entgehen, verließ die Aktivistin Kira Bojarenko ihre Heimat Belarus. Weil sie von jetzt auf gleich abreisen musste, musste sie ihre Ausweisdokumente zurücklassen. Den 24. Februar 2022, den Beginn der russischen Invasion in die Ukraine, erlebte sie in Kyjiw. Sie flüchtete aus der Ukraine und kehrte nach einiger Zeit dorthin zurück, wurde bei einem Raketenangriff verletzt und wird zurzeit in Polen behandelt.
Im Interview mit dem belarussischen Ableger des Online-Mediums Mediazona erzählt die Belarussin davon, wie es ist, wenn das Schicksal alle Lebenspläne durchwirbelt, wenn man einfach durchkommen muss, dabei aber seine Ideale nicht aus dem Blick lässt.
Vor zwei Jahren erwachten die Bewohner eines Kyjiwer Hauses von Explosionsgeräuschen. In dem Haus lebten vor allem Belarussen, die vor den Repressionen geflüchtet waren. Niemand hatte ernsthaft daran geglaubt, dass ein Krieg beginnen würde. Einige Hausbewohner besaßen aus verschiedenen Gründen nicht einmal Papiere, darunter auch die damals 31-jährige Kira Bojarenko. Ihr Pass war bei den belarussischen Sicherheitsbehörden geblieben, als sie das Land überstürzt verlassen hatte, da sie wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt worden war.
Viele der Hausbewohner beschlossen, die Ukraine zu verlassen. Alle zusammen hatten nur ein Auto, daher sollten zuerst die Kinder und die Erwachsenen ohne Papiere an die polnische Grenze gebracht werden. Noch am selben Tag erreichten sie den Grenzübergang in Hruschiw, mussten dort aufgrund der langen Warteschlange aber bis zum 27. Februar warten.
„Es war hart: kleine Kinder im Auto, kaum Sachen dabei, wir hatten nur ein paar Flaschen Wasser eingepackt, und die waren alle. Alle wollten essen und trinken, aber an der Grenze gab es keine Geschäfte, keine Häuser. Die Tankstellen waren schon leergekauft“, berichtet Kira.
An der Schlange durften nur jene vorbei, die Kinder unter drei Jahren dabeihatten. Eine Frau bat eindringlich darum, vorgelassen zu werden, obwohl ihr Kind älter war, erinnert sich Kira. Die Ukrainerin sagte, dass sie das Kind zur Grenze bringen und dann zurückkommen würde. Letztlich wurde die Frau vorgelassen und kehrte einige Zeit später in Begleitung mehrerer Autos mit Wasser und Nahrung zurück, die sie an die wartenden Menschen verteilte. Die Belarussin erinnert sich, dass ein ukrainischer Grenzer am Kontrollpunkt sagte: „Was wollt ihr eigentlich, ihr Belarussen. Wir haben euch reingelassen, und ihr schießt auf uns.“
„Ich sagte ihm damals: Hier gibt es keine Belarussen, die nicht unter diesem Regime gelitten hätten und die der Ukraine nicht dankbar sind. Was sollen wir denn tun – an die Grenze zurückkehren und die Raketen mit bloßen Händen abfangen?“
„In Polen ist die Integration schwerer.“ – Rückkehr in die Ukraine
In Polen erhielten die belarussischen Geflüchteten Hilfe von Freiwilligen – Wasser, Essen und eine Unterkunft in einem Schulgebäude, das als Aufnahmeeinrichtung diente, später dann in einem Dorf bei Warschau. „Unsere größte und einzige Bitte war damals, nicht getrennt zu werden. Wir wollten als Hausgruppe zusammenbleiben, erst einmal zu uns kommen.“
In Polen erhielt Kira internationalen Schutzstatus. Während ihre Anerkennung geklärt wurde, arbeitete sie in einem Call Center der Organisation Helping to leave, die Ukrainern dabei half, die besetzten Gebiete zu verlassen. Die Belarussin sprach mit Menschen, die Hilfe brauchten, und half bei der Zusammenstellung von Evakuierungsrouten.
Im vergangenen Jahr empfahl ihr eine Freundin, die selbst ein Auto für die ukrainischen Streitkräfte überführte und humanitäre Hilfsgüter in die Ukraine brachte, bei einem Transport mitzufahren. Kira fuhr mit Papieren der Organisation, für die sie arbeitete, in die Ukraine und beschloss schließlich, in Kyjiw zu bleiben. In Polen sei es schwierig gewesen, sich zu integrieren, erzählt sie, die Ukraine sei ihr näher, zudem waren da noch Freunde.
Freiwilligendienst in Cherson: „Unterwegs musste ich mich um Alte kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie oft bettlägerig waren“
In Kyjiw beschloss Kira, dass sie mehr tun könne als nur Telefondienst. Die Organisation schlug ihr vor, nach Cherson zu fahren und bewegungseingeschränkten Menschen bei der Evakuierung aus der Stadt zu helfen. Kira willigte ein.
Die Arbeit bestand darin, Alte und Menschen mit Behinderung bei der Evakuierung aus gefährlichen Stadtteilen von Cherson zu begleiten. Kira zufolge waren das manchmal Leute, die ihr Haus verloren hatten, Menschen, die aus Kellern geholt wurden. Die Freiwilligen (Kira nennt sie „Blutsbrüder“) sammelten die Leute in jenen Stadtteilen ein, die am häufigsten beschossen wurden, und brachten sie zum Bahnhof. Kira fuhr dann gemeinsam mit ihnen mit dem Zug und übergab sie am Zielpunkt anderen Freiwilligen, die sie dann in Gruppenunterkünften unterbrachten. „Unterwegs musste ich mich um sie kümmern, sie füttern, Windeln wechseln, weil sie ganz oft bettlägerig waren.“
Auf jeder Fahrt begleitete die Freiwillige drei bis sieben Personen. Jede von ihnen hatte ihre eigene Geschichte, einige davon sind Kira besonders im Gedächtnis geblieben. Die erste Geschichte ist die von einem Großmütterchen, das 104 Jahre alt war. „Sie hatte schon einen Krieg überlebt, und jetzt erlebte sie wieder Beschuss und hatte ihr Zuhause verloren.“
Die zweite Geschichte ist die von einer Frau mit einem schweren Beckenbruch, die zuerst mit der Evakuierung einverstanden war, dann aber die ganze Reise über nach Cherson zurückwollte, weil dort kürzlich ihr Ehemann gestorben war. „Sie war sogar böse auf mich, als ich sagte, dass ihr Mann tot sei und sie nun weiterleben müsse, dass man sie an einen guten Ort brächte. Wir waren ja keine ausgebildeten Psychologen.“
„Im Bein steckten Splitter.“ – Die Verletzung
Im Juni 2023 erlitt Kira in Cherson eine Verletzung. Sie war gerade auf dem Heimweg von der Migrationsstelle, als sie unter Beschuss geriet. Sie wartete an einer Haltestelle auf den Bus, als ein Geschoss in ein nahegelegenes Haus einschlug. Im ersten Moment war der Schock so stark, dass sie nichts begriff oder spürte. Ein Ukrainer, der gerade mit dem Auto vorbeikam, bot Kira Hilfe an, brachte sie nach Hause, da bald der nächste Angriff beginnen konnte. Und so war es auch: Kira kam in ihre Wohnung, ging auf den Balkon, um zu rauchen und sich nach dem Erlebten zu beruhigen, als die Stadt erneut von Raketen angegriffen wurde.
„Ich nahm ein Kopfkissen und eine Decke und ging zum Ausruhen ins Badezimmer, da das der sicherste Ort ist. Dort begriff ich schließlich, dass etwas nicht stimmte. Es stellte sich heraus, dass in meinem Bein ein Splitter steckte.“
Kira erzählt, dass sie selbst ein Tourniquet anlegte, das sie damals immer bei sich trug, und den Fremdkörper aus der Wunde entfernte. Sie wählte den Rettungsdienst, kam aber nicht durch, da das Netz beeinträchtigt war. Am nächsten Morgen rief sie dann andere Freiwillige an, die sie ins Krankenhaus Tropinki brachten. „Der Arzt sagte, ich hätte alles richtig gemacht, ich solle die Wunde reinigen, frisch verbinden und in einer Woche wieder zu ihm kommen.“ Aber nach zwei Tagen hatte Kira stark erhöhte Temperatur und ihr Bein war aufs Doppelte angeschwollen. Sie musste schnell ins Krankenhaus.
„Da ich nicht alle Splitter erwischt hatte, war eine Entzündung entstanden, die Wunde war infiziert. Ich musste im Krankenhaus bleiben.“ Einige Tage später hatten Kiras Freiwilligenfreunde erreicht, dass sie nach Kyjiw verlegt werden konnte, um nicht unter dauerhaftem Beschuss im Chersoner Krankenhaus bleiben zu müssen. Nach Kyjiw reiste die Belarussin allein. Sie kam in das Krankenhaus, in dem sie im Endeffekt mehrere Monate blieb, die Ärzte entfernten eitriges Gewebe, reinigten die Wunde, gaben ihr Medikamente gegen Schmerzen und gegen die Schwellung. Kira zufolge hätte sie eine Hauttransplantation benötigt, aber in Kyjiw gab es Probleme mit einer solchen Operation. Kira beschloss, nach Polen zurückzukehren. In einem Krankenhaus in Białystok bekam sie schließlich eine Hauttransplantation.
Im Moment lebt die Belarussin in Polen und macht ihre Reha. Wenn die Wunde geheilt und ihr psychischer Zustand stabilisiert sind, plant sie, in die Ukraine zurückzukehren. „Ich habe Sehnsucht nach der Ukraine, dort sind meine Freunde, und das Land ist mir sehr vertraut. Aber noch ist da eine Art unterschwellige Angst. Selbst als hier in Polen zu Silvester überall die Feuerwerke krachten, habe ich mich unwohl gefühlt.“
Das Leben in Cherson war nicht leicht: Die Geschäfte schlossen bereits um 15 Uhr, nur die ukrainische Kette ATB hatte bis 19 Uhr geöffnet. Ab 21 Uhr herrschte in der Stadt Ausgangssperre, niemand durfte mehr auf die Straße. Und ständig Beschuss. Im Februar 2021 war Kira in Minsk festgenommen worden, sie verbrachte ein halbes Jahr in Untersuchungshaft. Dann wurden ihre Haftbedingungen geändert, sie kam aus der Untersuchungshaft frei und nutzte diese Chance, um Belarus zu verlassen, ungeachtet dessen, dass ihr Pass bei den Sicherheitsbehörden verblieben war. „Ich verglich Cherson mit Minsk, mit dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin. Es war sehr ähnlich, die gleichen Häuser, nur dass bei vielen Fensterscheiben fehlten und in den oberen Etagen häufig Wohnungen durch Angriffe ausgebrannt waren.“
Nach Minsk kann Kira nicht zurück. Deshalb möchte sie wenigstens in Cherson leben, der Stadt, die sie an ihr Zuhause erinnert, trotz Krieg.
Für Millionen von Menschen hatte Alexej Nawalny Hoffnung verkörpert: Hoffnung auf ein „wunderbares Russland der Zukunft“, in dem Regierungen durch Wahlen abgelöst werden können, das die Würde des Einzelnen achtet und seine Nachbarn in Frieden lässt. Mit dem Tod Nawalnys ist diese Hoffnung bei vielen in ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit umgeschlagen.
Schura Burtin, der als Journalist aus den Kriegsgebieten in der Ukraineberichtet hat, schreibt auf Meduza, dass Hoffnung derzeit schädlich ist. Sein aufgewühlter Kommentar hat im russischsprachigen Internet sehr starke Reaktionen hervorgerufen. Der Politologe Sergej Medwedew spricht etwa von einem „Manifest der Verzweiflung“, das vor allem emotional und nicht analytisch sei. Die Schriftstellerin Anna Starobinets dagegen sieht in Burtins Text schlicht eine „Anleitung zum Überleben“ unter den gegebenen Umständen. dekoder dokumentiert Burtins kontroverses Meinungsstück im Wortlaut auf Deutsch.
Erst nach diesem Mord wurde klar, wie immens unbewusst wir davor lebten in der Hoffnung auf eine „gute“ Zukunft. Wir wollten unbedingt glauben, dass das, was da vor sich geht, ein vorübergehender Fehler ist. Ungeachtet einer inneren Stimme der Vernunft lebte in uns das nebulöse Bild einer Zukunft, die wir bevorzugen würden – und bestimmte unser Verhalten. Nawalny hat sein Leben auf dieses Bild ausgerichtet, und es dadurch quasi Realität werden lassen. Putin hat uns schlichtweg erklärt, dass es diese Zukunft nicht gibt.
Ich denke, es ist wichtig, dass wir nicht zurückfallen in diese Illusion. Denn dieses Böse macht in der Tat mehr Angst, als wir verdauen können. Indem wir Blumen niederlegen oder ein Foto von Julia Nawalnaja posten, wird es keine solche Zukunft geben, wir beruhigen uns nur.
Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich
In dem Video Gebt nicht auf spricht Nawalny über eine Kraft in uns. Ich weiß nicht. Vielleicht hat er seine Kraft gespürt und sie auf uns alle projiziert. Ich denke, es ist wichtig, dass wir unsere Schwäche spüren. Dass wir klar sehen, dass wir keine Zukunft haben und dass wir sehr schwach sind. Dass wir sehen, wie zersplittert wir sind, wie wenig wir im Stande sind, einander zu helfen.
Zu hoffen, dass in absehbarer Zeit in Russland etwas gut sein wird, ist gefährlich. Wir befinden uns in einem schlimmen, bösartigen Prozess, der so bald nicht zum Stillstand kommen wird. Denn Russland ist ein riesiges Land, und es strotzt nur so von Kraft.
Ich glaube, der Mord war eine Botschaft an den Westen. Doch auch Russland hat die Botschaft vernommen. Und sie klingt hier so: „Verräter werden wir töten.“ Das hat Putin schon früher gesagt, doch als Verräter galten die, die seine Bande hintergingen. Jetzt sind es auch die Vaterlandsverräter. Dafür gibt es keine Befehle, das funktioniert anders: Auf allen Ebenen wurde jetzt klar, dass es keine Hemmungen mehr gibt. Vom Mord an Kirow bis zum Großen Terror hat es nur drei Jahre gedauert.
Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben
Auf einer Kundgebung in Tbilissi anlässlich der Ermordung Nawalnys skandierten ein paar Mädchen: „Wir haben keine Angst!“ Ich wollte ihnen sagen: „Das solltet ihr aber.“ Wir sitzen mit einem Psychopathen in einer Zelle, da muss man auf jeden Fall Angst haben. Man muss sich ganz nüchtern bewusst werden, dass alles schlimmer wird – und nicht nur in Russland. Der Krieg wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach ausweiten. Als ich von dem Mord hörte, dachte ich aus irgendeinem Grund sofort, dass sie jetzt in Georgien einmarschieren werden, einfach weil sie nicht aufhören können. Plötzlich wurde mir klar, dass die Litauer, Letten und Georgier, die wegen der russischen Bedrohung in Panik gerieten, völlig Recht hatten und ich nicht. Denn wir sahen es aus unserer Perspektive und subjektiv, sie aber von außen und objektiv.
Eigentlich interessiert Putin gegenwärtig nichts außer seine Reibereien mit dem imaginierten Westen. Klar, er hat Nawalny gefürchtet und gehasst, doch in seinem Kopf trägt er im Wahn eine Auseinandersetzung mit dem Westen aus. Derzeit geht es ihm dabei blendend, an der Front läuft es bestens und in seinem Kopf sagt er zu ihnen: „Ihr Idioten glaubt also, dass es ein anderes Russland gibt und irgendeinen Nawalny? Ihr habt gehofft, mit dem werdet ihr euch dann später einigen können? Nein. Ihr werdet mit mir sprechen, kapiert?“ Für ihn ist es wichtig, dass sie ihn mal können, dass sie ihm Respekt zollen. Und er wird die Einsätze erhöhen und weiter eskalieren. Niemand kann das stoppen. Wir haben dafür keine Kraft und hatten sie im Grunde auch nie. Aber auch die Welt hat keinen Plan, wie sie Widerstand leisten soll gegen das Böse. Putins Wahn ist nur eine Manifestation des Bösen; Krieg drängt aus jeder Ritze hervor, und es kann leicht passieren, dass wir dabei draufgehen.
Am ehesten wird sich wohl jeder einsam und allein für sich retten. Die Opposition ist verstreut und hilflos. Noch nicht einmal in Freiheit, in der Emigration versucht sie etwas gemeinsam auf die Beine zu stellen, zum Beispiel für die Interessen von Millionen aus Russland geflohener Russen einzustehen. Und mir fällt auch nichts ein, wie man das ändern könnte.
Hoffnung auf die Zukunft – derzeit ist das schädlich. Es ist zwecklos, sich den Kopf darüber zu zerbrechen: Wir sind zu wenige, wir sind sehr, sehr schwach. Alles, was wir haben, ist das Jetzt – und uns in diesem Jetzt. Wir müssen einsehen, dass unsere Lage beschissen ist und wir nicht wissen, was wir tun sollen.
Die Zeit ist gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten
Als ich von Nawalnys Tod erfuhr, wollte ich gleich alle anrufen. Das ist erst einmal das Einzige, was mir einfiel: anderen nah zu sein. Bewusst einander nah zu sein und sich umeinander zu kümmern. Sich klarzumachen, was die Personen, die mir nahestehen, jetzt brauchen, lieber zweimal darüber nachzudenken. Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, in den Notfall-Modus umzuschalten und zu versuchen, sich anders zu verhalten. Wir sollten uns bewusst darum bemühen, Menschen zu vereinen, ganz egal wozu, und sei es einfach, um gemeinsam ein Abendessen zuzubereiten. Was jetzt zählt, ist, sich nicht zu verschließen, offen zu bleiben für Einladungen anderer, zu vertrauen.
Als Russland die ersten Bomben auf Charkiw abwarf, zeigten die Kassiererinnen in den wenigen verbliebenen Supermärkten plötzlich eine ungewohnte Höflichkeit und Fürsorge. Sie spürten, dass es die Kunden, die bei ihnen in der Schlange standen, genau so gut hätte treffen können. So sollten auch wir handeln. Mir scheint, dass der Tod von Nawalny kein Signal ist, dass wir uns an die Schießscharten begeben sollten (wo wir uns sowieso nur die Hosen vollscheißen). Es ist eher ein Zeichen, dass wir auf unserem Weg bisher versäumt haben, etwas Wichtiges zu tun und dass wir deswegen so schwach waren. Dass wir immer so schwach sind.
Ich glaube nicht an wirkungsvolle Aktionen bei faschistischen Wahlen. Wobei man die Initiativen guter Leute unterstützen sollte, auch wenn sie andere Ansichten haben. Auf allerlei Zankereien sollte man bewusst Verzicht üben, das ist momentan dumm. Wir sind sehr schlecht darin, einander zu unterstützen, nicht nur in der Politik, sondern generell. Wir müssen das lernen, wenn wir nicht blöd verrecken wollen. Natürlich sind wir es gewöhnt, unser normales Leben zu leben, in dem es die Gesellschaft auf welche Art auch immer nicht zulässt, dass du draufgehst. Meines Erachtens müssen wir erkennen, dass die Situation jetzt eine andere ist.
Ich befürchte, dass es für die meisten meiner Freunde, die nichts dergleichen tun, in den kommenden Jahren gefährlich wird, in Russland zu bleiben. Als Nawalny getötet wurde, hat mein Freund und Kollege Andrej einen verzweifelten Post geschrieben und alle, die können, aufgerufen zu fliehen. Der letzte Satz dort lautete: „Ich hatte gar nicht die Wahl, es zu wollen oder nicht zu wollen.“ Ja, Andrjucha, die wenigsten wollen es. Aber du willst es plötzlich ganz leicht, wenn dir und deinen Nächsten Gefahr droht. Es geht nicht darum, ob alle vorzeitig abhauen, sondern darum, kein Dummkopf zu sein – und den Vampiren nicht noch jemanden zum Fraß vorzuwerfen. Zu wollen ist nicht das Problem, die Frage ist bloß, wie man im Ausland leben soll. Für viele ist das sehr schwer, sie brauchen Hilfe. Darüber heißt es ernsthaft nachzudenken, solange dafür noch Zeit ist.
Es ist schädlich auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug
Es steht schlecht um unsere Infrastruktur, aber immerhin gibt es sie. Wir sollten uns bemühen, noch mehr den Organisationen zu helfen, die etwas tun. Egal wem, wichtig ist, sich überhaupt aktiver an gemeinsamen Sachen zu beteiligen. Und die Organisationen sollten sich nicht verschließen. Je stärker diese Infrastruktur ist, desto größer sind unsere Chancen. Es ist gut, dass Menschen wie Alexej Nawalny und Julia Nawalnaja versuchen, uns zu vereinen, aber ganz allgemein ist es schädlich, auf Anführer zu setzen, das ist Selbstbetrug. Nur eine [zivilgesellschaftliche – dek] Infrastruktur kann funktionieren.
Solange es noch möglich ist, sollten wir Briefe an politische Häftlinge schreiben. Es ist wichtig, Kontakte mit Ukrainern wiederherzustellen. Das ist schwer, aber wir müssen es versuchen, ihnen schreiben, sie anrufen, ihnen helfen. Nach dem Mord rief mich ein nur flüchtig bekannter Kollege aus Kyjiw an, um sein Beileid auszudrücken – obwohl ich Nawalny gar nicht persönlich kannte. Er sagte, dass es in Kyjiw viel dämlichen Hate gebe, aber ihm sei es wichtig zu sagen, dass er mit uns fühlt. Und ich bin ihm unglaublich dankbar dafür.
Mir ist wichtig, dass ich das Gefühl des Entsetzens nicht vergesse, das im ersten Moment nach dem Mord über mich hereinbrach. Ich glaube, in diesem Moment habe ich alles ganz klar und nüchtern gesehen.
Hanna Yankuta, 1984 geboren in der westbelarussischen Stadt Hrodna, hat sich als Autorin, Übersetzerin und Literaturkritikerin einen Namen gemacht. Zu ihren Werken gehören Essays, zahlreiche Kinderbücher sowie Romanübersetzungen von Jane Austen oder Sally Rooney ins Belarussische. 2023 hat sie ihren Debütroman Tschas pustasellja (dt. Unkrautzeit) im Verlag Januškevič veröffentlicht, der von der Kritik vielfach gelobt wurde.
„Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden“, schreibt sie in ihrem Essay für unser Projekt Spurensuche in der Zukunft. Gerade die, die heute im Exil sind, können sich zwar vermeintlich frei über die Vorgänge in Belarus äußern. Allerdings muss ihnen dabei klar sein, dass sie keine Namen derjenigen nennen, die in Belarus geblieben sind, um sie so möglicherweise nicht zu gefährden. Die neue Mauer zwischen Belarus und den Belarussen, die ins Exil geflohen sind, ist das zentrale Thema dieses Textes. Wie können die Belarussen wieder zusammenfinden, wenn diejenigen, die draußen sind, nur noch das Belarus ihrer Vergangenheit erinnern und gleichzeitig nicht mehr am täglichen Leben in Belarus teilhaben können und damit an der Zukunft des Landes und seiner Gesellschaft?
Mich fasziniert schon seit langer Zeit, dass Karten nicht das wiedergeben, was ich um mich herum sehe. Nicht nur die auf Papier gedruckten, die einen bestimmten Moment festhalten und genau einen Moment später schon ungenau geworden sind, sondern auch Online-Apps, die sich ständig erneuern und der unsteten Realität anpassen. Karten, die eigentlich eine Art schematische Kopie der Welt sein müssten, bleiben in Wahrheit immer hinter ihr zurück. Auf ihnen abgebildete Objekte sind längst wieder verschwunden, und neue, bereits existierende, Objekte erscheinen noch nicht auf der Karte, obwohl wir sie auf unseren Streifzügen schon finden. Da ist ein Laden – auf der Karte gibt es ihn, in Wirklichkeit ist er schon weg. Ist er pleite? Oder umgezogen? Dort ein Gutshaus aus dem 19. Jahrhundert – wurde es abgerissen? Da eine ukrainische Stadt an der Frontlinie – dem Erdboden gleichgemacht? Klickt man Marjinka auf Google Maps an, sieht man Fotos von Häusern, Kirchen und Parks. Aber bereits im März 2023 war ein Video im Internet mit endlosen schwarzen Ruinenfeldern aufgetaucht, dem heutigen Antlitz von Marjinka. Karten sind ein Fenster in die Vergangenheit. Unsere Welt ist eine Welt der Karten, auf denen verschiedene Zeiten koexistieren. Mit Voraussagen über die Zukunft ist es dasselbe.
*** Bald wird es drei Jahre her sein, dass ich Belarus verlassen habe, und schon anderthalb Jahre, dass ich zum letzten Mal dort war. Aktuell lebe ich in Polen. Noch 2022 ist es mir gelungen, zwei Mal die polnisch-belarussische Grenze zu passieren, um Verwandte zu treffen, Dinge zu erledigen und zu sehen, wie es meinem Land geht. Damals gelangte ich über den Grenzübergang Bobrowniki – Berastawiza nach Belarus, den man leicht auf der Karte findet. Seit dem 10. Februar 2023 ist er geschlossen. Die Grenzübergänge werden immer weniger, Reisen nach Belarus immer riskanter, Menschen werden direkt an der Grenze festgenommen, oder zu Hause, einige Tage nach der Rückkehr ins Land. Und ich weiß nicht, wie lange es noch riskant sein wird, wie viel Zeit noch vergehen wird, bis ich wieder hinfahren kann. Belarus stelle ich mir jetzt so vor, wie ich es vor anderthalb Jahren gesehen habe, auch wenn sich dort seit dieser Zeit sicher viel verändert hat. Das Land hat sich verändert, meine Sicht darauf – doch mein Bild von ihm nicht. Wenn ich mir eine Rückkehr vorstelle, dann sehe ich veraltete Bilder – wie ich früher in Minsk lebte. Belarus lebt schon in der Zukunft, ich lebe in seiner Vergangenheit. Ich meine nicht, was die Nachrichten melden, sondern was wirklich passiert. Wir können nicht mehr in derselben Zeit leben, zumindest für eine gewisse Dauer gehen unsere Zukünfte getrennte Wege. Ich gehe meinen, Belarus seinen. Eine Zukunft, die wir nicht miteinander teilen können – ich darf nicht in Belarus‘ Zukunft hinein, und Belarus interessiert sich nicht für meine. Wir haben nur eine sehr kleine Auswahl an Mitteln, um auf die jeweils andere Zukunft Einfluss zu nehmen. 2023 wurde beispielsweise ein Gesetz erlassen, dass belarussische Pässe nicht mehr in den Auslandsvertretungen erneuert werden können, sondern nur noch persönlich im Land. Wenn die Gültigkeit meines Reisepasses abläuft, kann ich also keinen neuen mehr erhalten. So versucht der Staat, Einfluss auf mich zu nehmen, mir etwas zu beweisen. Es verkompliziert mein Leben, aber irgendwie werde ich damit zurechtkommen. Meine Art, mit Belarus zu interagieren, sind Bücher. Wenngleich sie derzeit, wenn überhaupt, dann nur noch als geheime Schmuggelware ins Land gelangen. Es ist viel leichter, Bücher aus Belarus herauszubringen, als welche hinein. Und ich kann nicht mehr Teil ihres Lebens sein, meine Teilhabe wird gefiltert, diejenigen, die an der Macht sind, nehmen meine Bücher als schädlich wahr. Auch zu diesem Zweck existieren Grenzen.
*** Vielleicht sind Landkarten aber auch ein Fenster in die Zukunft? Belarus grenzt an fünf Länder, die längste Grenze teilen wir mit Russland, darauf folgt, etwas kürzer, die zur Ukraine. Dann kommen Litauen, Polen und – mit der kürzesten gemeinsamen Grenze – Lettland. Diese Grenzen sind sehr aufschlussreich. Belarus – das sind 1283 Kilometer Russlands, 1084 Kilometer der Ukraine, etwa 679 Kilometer Litauens, etwas mehr als 398 Kilometer Polens und fast 173 Kilometer Lettlands (gemäß Informationen des Belarussischen Grenzschutzkomitees und Wikipedia). Wir haben also 1250 Kilometer Europäische Union, etwas weniger als Russland, aber sobald sich die Ukraine der EU anschließt, wird das Übergewicht offensichtlich sein. Die Grenze hat natürlich zwei Seiten. Polen verbinden etwas mehr als 398 Kilometer mit Belarus (etwa elf Prozent der Gesamtlänge der polnischen Staatsgrenze), Russland 1283 Kilometer. Prozentual gesehen ist die belarussische Grenze mit Russland länger als die russische Grenze mit Belarus. Geografie ist gnadenlos. Die Funktionen von Grenzen: sich selbst abgrenzen und sich von anderen abgrenzen. Die eigenen Konturen genau umreißen, kein Eindringen und Durchdringen zulassen – von Menschen, Ideen, Einflüssen. Das Innere zum Monolithen machen, zu einer eigenen Angelegenheit. Zu einer Art Gefängnis. Belarus ist ein Ort mit sehr deutlich umrissenen Grenzen, nicht jede Person darf dort leben, selbst die Staatsbürgerschaft bietet keine Garantie. Viele finden sich jenseits der Grenzen wieder: die Grenzen betreffen nicht nur Staaten, sie zerteilen auch unsere Gemeinschaften. Die belarussische Welt ist jetzt in Teile zerlegt, und über die Grenzen hinweg den Kontakt zu halten – mit Familie, Freunden, Kollegen – ist aktuell unsere Aufgabe. Die Grenze zwischen Belarus und Russland ist, mit einigen Ausnahmen, offen und wird kaum kontrolliert. Die Grenze zwischen Belarus und der Ukraine ist vermint. An der Grenze zwischen Belarus und Polen ist ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Litauen ein Zaun, an der Grenze zwischen Belarus und Lettland ein Zaun. Und doch sind wir noch nicht vollkommen isoliert, auch wenn alles in diese Richtung führt. Bis zur völligen Isolation braucht es viel mehr.
*** Es gibt eine Zukunft, die wir mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen können. Diese Zukunft ist jedoch sehr fern und wird von den exakten Wissenschaften prognostiziert. In 24.000 Jahren wird sich in der Zone um Tschernobyl die Anzahl des radioaktiven Elements Plutonium-239 um die Hälfte verringert haben. In 100.000 Jahren wird sich die Karte der Sternbilder am Himmel bis zur Unkenntlichkeit verändert haben. In 250 Millionen Jahren wird sich alles Festland auf der Erde zu einem Superkontinent vereint haben, den wir heute, in seiner fernen Vergangenheit, Pangaea Proxima nennen. In etwa einer Milliarde Jahre wird die Sonne heller werden, die Ozeane auf unserem Planeten verdampfen, und noch einige Milliarden Jahre später bläst sie sich zu einem Roten Riesen auf, um dann zu einem Weißen Zwerg zusammenzuschrumpfen. Und wenn die Erde bis dahin noch nicht in den höllischen Sonnenstrahlen zu Asche zerfallen ist, beginnt sie schrittweise abzukühlen und wird schließlich zu einem kalten, von Finsternis umgebenen Stück Materie, auf dem niemals wieder Leben in einer uns bekannten Form entstehen können wird.
*** Die Sprache weiß auch etwas über die Zukunft. „Nie wieder soll Krieg sein“ ist eine in Belarus wohlbekannte Phrase. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je jemand auf Russisch gesagt hätte. Eine weitere: „Wollt ihr ukrainische Verhältnisse?“ Wenn über etwas viel gesprochen wird, dann geschieht das nicht grundlos, die Sprache ebnet der Zukunft den Weg. Man muss nur aufmerksam hinhören.
*** In letzter Zeit schreiben Soziologen und Politologen immer häufiger, die Zukunft der belarussischen Proteste sei bereits angebrochen, es existiere eine neue Norm. Die Welt habe sich verändert, sei schon eine andere. Aber wenn man Google Maps öffnet und eines der Minsker Stadtviertel anklickt, kann man noch ein Foto der in Belarus verbotenen weiß-rot-weißen Flagge finden, die über einem Gebäude weht, als hätte 2020 nie geendet. Damals schien es, man könne nun für immer solche Symbole aus dem Fenster hängen, wider jegliche Repression. Die Zukunft zerfällt in Fragmente, wie dieser Text. Sie schreibt sich wie ein Gedicht – denn manchmal kann nur die Poesie dieser Wirklichkeit beikommen. Was ist Zukunft für politische Emigranten, für Geflüchtete? Entweder Kopf voran in den Strudel des neuen Lebens springen, oder mit aller Kraft, den Umständen zum Trotz, am Alten festhalten. Viele wählen immer wieder die zweite Variante, leben in der Vergangenheit, in Erwartung einer Möglichkeit zur Rückkehr. „Die Epoche hat uns im Griff“, sagen wir. Aber sie ist es nicht, die uns im Griff hat, sondern wir sind es, die sich an ihr festklammern. Wir wollen im Jahr 2020 bleiben, Realität und Zeitrechnung zum Trotz. Denn das, was wir um uns herum sehen, entspricht nicht dem, wie wir in unserem Inneren leben. Und dafür gibt es eine Erklärung – die Trägheit der Psyche, die nur schlecht mit Veränderung zurechtkommt. Um nach Belarus zurückkehren zu können, dürfte ich diesen Text nicht schreiben. Immer wenn ich öffentlich etwas sage, bezahle ich dafür mit meinem Recht auf Heimkehr. Letztlich ist das aktuell kein allzu hoher Preis, die Einsätze steigen täglich. Ich muss jeden Tag die Entscheidung treffen: Lebe ich, als gäbe es Belarus nicht, und füge mich in den Alltag des neuen Landes ein, oder aber entsage ich einem normalen, privaten Leben. Und bislang entsage ich noch, denn ich will dieses normale, private Leben nicht, das die Realität mir anbietet. Und wenigstens bislang hat es mir seine spezifischen Verpflichtungen noch nicht auferlegt.
*** Selbst am Rande einer Diktatur (und so könnte ich das Leben politischer Emigranten beschreiben) erfordert das Leben Disziplin, selbst bei Kleinigkeiten. Ich treffe ständig auf sie. Ich kaufe Weihnachtspostkarten, um sie nach Belarus zu schicken, auf vielen sind weiße und rote Details, wie die weiß-rot-weiße Flagge. Ich schaue mir die Postkarten mit der Lupe an und überlege: ist das erlaubt oder nicht? Wenn ich jemandem in Belarus eine Nachricht schreibe, überlege ich mir jedes Wort, besonders, wenn es entferntere Bekannte sind, mit denen ich nicht regelmäßig in Kontakt bin. Ist es sicher oder nicht? Ich weiß nicht, wer in diesem Moment ihr Mobiltelefon in den Händen hält. „Kann ich dir gerade schreiben?“ In der Korrespondenz erinnere ich immer wieder daran: nach dem Lesen löschen. In den Sozialen Medien schreibe ich immer dazu: Wenn ihr in Belarus seid, liked das nicht. Bevor ich darüber nachdenke, was erlaubt ist, denke ich darüber nach, was verboten ist. Ich bin ein Mensch der Diktatur und auch meine Ängste (sowohl die eigenen, als auch die von den Vorfahren geerbten) sind in der Diktatur geboren.
*** Wenn ich jetzt Google Maps öffne, sehe ich alle Namen auf Polnisch, entsprechend meinem Standort. Es ist durchaus bedeutsam, in welcher Sprache die Ortsnamen auf einer Karte stehen. Sonst hätten die Russen in den besetzten ukrainischen Gebieten die Wegweiser und Ortsschilder nicht ausgetauscht – von ukrainischen in russische. In der Minsker Metro würden die Beschriftungen in belarussischer Lacinka nicht mit den russischen, kyrillischen Bezeichnungen überschrieben. Sogar das Alphabet hat eine Bedeutung.
*** Wir leben in einer Situation, in der wir aktiv kolonisiert werden. Unser Nachbarstaat Russland (1283 Kilometer Zukunft mit Russland) gibt Unmengen an Ressourcen dafür aus, dass wir unter seinem Einfluss bleiben. Diesem Prozess können wir uns nicht entziehen, denn unsere Ressourcen – egal welcher belarussischen Community oder gar des gesamten Staates Belarus – reichen dafür nicht aus. Die Möglichkeiten Russlands, des Russischen Imperiums, waren immer unvergleichlich größer als unsere. Und wenn jemand will, dass es dich – so, wie du dich selbst siehst – nicht geben soll, und viel Kraft und Ressourcen in dieses Ziel investiert, dann ist Widerstand sehr schwer. Russifizierung ist nicht nur Sprache und Kultur, es ist auch die Art zu Denken. In einer solchen Situation wächst die Sprache stets über sich hinaus. Es ist nicht nur die Sprache Belarussisch oder Russisch. Es ist auch die Sprache der Liebe, zum Eigenen und zum Fremden, oder die des Hasses, auch auf das Eigene und das Fremde. Am 13. Februar 2023 sprach der belarussische Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki bei seinem Gerichtsprozess über nationale Aussöhnung – auch dazu ist Sprache fähig. Er wurde zu zehn Jahren Straflager verurteilt. Aber die Sprache kartografiert auch die Unmöglichkeit dieser Versöhnung, den Unwillen, wie die „andere Seite“ zu sein, das Verlangen, alles von sich abzuwaschen, was irgendwie mit dem anderen verbinden könnte. Da sind sie, da sind wir (Wos jany, a wos my) – so heißt ein Gedicht von Alhierd Bacharevič aus dem Jahr 2020. Dieses Gedicht ist auch heute noch aktuell. Sprache legitimiert und spaltet, und diese Spaltung ist schwer zu überwinden. Wenn die Realität zerbricht, in tausend Scherben zersplittert, wie soll man diese dann benennen? Worte werden gleichzeitig bedeutungsvoll und bedeutungslos, Wörterbücher neu zusammengestellt. Ein Gefängniswörterbuch, ein Kriegswörterbuch. Manchmal denke ich, wenn man alles korrekt beschreibt, allem eine sinnhafte Bezeichnung gibt, hat unsere Sicht eine Chance, an Klarheit zu gewinnen. Vielleicht würden wir dann auch sehen, in welcher Welt wir leben und wo die Wege sind, die irgendwohin führen. Aber es ist unmöglich, alles zu beschreiben, immer wieder bleibt etwas nicht greifbar, bleibt blind voranzugehen eine unserer heutigen Herausforderungen. Wir wissen nicht einmal, welche Sprache(n) wir und unsere Kinder in zehn Jahren sprechen werden. Vielleicht werden viele schon die Sprachen der Länder sprechen, in die wir heute flüchten: polnisch, litauisch, deutsch und andere. Doch uns steht bevor, über uns zu sprechen, unter anderem, um uns und unsere Zukunft auf Worten aufzubauen. Wenn ich versuche, meine Welt zu beschreiben, dann feilsche ich scheinbar mit der Sprache, bitte sie darum, mir ein wenig mehr zu erlauben, als ich vermag.
*** Es ist bereits unmöglich zu erinnern, was 2020 wirklich geschehen ist. Die Erinnerung verzerrt diese Zeit, wie auch Karten die Realität verfremden, und später wird uns nur noch übrigbleiben, dokumentarische Zeugenaussagen zu sammeln und den eigenen Erinnerungen die fremden gegenüberzustellen. Später – wann wird das sein? Die Zukunft der Proteste – wann werden wir uns erlauben, uns an sie zu erinnern? Wann wird man das ohne Leerzeichen tun können, ohne Namen auszulassen und ohne Fotos unkenntlich zu machen? Die Leerzeichen verfestigen sich im Gedächtnis, bleiben als weiße Flecken darin zurück, unbezwingbar. Im besten Fall kann man vielleicht die Karte dieser weißen Flecken etwas verändern. Das ist das Ergebnis zahlreicher Faktoren, darunter Propaganda und Lügen. Sie wachsen in unser Leben, als würden wir uns nicht widersetzen und uns nicht von ihnen abgrenzen. Und wir müssen auch das berücksichtigen: Wir verändern uns unter ihrem Einfluss, oft unbemerkt für uns selbst. Eine Korrektur daran sollte man überall vornehmen – in der Emigration, innerer wie äußerer, in Belarus und jenseits der Landesgrenzen. Denn für Lügen, wie auch für Gewalt, ist jeder Raum zu eng, sie streben nach draußen, wollen immer neue Territorien erobern. Sie sind fähig, sogar aus Entfernung Einfluss auszuüben. Doch dasselbe kann man auch über die Freiheit sagen, so, wie wir sie sehen. Und in diesem Sinne erleiden Grenzen – und die, die sie bauen, auf beiden Seiten – eine Niederlage.
*** Ich kann nichts über Belarus erzählen, nur über die Belarussen, die im Ausland leben. Über mich selbst. Denn über Belarus weiß ich nichts mehr, und wenn ich etwas weiß, muss ich die Zunge im Zaum halten. Um öffentlich über Belarus zu sprechen, muss man die Worte abwägen, um niemandem zu schaden. Oft überprüfe ich, bevor ich etwas ausspreche, und sei es nur ein unschuldiger Fakt, ob jemand diese Information schon einmal öffentlich geteilt hat. Bestenfalls in einem Bericht von Menschenrechtsorganisationen, denn ihnen traue ich: Wenn sie etwas veröffentlichen, heißt das, dass man darüber sprechen kann. Bei öffentlichen Auftritten wähle ich meine Formulierungen sorgfältig, aus Angst, etwas preiszugeben, unnötig Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken – Namen, Bücher, Ereignisse, oder irgendwelche Tricks und Kniffe, die im Land helfen. Ich kann nur mit Pausen sprechen, wäge jeden Satz ab. Manchmal ist das Wichtigste die Pause selbst. Jedes ENTER in diesem Text ist eine Pause, drei Sternchen sind eine lange Pause. Ich muss langsam sprechen. Das Schweigen betrifft nicht nur jene, die in Belarus geblieben sind, es überschreitet auch die Grenzen und wird zum charakteristischen Zug der Zeit der Diktatur. Das Schweigen hat viele Gesichter. Es gibt das Schweigen von den einstigen Opfern der sowjetischen Repressionen und das Schweigen von den anderen Völkern, die auf unserem Gebiet lebten. Geschlossene Archive. Verborgene Statistiken. Durchgestrichene Erinnerungen an die ersten Tage nach den Wahlen 2020, als tausende Menschen Folter und Qualen durchlebten. Die Vernichtung der unabhängigen Medien und ihre Abstempelung als „extremistisch“ (einem unabhängigen Medium ein Interview zu geben, einfach nur etwas zu sagen – ist schon ein Verbrechen). Augenzeugen werden weggesperrt. Incommunicado – das gewaltsame Blockieren jeglicher Kontakte der politischen Gefangenen mit der Außenwelt und das Fernhalten jeglicher Nachrichten und Informationen. Wir wissen nichts: Nicht, wie viele Menschen an Covid gestorben sind, nicht, wie viele das Land verlassen haben, nicht, wie viele im Gefängnis sitzen. Wir haben keine genauen Zahlen, wir haben nur Dunkelziffern, die anhand von geschätzten Angaben gemessen werden, mathematisch oder intuitiv. Jemand in Belarus schweigt aus Sprachlosigkeit. Weil es ihm an Worten fehlt, das zu beschreiben, was vor sich geht, weil es nicht in Worte zu fassen ist. Jemand erlegt sich ein Tabu auf, über Gefängnisse und Repressionen zu sprechen, weil das eine direkte Erfahrung unendlichen Leids ist, über die zu theoretisieren wie Blasphemie erscheint. Jemand entscheidet sich zu schweigen, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat, um so den ukrainischen Stimmen mehr Raum zu geben. Schweigen ist aktives Handeln.
*** Das Schweigen hat Zukunft. In dieser Zukunft kommen alle belarussischen politischen Häftlinge aus den Gefängnissen frei und erzählen, was man mit ihnen all diese Zeit über gemacht hat. Es gibt offene Gesprächsrunden über die Gewalt während und nach den Wahlen im Jahr 2020. Die Archive werden geöffnet, man kann sich ein vollständiges Bild von den Repressionen der Sowjetzeit machen, ebenso von allen anderen Zeiten, die bei uns Spuren hinterlassen haben. Das Schweigen ist vielschichtig, früher oder später holt es jeden ein. Und wir müssen bereit sein für das Grauen, wenn wir erfahren, was das Schweigen vor uns verbirgt, wenn es endlich gebrochen wird.
*** Außerdem gibt es noch die Unsichtbarkeit, sie hat zwei Formen. Die erste besteht darin, wenn du dich versteckst, dich in ein Chamäleon verwandelst, dich unsichtbar machst, absichtlich unerreichbar für fremde Augen. Das ist eine Art Macht über die Welt, manchmal die einzige, die man sich erkämpfen kann. Die zweite Form ergibt sich daraus, dass man dich nicht sehen will, dich von den Karten und aus der Geschichte streicht. Wenn jemand sich weigert, dich zu sehen, dann gibt es dich scheinbar nicht. Auch das sind aktive Handlungen – sowohl das Unsichtbarsein, als auch das Nicht-sehen-Wollen. Das Nicht-sehen-Wollen ist der erste Schritt zur Isolation. Es ist sehr leicht, nicht zu sehen, was hinter der Mauer passiert.
*** Aber es ist unsere Zeit, es ist unsere Geschichte, und wir müssen sie durchleben, unsere Träume mit den Karten abgleichen. Bei uns wird es nicht wie in Warschau. Wir werden nicht wie die in Berlin. Wenn wir eine Chance kriegen und es schaffen sie zu nutzen, dann werden wir vielleicht nicht wie die im „Moskauer Umland“. Und wie wird es dann? Wie in Minsk, wie in Slonim, wie in Shabinka. Wenn nicht für mich, so doch für jemanden, der nach mir kommt. Das kann mir die Zukunft nicht wegnehmen. Denn das Wichtigste, was ich als Belarussin seit 2020 habe, ist das Vertrauen in die Menschen. Ich glaube wirklich an die Belarussen, an die drinnen wie draußen. Ich glaube, dass wir alles nur Mögliche tun, uns vorantasten auf der Suche nach unserem weiteren Weg. Wir gehen, wie wir es vermögen und wie wir es uns ausmalen, selbst wenn wir manchmal einander nicht verstehen oder unterschiedliche Routen wählen, auf unser Ziel zu.