War die Friedlichkeit der Proteste von 2020, die im Sommer vor vier Jahren begannen, ein Fehler? Wie unterscheiden sich die kulturhistorischen Prägungen in Belarus, Russland und in der Ukraine? Was sind die tragischsten Ereignisse in der belarussischen Geschichte? Warum konnte sich die belarussische Nation trotz aller Unkenrufe doch formieren?
In einem Gespräch mit dem Online-Medium Gazeta.by nimmt der belarussische Journalist Alexander Klaskowski den Leser mit auf eine fulminante Tour durch die wechselhafte Historie seines Landes.
Bahdana Paulouskaja: Viele Wissenschaftler, mit denen wir im Kontext unseres Projektes sprechen konnten, merkten an, dass wohl keine Nation in ihrer Entwicklung so viele Hürden überwinden musste wie die belarussische. Und dennoch gibt es die Belarussen. Wie haben wir überlebt?
Alexander Klaskowski: In gewisser Weise ist das einfach ein Wunder und ein Glücksfall, denn viele Völker sind verschwunden, ohne Nationen zu werden. Ich denke, dass den Belarussen ein bestimmter Charakterzug nützlich war, nämlich ihre Anpassungsfähigkeit. Die rauen Lebensbedingungen und viele feindliche Angriffe ließen die Fähigkeit entstehen, jedem Widerstand zum Trotz zu überleben.
Zudem würde ich die Besonderheiten der belarussischen Natur anführen: Wälder und Sümpfe. Der Wald bot Rettung, er ernährte und schützte, wenn die Fremden kamen und die Siedlungen niederbrannten. Und wenn es keinen Wald in der Nähe gab, galt das Prinzip „versteck dich in den Kartoffeln“. Doch das bedeutet nicht, dass die Belarussen Angsthasen sind. Ich bestreite dieses Stereotyp, das einige verbreiten. Wir haben viele Helden in unserer Geschichte. Bei uns gab es das Rittertum, unser Adel hatte ruhmreiche Kampftradition, und selbst in der Sowjetarmee schätzte man die Belarussen als gute Soldaten.
Wir überlebten auch, weil es in unserer Geschichte immer wieder Menschen gab, die den Belarussen halfen, sich als Nation zu verstehen. Diese Menschen wurden vernichtet, doch unser Land brachte immer neue, strahlende Persönlichkeiten hervor, Intellektuelle und Aktivisten. Dazu gehörten Kastus Kalinouski, Winzent Dunin-Marzinkewitsch, die Luzkewitsch-Brüder, Branislau Taraschkewitsch, Janka Kupala und Jakub Kolas, ebenso die Gründer der BNR und die Begründer der BNF. Auch Sjanon Pasnjak ist zu erwähnen. Heute stehen einige seiner Äußerungen in der Kritik, und viele meinen, seine politische Zeit sei längst vorbei, doch er bleibt in jedem Fall eine einzigartige Persönlichkeit.
Am Ende von Gorbatschows Perestroika war die BNF sehr aktiv. Denken wir nur an die berühmte Sitzung der Unabhängigkeit im August 1991, in der sich die kleine, aber gut organisierte und politisch erfahrene Oppositionsfraktion der BNF durchsetzte, dass die Unabhängigkeitserklärung den Status eines Verfassungsgesetzes erhielt. Etwas später wurden die weiß-rot-weiße Flagge und das Pahonja-Wappen zu Staatssymbolen.
Welche negativen Charakterzüge haben wir Belarussen? Was steht uns im Weg?
Ich begegne der Frage nach einem nationalen Charakter grundsätzlich mit einer gewissen Skepsis. Da gibt es viele Vorurteile und Stereotype. Ich habe auch schon temperamentvolle Esten und phlegmatische Ukrainer getroffen. Schon zu Sowjetzeiten und auch heute noch heißt es, die Belarussen zeichne ihre Gastfreundlichkeit aus. Aber sind die Georgier etwa nicht gastfreundlich? Auch den Tschuktschen sagt man Gastlichkeit nach. Das ist also alles durchaus fragwürdig. Oder es wird dieses negative Stereotyp kultiviert, dass die Belarussen mehr als andere untereinander streiten. Als wären Menschen aus anderen Ländern auf Social Media höflicher. Überhaupt haben einige Belarussen diese Angewohnheit, irgendwelche negativen Eigenschaften des Nationalcharakters zu finden oder sich auszudenken und dann sich darüber zu beschweren. Das lehne ich ab. Ich sehe wenig Sinn darin, sich als Nation schlechtzumachen. Wir müssen unsere Vorzüge und Stärken hervorheben, um uns so zu motivieren und Menschen, die heute in einer sehr schwierigen Situation sind, optimistisch zu stimmen – ob in Belarus oder im Ausland, im erzwungenen Exil.
Dann beschreiben Sie doch bitte unsere positiven Eigenschaften.
Als positiv betrachte ich die Besonnenheit, die vernünftige Vorsicht und die Gesetzestreue, die man uns Belarussen nachsagt. Wobei aus Werten oft auch Schwächen werden können. Besonnenheit kann zu Trägheit und Unentschlossenheit werden, daher rührt diese belarussische Redensart „Vielleicht gehört das ja so?”. Und Gesetzestreue wird von den heutigen Machthabern oft ausgenutzt, denen es, wie wir wissen, selbst „manchmal nicht nach Gesetz zumute ist“ (Lukaschenka).
Hätten die Demonstrierenden 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben
Oder nehmen wir dieses Bild aus dem Jahr 2020, das im Netz und in den Medien viral ging, als protestierende Belarussen ihre Schuhe auszogen, bevor sie auf eine Parkbank stiegen. Es gab viel Kritik daran, besonders von Ukrainern, die meinten, wir sollten die OMON lieber mit Molotow-Cocktails angreifen. Aus meiner Sicht ist es nicht korrekt, den Belarussen vorzuwerfen, sie hätten im Jahr 2020 nicht entschlossen genug gehandelt. Während der Maidan-Aufstände in der Ukraine herrschten völlig andere Bedingungen als während der Proteste in Belarus. Die Ukrainer hatten es nicht mit einer so brutalen Diktatur zu tun, es gab finanzielle Mittel, um die Straßenaktionen über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten, denn einige Oligarchen setzten sich dafür ein, es gab starke unabhängige Medien, eine Opposition im Parlament, eine Spaltung der Eliten und vieles mehr.
Hätten die Teilnehmenden dieses spontanen, friedlichen Aufstandes in Belarus 2020 Steine genommen und die OMON mit Steinen beworfen, hätten sie das Regime auch nicht überwältigt, sondern nur noch härtere Reaktionen erlebt. Auch so haben sehr viele stark gelitten. Hätten die Demonstrierenden im August 2020 versucht, den Palast der Unabhängigkeit zu stürmen, hätte es massenhaft Tote gegeben. Dort standen Schützenpanzer mit großkalibrigen Maschinengewehren bereit. Lukaschenka sagte später selbst, dass er nicht gezögert hätte, „die Armee zu aktivieren“, also die Protestierenden zu erschießen. Diese Proteste hatten also praktisch gar keine Chance.
Wie lässt es sich erklären, dass wir uns so von unseren Nachbarn unterscheiden, mit denen wir doch eigentlich eine gemeinsame Geschichte teilen, vom Großfürstentum Litauen über die Rzeczpospolita hin zum Russischen Reich und der UdSSR?
Bei den Russen gab es die Periode des mongolisch-tatarischen Jochs, das auch in der Mentalität seine Spuren hinterlassen hat. Die belarussischen Gebiete wurden davon kaum tangiert, auch wurden sie vom Westen kaum von den Deutschen Ordensrittern heimgesucht, auch dank des Widerstands und einiger herausragender Siege. Während im Großfürstentum Moskau der Despotismus herrschte, galten bei uns die für die damalige Zeit fortschrittlichen Gesetze des Großfürstentums Litauen, unsere Städte erhielten das Magdeburger Stadtrecht. Mit anderen Worten, bei uns wurde damals schon die Achtung der Person, des Eigentums und des Rechts kultiviert. Heute macht dies den Unterschied zwischen Russen und Belarussen aus.
Die Ukrainer hingegen sind eher ein südländisches Volk. Manchmal hört man, die Ukrainer seien die Italiener Osteuropas, die Belarussen wiederum die Deutschen Osteuropas. Das ist in meinen Augen ein treffender Vergleich. Die Ukrainer sind durchaus temperamentvoller, sie haben die Traditionen der freien Kosaken und der Rebellion, und das bedingt auch Besonderheiten in ihrer Geschichte und Gegenwart – wie sie beispielsweise im Jahr 2022, als ihnen eine Niederlage innerhalb von drei Tagen prophezeit wurde, den russischen Invasoren absolut unerwartet einen Schlag ins Gesicht versetzten. Wir dagegen haben mit den Litauern recht viel gemeinsam, auch wenn uns unsere slawische Herkunft von ihnen trennt.
Gibt es ein besonders tragisches Ereignis in unserer Geschichte, das sich Ihrer Ansicht nach stärker als andere in der belarussischen Mentalität niedergeschlagen hat und dessen Nachwirkungen wir bis heute spüren?
Die belarussische Geschichte ist insgesamt tragisch. Über Jahrhunderte hinweg wurde der Genpool der Nation dezimiert, weshalb ich immer wieder sage: Es ist ein Wunder, dass die Belarussen überlebt haben, dass sie bestehen und weiterhin wunderbare, große Persönlichkeiten hervorbringen. Hier kann man auf die Kriege mit den Moskowitern eingehen, als die Hälfte der Bevölkerung umkam. Das war eine riesige Tragödie. Aber diese Ereignisse liegen sehr lange zurück, die heutigen Belarussen wissen nur aus Büchern davon.
Natürlich muss auch der Zweite Weltkrieg genannt werden. Das war ein kollektives Trauma, das bis heute spürbar ist. In meiner Kindheit und Jugend waren Gespräche über die Invasion der Hitlertruppen, über den Hunger und die Angst der Menschen vor Erschießung sehr häufige Themen unserer Eltern und Großeltern. Die Veteranen sprachen übrigens nicht so gern über den Krieg, und wenn sie doch etwas erzählten, zum Beispiel bei einem Gläschen nach der Banja, dann war da keine Romantik, kein Pathos, sondern einzig, dass es eine furchtbare, blutige Angelegenheit gewesen sei. Womit man heute in Russland und auch in Belarus hausieren geht, dieser verlogene Patriotismus mit „wir können es wiederholen“, das hat überhaupt nichts mit der wahren Erinnerung an den Krieg zu tun. Tatsächlich sind die Belarussen Pazifisten. Selbst soziologische Studien zeigen das, wenn es um die Einstellung zum Krieg in der Ukraine geht. Ich denke, das ist einer der Faktoren, der Lukaschenka und Putin davon abgehalten hat, das belarussische Militär in den Krieg hineinzuziehen.
Heute stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel
Andererseits nutzt das jetzige Regime die belarussische Hauptsache-kein-Krieg-Einstellung auch für sich aus. Lukaschenka ist bemüht, sich als weisen und allmächtigen Friedensschützer in Belarus darzustellen, obwohl sein Regime in Wahrheit als Co-Aggressor dem Kreml in seinem ungerechten Krieg gegen die Ukraine hilft. Jedoch hält das Lukaschenka nicht davon ab, mit seinem Spitz irgendwo an die litauische Grenze zu fahren und zu erzählen, wie er das blauäugige Belarus vor den NATO-Horden und den Flüchtlingen bewahrt. Bei einem Teil der Bevölkerung hat er damit Erfolg. Auch Tschernobyl gehört zu den tragischen Ereignissen.
Und nicht zuletzt das frischeste kollektive Trauma – das Jahr 2020. Auf der einen Seite dieser Aufschwung von Nationalgefühl, Politisierung, das Moment des gesellschaftlichen Erwachsenwerdens, als sich zeigte, als wir als politische Nation mit einer starken Zivilgesellschaft auftraten. Auf der anderen Seite aber die schwere Niederlage des friedlichen Aufstandes, die bei Hunderttausenden, vielleicht sogar Millionen von Belarussen zu physischen und psychischen Traumata führte. Und heute, wo unser irres Regime den Grad der Repressionen und der Angst hochdreht, parallel dazu aber die Souveränität stückchenweise an Moskau abgibt, ist schon allein Lukaschenkas eine nationale Tragödie. Denn offensichtlich stehen das Überleben der Nation und die Unabhängigkeit von Belarus auf dem Spiel.
Was war das wichtigste Initialereignis für die Nationsbildung?
Vielleicht mutet diese Antwort für einen Menschen mit demokratischer Grundhaltung paradox an, aber ich würde sagen: die Gründung der BSSR. Natürlich strengten die Bolschewiki dieses Projekt vor allem deshalb an, weil es vorher die BNR gegeben hatte. Aber, Hand aufs Herz, die BNR hatte keinen Erfolg, sie vermochte es nicht (und konnte es unter diesen Bedingungen wohl auch nicht schaffen), ein richtiger Staat zu werden. Sie war ein vornehmlich virtuelles Gebilde, auch wenn die historische Bedeutung dieses Momentums zweifellos enorm ist.
Die Körnchen, die Ende der 1980er Jahre gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht
Die BSSR war natürlich nicht unabhängig. Zwar war die Souveränität der Unionsrepubliken in der sowjetischen Verfassung festgeschrieben, es gab sogar das Recht auf Austritt aus der UdSSR, aber wer glaubte damals daran, dass Moskau so etwas zulassen würde? Zu Stalins und Breschnews Zeiten war das selbstverständlich undenkbar, aber infolge der Perestroika Gorbatschows begann die Sowjetunion zu zerfallen, und Belarus erlangte seine Unabhängigkeit. Im Gegensatz zu beispielsweise Tatarstan und Baschkirien, die nur Autonome Sowjetrepubliken waren. In diesem Sinne erfüllte dieser sowjetische Status also doch einen Zweck.
Zweitens würde ich noch die Perestroika, den Zerfall der Sowjetunion und die ersten Jahre der Unabhängigkeit gesondert herausstellen. Eben diese Phase der Wiedergeburt am Ende der 1980er und in der ersten Hälfte der 1990er war eine fantastische, einmalige Zeit. Dank der Belarussischen Volksfront (BNF), ihren engagierten Persönlichkeiten, den Anführern der nationalen Wiedergeburt, begannen Hunderttausende unserer Landsleute, sich vollkommen als Belarussen zu fühlen. Auch ich, wenn ich das so pathetisch sagen darf, bin in diesen Jahren zum bewussten Belarussen geworden. Diese politische Aktivität brach plötzlich wie ein Bach unter dem Eis hervor, es fanden Kundgebungen statt, die weiß-rot-weiße Flagge wehte über den Plätzen. Es war eine kurze, aber sehr intensive Periode.
Und im Jahr 2020 funktionierte es auf fantastische Weise erneut. Die klassische, „alte“ Opposition, wie man sie nennt, hat zwar anscheinend ihren Einfluss verloren und tat sich bei den Straßenaktionen nicht sonderlich hervor. Aber diese Körnchen, die damals gesät wurden, die Samenkörner des nationalen Selbstbewusstseins und des staatsbürgerlichen Bewusstseins, sie traten 2020 ans Licht, und wir sahen über den Protestzügen ein Meer aus weiß-rot-weißen Fahnen.
Der zweite Teil des Gesprächs mit Alexander Klaskowski erscheint am 6. August 2024 bei dekoder.
Am 8. Juli hat ein Gericht in Moskau die Dramaturgin Swetlana Petriitschuk und die Regisseurin Shenja Berkowitsch zu sechs Jahren Haft verurteilt. Das Theaterstück, das vom Gericht als „Rechtfertigung des Terrorismus“ ausgelegt wurde, hatte zuvor renommierte Preise gewonnen. Es basiert auf Prozessakten aus Verfahren gegen junge Frauen, die aus Russland nach Syrien reisen um Kämpfer des Islamischen Staats zu heiraten. In ihrem Schlusswort vor der Urteilsverkündung erklärte Petriitschuk, dass sie überzeugt war, mit ihrer Arbeit etwas gegen die Ausbreitung des Terrorismus zu tun. Das Gericht sah es anders. Meduza dokumentiert Petriitschuks letzte Rede.
Swetlana Petriitschuk am 8. Juli 2024, dem Tag der Urteilsverkündung. Rechts neben ihr die Mitangeklagte Regisseurin Shenja Berkowitsch / Foto: Valery Sharifulin, TASS, Imago Images
Das Erste, was mir mein Verteidiger am ersten Verhandlungstag sagte, war, dass Berkowitsch und ich in demselben Aquarium sitzen, in dem damals auch die Angeklagte Warwara Karaulowa ihr Urteil gehört hatte. Er muss es wissen, er war auch ihr Verteidiger. Mein Dozent für szenisches Schreiben hat mir seinerzeit natürlich beigebracht, dass man die Figuren für Theaterstücke so genau wie möglich studieren muss, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass ich ihnen derart nah kommen würde.
Das gesamte Jahr [seit ich in Untersuchungshaft sitze – dek] fühle ich mich als Opfer einer Absurdität größten Ausmaßes. Der größten, die mir je im Leben oder in der Kunst begegnet ist. Und darüber hinaus bin ich auch gekränkt: Denn vor sechs Jahren, als ich das Stück schrieb, war ich mir sicher, dass ich etwas tat, dass von den Strafverfolgungsbehörden unbedingt begrüßt werden müsste: Mit den Mitteln, die mir als Schriftstellerin zur Verfügung stehen, wollte ich helfen, Verbrechen vorzubeugen. Ich habe versucht, Motive hinter Straftaten zu erforschen – genau wie das bereits Dutzende Schriftsteller vor mir getan haben. Ich habe geschrieben, dass es solche Frauen [gemeint sind die Frauen, die vom Islamischen Staat angeworben wurden und nach Syrien reisten – dek] gibt – und Sie, verehrtes Gericht wissen das besser als alle anderen. Wir haben mehr als 20 Zeugen gehört, die bestätigt haben, dass es in dem Stücke keine Rechtfertigung von Terrorismus gibt. Und letztlich geht es doch um einen Text in russischer Sprache, ohne schwieriges Vokabular oder Fachterminologie. Um festzustellen, ob die Autorin für den IS wirbt oder nicht, muss man weder promovierte Kunsthistorikerin sein noch Linguistin. Es reicht aus, Russisch zu sprechen und einen mittleren Schulabschluss zu haben.
Nach Auffassung der Anklage haben im Verlauf von sechs Jahren sowohl einige Hundert professionelle Theaterleute nicht gemerkt, dass dieser Text eine Rechtfertigung von Terrorismus enthält. Außerdem auch das Kulturministerium, der Theaterverband, der Strafvollzugsdienst sowie Tausende Zuschauer und Hunderte Menschen, die uns während der vergangenen 14 Monaten in Untersuchungshaft geschrieben haben. Ja, selbst einige Linguisten; einer von ihnen schreibt Bücher über die Methoden linguistischer Gerichtsgutachten. Aber die Anklage weiß es besser.
Der 15. Monat unserer Untersuchungshaft ist angebrochen. Und es ist höchste Zeit, dass diese Absurdität ein Ende hat. Damit Berkowitsch und ich endlich wieder etwas Sinnvolles tun können – arbeiten, uns um unsere Nächsten kümmern, unsere Liebsten umarmen und unsere Gesundheit wiederherstellen. Möge der gesunde Menschenverstand endlich siegen.
Lange Zeit schien es klar, dass im russischen Abnutzungskrieg nur eine Seite gewinnen kann: Russland hat fast viermal so viele Einwohner wie die Ukraine, viel mehr Waffen, und die ohnehin stärkere Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren. Dennoch ist die Offensive bei Charkiw stecken geblieben und auch die Vorstöße an anderen Frontabschnitten sind strategisch unbedeutend. Dabei verliert Russland in großer Zahl gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie. Militärexperten gehen davon aus, dass der Kreml im kommenden Jahr vor ernsten Nachschubproblemen stehen wird.
Bereits jetzt versucht Russland offenbar, seinen Mangel an Material durch mehr Personal auszugleichen: Seit Beginn der Invasion setzen die Kommandierenden vor allem auf Artilleriefeuer und Frontalangriffe, bei denen die eigenen Soldaten als Kanonenfutter verheizt werden. Laut Mediazona hat Russland im ersten Halbjahr 2024 rund ein Drittel seiner Gesamtverluste zu verzeichnen. Während 2023 im Schnitt etwa 120 russische Militärangehörige pro Tag fielen, sind es derzeit 200 bis 250.
Die Soldaten, die an vorderster Front ins Feuer geschickt werden, stammen vor allem aus ärmeren Landesteilen abseits der Großstädte. Wenn sie nicht auf dem Schlachtfeld zurückgelassen werden, kommen ihre Leichen in Zinksärgen nach Hause zu ihren Familien. Wie das abläuft, darüber berichtet ein anonymer russischer Offizier dem Medienprojekt Mediazona: Drei Monate lang hat er mehr als ein Dutzend Tote nach Hause gebracht, bis in den Fernen Osten.
Achtung, dieser Text enthält drastische Darstellungen von Krieg, Tod und Gewalt.
Ich bin ausgebildeter Militärpsychologe. In meinem Dienst musste ich gefallene Soldaten nach Transbaikalien begleiten. Eigentlich ist es die Regel, dass so etwas nur Leute mit meiner Ausbildung machen, aber jetzt schicken sie sonst wen dorthin. Meistens sind es einfache Soldaten, manchmal beliebig ausgewählte Offiziere. Der Grund ist natürlich der akute Personalmangel.
Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522
Der Ablauf an sich ist simpel: Die Toten aus der Ukraine werden in die Leichenhalle auf dem Gelände des Militärhospitals in Rostow am Don geliefert, in das Zentrum zur Identifizierung der Toten Nummer 522. Grob gesagt ist das eine Sortierstation, von der aus die Leichen ins ganze Land transportiert werden. Dort arbeiten Militärangehörige aus allen Einheiten, die im Krieg sind. Ihre Arbeit ist die Hölle: Sie müssen die Leichen identifizieren und alle Toten aus ihrer Einheit für den Abtransport vorbereiten. Sobald eine Leiche eingeliefert und identifiziert wurde, ruft das Zentrum aus Rostow im jeweiligen Truppenteil an und bestimmt einen Totenbegleiter. Infrage kommen Offiziere und Vertragssoldaten, die gerade verfügbar sind. So war es auch bei mir. Weil ich mich geweigert habe, einen Befehl auszuführen, wussten sie nicht, wohin mit mir. Ich war froh, dass sie mich genommen haben: besser ich als jemand, der überhaupt keine Ahnung hat, was er zu einer Mutter sagen soll, die ihren Sohn beerdigen muss.
Danach läuft es folgendermaßen: Die Begleitperson fliegt nach Rostow am Don, fährt ins Zentrum 522, nimmt den gefallenen Soldaten in Empfang, seine Papiere und persönlichen Gegenstände, die seiner Familie überbracht werden müssen, die Sterbeurkunde und die Dokumente, die für das Begräbnis nötig sind, sowie den Tapferkeitsorden. Dann heißt es warten, bis es grünes Licht für die Reise gibt. Wenn es soweit ist, bekommt die Begleitperson eine Einweisung vom Zentrumsleiter. Die Toten werden in eine IL-76 geladen und zum Bestimmungsort geflogen. Wie wir mit den Hinterbliebenen umgehen sollen, wird bei der Einweisung nicht gesagt.
Bei der Ankunft werden die Leichen von der örtlichen Militärverwaltung in Empfang genommen, die den Weitertransport in die Herkunftsorte organisiert. Ist man dort angekommen, übergibt man die Leiche den Angehörigen und bleibt bis zum Schluss bei ihnen, einschließlich der Beerdigung. Danach erhält man die Papiere, die für die Kompensationszahlungen nötig sind, einen Sterbe- und Bestattungsnachweis, und kehrt in seinen Truppenteil zurück.
Von Rostow aus gehen praktisch täglich solche Flüge. Unser Flugzeug war voll belegt: 80 Holzkisten, innen drin Zinksärge mit den Leichen und an den Wänden eng an eng knapp 60 Begleitpersonen, von denen manche bis zum letzten Zielflughafen mitfliegen mussten. Im Normalfall dauert die Reise mehrere Tage, mit Zwischenstopps in verschiedenen Großstädten. Am Anfang [des Krieges] bekam jeder Tote seine eigene Begleiterperson, aber seit es nicht mehr genug Leute gibt und die Verluste steigen, gibt es eine Person für alle Gefallenen aus einer größeren Stadt oder einem Truppenteil.
Weder angemessene Lagerung noch Kühlung
Das Identifikationszentrum in Rostow am Don ist ein Ort des Grauens. Da ist in erster Linie der Gestank, der mit nichts vergleichbar ist. Obwohl ich im tiefsten Winter dort war, ist er schwer zu vergessen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie es im Sommer zugeht. Das Zweite ist der Umgang mit den Toten: Sie liegen in den riesigen Hangars, in denen sie identifiziert und sortiert werden, einfach auf dem Boden. Ich habe dort einen abgetrennten Kopf auf dem Boden liegen sehen. Sein verzerrtes Gesicht werde ich nie vergessen. Es gibt weder angemessene Lagerung noch Kühlung, was klar ist angesichts des Zustroms – die Leichenhallen sind nicht für diese Mengen ausgelegt. Bei den Gefallenen aus meiner Einheit habe ich dann den ganzen Prozess mitangesehen: Den Toten wird eine Uniform angezogen – das machen einfache Soldaten, manchmal sogar Wehrdienstler –, dann werden sie in einen Zinksarg gelegt, geschminkt, damit sie durch das kleine Sichtfenster nicht ganz so schlimm aussehen, dann verschweißt man den Sarg, legt ihn in eine Holzkiste, beschriftet sie und bereitet sie für den Transport vor.
Die ganze Angelegenheit ist auch körperlich Schwerstarbeit, man ist praktisch als Packer angestellt. Angefangen bei der Leichenhalle in Rostow bis zum Heimatdorf des Toten muss man ständig Särge schleppen und hin- und herschieben.
Bei der Ankunft muss man selber mit den Angehörigen sprechen. Natürlich ist da vor allem das ungeheure Leid der Mutter. Am schlimmsten ist es, wenn der Tote sehr jung war, 20 bis 25 Jahre. Dann wäre ich am liebsten selbst an seiner Stelle, um nicht mitansehen zu müssen, was mit den Eltern passiert, wenn sie ihr totes Kind sehen.
Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen
Der eine Satz, den ich als Begleitperson bei der Ankunft sagen muss, lautet ungefähr so: „Sehr geehrte Maria Iwanowna, mein herzliches Beileid angesichts Ihres schweren Verlusts.“ Alles andere kann warten. Um die Situation irgendwie erträglicher zu machen, gibt es einfache Regeln. Man sollte immer eine Flasche Wasser und Taschentücher dabeihaben und sich vorher überlegen, wo sich der oder die Betroffene hinsetzen oder hinlegen kann. Auf keinen Fall darf man einer Mutter, die ihr Kind verloren hat, etwas sagen wie: „Ich verstehe sie.“ Niemand ist in der Lage, ihren Schmerz zu verstehen, solche Worte können eine aggressive Reaktion hervorrufen. Wenn das passiert, darf man nicht darauf eingehen, nichts beweisen oder abstreiten. Man muss einfach zuhören und warten, bis die Emotionen nachlassen.
Außerdem ist es empfehlenswert, die Angehörigen zu fragen, was sie über die Todesumstände wissen. Wenn ihnen noch keine Details bekannt sind – eine Mutter wird immer fragen, wie ihr Sohn gestorben ist –, sollte man sie damit beruhigen, dass es ein schneller Tod war und ihr Kind nicht leiden musste. Manchen Müttern gibt das etwas Trost. Man darf eine Mutter nie von dem Sarg wegzerren und muss verhindern, dass es die Angehörigen tun. Im ersten Moment sollte man die Tränen und Emotionen fließen lassen, bis sie irgendwann abklingen. Viele machen den Fehler, sie gleich beruhigen zu wollen, sie ziehen sie weg, lassen sie nicht ausweinen. Das ist falsch. Die meisten Begleitpersonen wissen nicht einmal das. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, also sagen sie einfach nichts. Das kommt alles daher, dass es an geschulten Leuten fehlt und sie jeden X-Beliebigen nehmen.
Ich wurde oft eingesetzt, alle ein oder zwei Wochen. Bei 13 Beerdigungen war ich persönlich dabei. Es gibt auch welche, die noch mehr mitgemacht haben. Der Strom reißt nicht ab. Fast jeden Tag gibt es Ehrenbegräbnisse.
Noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen
Am eindrücklichsten ist mir ein Lehrer in Erinnerung geblieben, den ich in ein Dorf namens Bura an der chinesischen Grenze begleiten musste. Er war eingezogen worden und starb an einer Verletzung am Bein, die eigentlich gar nicht lebensgefährlich war. Aber er hat zu viel Blut verloren, weil man das Bein nicht oberhalb der Wunde abgebunden hat, sondern darunter. Dafür wurde nie jemand zur Rechenschaft gezogen. Er war ein einfacher Lehrer, den man Tausende von Kilometern weit weggeholt hat, um Menschen zu töten. Auf dem Land sind die Leute einfach gestrickt: Man sagt ihnen, ihr müsst „gegen Nazis kämpfen“, also kämpfen sie gegen Nazis. In diesem gottverlassenen Dorf gab es keinen, der ihn als Lehrer ersetzen konnte. Dieser Mann war sehr beliebt, das ganze Dorf schätzte ihn. Ich habe noch nie so viele Blumen und aufrichtige Tränen gesehen wie bei seiner Beerdigung.
Dann gab es noch eine Mutter, der ich ihren zweiten Sohn tot zurückbringen musste, nachdem sie schon einen [im Krieg] verloren hatte. Das Dorf hieß Tschara. Der erste Sohn war als Freiwilliger in die Gruppe Wagner eingetreten, der zweite wurde eingezogen, der dritte war noch zu Hause, aber wollte auch bald hingehen. Sie ist natürlich zusammengebrochen, war vollkommen hysterisch. Ich habe mir ihre Hasstiraden anhören müssen, auf Putin, auf Schoigu, einfach auf alle. Ich trug eine Uniform, also war ich an allem schuld, ich habe diesen Krieg entfesselt, alle getötet, ihren Sohn getötet – das volle Programm. Sie tat mir sehr leid. Sie wäre mir am liebsten an die Gurgel gegangen, aber durch den Schock war sie wie gelähmt. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und wäre fast ohnmächtig geworden.
Ein anderer harter Moment war, als mehrere Tote aus einer Einheit auf einmal in eine Leichenhalle gebracht wurden. Es kamen viele Verwandte, alle waren völlig am Ende. Zwei der Familien wollten unbedingt die Zinksärge öffnen und die Leichen umbetten. Sie hatten einen Trennschleifer dabei, aber als sie es nicht schafften, baten sie mich um Hilfe. Da habe ich zum ersten Mal einen Zinksarg zersägt, unter den Blicken der trauernden Verwandtschaft. Es war eiskalt, meine Hände waren steif gefroren, und dann war einer der Toten schrecklich zugerichtet. Während wir sie in die Leichenhalle trugen, um sie umzuziehen, weinten alle hysterisch. Einen Zinksarg zu zersägen ist nichts für schwache Nerven.
Ich habe schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind
Es gibt verschiedene Gründe, warum die Leute die Särge öffnen wollen. Eigentlich haben Zinksärge ein kleines Fenster, damit man das Gesicht sehen kann. Normalerweise, wenn es keine Kopfverletzung gibt, erkennt man den Toten. Manche Angehörigen wollen ihn einfach noch einmal berühren, sie wollen sich von dem Körper verabschieden. In Transbaikalien werden die Toten traditionell zu Hause im offenen Sarg aufgebahrt. Aber das ist in dem Fall keine gute Idee. Vor allem, wenn es warm ist, dann liegt die Leiche da und rottet vor sich hin. Bei meinen Einsätzen habe ich das eigentlich nie erlaubt. Dazu war ich befugt: Ich konnte entscheiden, ob ein Zinksarg geöffnet wird oder nicht. Wenn man das Gesicht durch das Sichtfenster sehen und den Toten identifizieren kann, dann reicht das. Meistens sind es die Mütter, die ihren Sohn noch einmal sehen wollen, aber sie verstehen nicht, dass da der Geruch ist, und es ist schlicht auch nicht ungefährlich.
Nur ein Mal habe ich es erlaubt. Es war Winter, da konnte man ihn einen Tag lang offen stehenlassen. Außerdem war er noch nicht lange tot, wir hatten ihn zügig nach Hause gebracht. Alle anderen habe ich in geschlossenen Särgen beerdigt. Bis zur Beisetzung wird der Zinksarg an verschiedenen Orten gelagert, nicht unbedingt im Leichenschauhaus, einfach weil es die nicht überall gibt. In ganz abgelegenen Dörfern werden die Särge manchmal in der Schule aufgebahrt – in der Aula oder sogar in der Kantine. Der Tote steht einfach mitten im Raum, die Menschen kommen und verabschieden sich. Das sind oft kleine, arme Dörfer. Die Leute tun, was sie können.
Ich persönlich habe nie etwas Negatives erlebt, außer von dieser einen Mutter, und der habe ich meine Nummer gegeben und versprochen zu helfen, so gut ich kann. Sie hat sich später bei mir gemeldet, wir haben telefoniert, ich habe ihr mit den Papieren geholfen. Alle anderen haben auf mich nicht feindselig reagiert. Die Leute verstehen, dass ich nichts dafürkann, dass ich sie nicht umgebracht habe. Wenn ich mit den Menschen rede, habe ich schon das Gefühl, dass viele gegen den Krieg sind. Sie verstehen, dass es völliger Irrsinn ist. Viele haben versucht, ihre Angehörigen davon abzuhalten, aber sie fahren trotzdem und sterben.
Auf dem Land sind alle arm
Zum Leichenschmaus bin ich meistens nicht geblieben. Das ist zu hart, furchtbar. Ich habe alle möglichen Ausreden erfunden, damit ich nicht hinmusste, obwohl man mich eingeladen hat. Das Essen war natürlich gut, aber ich bin meistens gefahren. Nur wenn man mit einer Eskorte zu einer Ehrenwache muss, dann hat man Wehrpflichtige dabei, die regelmäßig mit Essen versorgt werden müssen. Und wo versorgt man sie? Beim Leichenschmaus. Also muss man bleiben und dabeisitzen.
Das ist ein elender Anblick. Auf dem Land sind alle arm, für ein Begräbnis sammelt das ganze Dorf. Die Gegend ist sowieso schon trostlos, aber jetzt ist sie noch trostloser, weil sie buchstäblich alle Männer von dort wegholen. Burjaten, Jakuten, alle Minderheiten, die in diesem Gebiet leben. Die kommen zuallererst an die Front. Mindestens in zwei der Musterungsbehörden, mit denen ich zu tun hatte, hörte ich, dass sie keine „Mobilisierungsressourcen“ mehr hätten. Im Klartext heißt das, dass es in ihren Verwaltungskreisen keine Männer mehr gibt.
Ich habe etwa drei Monate [als Totenbegleiter] gearbeitet. Das ist eine harte Erfahrung, Ich bin wenigstens ein Militär und dafür ausgebildet, ich wusste immerhin, was auf mich zukommt. Aber es ist trotzdem grauenvoll. Erst war es sehr schwer, aber dann gewöhnst du dich natürlich dran.
In Belarus wurden die neu gewonnenen Freiheiten im Zuge der Unabhängigkeit im Jahr 1991 auch von vielen Musikern, Literaten, Künstlern oder anderen Kulturschaffenden begrüßt. Es entstand eine Bohème, die den neu gewonnenen Raum zu nutzen wusste, beispielsweise mit experimentellen Musikprojekten. Andere wiederum erlebten den Beginn der 1990er Jahre als eine Zeit der wirtschaftlichen und politischen Krisen, woraus schließlich die Abkehr vom eingeschlagenen demokratischen Weg und die Wahl Alexander Lukaschenkos resultierte.
Lavon Volski, eine Legende der belarussischen Alternativ- und Rockmusik, beschreibt diese wilde Zeit des Aufbruchs und des autoritären Rückfalls in seiner Kolumne für das Online-Portal Budzma.
Für manche Leute waren die 1990er Jahre eine Katastrophe, ein Kollaps, ein schmerzhafter, manchmal unerträglicher Bruch mit den bisherigen Lebensgewohnheiten. Da ich keine über viele sowjetische Jahre antrainierten Gewohnheiten hatte, nahm ich diese Zeit auch anders wahr – als Beginn von etwas vollkommen Neuem. Eine neue Welt, ein neuer Himmel, ein neues Leben. Ein neues, normales, nicht von der sowjetischen Hydra umfangenes Land, in dem neue Möglichkeiten und neue Perspektiven wachsen.
Mit Begeisterung stürzte ich mich in viele kreative Projekte – den neuen Radiosender Belarus Maladsjoshnaja (dt. Jugendliches Belarus) beim staatlichen Rundfunk (der eigentlich nur eine Adaption des alten Senders an die neue Zeit war), mit scharfer Analytik, Interviews, provokativen Rubriken und Hitparaden. Jede Woche produzierte ich ein einstündiges Hörspiel, für das ich Krimis, Fantasy-Geschichten und andere Werke aus dem, wie man damals sagte, Bereich Action adaptierte, sogar Thriller und Horrorgeschichten. Ich war für das gesamte Tondesign von Belarus Maladsjoshnaja zuständig, nahm Pausenzeichen, Jingles und Titelmelodien auf. Darüber hinaus kreierte und moderierte ich die Mystery-Sendung Kvadrakola und nahm parallel Reklamesongs für alle möglichen Werbekunden auf. Es gab unzählige – vom klassischen Jeansmodehersteller bis hin zu großen Firmen, die Gas- und Elektroherde produzierten.
Im großen Studio des staatlichen Rundfunks nahmen wir auch das, wie es uns damals schien, epochale Album der Band Novae Neba (dt. Neuer Himmel) auf: Son u tramwai(dt. Traum in der Tram). Das Album war vielschichtig (intellektueller Rock!), mit elektronischen und akustischen Instrumenten, wechselnden Tempi und Dynamiken. Ich spielte Keyboard und um die notwendigen Effekte zu erzeugen, mussten wir uns immer neue Synthesizer für die Aufnahmen ausleihen. Manchmal nahm ich ein Taxi, lud das benötigte Keyboard ein (die waren ziemlich schwer!), brachte sie zum Sender, wo ich sie in die oberste Etage zum großen Konzertaufnahmestudio schleppte.
Die heisere Stimme als Alarmsignal
In den 1990er Jahren wurden im Radio (und wenn ich mich nicht irre, auch im Fernsehen) die Sitzungen des belarussischen Parlaments übertragen. Uns interessierte kaum, was bei diesen Abgeordneten in ihrem Sowjet (der nicht mal in Rada umbenannt worden war!) vor sich ging. Einzig eine grelle, heisere Stimme zog die Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie in höherer Tonlage etwas verdeutlichte, jemanden beschuldigte oder angriff. Wir gingen andauernd durch die Einlasskontrolle im alten Stalingebäude des Senders, rein und raus, und dort lief immer grad die Live-Übertragung der Sitzungen, und jedes Mal gellte diese hohe Stimme in den Ohren. Wie ein Alarmsignal, ehrlich. Oder gar Fliegeralarm?
„Wer schreit da so?“, fragte ich meine Journalistenkollegen.
„Achte gar nicht drauf“, antworteten sie, „nur so ein Populist. Macht einen auf Kämpfer gegen die Korruption.“
„Man hört ihn ziemlich oft.“
„Ach, weil er sich ständig ans Mikro drängelt, ist nicht davon wegzukriegen. Zu jedem Thema hat er seine ganz persönliche Meinung.“
Bohème-Leben jenseits der Politik
Falls es bis hierhin nicht ohnehin schon klargeworden ist, sage ich es jetzt: Wir lebten damals jenseits der Politik. Ja, Sie haben sich nicht verhört! Wir dachten, wir hätten fertig gekämpft, geschossen und gewonnen, dass wir unser zwar mittelmäßiges, aber unabhängiges Land mit dem Pahonja-Wappen und der weiß-rot-weißen Flagge haben und sich nun die Politiker mit Politik beschäftigen sollen – und wir mit dem, wofür wir geschaffen waren – mit Kreativem und Kunst. Zudem schienen die Sterne günstig dafür zu stehen – überall eröffneten Galerien, Ausstellungsräume, unabhängige Theater, Clubs, Festivals, Literaturvereinigungen – die bekanntesten von ihnen waren die Vereinigung der freien Schriftsteller und Bum-Bam-Lit (ich war Mitglied in beiden), – also eine Unzahl von Möglichkeiten, sich anzuschließen und sich völlig zu öffnen! Es war eine Zeit des großen kreativen Auftriebs, verschiedenster Unternehmungen und spannender, ernstzunehmender Ideen.
Und gleichzeitig war es eine Zeit des Bohème-Lebens. Fast täglich gab es Bankette mit kaltem Büffet, feierliche Eröffnungen, Präsentationen und Partys.
Ich wollte rufen, doch die Stimme brach ein
Ich erinnerte mich, wie ich pro forma vor den Wahlen die Auftritte der Kandidaten anschaute. Darunter war auch der stimmstarke Korruptionsbekämpfer. Nachdem ich seinen Auftritt gesehen hatte, war ich absolut davon überzeugt, dass eine solch archaische Person in unserer neuen demokratischen Gesellschaft keinerlei Chancen hat. Und beschäftigte mich weiter mit meinem Kram. Dann ging es weiter wie in einem schlechten Film, in dem die Protagonisten gerade noch tanzen, trinken und lachen, aber plötzlich – Szenenwechsel! – alles ins Gegenteil verkehrt ist – Stille, Halbdunkel, Trübsinn und Trauer. Genauso ist es uns passiert – wir fahren gerade mit dem Taxi zum Sender, um das nächste Keyboard aufzunehmen (das Instrument liegt quer auf unseren Knien, weil es nicht in den Kofferraum passte), lachen und scherzen, weil wir gestern mal wieder auf einer Party waren und die aufgedreht-idiotische Stimmung anhält. Im Taxi läuft das Radio, wir schreiben das Jahr 1994 … Plötzlich hören wir die geschliffenen Worte des Sprechers: „Den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl der Republik Belarus gewann mit großem Abstand …“
„Das kann nicht sein“, sagte ich.
„Kann es!“, drehte sich der Taxifahrer um. „Jetzt wird der Sascha es diesen bourgeoisen Unternehmern aber geben! Ganz schnell bringt er die auf Linie!“
In diesem Augenblick begriff ich mit Schrecken, dass eine neue Zeit anbricht – trist, behäbig, schädlich für Leben und Kunst. Außerdem begriff ich, dass wir diese Zeit nicht hatten kommen sehen, weil wir so mit uns selbst beschäftigt waren. Dass wir zu Opfern des klassischen Schemas geworden waren: Wenn du jenseits der Politik stehst, kommt die Politik von ganz allein zu dir. Da war sie nun.
Seitdem sind schon dreißig Jahre vergangen! Alles gab es in dieser Zeit: Verbote, Tauwetter, Repressionen, demokratisch-liberale Gespenster, Einfrieren und Auftauen, Staatsterror … Und ich begreife, dass ich zu alldem schon bereit gewesen war, nachdem ich einmal den Auftritt unseres Volksherren gehört und ihm in die Augen geschaut hatte …
Zu einem solchen Jubiläum beglückwünschen wir einander also, liebe Landsleute! Zu einem traurigen und unerfreulichen Jubiläum. In dreißig Jahren verändert sich in jeder Gesellschaft etwas. Aber das Wichtigste ist, dass sich seitdem – und sogar radikal – die Einstellung der Mehrheit zum (scheinbar) unveränderlichen Führer verändert hat. Aus diesem frohen Anlass (und um euch ein wenig Hoffnung zu geben) gebe ich zu bedenken, dass mit jedem Jubiläum, wie schon der Held in dem satirischen sowjetischen Roman Die zwölf Stühle sagte. „Die Chancen steigen“. Und mit jedem Tag nähern wir uns den neuen Zeiten.
Den Sekt haben wir alle innerlich längst kaltgestellt.
Die literarische Karriere des Dichters Gennadij Rakitin war steil aber nicht von langer Dauer. Über den Zeitraum von einem Jahr erschienen unter seinem Namen 18 Gedichte zu patriotischen Themen. Zahlreiche Abgeordnete der Kreml-treuen Staatsduma freundeten sich auf social Media mit ihm an. Er kam sogar fast in die Endrunde eines Literaturwettbewerbs. Doch dann erschien sein letztes Gedicht:
Lang drehte hier Gennadij Aus Z-Gedichten einen Strick, Am Ende aber sprach er: Scheißkrieg.
Tatsächlich war es das einzige, das er selbst verfasst hatte. Genauer gesagt: Die Gruppe von Kriegsgegnern, die sich den patriotischen Dorflehrer Rakitin ausgedacht hatten. In Wahrheit handelte es sich bei den Gedichten, die russische Patrioten so begeistert hatten, um Übersetzungen deutscher Dichter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Alexander Estis hat für Mediazona mit einem der Initiatoren über die Aktion gesprochen.
Gennadij Rakitin, 49 Jahre alt, Lehrer in einer kleinen Schule im Moskauer Umland und Hobby-Poet, war eine Erfindung russischer Anti-Kriegs-Aktivisten. Das Bild ließen sie von einer KI erstellen. / Screenshot: VK
Der fiktive Poet Gennadij Rakitin ist das Ergebnis kollektiver Arbeit. Wer hat ihn erfunden?
Aus naheliegenden Gründen können wir die Namen dieser Menschen nicht öffentlich machen. Am besten formuliert man das so: Es handelt sich um gewöhnliche Bürger Russlands, die keiner Partei oder politischen Bewegung angehören. Eine Gruppe von Freunden hat sich einfach zusammengefunden und beschlossen, so ein Projekt zu machen. Ohne jegliches Budget, in der Freizeit. Denn das Schlimmste, was man heute tun kann, wäre zu schweigen und nichts zu tun – im Glauben, jemand würde den Kampf an deiner statt führen.
Wann und wie entstand die Idee zu diesem Projekt?
Die Idee entstand größtenteils dank Margarita Simonjan und dem Schriftstellerverband Russlands. Im Frühling 2023 begannen sie, ihre beiden Anthologien von Z-Poesie intensiv zu bewerben. Wir haben sie – natürlich nicht in Gänze – gelesen und waren erschüttert: Darin verströmt beinah jedes zweite Gedicht, wenn man so will, den Geruch von ganz gewöhnlichem Faschismus.
Mit dem Projekt Gennadij Rakitin wollten wir den Lesern von Z-Poesie demonstrieren, dass sie sich für Texte begeistern, die sich kaum von der Lieblingslektüre der Nationalsozialisten unterscheiden. Ein besonders bedeutsamer Aspekt, über den wir lange nachgedacht haben: Wie können wir ein antimilitaristisches Statement machen, um nicht nur diejenigen zu erreichen, die ohnehin gegen den Krieg sind, sondern umgekehrt solche, die ihn befürworten? Wie können wir ihnen in gewissem Sinn den Boden unter den Füßen wegziehen? Damit sie, sobald sie wieder ein „patriotisches Gedicht“ sehen, darüber ins Grübeln geraten, ob es nicht genau den Nazismus enthält, gegen den sie zu kämpfen vorgeben. Natürlich verstehen wir, dass dieses Ansinnen höchst idealistisch bleibt.
Hat der erfundene Name des Fake-Dichters irgendeinen bestimmten Sinn?
So gut wie keinen. Zunächst haben wir über irgendwelche Anagramme oder andere Wortspiele nachgedacht. Aber dann kamen wir zu dem Schluss, dies könne riskant sein: Man sollte uns ja nicht früher entlarven, als wir es selbst wollten. Also haben wir einfach einen Namen gewählt, der möglichst russisch klang – gemäß dem Prinzip Rakitin-Bereskin (von beresa – „Birke“). Dagegen stammen die Fotos der „heimatlichen Gefilde“, die auf Rakitins Profil im Netzwerk VK zu finden sind, aus deutschen Wäldern. Das war eine weitere Stellungnahme zum Thema „Einzigartigkeit der russischen Natur“.
Auf seinem Profil im Netzwerk Vkontate veröffentlichte Rakitin Bilder der einzigartigen russischen Natur. Auch hierbei handelte es sich in Wahrheit um Fotos aus deutschen Wäldern / Screenshot: VK
Und was ist mit den Fotos von Gennadij Rakitin selbst? Wie viele Bilder gibt es überhaupt von ihm?
Das war ein einfacher Prompt an eine KI, so etwas wie „ein russischer Intellektueller auf der Datscha in einem Moskauer Vorort“. Insgesamt gibt es nur zwei Fotos von Gennadij Rakitin.
Haben Sie sich von der Tradition literarischer Fälschungen und Mystifikationen inspirieren lassen?
Vielleicht nicht unmittelbar, aber selbstverständlich lieben wir unterschiedliche Mystifikationen. Etwa die Geschichte mit Jonathan Swift und seiner Suppe aus Säuglingen als Beispiel doppelten Trollings.
Wer erstellte die Übersetzungen und Adaptationen?
Wir selbst. Ein Kollektiv aus einigen wenigen Freunden.
Nach welchen Kriterien wurden die Originaltexte ausgewählt?
Uns stand kein umfangreiches Archiv nationalsozialistischer Poesie zur Verfügung – nur das, worauf man über Google frei zugreifen kann. Tatsächlich folgten wir keinen strikten Auswahlkriterien. Wir wollten, dass die Gedichte zur russischen Gegenwart passen – aber es passten beinah alle. Aussortiert haben wir vor allem diejenigen, die zu eindeutigen Anachronismen geworden wären, weil darin beispielshalber irgendwelche Ackerbauern, Bergmänner, Propeller oder Trommeln erwähnt werden.
Von welchen Prinzipien ließen Sie sich bei der Übersetzung der Texte leiten?
Wir haben uns um maximale Nähe zum Wortlaut des Originals bemüht. Nach Möglichkeit fast schon eine Interlinearübersetzung. Es scheint, als sei uns das lediglich beim ersten Gedicht nicht ganz gelungen. Aber bei den meisten Übersetzungen versuchten wir sogar das jeweilige Reimschema beizubehalten, obwohl in unserem Kollektiv weder professionelle Lyriker noch professionelle Übersetzer sind. Wir mussten so gut wie nichts verändern. Außer höchstens „Russland“ statt „Deutschland“ oder einfach „Uniform“ anstelle von „braunes Hemd“. Natürlich nahmen wir uns bei der Übersetzung ab und an kleinere Freiheiten heraus, aber die waren ästhetisch bedingt und hatten nicht das Ziel, die Quelle irgendwie zu verschleiern.
Wie gelangte Rakitin zu Anerkennung innerhalb der Z-Community?
Als wir anfingen, wussten wir nicht genau, ob das Projekt Fahrt aufnehmen würde und wie wir es genau vorantreiben sollten. Zuerst wollten wir einfach eine gewisse Menge an Internet-Freundschaften sammeln, in der Hoffnung, dass der Motor irgendwie von selbst anspringt. Dann sahen wir plötzlich, wie Rakitin auf dem Kanal Kriegspoesie zum militärischen Sondereinsatz geteilt wurde – dem größten digitalen Kanal, der ausschließlich der Z-Poesie gewidmet ist. Erst danach verstanden wir, dass wir auch selbst bei verschiedenen Foren anklopfen und um Veröffentlichung von Rakitins Texten bitten konnten. Die meisten publizierten es. Einige Foren mit mehreren hunderttausend Followern verlangten Geld, in diesen Fällen nahmen wir davon Abstand.
Erhielt Rakitin auch persönliche Zuschrifen?
Persönlich schrieben nur wenige. Meist wurde direkt unter den Posts kommentiert: „Gut gemacht!“, „Alles richtig!“ Es gab auch einen lustigen Kommentar: „So jung – und schon so ein Guter!“ Dabei ist Rakitin 49 Jahre alt.
Gab es auch Kritik?
Eigentlich nicht. Einmal schrieb jemand, es sei inhaltlich alles richtig, aber holprig formuliert. Und einmal wurde Rakitin, nachdem wir ein Gedicht zum Geburtstag des Führers beziehungsweise Putins gepostet hatten, von ein paar Leuten „entfreundet“.
Hat jemand im Laufe der Zeit Verdacht geschöpft?
Erstaunlicherweise nicht. Tatsächlich kann man sämtliche Texte Rakitins in drei Gruppen einteilen: Die erste Gruppe besteht aus Gedichten, die Krieg und Heimat verherrlichen. Also reinste Z-Poesie. Dass man sich dafür begeistert, das ist das Kranke am heutigen Russland. Die zweite Gruppe bildet gewöhnliche Lyrik über allgemeinmenschliche Kümmernisse (insbesondere über die Trauer des Verlusts), die theoretisch jeder erdenkliche Mensch in einer jeden Epoche und einem jeden Land hätte schreiben können. Dass sie den russischen Patrioten gefielen, bedeutet nicht, dass sie darin nazistische Ideen entdeckt und geschätzt hätten. Es war uns aber enorm wichtig, mit diesen Beispielen zu zeigen, dass es keine besondere russische Spiritualität – keinen kulturellen Code oder was auch immer man heute wieder predigt – gibt, die den russischen Menschen irgendwie den anderen gegenüber abheben, geschweige denn über sie stellen würde. Die dritte Gruppe umfasst zwei „Führergedichte“. Wir waren überzeugt, dass solch ein Unsinn nun wirklich niemandem schmecken könne. Im 21. Jahrhundert jemanden auf diese Art lobpreisen – ernsthaft? Das wäre nur in Nordkorea vorstellbar. Doch dann erwiesen sich diese Gedichte überraschend beinah als die populärsten. Und niemandem fiel etwas auf.
Wie würden sie die heutige russische Propagandalyrik einordnen?
Äußerst selten begegnet man guten Gedichten von Z-Poeten, und dies nur, wenn sie über echte menschliche Gefühle schreiben, über den Schmerz. Also wenn es sich letztlich auch gar nicht mehr um propagandistische Poesie handelt. Doch schauen Sie sich ein beliebiges Forum zur Z-Poesie an – eine überwältigende Mehrheit der Gedichte ist schlichtweg grauenvoll. In dieser Hinsicht hatte Rakitin ein Problem: Je besser in künstlerischer Hinsicht ein Gedicht gelang, desto weniger Chancen auf Erfolg hatte es.
Wie sehr ähnelt diese Art von Lyrik der propagandistischen Literatur des Dritten Reichs?
Danach zu urteilen, dass wir beinah jedes Gedicht wählen, übersetzen und für ein zeitgenössisches russisches Gedicht ausgeben konnten, ist die Nähe groß. Insbesondere natürlich in der Verherrlichung und Erhebung eines Volkes über alle anderen. Genau das stach sofort hervor in den Sammlungen, die ich oben erwähnte. Darüber hinaus stimmen natürlich auch die Ideen von der Pflicht gegenüber der Heimat überein. (Die Einstellung zum »Führer« kann unter den Z-Dichtern variieren, aber in der Propaganda ist sie naturgemäß einheitlich.) Der einzige Unterschied, den wir bemerkt haben, besteht wohl darin, dass „Disziplin“ als Vorstellung, wie sie in Gedichten nationalsozialistischer Zeit recht oft begegnet, der russischen Propaganda und Z-Poesie völlig abgeht.
Inwieweit lässt sich das heutige Russland insgesamt mit Hitlerdeutschland vergleichen?
Einerseits möchte man derartige Vergleiche aufgrund ihrer Begrenztheit immer vermeiden. Andererseits drängen sie sich wie von selbst auf. Bücher über das Deutschland der Dreißiger- und Vierzigerjahre stoßen in Russland – innerhalb bestimmter kleiner Bevölkerungssegmente – in jüngster Zeit auf große Nachfrage. Und eines springt ins Auge: Hier wie dort existiert eine verhältnismäßig kleine Zahl (aber es sind Zehn- oder Hunderttausende) аn Regimegegnern, eine deutlich, wenn auch nicht übermäßig größere Zahl an Hurra-Patrioten, aber zugleich existiert eine enorme Menge, eine erdrückende Mehrheit von Menschen, die versuchen wegzuschauen. Eines der Ziele unseres Projekts war es, dass dort, wohin sie schauen, kein Band mit Z-Poesie stehen möge.
Warum haben Sie beschlossen, den Fake zu enthüllen?
Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens ist es sehr bedrückend, sich in derart toxischen Sphären zu bewegen – wenn man einerseits nationalsozialistische Zeitschriften der Dreißiger und Vierziger studieren, andererseits durch den Newsfeed scrollen und die »Werke« neuer russischer Patrioten zur Kenntnis nehmen muss. Und während du derartige Übersetzungen machst, entsteht der Eindruck, als würdest du etwas sehr Schmutziges berühren, etwas, das – ich entschuldige mich für den pathetischen Ausdruck – eine Spur in deiner Seele hinterlässt. Der zweite Grund hat mit gewissen Kommentaren zu tun. Viele der Gedichte thematisieren, das ist augenfällig, Krieg und Tod. Darunter erschienen nun Worte der Dankbarkeit und Sympathie von Menschen, die ihre Angehörigen im Krieg gegen die Ukraine verloren hatten. Das nun ist ein sehr kompliziertes Gefühl – wenn du diesen Krieg mit Leib und Seele verachtest, aber doch auch diese Menschen bedauern musst, die den Tod ihrer Nächsten beweinen.
Sind weitere ähnliche Aktionen bereits in Planung?
Unser kleines Kollektiv von Freunden hat bereits weitere Projekte. Und indem wir dieses beenden, denken wir bereits an neue – aber die decken wir vorerst natürlich nicht auf.
Was wird jetzt aus Gennadij Rakitin?
Das wissen wir nicht. Nazidichter wird er jedenfalls nicht mehr übersetzen.
Seit Wladimir Putin im Februar 2022 den Befehl zum Überfall auf die Ukraine gegeben hat, beschäftigt Beobachter im In- und Ausland eine Frage: Wie stehen die Menschen in Russland zu diesem Krieg? Umfragen haben in einer Diktatur nur begrenzte Aussagekraft. Nur sehr wenige sind überhaupt bereit, daran teilzunehmen. Und wenn für Kritik am Krieg hohe Strafen drohen, trauen sich viele Befragte nicht, ihre Ansichten frei zu äußern.
Eine Gruppe engagierter Sozialforscherinnen und Sozialforscher aus Russland hat sich bereits 2011 zum Public Sociology Laboratory (PS Lab) zusammengeschlossen. Weil Umfragen nur unbefriedigende Antworten zur Haltung der Russen zum Krieg geben konnten, versuchten sie einen anderen Ansatz: Die Methode der teilnehmenden Beobachtung geht auf den polnischen Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski zurück, der Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Monate auf den Trobriand-Inseln in der Südsee verbrachte, am Leben der Bewohner teilnahm und deren Gesellschaft in seinem Buch Argonauten des westlichen Pazifik beschrieb. Das Werk wurde zu einem Klassiker der Sozialanthropologie. Andere Forschende entwickelten die Methode der teilnehmenden Beobachtung weiter und wandten sie auch auf die eigenen Gesellschaften an.
Im Sommer 2023 verbrachten Forscherinnen des PS Lab jeweils einen Monat in einer russischen Kleinstadt und führten ein wissenschaftliches Tagebuch über ihre Beobachtungen. Das Portal Re:Russia veröffentlicht die Beobachtungen aus einem Ort in der Oblast Swerdlowsk. In ihrem Feldtagebuch stellt die Beobachterin nüchtern fest: Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um überhaupt zu merken, dass das Land sich im Krieg befindet.
PARALLELES TSCHERJOMUSCHKIN. Gegenwart UND Abwesenheit DES KRIEGES IN EINER RUSSISCHEN PROVINZSTADT
Über diesen Text
Zu Beginn des Krieges war die wichtigste Frage für Experten, Politiker und Russen generell die nach den Merkmalen der Unterstützung für den Krieg: Wer unterstützt den Krieg, warum, und welchen Anteil machen diese Menschen an der Gesamtbevölkerung aus? Zwei Jahre später sind viele Bewohner Russlands unmittelbar vom Krieg betroffen. Weil sie an die Front müssen, Angehörige verlieren oder in grenznahen Gebieten Opfer von Beschuss werden. Derweil gewöhnen sich die Gesellschaft und die Wirtschaft an die Kriegswirklichkeit und passen sich an. Für Experten, Analytiker und das interessierte Publikum stellt sich damit eine neue Frage: Nehmen die Bewohner Russlands die Auswirkungen des Krieges auf ihr alltägliches Leben überhaupt wahr? Passen sie sich an das Geschehen an, und wenn ja, wie? Worüber freuen sie sich, womit sind sie unzufrieden?
Umfragen und formalisierte Interviews allein sind nicht geeignet, die Frage zu beantworten, wie die Russen in dieser neuen Realität leben, von der der Krieg ein untrennbarer Teil ist. Dazu ist ein besonderer Forschungsansatz vonnöten, nämlich eine systematische teilnehmende Beobachtung. Wir wissen, dass Menschen brisante Themen untereinander ganz anders besprechen, als sie es Soziologen, also Fremden gegenüber tun würden. Trotz der vielen Risiken, die heute in Russland mit einem solchen Ansatz verbunden sind, war das Team von PS Lab mit seinem Projekt erfolgreich: Im Herbst 2023 fuhren die Mitglieder des Teams in drei russische Regionen – in die Swerdlowsker Oblast, in die Republik Burjatien und in die Region Krasnodar – und verbrachten dort jeweils einen Monat.
Während ihrer ethnografischen Studien nahmen unsere Forscherinnen neben den Tiefeninterviews auch den öffentlichen Raum in den Städten in den Blick, und notierten, wie der Krieg sich dort niederschlägt. Sie besuchten öffentliche Veranstaltungen zum Krieg und zu patriotischen Themen, sprachen mit Taxifahrern, Verkäufern, Barmännern und mit Mitarbeiterinnen von Nagelstudios. Dabei fragten sie unschuldig, wie sich die „militärische Spezialoperation“ (russ. SWO) auf das Leben in der Stadt auswirke. Unmittelbar nach diesen Gesprächen hielten sie deren Inhalt sowie ihre Beobachtungen in ethnografischen Tagebüchern fest. Dadurch konnten neben den 75 Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern dieser drei Regionen 698 Seiten (rund 330.000 Wörter) detaillierter Beobachtungen zum Alltag in Kriegszeiten und aus Gesprächen über den Krieg festgehalten werden, die in einer Atmosphäre stattfanden, die nicht durch eine Interview-Situation verfälscht wurde.
In diesem Beitrag veröffentlichen wir eine Analyse der Daten, die auf einer dieser Reisen erhoben wurden. Die Stadt Tscherjomuschkin, von der die Rede sein wird, sucht man auf der Karte der Swerdlowsker Oblast vergebens. Der Name ist erfunden, doch die Stadt, die sich dahinter verbirgt, ist real. Auch alle anderen Namen in diesem Text wurden geändert.
Irgendwo im Ural: Eine Stadtlandschaft zu Kriegszeiten
Die Swerdlowsker Oblast gehört zu den zehn industriell am stärksten entwickelten Regionen Russlands. Jekaterinburg ist die viertgrößte Stadt des Landes, die Oblast ist mit 4,2 Millionen Einwohnern die fünftgrößte Region Russlands, wobei 86 Prozent der Bevölkerung in Städten leben. Den Daten der Statistikbehörde Rosstat zufolge betrug 2023 das mittlere Einkommen 53.300 Rubel [derzeit knapp 560 Euro], es liegt damit leicht über dem russischen Durchschnitt von 51.300 Rubel [535 Euro]. Der Anstieg des Realeinkommens betrug gegenüber dem Vorjahr 6,5 Prozent und war damit höher als in ganz Russland (5,6 Prozent).
Einer Recherche von Washnyje istorii und dem Conflict Intelligence Team zufolge liegt der Anteil der Männer, die in die Armee einberufen wurden, in der Swerdlowsker Oblast mit rund 10.000 Personen etwa im russischen Durchschnitt. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben 12.500 Einwohner der Oblast 2023 einen Vertrag über einen Einsatz im Krieg gegen die Ukraine abgeschlossen; bis April 2024 waren es weitere 2500. Wer einen solchen Vertrag unterschrieb, bekam von der Oblastverwaltung einmalig 100.000 Rubel [etwas mehr als 1000 Euro] ausbezahlt. Ab Juni 2024 wurde diese Summe auf 400.000 Rubel [knapp 4200 Euro] erhöht, wie regionale Medien berichteten.
Die Zahl der bestätigten Toten durch den Krieg liegt (nach Angaben eines Projektes von BBC und Mediazona) bei 1820. Damit rangiert die Region in Russland ganz oben, was zum Teil auf ihre hohe Bevölkerungszahl zurückzuführen ist (2,9 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung). Auf die Region entfallen 3,4 Prozent aller bestätigten Toten.
Auf dem Gebiet der heutigen Swerdlowsker Oblast befanden sich bereits Anfang des 18. Jahrhunderts die wichtigsten Bergbauunternehmen Russlands. Rund um diese Industrieunternehmen entwickelten sich Siedlungen und in weiterer Folge Städte. In einigen Industriestädten der Uralregion hat der Krieg beträchtliche Auswirkungen auf die Wirtschaft: Produktionsstätten, die sich in den vergangenen Jahren im Niedergang befanden, sind nun auf Kriegswirtschaft umgestellt worden. Die Nachfrage schnellte in die Höhe, die Löhne stiegen, was Fachkräfte aus ganz Russland anlockte.
In Tscherjomuschkin, wo wir die Studie durchführten, ist all das jedoch ausgeblieben. Das stadtbildende Unternehmen ist bereits in den 1990er Jahren geschlossen worden. Tscherjomuschkin hat rund 12.000 Einwohner. Ein beträchtlicher Teil ist im öffentlichen Dienst angestellt und bekommt bescheidene Gehälter. Als vergleichsweise einträglich gilt eine Beschäftigung in der Zellulosefabrik. Nach Kriegsbeginn und Verhängung der Sanktionen brachen jedoch nach Aussagen unserer Gesprächspartner die Geschäfte in diesem Bereich ein, weil vorwiegend für den Export produziert worden war. Eine Fahrstunde von Tscherjomuschkin entfernt liegt eine recht große Strafkolonie. Einige Einwohner der Stadt arbeiten entweder selbst dort oder kennen Mitarbeiter oder Häftlinge persönlich. Sie wissen, was sich in der „Zone“ tut. Nachrichten über die Anwerbung von Häftlingen sind für viele Bewohner der Stadt nichts Besonderes.
Laut Aussage der Einwohner ist Tscherjomuschkin nach regionalen Maßstäben ziemlich arm. In vielen Häusern gibt es keine zentralisierte Versorgung mit Wasser und Gas. Das Verlegen einer Wasserleitung kostet rund 100.000 Rubel [etwa 1000 Euro], was für viele unerschwinglich ist. Unsere Feldforscherin, die rund einen Monat in der Stadt verbrachte, hatte den Eindruck, dass Tscherjomuschkin der Gebäudestruktur, den Alltagsbedingungen und der sozialen Organisation nach stellenweise an ein großes Dorf erinnert.
In der Stadt gibt es das klassische Repertoire von Orten und Einrichtungen, die in fast jeder russischen Stadt dieser Größe zu finden sind: einen zentralen Platz, ein Haus der Kultur, ein Museum, eine Kirche, einige Verwaltungsgebäude, Schulen und Kindergärten. In Tscherjomuschkin gibt es mehrere Cafés, Lebensmittel- und Haushaltswarengeschäfte, Apotheken und Schönheitssalons. Trotz ihrer geringen Größe kann man nicht sagen, dass die Stadt von der Welt abgeschnitten wäre: Es kommen recht oft Touristen hierher, die im Ural umherreisen.
Stellt man sich jemanden vor, der in Tscherjomuschkin am 23. Februar 2022 einschläft und im Herbst 2023 aufwacht, würde dieser schwerlich merken, dass seit über anderthalb Jahren Krieg herrscht. Unsere Feldforscherin hat in den Wochen, die sie kreuz und quer durch die Stadt lief, nur selten Symbole entdeckt, die auf den militärischen Konflikt hinweisen: zwei, drei Autos mit Z-Aufklebern und patriotischen Parolen, zwei verblichene Flaggen an der Fassade des Hotels (eine mit einem Z, eine in den Farben des Georgsbandes), die aber kaum zu sehen sind. In der Stadt waren keine Werbetafeln für einen Dienst als Vertragssoldat und keine einschlägigen Symbole an den Türen staatlicher Einrichtungen zu sehen.
Nach Aussage der Unternehmerin Tonja, die mit den Ereignissen in ihrer Stadt gut vertraut ist, sind in Tscherjomuschkin sichtbare Hinweise auf den Krieg im Laufe des letzten Jahres fast vollkommen verschwunden. Die Leute haben die Aufkleber von ihren Autos entfernt. Verabschiedungen von Soldaten, die an die Front fuhren, Begräbnisse und Trauerfeiern für Gefallene, die früher Aufmerksamkeit erregten, ziehen kein unbeteiligtes Publikum mehr an. Die Leute in der Stadt unterhalten sich seltener über den Krieg.
In Tscherjomuschkin gibt es praktisch keinen öffentlichen Raum. Das Café Ulybka (dt. Lächeln) ist wohl der einzige Ort dieser Art. Unsere Feldforscherin besuchte es täglich, um dort zu Mittag zu essen, am Notebook zu arbeiten oder sich mit Informanten zu treffen. Sie versuchte zwar nach Kräften mitzuhören, worüber an den Nachbartischen gesprochen wurde, bekam jedoch nur einmal Gespräche über den Krieg mit. Eine Gruppe von acht, neun festlich gekleideten Männern und Frauen hatte sich dort tagsüber getroffen, etwa 50 bis 55 Jahre alt. Wie sich später herausstellte, handelte es sich wohl um ein Klassentreffen.
Als die Musik mal leiser wird, kann ich einen Trinkspruch verstehen: „Also – auf den Sieg!“, sagt eine der Frauen. Die anderen stimmen ein: „Auf den Sieg!“, „Auf den Sieg!“ Das Klirren der Gläser verklingt, eine andere Frauenstimme ist zu hören: „Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“ Die Frage geht an einen großgewachsenen, schwergewichtigen Mann mit tiefer Stimme. Von seiner Antwort verstehe ich nur einzelne Worte: „Polen“, „Faschisten“, „NATO“. Nach dem Monolog erfolgt die Reaktion der Frau: „Ah, das heißt also, dass es noch lange dauern wird …“ Eine andere Frau schaltet sich in das Gespräch ein: „Als ich jung war, dachte ich immer: Wie schade, dass ich nicht während des Zweiten Weltkriegs gelebt habe – wie gern hätte ich eine Heldentat vollbracht! Jetzt denke ich: Was war ich doch für eine Idiotin! Jetzt weiß ich, dass ich das sicher nicht könnte.“ Wieder ist die Antwort des Mannes nicht zu verstehen. Nur, dass es jetzt um Prigoshin geht. Etwa zehn Minuten nach dem Toast „auf den Sieg“ wechselt das Gespräch zu Alltagsthemen; über Politik und den Krieg wird nicht mehr gesprochen. Ethnografisches Notizbuch, August 2023
Es ist nur schwer abzuschätzen, inwieweit der beschriebene Fall exemplarisch ist. Möglicherweise wurde das Thema nur deshalb aufgegriffen und von einer ritualisierten Oberflächlichkeit auf eine konkretere Ebene verschoben („Und wann kommt er endlich, unser Sieg?“), weil am Tisch ein „Experte“ saß. Später stellte sich heraus, dass der Mann ein pensionierter Mitarbeiter des FSB war. Bezeichnend ist, dass das Thema Krieg mit Leichtigkeit aufgegriffen wurde und bei den Anwesenden zu keiner Anspannung führte. Genauso leicht wurde es aber auch fallengelassen, da es kein besonderes Interesse hervorrief und im Alltagsgeplauder versank.
Während es praktisch keinen öffentlichen Raum in der Stadt gibt, wird die Seite eines lokalen Mediums auf Social Media rege zum Austausch genutzt. Wie Informanten berichten, haben sich die Menschen dort in der ersten Zeit nach Kriegsbeginn geäußert und über den Krieg diskutiert. Mit der Zeit allerdings wurden „unliebsame“ Kommentare und Posts (mitunter zusammen mit den Verfassern) schnell aus den Chats entfernt, wohl von einer Beamtin mit Administratoren-Status.
Alewtina Nikiforowna, eine Rentnerin, die sich mit Putzen und als Haushaltshilfe ihr Einkommen aufbessert und zu unserer Feldforscherin Vertrauen fasste, erklärte, dass auf kritische Kommentare zum Krieg „losgegangen“ wurde. Die Verfasser wurden mit den üblichen Beleidigungen überschüttet (Ukrop). Außerdem erhielt ein Einwohner von Tscherjomuschkin eine nach örtlichen Maßstäben empfindliche Geldstrafe, weil er ein Video mit Anti-Kriegs-Botschaften geteilt hatte. Diese Nachricht sprach sich herum (die Soziologin hörte von mehreren Seiten davon), woraufhin die Bewohner der Stadt keine Kommentare oder Reaktionen auf Nachrichten mehr in den sozialen Netzwerken hinterließen.
Andacht, Festzelt, Konzert. Öffentliche Veranstaltungen und institutionelle Unterstützung des Krieges
In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn und später, nach Verkündung der Mobilmachung im Herbst 2022, wurden in Tscherjomuschkin „patriotische“ und „Freiwilligen“-Veranstaltungen abgehalten, die der Heroisierung der „militärischen Spezialoperation“ (russ. SWO) und der Hilfe für die Front dienen sollten. Frisch eingezogene Soldaten wurden feierlich verabschiedet, für Bewohner der Stadt, die im Krieg gefallen waren, wurden öffentliche Beisetzungsfeiern abgehalten, das örtliche Museum veranstaltete Sammlungen, gemeinsam wurden Tarnnetze geknüpft und so weiter. Nach Aussagen von Informanten hat die Intensität dieser Veranstaltungen im Laufe des Jahres nachgelassen. Während unsere Feldforscherin in der Stadt war, konnten sich ihre Gesprächspartner an kein öffentliches Event aus den vergangenen Monaten erinnern, das mit dem Krieg zusammenhing.
In Tscherjomuschkin gibt es keine Organisationen, die mit dem Krieg zu tun haben und permanent aktiv sind – weder Freiwilligenverbände, noch Zentren zur patriotischen Erziehung oder Spendensammelstellen für die Front. Gesellschaftliches Engagement kann sich nur auf der Basis bestehender Plattformen entfalten – des Kulturhauses, des Heimatkundemuseums, der Bibliothek, der Kirche, der Schule. Meist steht und fällt es mit dem Engagement Einzelner. So wurde der Soziologin zum Beispiel von einer Sammlung von Hilfsgütern für die Front berichtet, die der Museumsdirektor Pjotr Iwanowitsch organisiert habe. Als die Feldforscherin dort vorbeischaute, war von einer Sammlung nichts mehr zu sehen. Und im Interview erwähnte der Direktor die Sammlung mit keinem Wort.
Von Ljubow Wassiljewna, einer Rentnerin, die in der Stadt häufig Veranstaltungen besucht, erfuhr unsere Feldforscherin, dass zu Beginn des Krieges das städtische Amt für Kultur- und Jugendpolitik halb freiwillige, halb erzwungene Spenden für die Front gesammelt habe: „Die von der ‚Kultur‘ sagten […]: Gebt so viel, wie ihr könnt“. Sie sprach über diese Initiative ohne Begeisterung und wie über etwas, das nicht mehr aktuell ist.
Angesichts des allgemein gesunkenen Interesses am Krieg stach ein Bewohner der Stadt deutlich hervor, nämlich der Priester der örtlichen Kirche, Vater Konstantin. Er war vor kurzem an der Front gewesen, wo er Totenmessen abhielt und Soldaten segnete. In Tscherjomuschkin organisiert Vater Konstantin regelmäßig sogenannte Kriegerandachten. Entgegen den Erwartungen, ein Priester würde religiös argumentieren, sprach er gegenüber unserer Soziologin in weltlichen Worten und verwendete Klischees, die man aus dem Fernsehen kennt. So sprach er ernsthaft von den Gefahren durch „ausländische Agenten“ und „Vaterlandsverräter“. Auch die Priester zweier anderer Kirchen in benachbarten Dörfern ignorierten entweder alle Versuche, das Gespräch in eine religiös-dogmatische Richtung zu lenken, oder sie stemmten sich aktiv dagegen.
Der Priester machte auf die Feldforscherin den Eindruck eines ideologisch überzeugten Verfechters des Krieges. Zumindest scheint sein öffentliches Engagement – die Andachten und die Reisen an die Front – einer persönlichen Begeisterung zu entspringen. Die Feldforscherin konnte zwei Andachten beiwohnen, die Vater Konstantin organisierte. Bei der ersten waren höchstens 15 Personen anwesend. Nach dem Gottesdienst erzählte der Priester kurz, wie er einen Monat an der Front verbrachte und Soldaten für den Kampf segnete. Er fügte hinzu, dass die sich alle „wacker halten und die Heimat verteidigen“, und dass sie „Gebete brauchen, Gott brauchen“.
Bei der zweiten Andacht waren es doppelt so viele Besucher. Zur üblichen Gemeinde hatten sich Frauen gesellt, die nach Aussage von Darja, einer Pädagogin und aktiven Kirchgängerin, Angehörige gefallener Soldaten waren. Der Soziologin fiel auf, dass die Anwesenden Listen mit den Namen derjenigen in Händen hielten, für deren Heil gebetet werden sollte (allesamt Männer). Eine Liste trug die Überschrift: „Zivile Bewohner des Donbass“. Die einstündige Andacht endete mit einer Predigt von Vater Konstantin, in der er dazu aufrief „nicht nachzulassen“, „nicht nur an der Front zusammenzuhalten, sondern auch hier, in der Kirche“ und „möglichst viel zu beten, damit unsere Angehörigen lebend und gesund zurückkehren“. Schließlich sei der Sieg in der „heiligen militärischen Spezialoperation“ „mit uns“. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Dadurch erzeugt Vater Konstantin zum einen in seinem Umfeld einen ideologisch aufgeladenen Raum. Andererseits zieht dieser Raum anscheinend nur einen begrenzten Kreis von immer denselben Leuten an. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Tscherjomuschkin nicht vom übrigen Russland, da insgesamt nur etwa neun Prozent der Bevölkerung mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen.
Vom ersten Tag an verfolgte die Feldforscherin die städtischen Bekanntmachungen und studierte eingehend Informationstafeln und Plakate. Sie erwartete, in Tscherjomuschkin die Früchte der massiven institutionellen Unterstützung für den Krieg zu finden. Als Erstes fand sie eine Ankündigung für den Film Swidetel (dt. Der Zeuge) im Kino des Kulturhauses. Es handelt sich hierbei um einen propagandistischen Film, der eine „alternative“ Sicht auf die Ereignisse in Butscha vermitteln und die Version in Zweifel ziehen soll, dass die Kriegsverbrechen dort von Soldaten der russischen Armee begangen wurden.
In der Erwartung, etwas ethnografisch Wertvolles beobachten zu können, verlasse ich das Ulybka und gehe in Richtung Kulturhaus, das nicht weit entfernt steht. Es ist 17:55 Uhr, aber der Saal des Kulturhauses ist absolut leer. Ich frage die gelangweilte Kassiererin und erfahre, dass ich die Erste bin, die zur Vorstellung gekommen ist. Noch wurde keine einzige Karte verkauft. Ich setze mich auf die Bank gegenüber dem Eingang, aber die nächsten 15 Minuten kommt niemand. Ich frage bei der Kassiererin nach, ob das oft vorkommt. Sie meint: „Nicht oft, kommt aber vor.“Ethnografisches Notizbuch, August 2023
Bemerkenswert ist, dass auch eine weitere Filmvorführung (ein vom Kulturhaus angekündigter und organisierter Filmabend im Zelt auf dem Platz) auf ähnliche Weise nicht zustande kam. Die Soziologin wollte hingehen, weil ein propagandistischer Film auf dem Programm stand. Als sie jedoch auf den Platz kam, waren dort weder ein Zelt noch sonstige Anzeichen öffentlichen Lebens zu entdecken.
Die größten Erwartungen der Soziologin galten dem Konzert zum Saisonauftakt im Kulturhaus mit dem Titel Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich. Das Plakat für das „Benefizkonzert zur Unterstützung der Teilnehmer an der militärischen Spezialoperation“ war zwei Wochen zuvor ans schwarze Brett gehängt worden.
In der Halle des Kulturhauses hängt gegenüber dem Eingang das Rohmaterial für ein Tarnnetz. Daneben versucht eine Frau in einer Art Tracht herauszufinden, wie das Knüpfen geht. Eine Gruppe Kinder, vielleicht 12 Jahre alt, sitzt auf den Sofas und spielt auf Tablets. Rechts vom Tarnnetz eine Schautafel mit Fotos von Uniformierten mit der Bildunterschrift ‚Vaterlandsverteidiger‘. Die meisten Fotos zeugen von patriotischen Aktionen: Schüler schreiben Briefe an Soldaten, Frauen knüpfen Netze und stopfen Socken, Männer in Tarnkleidung verladen Kisten mit Hilfsgütern in Autos. Auf einem der Fotos entdecke ich Vater Konstantin, der mit einem Dosenlicht posiert. Auf der anderen Seite eine Installation und eine Fotostrecke à la ‚russisches Bauernhaus‘ mit Samowar und Trachtenhemden. Eine Frau sitzt in einem roten Kleid und einem Kokoschnik vor einem Haufen Birkenreisig für die Sauna (anscheinend ein Workshop für das Binden von Birkenreisig).
Im Saal die erste Nummer: Rund ein Dutzend Leute auf der Bühne, alle mit Mikrofon. Darunter der Leiter des Ensembles des Kulturhauses, eine Mitarbeiterin der Bibliothek und ein Schauspieler des örtlichen Theaters. Eine Komposition in Dur:
Wir wünschen dir Liebe Wir wünschen dir Reichtum … Du bekommst deinen Stern, und genießt den ersehnten Sieg. Du bekommst deinen Stern, und genießt den ersehnten Sieeeeehieeg. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Später stellte sich heraus: Das Lied heißt eigentlich Zum Geburtstag!, der Wunsch wird in der ersten Person Einzahl gesungen. Die Komposition wurde wohl wegen des Wortes „Sieg“, das in der letzten Zeile des Refrains langgezogen wird, als Eröffnungsnummer gewählt. Im Originaltext geht es übrigens nicht um einen Sieg auf dem Schlachtfeld, sondern um eine abstrakte individuelle Leistung des Geburtstagskindes. Das Bild, das auf der Bühne erzeugt wurde, erinnerte in keiner Weise an den Krieg oder andere aktuelle gesellschaftliche oder politische Ereignisse. Alle weiteren Stücke waren für Kulturhäuser in Russland typisch und wurden kaum an das Veranstaltungsthema angepasst.
Die Moderatorin betritt die Bühne und verkündet feierlich: „Heute eröffnen wir mit Ihnen die Kultursaison. Und das ist der Moment von jenen zu sprechen, die sich ihr Leben nicht ohne Kunst vorstellen können und uns mit ihren Werken beglücken … Erlauben Sie mir, das größte und berühmteste Ensemble der Stadt vorzustellen, das Tanzensemble Feuervogel!“ In einer Pause zwischen zwei Stücken schaue ich mich um und versuche, in der Dunkelheit des Saales zu erkennen, was für Leute im Publikum sitzen. Die allermeisten sind Rentner. Einige jüngere Frauen sind wohl Mütter, deren Kinder bei dem Konzert mitmachen. Außerdem einige Frauen mittleren Alters, die wie Lehrerinnen oder Beamtinnen des Kulturamtes aussehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie dienstlich auf der Veranstaltung.
Nach Feuervogel treten noch einige Musikgruppen auf: Ehrfurcht, Singende Birken, Allegro … Das Repertoire besteht entweder aus Folklore bzw. russischer Volksmusik mit entsprechenden Kostümen und Videos, oder aus Schlagern (Evergreens aus der russischen und sowjetischen Schlagerwelt, schlecht vorgetragen). Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Der einzige direkte Verweis auf die „militärische Spezialoperation“ kam von der Moderatorin ganz am Ende des Programms; er wurde aber auch nicht weiterentwickelt:
„Der heutige Abend steht unter der Devise: ‚Wir lassen unsere Spezialoperateure nicht im Stich‘. Das Konzert zur Eröffnung der Saison ist eine Benefizveranstaltung. Die gesamten Einnahmen fließen in die Unterstützung unserer Landsleute, die an der ‚militärischen Spezialoperation‘ teilnehmen. Wir bitten nun die Leiterin der Verwaltung für Kultur, Tourismus und Jugendpolitik der Stadtverwaltung Tscherjomuschkin, Walentina Subikowa, auf die Bühne!“ Entgegen meinen Erwartungen gab es auch in der Rede von Frau Subikowa nur einen indirekten Hinweis auf den Krieg („[…] den Ensembles möchte ich vor allem eines wünschen: künstlerischen Erfolg, neue Tänze, neue Lieder, neue Kompositionen. Ich wünsche allen Gesundheit, Gesundheit, Gesundheit! Und einen friedlichen Himmel über dem Kopf. Allen viel Glück!“). Ein Kindertanz mit Breakdance-Elementen schließt das Konzert ab. Die Kinder sind jetzt nicht mehr in russischer Tracht, sondern in Jeans und bunten T-Shirts. Das Lied heißt: ‚Vorwärts ihr Jungen, Verwegenen!‘…
Alle verlassen das Kulturhaus. Nur am Fotostand bleiben zwei Frauen stehen. Sie reden über gemeinsame Bekannte, die sie auf den Fotos entdeckt haben. Ethnografisches Notizbuch, September 2023
Während, wie gesagt, nach Aussagen von Gesprächspartnern unserer Feldforscherin in den ersten Monaten des Krieges in Tscherjomuschkin noch ganz unterschiedliche Veranstaltungen zur Unterstützung des Krieges stattfanden, blieben mit der Zeit nur die Unterhaltungsprogramme übrig. Diese berühren das Thema Krieg übrigens nur in den Titeln und Ankündigungen. Einige von ihnen existieren nur auf dem Papier. Andere unterscheiden sich kaum von Veranstaltungen, wie sie Bewohnern russischer Kleinstädte wohlbekannt sind. Und wieder andere, wie die beschriebenen Andachten, sind nur sehr schwach besucht und bleiben im Grunde eine Randerscheinung des gesellschaftlichen Lebens.
Jemand, der am 23. Februar 2022 eingeschlafen wäre und in Tscherjomuschkin im Herbst 2023 aufwachte, müsste sich ordentlich Mühe geben, um seine Unkenntnis zu überwinden: Der Krieg ist in der Stadt nicht nur kaum spürbar, die Menschen reden auch nur selten davon, weder auf der Straße noch in den lokalen Kanälen der sozialen Netzwerke. Bei Veranstaltungen sind nur äußere Attribute des patriotischen Narrativs zu erkennen. Das Gefühl, dass der Krieg aus dem Alltag entschwindet, hat eine Informantin im Gespräch kurz und bündig zusammengefasst: „Wenn nicht immer wieder die Nachrichten von Toten und die Begräbnisse wären, könnte man glatt vergessen, dass Krieg ist.“ Die Aussage zeigt immerhin auch, dass der Krieg nicht komplett vergessen wird.
Tod, Geld, Familie – der moralische Dreiklang einer Kleinstadt
Einen Blick hinter die Alltagskulissen von Tscherjomuschkin verdanken wir Tonja, der wichtigsten Auskunftsperson unserer Soziologin. Die beiden kannten sich schon vor Beginn der Studie. Tonja ist eine junge Unternehmerin aus Tscherjomuschkin. Sie ist Eigentümerin des Schönheitssalons Stil und leitet gleichzeitig das erwähnte Café Ulybka. Tonja ist ein musterhaftes Mitglied der örtlichen Gesellschaft mit hohem sozialen Status und einem großen Bekanntenkreis. Die unterschiedlichsten Tscherjomuschkiner – vom Beamten über den Polizisten bis zur Hausfrau oder dem Fahrer – kommen ins Ulybka, um zu Mittag zu essen, Geburtstag zu feiern oder sich einfach zu unterhalten. Die älteren Stadtbewohner kennen Tonjas Eltern, die in der Stadt einen guten Ruf genießen. Wegen alldem ist Tonja überall im Ort hochangesehen.
Gleichzeitig ist Tonja ein Mensch mit „hauptstädtischem Background“: Ihre Hochschulbildung hat sie in Moskau erhalten, sie hat viele Freunde in Jekaterinburg, Sankt Petersburg und anderen Großstädten. Sie ist bei den tagesaktuellen Nachrichten immer auf dem neuesten Stand und liest alle wichtigen unabhängigen Medien. Im Kontakt mit anderen macht Tonja grundsätzlich keinen Hehl aus ihren oppositionellen Ansichten und ihrer Haltung gegen den Krieg, doch versucht sie diese auch niemandem aufzudrängen. Sie hält sich an die ungeschriebenen Gesetze des zwischenmenschlichen Umgangs, denen zufolge es eher nicht üblich ist, über Politik zu diskutieren. Im Gespräch mit anderen Bewohnern äußert sie immer wieder ihren Unmut über die Folgen des Kriegs (steigende Preise, drohende Einberufung ihrer Mitarbeiter und so weiter), spricht aber die Frage der moralischen, ethischen und politischen Rechtfertigung des Kriegs nicht an, weil sie weiß, dass sie nicht mit Verständnis rechnen kann. Wenn sie mit Vertretern der örtlichen Verwaltung zu tun hat, spart Tonja das Thema Krieg prinzipiell aus.
Tonja wurde in das Forschungsprojekt eingeweiht und zeigte sich sofort sehr interessiert. Dank ihrer Initiative und ihrer Position in der Gesellschaft konnte sie der Feldforscherin Zugang zu einem Kreis von Stadtbewohnern verschaffen, in dem ein freundschaftlicher Austausch im Alltag stattfand. Diese Menschen haben sich mit der Soziologin wohl gefühlt und ihr vertraut, obwohl sie eine Fremde war.
In den Gesprächen tauchten Themen rund um den Krieg selten von selbst auf. Öfter kam es vor, dass Tonja die Diskussion behutsam in die „nötige“ Richtung lenkte (zum Beispiel mit Fragen zu den damals aktuellen Nachrichten über Prigoshins Aufstand oder indem sie gemeinsame Bekannte an der Front erwähnte). Diese vorsichtigen Schritte zogen Gespräche über Themen rund um den Krieg nach sich. Einerseits verebbten diese wieder genauso leicht, wie sie begonnen hatten – die Beteiligten wechselten schnell zu anderen Themen. Es war klar, dass der Krieg in der Ukraine kein Thema war, das sie ständig beschäftigte. Andererseits hatten die Anwesenden immer etwas zu sagen, das auf die ein oder andere Weise mit dem Krieg in Zusammenhang stand. Im Gegensatz zu den Gründen und Zielen des Kriegs waren es vielmehr dessen Folgen und Auswirkungen, über die sie regelmäßig diskutierten.
Die Anzahl der Tscherjomuschkiner, die an die Front geschickt wurden, war nicht sehr hoch: Tonjas Bekannte zählten rund 20 Häftlinge auf, die aus der nahegelegenen Strafkolonie in den Krieg gezogen sind, rund 60 Einwohner wurden einberufen, weitere 20 meldeten sich freiwillig. Gleichwohl war jeder Tscherjomuschkiner wenn nicht direkt, so wenigstens über Eck mit jemandem bekannt, der aus dem Krieg zurückgekommen oder im Krieg gefallen war oder sich an der Front befindet. Insofern wurde jede Nachricht über einen Gefallenen, jede Einberufung oder Rückkehr aus dem Krieg allgemein bekannt. Tscherjomuschkin kennt keine Anonymität.
Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen vor allem Todesnachrichten über Bekannte.
„Aus unserer Verwandtschaft ist Wladik umgekommen. Den hat’s richtig zerfetzt. Wie war das noch? Im April ging’s los … Nein, es war März, als es ihn erwischte, aber zur Bestattung gebracht haben sie ihn erst im Juni“, erzählt Shanna, eine Krankenschwester im hiesigen Krankenhaus. Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Der Tod eines Menschen kann kollektive Emotionen und Anteilnahme erzeugen, vor allem wenn ihn alle kannten und schätzten. Ein gutes Beispiel ist der Tod eines Lehrers, der einberufen wurde und sieben Tage, nachdem er Tscherjomuschkin verlassen hatte, im Sarg zurückkam, ohne überhaupt die Front erreicht zu haben. Der Tod des jungen Mannes, der mehreren Informanten zufolge wegen seiner menschlichen Qualitäten und seiner Liebe zu den Kindern „von allen vergöttert wurde“, war für die ganze Stadt eine Tragödie. Angeblich schluchzten die Trauergäste bei der Beerdigung vor Kummer und auch aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit.
„In Gesprächen äußern die Tscherjomuschkiner Bedauern über die Todesfälle – vor allem, wenn es darum geht, dass ganz junge Menschen in den Krieg geschickt werden. „Sie sind gerade mal mit dem Wehrdienst fertig“, ruft zum Beispiel die Nagelpflegerin Aljona. Ihre Kollegin Ljuda pflichtet ihr bei: „Sie schicken Kinder in den Krieg!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Solche Erwägungen lösen Kritik am militärischen Konflikt aus, wobei die Schuld an dessen Beginn abstrakten „Mächtigen dieser Welt“ zugeschoben wird, die ihre Ziele auf Kosten der einfachen Leute verfolgen. „Diese Arschlöcher haben einfach die Welt unter sich aufgeteilt! Und unsere Jungs müssen sterben, weil diese Scheißkerle sich nicht einig werden!“, resümiert Ljuda. Diese Kritik mündet jedoch nicht in eine Kritik an der russischen Regierung (die ja eigentlich die Entscheidung über die Mobilmachung getroffen hat). Und die Frage nach der Verantwortlichkeit konkreter Personen wird gänzlich ausgespart.
Als deutliche Antithese zum Krieg tritt das Paradigma der familiären Werte auf, in deren Licht die Kampfhandlungen definitiv verurteilt werden können. Die Rentnerin Ljubow Wassiljewna, die viele Jahre lang im Kulturzentrum gearbeitet hat, erinnert sich an den Tod eines anderen jungen Mannes, dessen Leiche nie in Tscherjomuschkin ankam:
„War ein netter Kerl, hat Akkordeon gespielt … Es gab nicht mal was zu beerdigen! Einen Kampfstiefel und ein Bein drin!“ Und sie wechselt sogleich vom persönlichen Charakter des Toten zu einem breiteren familiären Kontext, der für sie wichtig ist: „Die Mutter hatte nur den einen Sohn , sie hat ihn allein großgezogen, ohne Mann. Also, den Mann gab es schon irgendwo, aber sie waren getrennt. Ein einziger Sohn, und alt genug … Wenn er wenigstens einen Enkel hinterlassen hätte. Mädels, so ein Krieg ist wirklich was Furchtbares!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Genau wie andere Gesprächspartnerinnen der Soziologin auch, erlebt Ljubow Wassiljewna den Krieg als Bedrohung für die Familie, und zwar auch auf ukrainischer Seite: „Ich frage mich, wo die ukrainischen Mädchen jetzt, wo schon so viele tot sind, noch ihre Bräutigame finden sollen? Woher die Männer nehmen, wenn sie alle im Krieg fallen?“ Dabei sprach Ljubow Wassiljewna während der Begegnung mit Tonja und unserer Feldforscherin mehrmals von der „Unterdrückung russischer Bewohner der Krim und des Donbass“ und zog sogar den auch für sie selbst wenig tröstlichen Schluss: Um den Krieg bald zu beenden, muss unbedingt Kyjiw erobert werden. („Also, wenn es die Kiewer Rus gab – dann nehmt doch endlich Kiew ein. Besetzt die Oblast Kiew und Kiew.“) Die Unversehrtheit der Familie ist allerdings eine so zentrale Frage für sie, dass in diesem Kontext sogar die Meinungsverschiedenheiten mit dem „Feindesland“ an Bedeutung verlieren und das propagandistische Narrativ in den Hintergrund tritt.
Ein weiteres wichtiges Thema, das unmittelbar mit dem Krieg zu tun hat, ist Geld und alles, was damit zusammenhängt – Sold, Vergünstigungen, Kompensationszahlungen, Anschaffungen). Die Bewohner des eher ärmlichen Tscherjomuschkin beschäftigt dieses Thema nicht weniger als Tod und Familie. Im Unterschied zu großen Städten sind Fragen von Einkommen und Ausgaben hier alles andere als privat. Wenn sich jemand ein neues Auto kauft, seine Wohnung saniert oder ein hohes Gehalt bezieht, dann weiß man das in der Stadt. Der Krieg hat in Tscherjomuschkin eine Menge solcher „Wirtschaftsnachrichten“ mit sich gebracht.
Die Leute diskutieren rege darüber, wie man am Krieg verdienen kann: den Sold an der Front, das „Sarggeld“ und die Sozialleistungen. Tonjas ehemalige Mitschüler Artjom und Witja erinnerten sich bei einem Besuch bei ihr an gemeinsame Bekannte, die in den Krieg gezogen sind:
„Michailow sagt: ‚Ich krieg 180.000 [etwa 1900 Euro], geil!‘.“ Die Krankenschwester Shanna erzählt Tonja, was sie von einem aus dem Krieg zurückgekehrten Bekannten gehört hat: „220.000 [etwa 2300 Euro] im Monat – Nebenkosten, alles bezahlt.“
Tonjas Freund Kolja, der als Jugendlicher ein paar Jahre hinter Gittern saß, erzählte von einer jungen Bekannten, die es zu Reichtum gebracht hatte: Sie hatte einen Häftling geheiratet, den sie nur per Briefkontakt kannte, als der noch im Knast war. Bald hatte ihn die Söldnertruppe Wagner angeworben.
„Drei Monate hat er gekämpft, dann hat es ihn erwischt. Er war ein Heimkind, hat ihr alles sofort überschrieben. Sie hat sieben Millionen [73.000 Euro] bekommen. Und das für drei Tage, die sie ihn besucht hat!“, schloss Kolja lachend.
Abgesehen vom Einkommen sprechen die Tscherjomuschkiner auch darüber, was sie sich für diese „Kriegsgelder“ kaufen: Autos etwa oder Goldschmuck, den Sweta zufolge, einer Teilnehmerin an der „Frauenrunde“, „nur Leute kaufen, die Geld aus der Spezialoperation bekommen“.Ethnografisches Tagebuch, August/September 2023
Geld ist auch ein wichtiges Motiv, wenn über ethische und familiäre Konflikte gesprochen wird, die im Zusammenhang mit dem Krieg in Erscheinung treten. Ein Beispiel ist das Verhalten der Witwe des an der Front gefallenen Lehrers. Für das Sarggeld kaufte sie sich ein teures Auto, und schon einen Monat nach dem Tod ihres Mannes tanzte sie „ausgelassen“ (wie Zeugen es beschrieben) in der Diskothek. Der Fall der Witwe wurde auch von der Krankenschwester Shanna aufgegriffen, als diese bei Tonja vorbeischaute. Shanna erzählte, die Witwe würde als „Flittchen“ und als „Rumtreiberin“ gelten. Shannas Urteil unterschied sich von jenem der Gesellschaft: „Was soll sie denn sonst tun? Das Leben geht weiter, ist doch so.“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Ein vergleichbarer Fall wurde besprochen, als mehrere Frauen bei einer Mitarbeiterin des Schönheitssalons zusammensaßen. Die Nagelpflegerin Aljona erzählte von einer stadtbekannten Person: „Es gibt einfach solche Mädels à la Petrowa: Die hat sich für das Geld, das von ihrem Mann gekommen ist, eine Karre gekauft. Und in dieser Karre bumst sie ihren Liebhaber. Alle wissen das! Wenn er auf Fronturlaub ist, tut sie brav, hüpft und flattert um ihn rum, aber kaum ist er weg, geht es wieder rund.“
Über die Moral in „Kriegszeiten“ wird vor dem Hintergrund des Großen Vaterländischen Krieges geurteilt. Ljubow Wassiljewna nimmt den Krieg durch das Prisma ihrer sowjetischen Erziehung und ihrer Erfahrung in der Kulturarbeit wahr. Für sie ist „Krieg“ vor allem der „Große Vaterländische“. Und der beschäftigt sie vor allem als Thema, mit dem sie als Mitarbeiterin des Hauses der Kultur ihr ganzes bewusstes Leben lang zu tun hatte (sie wird noch immer bei Veranstaltungen der Stadt gebeten, Reden darüber zu halten, Gedichte über den „Großen Vaterländischen“ vorzutragen oder über den Krieg in Afghanistan). Im Gespräch mit Tonja und unserer Soziologin trug sie das Gedicht Offener Brief von Konstantin Simonow vor. Es erzählt von einer Frau, die nicht warten wollte, bis ihr Mann aus dem Krieg zurückkam, und sich einen anderen nahm. Bevor sie es las, rief Ljubow Wassiljewna: „Wobei dieses Gedicht auch heute noch aktuell ist! Auch jetzt ist Krieg, also ist es wieder aktuell.“ Nach dem Vortrag fügte sie hinzu: „Das ist von 1943, wenn ich mich nicht irre. Jetzt ist Krieg in der Ukraine. Mädchen, Ehefrauen, haltet aus! Benehmt euch nicht wie Schweine, die sich Geld überweisen lassen und inzwischen hier … In der Sowjetzeit, da wurde noch auf die Moral geschaut.“ Die konkreten Umstände des Kriegs in der Ukraine lösen sich vollkommen auf; der neue Krieg kommt gelegen, weil er diesem Gedicht wieder Frische verleiht.
Geld ist zweifellos ein Gradmesser des Erfolgs; da verwundert es nicht, dass sich daran moralische Dilemmata kristallisieren. Geld steht wiederum familiären Werten gegenüber. Meistens zweifeln die Gesprächspartnerinnen an der Zweckmäßigkeit der Einkünfte aus dem Krieg, die für die Familien zerstörerisch sind. Sie messen der Familie einen großen Wert bei.
Shanna zum Beispiel erklärt damit, warum ihr Bekannter nicht an die Front zurückwill: „Na ja, die Frau ist zu Hause, Kinder wollen sie auch. Ist ja nicht gesagt, dass er wieder zurückkommt. Oder er wird irgendwie verletzt und kann nur noch liegen, macht sich in die Hose. Und dann, wer braucht ihn dann noch?“ Shanna war es wichtig, das zu betonen: „Ich finde, kein Geld der Welt kann das Leben aufwiegen … Sogar wenn er umkommt und sie kriegen dieses Geld, ist das doch alles Bullshit – der Mensch ist weg.“Ethnografisches Tagebuch, August 2023.
Die Frauen, die zusammensaßen und über Krieg und Geld sprachen, kamen mehr oder weniger alle zu dem Schluss: „Das ist es nicht wert.“
„Geh lieber ins Sägewerk schuften“: kritische Töne und Gender-Debatten
Abgesehen von den Anschaffungen besprechen die Tscherjomuschkiner auch die kriegsbedingten Ausgaben, die den Soldaten und ihren Familien schwer auf den Schultern lasten – für Schutzwesten, Ausrüstung, Technik, Benzin und sonstige Ausstattung. Dass diese Ausgaben fällig werden, bestärkt sie in ihrer Meinung, dass die Einkünfte es nicht lohnten. Die Krankenschwester Shanna sagte auf Tonjas Frage, warum der Mann ihrer Freundin nicht in den Krieg gezogen sei, obwohl er da doch gut verdient hätte, dass es nichts bringe: „Sie müssen alles auf eigene Kosten kaufen, Ersatzteile, Schuhe …“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Während der Frauenrunde fing Ljuda, eine Mitarbeiterin des Schönheitssalons, fast an zu schreien: „Ich sag dir jetzt mal was! Ich hab eine Bekannte, deren Sohn wurde eingezogen, und sie hat einen Kredit über 100.000 [1000 Euro] aufgenommen, um ihr Kind ordentlich auszurüsten!“ Ihre Kollegin Aljona pflichtete ihr bei: Uns haben sie 180.000 abgenommen, 180.000 [1900 Euro]! Um das alles, diese ganze Ausrüstung zu kaufen!“ Ljuda fiel ihr ins Wort: „Verstehst du, die Eltern müssen selber die Schutzkleidung kaufen, Helme, Stiefel und diesen ganzen Scheißdreck, Handschuhe, alles!“ Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Die Notwendigkeit, für die Ausrüstung Geld ausgeben zu müssen, empfanden die Sprecherinnen als unfair, und dieses Gefühl entlud sich bisweilen in kritischen Äußerungen über die Staatsmacht. Auf die vorsätzlich naive Frage der Soziologin an Ljuda und Aljona, warum einfache Menschen für den Krieg zahlen müssen, reagierte eine der beiden mit einem spitzen Kommentar: „Das fragst du mich? Frag doch die Regierung!“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Meistens begannen unsere Auskunftspersonen den Krieg dann zu kritisieren, wenn sie „Insider-Infos“ von Bekannten an der Front teilten, die nicht mit dem offiziellen, propagandistischen Bild der „militärischen Spezialoperation“ übereinstimmten. Der 30-jährige Witja, Mitarbeiter einer Autowerkstatt, erklärte den Anwesenden mit Feuereifer: „Was sie im Fernsehen sagen, ist nichts als gequirlte Scheiße! Die Jungs, die jetzt dort kämpfen, sagen, man dürfe bloß keinem glauben. Dass unser Verteidigungsministerium berichtet, unsere Verluste seien minimal – das ist alles Käse. Jeden Tag gibt es enorm viele Tote, auf deren Seite genauso wie auf unserer.“ Ethnografisches Tagebuch, September 2023
Nacherzählungen solcher Zeugenberichte „aus erster Hand“ zirkulieren ständig in der Stadt, sodass die Gesellschaft über die enormen Verluste auf beiden Seiten durchaus Bescheid weiß.
Die Situation des Kriegs macht für die Bewohner von Tscherjomuschkin die ukrainische Herkunft mancher Stadtbewohner auf unerwartete Weise aktuell. In der Frauenrunde wurde über eine Frau gesprochen, die nach den Ereignissen 2014 aus dem Donbas hierhergezogen war. Aus Aljonas und Marinas Sicht genießen solche Leute mit ukrainischem Pass großzügige Vergünstigungen: „Hypotheken und so, alles hat sie jetzt. Denen schenken sie alles, aber wir, wir müssen betteln, und dann? Nix!“ Bemerkenswert ist, dass sich die jungen Frauen ausschließlich für wirtschaftliche Aspekte interessierten, keine politischen oder ethnischen. In ihrer ganzen Zeit in Tscherjomuschkin hörte die Soziologin kein einziges Mal, dass jemand über Bewohner mit ukrainischen Wurzeln verächtlich oder misstrauisch sprach. Lediglich die „existenziellere“ Geldfrage veranlasste dazu, Ukrainer überhaupt als eigene Gruppe zu betrachten.
Witja und Artjom erwähnten in einer Männerrunde das Thema Ukraine auf ähnliche Weise. Sie sprachen darüber, wie teuer ein Gasanschluss für ein Grundstück in Tscherjomuschkin ist: „Gas ist in Russland die reinste Verarsche“, empörte sich Witja. „Die Hauptleitungen bauen sie ja, aber damit es zu dir nach Haus kommt – 200.000 [2000 Euro]“, fügte Artjom hinzu. „Aber drüben ist längst alles … Die Jungs, die jetzt im Krieg sind, erzählen: Alles voller Rohre, die ganze Ukraine!“, setzte Witja den Gedanken fort. „Auch in den Dörfern“, meinte Artjom, und Witja stimmte zu: „Ja, jedes Kaff hat sein Gas! Und das in der Ukraine!“Ethnografisches Tagebuch, September 2023.
Auf dieses überraschende Gefälle in den Lebensbedingungen reagierten die jungen Männer mit echter Empörung.
Für die meisten Tscherjomuschkiner ist „Politik“ selten Thema. Unsere Soziologin entdeckte bei ihren Gesprächspartnern ein ganzes Arsenal an Phrasen zur Abwehr „heikler“ Themen: „Lasst uns aufhören mit diesem Thema, mir reicht schon die ganze Politik im Fernsehen“, „Schluss damit, bloß nicht vom Krieg“. „Wir sind einfache Leute, wir verstehen nichts von Politik“ und so weiter.
Doch in Tscherjomuschkin gibt es auch Bewohner, die sich in dieser Hinsicht von der Mehrheit unterscheiden. Zum Beispiel Tonjas kleiner Kreis von oppositionell gestimmten Freunden: Pascha, der mit Autos handelt und oft nach Moskau fährt, und Kolja, ein charismatischer Typ, der in einer Besserungsanstalt für Kinder sozialisiert wurde. Der Abend mit ihnen unterschied sich deutlich von den anderen Zusammenkünften. Den Großteil der Zeit diskutierten die Anwesenden über politische Themen. Pascha, Kolja und Tonja tauschten sich über die jüngsten Nachrichten und Beiträge diverser oppositioneller Blogger aus. Für sie gehören solche Gespräche zum täglichen Leben, sie sind Teil ihrer Identität.
Übrigens sprechen auch jene Tscherjomuschkiner, die die Politik „im Fernsehen schon satt haben“, je nach sozialer und persönlicher Erfahrung in unterschiedlicher Weise über den Krieg. Zum Beispiel besteht bei der Betrachtungsweise ein Gender-Unterschied: In der „Männerrunde“ interessierten sich Witja, Artjom und Ljoscha intensiv für „technische Aspekte“ des Kriegs: Waffen, Transport, Ausrüstung, Ausstattung der Lager und in ihren Augen faszinierende Kampfepisoden. Sie tauschten sich über Inhalte von Videoaufnahmen von der Front aus, die sie sich des Öfteren ansehen, und stritten hitzig über Granaten, Kalaschnikows und MG-Nester. Für sie ist der Krieg wie eine TV-Serie mit betont „männlichen“ Merkmalen.Ethnografisches Tagebuch, September 2023
Die Frauen hingegen beschäftigt, wie bereits erwähnt, das Thema Familie, auf die sich die „Verlockungen des Kriegs“ zerstörerisch auswirken. Für sie ist der Krieg eine konkrete Bedrohung: Sie könnten ihre Männer oder Söhne verlieren. In der Frauenrunde wandte sich Ljuda aufgebracht an ihren Sohn (der zwar nicht an der Runde teilnahm, von dem aber alle Anwesenden wussten, dass er überlegte, in den Krieg zu ziehen): „Die gehen alle nur wegen dem Geld zur Armee. Einen Scheiß werd ich dich an die Front schicken!“ Aljona stimmte sofort ein: „Ich scheiß auf die verfickte Kohle! Die 200.000 verdien ich selber, dafür weiß ich dann, dass es mir an nichts fehlt und meine Familie gesund ist. Die Ohrringe kann ich mir selber kaufen, da hab ich lieber meinen Mann bei mir. Nie im Leben würd ich meinen Mann da hinschicken, in den sicheren Tod!“
Die Gesprächsteilnehmerinnen üben sich in Solidarität, argumentieren gegen die vermeintliche „männliche“ Logik, dass Krieg leicht verdientes Geld bedeute. „Ihr geht wegen der Kohle? Was braucht ihr diesen Scheiß?“ Ljuda pflichtet bei: „Sie dackeln nur dem Geld hinterher. Mein Kind hat gesagt: Ich geh zur Spezialoperation. Aber ich sag ihm: Kommt gar nicht in die Tüte, nur über meine Leiche!“ Aljona schloss sich an und äffte die Männer nach: „‚Ich verdiene da mehr. Ich verdiene da 200.000, wieso sollte ich im Sägewerk schuften.‘ Tausendmal besser, du buckelst im Sägewerk!“Ethnografisches Tagebuch, August 2023
Das parallele Tscherjomuschkin: Der „ausgeblendete“ Krieg und das Dilemma der Mittäterschaft
Sowohl die Beobachtungen unserer Soziologin als auch die Aussagen ihrer Gesprächspartner haben ergeben, dass die Menschen in Tscherjomuschkin vom Thema Krieg genug haben. In der Stadt weisen praktisch keine sichtbaren Zeichen mehr darauf hin. Die Stadtbewohner thematisieren den Krieg sowohl online als auch im direkten Kontakt zueinander seltener als früher. Auch die institutionelle Unterstützung des Krieges ist deutlich leiser geworden: Öffentliche Veranstaltungen finden entweder nur auf dem Papier statt oder sie sind auf eine formale Hülle reduziert. Sie haben ihren militärisch-patriotischen Inhalt verloren und lösen sich in gewohnten Formaten mit minimalen Anspielungen auf den aktuellen politischen Kontext auf.
Seltene Ausnahmen in Form ideologisch aufgeladener Räume wie der Kirche stoßen nur bei einem beschränkten Kreis von immergleichen Gemeindemitgliedern auf Interesse. Die Situation ist heute eine andere als im ersten Kriegsjahr, als die Einbindung der Staatsbürger und die organisatorischen Bemühungen um eine „Solidarität mit der Front“ stärker waren.
Zugleich ist der Krieg im Leben der Kleinstadt im Hintergrund präsent. Nachrichten über Bekannte, die an die Front geschickt wurden oder dort gefallen sind, werden sofort zum Allgemeingut und sorgen für Resonanz. Der Tod von Einheimischen provoziert natürlich kollektive Emotionen. Zudem dringt der Krieg ständig in zentrale Lebenssphären ein, über die viel gesprochen wird: Familienverhältnisse und Einkommen. Die starken Sujets, die der Krieg im lokalen Leben erzeugt – vom Tod über Ehebruch bis hin zu Gehältern, Anschaffungen und den Verlust von Bekannten – bedeuten eine Herausforderung für die übliche Routine und stellen die Menschen vor neue moralische Dilemmata.
Je nach sozialem und persönlichem Hintergrund interessieren sich die Stadtbewohner für unterschiedliche Aspekte des Kriegs. Für einen kleinen Kreis von oppositionell eingestellten Tscherjomuschkinern stehen politische und mediale Ereignisse im Zentrum der Aufmerksamkeit und werden regelmäßig besprochen, während der Großteil der Leute sich im Gegenteil bemüht, Gespräche über Politik zu vermeiden.
Frauen sehen den Krieg als Bedrohung für die Gesundheit und das Leben ihrer Männer und Söhne. Junge Männer, die von Bekannten mit Nachrichten von den Kriegsschauplätzen versorgt werden, sind eher neugierig auf „interne Prozesse“ des Kriegs: Videos von Schusswechseln, Waffentypen, Transport, Verpflegung und so weiter. Ältere Generationen, die noch „sowjetische Kulturträger“ sind, sehen den aktuellen Krieg durch das Prisma tradierter Bilder vom Großen Vaterländischen Krieg.
Der hohe Sold und Prämien für Freiwillige und Vertragssoldaten erzeugen ein ganzes Feld von Themen, anhand derer über den Krieg gesprochen wird. Sie scheinen die Haltung zum Krieg jedoch nicht merklich zu beeinflussen. Einerseits sehen manche Männer den Krieg als Gelegenheit, Geld zu verdienen, vor allem, wenn das auf anderen Wegen schwierig oder unmöglich ist. Andererseits sind die Frauen, mit denen unsere Feldforscherin zu tun hatte, überzeugt, dass kein Geld der Welt den Tod im Krieg und die Zerstörung der Familie aufwiegen kann.
Die meisten unserer Gesprächspartner sind sich einig, dass die Leute entweder gezwungenermaßen in den Krieg ziehen (wenn sie eingezogen werden) oder wegen des Geldes, oder weil sie kein gutes Leben haben (wenn sie zum Beispiel nichts erreicht und keine Familie haben). Eine derartige Kritik lässt sie jedoch nicht an der Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Kriegs zweifeln, sie zieht auch keinen kritischen Blick auf das Vorgehen der russischen Regierung nach sich. Unangenehme Fragen zum „politischen“ Sinn des Kriegs wehren die meisten Gesprächspartner mit rhetorischen Plattitüden ab, die die Propaganda anbietet. Interessanterweise kommen diese Propagandamotive nicht zur Anwendung, wenn die Tscherjomuschkiner Probleme diskutieren, bei denen sie sich auskennen und die ihnen nahe sind.
Die Menschen in Tscherjomuschkin zeigen angesichts des Kriegs auf die eine oder andere Art Emotionen und klagen. Die Leute stoßen sich daran, dass im Krieg die Jungen sterben, und sind empört darüber, dass die Soldaten ihre Ausrüstung selbständig kaufen müssen: Waffen, Uniform, Proviant und Kleidung. Im Grunde würden alle unterschreiben, dass ein Krieg „schlecht“ und „schrecklich“ ist; manche Gesprächspartner räumten insbesondere ein, dass sie den Sinn dieses Kriegs nicht verstehen würden.
Wie aus den Beobachtungen unserer Soziologin hervorgeht, sind Nachrichten über große Verluste im Krieg für die Stadtbewohner kein Geheimnis, und Beerdigungen von einberufenen und freiwilligen Soldaten aus Tscherjomuschkin gestatten es ihnen, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen. Trotz der großen Bandbreite an Emotionen im Hinblick auf den Krieg sprechen nur überzeugte Gegner der „Spezialoperation“ über den Schaden und das Leid, das er der Ukraine und ihren Bewohnern zufügt. Für die meisten Russen, die den Krieg rechtfertigen und gleichzeitig über etliche seiner Aspekte klagen, ist Kritik am Krieg als Verbrechen gegen die Ukrainer nicht relevant. Mehr noch, eine solche Kritik bringt sie dazu, zur Vermeidung des Dilemmas ihrer Mittäterschaft das Vorgehen Russlands zu verteidigen.
Seitdem Alexander Lukaschenko im Mai 2023 vorzeitig von der Parade zum Tag des Sieges in Moskau abreisen musste, gibt es regelmäßig Spekulationen um den Zustand seiner Gesundheit. Nun nährte der Diktator die Gerüchteküche selbst, als er bei einem Auftritt in seiner ostbelarussischen Heimat durchblicken ließ, dass er Ruhe und Erholung brauche.
Spekulationen um das körperliche Wohlbefinden sind der fehlenden Informationstransparenz autokratischer Systeme geschuldet. Schließlich könnte die Nachricht von einer Krankheit des scheinbar unerschütterlichen Anführers dem System einen Schwächefall bescheren, den oppositionelle Gruppierungen und andere herbeisehnen. Falls der Autokrat tatsächlich krank sein sollte, ist das System gemeinhin bemüht, dies vor der Öffentlichkeit zu verbergen, um eine politische Erosion zu verhindern.
Für das belarussische Online-Medium Pozirk versucht der Journalist Alexander Klaskowski, Licht ins Dunkel zu Lukaschenkos Zustand zu bringen. Gleichzeitig geht er der Frage nach, wie eine Nachfolge in dem auf Lukaschenko zugeschnittenen Machtapparat organisiert werden könnte.
Bei einem Auftritt in [der Kleinstadt] Alexandrija äußerte Lukaschenko, dass der Juli für ihn ein schwieriger Monat sei: viele Massenveranstaltungen (besonders die Parade am 3. Juli), die Erntekampagne, und dann musste er auch noch nach Astana zum Gipfel der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) fliegen. Kurzum, „wirklich schwere Tage“. Daher, so sagte er, beschloss er auf dem Rückweg im Osten von Belarus zu landen: „In der nächsten Zeit werde ich von hier arbeiten und beobachten, wie wir uns auf das Einbringen der Ernte vorbereiten“.
Eiserner Macho geht nicht mehr
Die Ernte zu kontrollieren, ist tatsächlich eine der Leidenschaften Lukaschenkos. Früher rückte er mit dem Hubschrauber von Minsk aus an, eilte von Region zu Region und versetzte die lokalen Verwaltungschefs in Angst und Schrecken. Nun hat er beschlossen, in seiner alten Heimat Zuflucht zu suchen, da man dort „buchstäblich innerhalb eines Tages gesund wird, und so stark wie zu früheren Zeiten, als man über diese Erde lief. Man regeneriert sich sehr schnell.“ Der letzte Satz drückt den Wunsch aus, das eigene Wohlbefinden zu verbessern.
Zudem war aus dem Mund des Herrschers praktisch eine Beschwerde zu hören, dass Menschenansammlungen negativ auf ihn wirken, da manche ihn im Inneren verfluchen würden. Auch ein ausdrucksstarkes Bekenntnis. Und eine Art Echo des Jahres 2020. All diese Offenbarungen sind Lukaschenko vermutlich nicht leichtgefallen. Viele Jahre hat er das Bild des in jeder Hinsicht mächtigen Herrschers mit eiserner Gesundheit kultiviert, eines echten Machos. Er fuhr Ski, spielte Eishockey, führte vor laufender Kamera schwere Landarbeit aus – mal mit der Sense, mal mit der Axt.
Jetzt ist ihm also nicht zum Posieren, nicht zur Protzerei zumute. Um sich zu regenerieren, beschloss er an einem beschaulichen Plätzchen abzutauchen. Wenngleich nicht ausgeschlossen ist, dass wir in den nächsten Tagen irgendein Video vom Heumachen oder anderen waghalsigen Aktivitäten zu sehen bekommen. Um uns wissen zu lassen, mit dem Herrscher ist alles in Ordnung, „da könnt ihr noch lange warten“.
Das Gerede über Lukaschenkos Gesundheit hatte sich im Mai vergangenen Jahres verstärkt, als er zunächst bei einer Preisverleihung in Minsk schlecht ausgesehen hatte, danach auch bei der Siegesparade in Moskau, wo er einen Verband am Arm trug. Zur Kranzniederlegung am Grab des Unbekannten Soldaten wurde Lukaschenko in einem Elektromobil gefahren. Danach verschwand er für fast eine Woche vollkommen aus der Öffentlichkeit. Als er dann am 15. Mai bei der Kommandozentrale der Armee und der Luftstreitkräfte erschien, verglichen ihn böse Zungen mit einem Exponat aus dem Wachsfigurenkabinett.
Seitdem bemerkten die Zuschauer immer öfter, dass Lukaschenko hinkte, mit heiserer Stimme sprach, schwer atmete. Einmal zitterte auch sein Kopf. Im Januar dieses Jahres verpasste er ein Hockeyspiel seiner Mannschaft gegen die Rivalen aus dem Gebiet Mahiljou. Erklärt wurde das so: „Er hat Holz gehackt, dabei ist ihm ein 80 Kilogramm schwerer Klotz auf den Fuß gefallen.“ Bei der diesjährigen Parade am 9. Mai blieb Lukaschenko beim Gang zum Grab des Unbekannten Soldaten völlig hinter den anderen Staatsführern zurück. Er rechtfertigte das damit, dass er ins Gespräch mit Sergej Schoigu vertieft war. Und kürzlich berichtete der Fernsehsender Doshd, Lukaschenko sei beim SOZ-Gipfel in Kasachstan schlecht geworden. Vielleicht ist Alexandrija nun der Versuch, die Wirkung dieser Nachricht abzumildern.
Hindernislauf bei der Machtübergabe
In Diktaturen ist der Gesundheitszustand des Führers ein Geheimnis mit sieben Siegeln. Wir können nicht einschätzen, wie ernst Lukaschenkos Beschwerden sind. Aber auch ohne Fachleute ist klar, dass er weder jünger noch gesünder wird, gegen die Biologie ist kein Kraut gewachsen. Und das weiß er auch. Immer häufiger kommt er auf das Thema zu sprechen, dass ein Generationswechsel auf Staatsebene unausweichlich ist. Mehr noch, er hat die Verfassung auf einen Machtwechsel zugeschnitten. Die Allbelarussische Volksversammlung ist mit ihren weitreichenden Befugnissen als jenes Organ konzipiert, das den nachfolgenden Präsidenten kontrollieren soll.
Nur den Schritt zum Machtwechsel selbst geht dieser Mensch nicht, der seit 30 Jahren an der Spitze des Staates steht. Zur Absicherung hat er sich erst einmal noch einen zweiten Thron gesichert – den Vorsitz der Volksversammlung. Und er teilte mit, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2025 antreten wird. Einiges deutet darauf hin, dass er sich bereits auf den Wahlkampf vorbereitet. Einerseits werden die Repressionen fortgesetzt, um den illoyalen Teil der Bevölkerung in Schach zu halten. Anderseits hat er gerade eine Handvoll politische Gefangene freigelassen, um sein Image aufzubessern und dem Westen ein Signal zu senden.
Mit dem Gedanken der Machtübergabe steht Lukaschenko offensichtlich auf Kriegsfuß. Wahrscheinlich treibt ihn die tragische Erfahrung Nursultan Nasarbajews um. Zudem scheint er nicht überzeugt, dass eine andere Person mit seinem Amt zurechtkommen könnte. Diese Zweifel hat er sogar schon laut geäußert. Und die Frage ist berechtigt. Der autokratische Herrscher hat eine Umgebung loyaler ausführender Kräfte geschaffen. Das sind alles Funktionäre. Aber andere Politiker, außer dem Führer selbst, gibt es im Land im Grunde nicht.
Viele sind Meister der Gottespreisung – aber können sie gleichzeitig rücksichtslos gegenüber Feinden und äußerst geschmeidig im Verhältnis zum „Erzverbündeten“ sein? Können sie listig sein, zwischen Regentropfen hindurchschlüpfen, Intrigen an der Wurzel ausreißen und zu guter Letzt auch im kritischen Moment die Macht fest in der eisernen Umklammerung halten? Eine solche Palette an Talenten und Fähigkeiten in Zusammenspiel mit thermonuklearem Willen ist tatsächlich selten. Das Ruder aus der Hand zu geben ist wahrscheinlich auch deshalb erschreckend, weil er sich um das eigene Schicksal und das der Familie im weiteren Sinne sorgt. Den Thron also vererben? Der Jüngste, Nikolaj, ist noch zu jung, der mittlere, Dimitri, hat offensichtlich kein Händchen für die Politik, und über das Verhältnis zum Ältesten, Viktor, hört man Verschiedenes. Jedenfalls gibt es keine Anzeichen dafür, dass er in die Spur geschickt wird.
Tichanowskaja wird nicht sofort triumphierend im Land einziehen
Bis zuletzt hat Lukaschenko in Bezug auf seine Machtübergabe also prokrastiniert. Böse Zungen sagen voraus, dass das Finale letztlich so aussehen könnte wie bei Stalin. Auf welche Gedanken der Regent bei seiner aktuellen Reha in der alten Heimat kommt, wissen wir noch nicht. Aber die Menschen in seinem engeren Umfeld und viele in der Machtvertikale haben vermutlich schon alle möglichen Gedanken zu dem Thema im Kopf: Was kommt danach?
Das ist übrigens ein weiterer Grund für einen Autokraten, keinen Nachfolger zu benennen. Es macht einen sofort zur lahmen Ente, alle Amtsträger würden sich zunehmend auf den zukünftigen Chef ausrichten. Gleichzeitig schaut ein Teil der Machtvertikale vermutlich sorgenvoll auf die Zukunft ohne Lukaschenko. Wenn nun plötzlich das System ohne harte Hand direkt den Bach runtergeht und sich die „fünfte Kolonne“ mithilfe des Westens rächt und die Diener des alten Regimes an den Straßenlaternen aufhängt?
Die Regimegegner indes erwarten das Ende der Epoche Lukaschenko natürlich voller Hoffnung (nicht umsonst erwähnte er in Alexandrija jene, die ihn verfluchen). Manch einer behauptet: An diesem Tag wird der Sekt ausverkauft sein. Ja, aber hoffentlich gibt es am Morgen danach kein böses Erwachen. Das Problem ist ja nicht nur der grausame, charismatische Herrscher. Man muss auch sehen, dass dieses System zahlreiche Befürworter hat. Das sind die Silowiki, ein bedeutender Teil der Staatsverwaltung (obwohl dort vermutlich viele heimlich von einem Regime mit menschlicherem Antlitz träumen), das höfische Business, die Mitbürger, die Angst vor Krieg haben, eine große Zahl von Rentnern, Arbeiter in unrentablen Staatsbetrieben, und einfach lupenreine Lukaschisten. Daher darf man nicht denken, dass Swetlana Tichanowskaja sofort im weißen Jeep in Minsk einfahren wird.
Moskau wacht gierig
Manche Politikexperten sagen, dass der nächste Präsident, wer es auch sein mag, gezwungen sein wird, die Daumenschrauben zu lockern. Aber was, wenn es ein blutbefleckter Silowik wird? Am Ende ist da noch Moskau, das die belarussische Frage hartnäckig verfolgt. Und natürlich bemüht ist, im Falle einer „Danach“-Situation Belarus noch zuverlässiger in die Mangel zu nehmen.
Lässt der Kreml einem hypothetischen Reformator aus der belarussischen Nomenklatura freie Bahn? Oder beschließt er angesichts dieser Freiheiten, das Land als extrem wichtigen strategischen Aufmarschplatz zu annektieren? Menschen mit prorussischem Gedankengut gibt es in der hiesigen Vertikale, besonders unter den Silowiki, ja mehr als genug. Kurz, das Ende von Lukaschenkos Herrschaft wird zu einem kritischen Moment für das Schicksal von Belarus.
Wie finden ukrainische Kämpfer nach ihrem Armeedienst oder andere, die in russischer Gefangenschaft waren, den Weg zurück ins zivile Leben? Vor allem, wenn sie nach ihrem Einsatz an körperlichen oder psychischen Versehrungen und Traumata leiden und deswegen nicht in ihren alten Beruf zurückkehren können.
Die Journalistin Iryna Oliinyk erzählt für das ukrainische Online-Medium Zaboronadie Geschichte eines Betroffenen, der nach der Gefangenschaft einen beruflichen Neuanfang mit Hilfe des zivilgesellschaftlichen Projekts Heart of Asovstal schaffte, das auch Soldaten hilft, die im Frühjahr 2022 bei der Verteidigung des Asow-Stahlwerks in Mariupol im Einsatz waren.
Gefangenschaft und Neuanfang
Hennadii Assheurow hat über 30 Jahre lang bei der Streifenpolizei von Mariupol gearbeitet. Was Krieg ist, wusste er schon seit 2014 sehr genau, denn seitdem befand sich sein Heimatdorf Hranitne an der Kampflinie. Im Februar 2022 sollte der Mann in den Ruhestand gehen. Er erinnert sich, dass am Abend des 23. Februar mit schwerem Beschuss begonnen wurde: Da gelang es den russischen Streitkräften, das Dorf abzuschneiden und einzukreisen. Wenige Tage später kamen Soldaten aus der sogenannten Donezker Volksrepublik und Luhansker Volksrepublik zu Hennadiis Haus und schnappten sich ohne Erklärung den Polizisten.
„Meine Familie und ich konnten nicht fliehen, alles ging sehr schnell“, erinnert sich Hennadii im Gespräch mit Zaborona. „Als die Besatzer mich holten, wussten sie genau, wer ich war und was ich machte, sie haben nicht einmal das Haus durchsucht. Sie brachten mich zur örtlichen Polizeistelle, wo ich seinerzeit den Dienst angetreten hatte, aber dort wurde ich nicht lange festgehalten.“
Dann ging es per Lastwagen in das besetzte Donezk: Zivilisten und Militärs zusammen, insbesondere vom Asow-Regiment und der Nationalgarde. Hennadii Assheurow berichtet, dass die Gefangenen hungerten und ihnen kein Wasser gegeben wurde. Während der Verhöre wurde Gewalt angewendet und psychologischer Druck ausgeübt. Einige Monate später wurde der Mann in die Strafkolonie in Oleniwka geschickt, wo er 40 Tage blieb.
„Anfang Mai kam ich nach Oleniwka. Zu dieser Zeit war die Kolonie mit ukrainischen Gefangenen überfüllt, aber die Russen brachten weiterhin unsere Leute dorthin, die zu dieser Zeit aus dem Asowstal- und Illich-Werk kamen. Ich wurde viele Male verhört, sie versuchten, wenigstens kleine Hinweise zu bekommen, aber vergebens. Und sie konnten keine Anschuldigungen erheben. Am Ende setzten die Russen mich und über 20 Leute einfach vor die Tür und sagten: Ihr seid frei!“, behauptet der Mann aus Mariupol. Er erhielt eine Aufenthaltsbescheinigung in Oleniwka, aber um persönliche Gegenstände und Dokumente aus Donezk abzuholen, musste er 40 Kilometer zurücklegen. Und dann auf eigene Faust weiter in freies Gebiet. Nach seiner Freilassung hatte Hennadii Assheurow keine Ahnung, was er im zivilen Leben tun würde, da er aufgrund seiner Gesundheit und seines Alters nicht mehr zur Polizei konnte. Zusammen mit seiner Familie trat er in den Freiwilligendienst: Sie verteilten Lebensmittel an die Binnenvertriebenen. Das half, teilweise von den Gedanken an die Gefangenschaft und den Verlust der Heimat abzulenken, ergab aber keinen Plan für die Zukunft.
„Ich wandte mich an die Organisation Heart of Asovstal, wo mir kostenlose Schulungen im IT-Bereich angeboten wurden. Eines der Arbeitsfelder, die ich wählen konnte, war Human Resources, also das Personalmanagement. Ich kommuniziere gerne und knüpfe gerne neue Kontakte und Beziehungen, also interessierte mich das. Schließlich haben sich die früheren Erfahrungen aus der Polizeiarbeit als nützlich erwiesen. Die Online-Schulung bei dem Unternehmen Dan.IT dauerte sechs Monate“, sagt Assheurow.
So änderte der Mann sein Betätigungsfeld komplett: Im Alter von 55 Jahren begann er eine Karriere im Recruiting. Jetzt arbeitet Hennadii als Karriere-Mentor bei Heart of Asovstal: Nach dem Prinzip Peer-to-Peer hilft er den ehemaligen Kämpfern von Mariupol, eine interessante Richtung für Ausbildung und Umschulung zu wählen, und bietet umfassende Unterstützung bei der Arbeitsvermittlung.
Psychologische Rehabilitation und Integration von Veteranen
Tausende ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene haben nach ihrer Rückkehr ins zivile Leben Schwierigkeiten: Wie soll man sich an das zivile Leben anpassen und in die Gesellschaft integrieren, fragt die Psychologin Natalja Schewtchenko. Ihr zufolge sind für die effektive Integration von Kriegsdienstleistenden in aller erster Linie die Stabilisierung des psychischen Zustandes und die Aufarbeitung der mit dem Krieg verbundenen Traumata notwendig.
„Die Veteranen spüren das besonders nach Verletzungen. Und dabei es geht nicht unbedingt um die Amputation von Gliedmaßen. Es gibt viele unsichtbare Verletzungen: Schädeltrauma, Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwäche, die Gliedmaßen sind nicht voll funktionsfähig oder es gibt Rückenprobleme. Für solche Menschen ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, wo sie in Zukunft arbeiten und was sie tun können“, sagt die Psychologin von Heart of Asovstal. — Dies sei insbesondere für Soldaten über 40 Jahre ein Problem. „Sie glauben nicht, dass sie lernen und umschulen können.“
Der Spezialistin zufolge dauert die psychologische Rehabilitation mindestens drei Monate. Eine der größten Herausforderungen bestehe darin, Veteranen bei der Überwindung von Folgen einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zu helfen.
„Die Veteranen versuchen in der Regel einfach, ihre Kriegserfahrungen loszuwerden, indem sie alles verdrängen, was mit ihnen geschehen ist. Psychologen versuchen, ihnen dabei zu helfen, das, was sie durchgemacht haben, zu akzeptieren und zu lernen, damit zu leben. Außerdem haben die Veteranen einen geschärften Sinn für Gerechtigkeit, also werden sie durch alles getriggert, was mit dem normalen zivilen Leben außerhalb des Krieges zu tun hat. Wenn Menschen sich entspannen und irgendwo hingehen und das Leben genießen und woanders geht der Krieg weiter, ist das für sie wie zwei Parallelwelten“, bemerkt Natalja Schewtschenko. Die Verteidiger von Mariupol können von Heart of Azovstal umfassende Unterstützung im Rahmen der psychologischen Rehabilitation erhalten. Man kann sich einer Therapie in einem individuellen Format oder während des Gruppenunterrichts unterziehen.
„Wir führen eine sehr effektive Form der psychologischen Rehabilitation für Soldaten durch — das ist Dekompressionstherapie und körperliche sowie psychische Erholung, die sehr gute Ergebnisse zeigt“, erklärt Shewtschenko. „Wir arbeiten mit kleinen Gruppen von zwölf ehemaligen Soldaten und bringen sie in Rehakliniken, wo Psychologen zweimal täglich Gruppentherapie mit ihnen machen – hauptsächlich Kunst- und Reittherapie. So schaffen wir eine Gemeinschaft und zeigen Veteranen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind, sondern unter anderen Veteranen, die auch diesen Weg hinter sich haben.“
Auch wenn es auf dem ukrainischen Arbeitsmarkt derzeit in vielen Branchen an Arbeitskräften mangelt, sind einige Arbeitgeber nicht bereit, demobilisierte Soldaten einzustellen, betont Natalja Slynko, Inhaberin der Consulting Firma Talent Match. Die Expertin erklärt, dass dies teilweise darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeitgeber nicht wissen, wie sie mit Veteranen umgehen sollen und dass sie nicht bereit sind, deren Bedürfnisse zu berücksichtigen. Dazu gehört vor allem die Schaffung spezieller Arbeitsplätze für die Bedürfnisse der Veteranen gemäß den gesetzlichen Anforderungen, die von den Unternehmen eingehalten werden müssen. Ein Soldat wird in der Regel aus Gründen der körperlichen oder geistigen Gesundheit demobilisiert, so dass er ein ärztliches Attest und einen Nachweis für Rehamaßnahmen hat. Dort sind insbesondere die Arbeitsbedingungen festgelegt, die bei der Einstellung eines Veteranen zu berücksichtigen sind.
„Der Arbeitgeber ist verpflichtet, einen besonderen Arbeitsplatz zu schaffen – so sagt es das Arbeitsrecht. Dies gilt ausnahmslos für alle Veteranen, die über eine Bescheinigung der Medizinischen und Sozialen Expertenkommission (MSEC) verfügen. In diesem Dokument sind die Bedingungen festgelegt, die erfüllt sein müssen, damit die Rechte eines Veteranen nicht verletzt werden“, betont Natalja Slynko. „Normalerweise sind diese Bedingungen sehr individuell, aber manchmal widersprechen sie dem, was eine Person körperlich tun kann. Für einen Arbeitgeber ist es äußerst schwierig, einen Arbeitsplatz zu schaffen, der der Beschreibung in der Bescheinigung entspricht. Außerdem drohen den Unternehmen hohe Bußgelder, wenn sie diese gesetzlichen Vorgaben nicht einhalten.“
Ausbildung und Schulung von Veteranen
Laut Natalja Slynko sind heute nur große ukrainische Unternehmen und Firmen sozial orientiert und bereit, demobilisierte Soldaten umzuschulen und anzustellen. Und das gilt nur für Personen, die zuvor schon in dem jeweiligen Unternehmen gearbeitet haben, denn in vielen Fällen haben die Arbeitgeber diesen Arbeitsplatz nicht neu besetzt. Die Expertin macht darauf aufmerksam, dass es auf dem Arbeitsmarkt fünf bis sieben solcher Unternehmen gibt, die den Veteranen wirklich helfen, sich an ein neues berufliches Umfeld anzupassen – dafür gibt es spezielle Programme.
„Ich weiß mit Sicherheit, dass Ukrsalisnyzjaviel in dieser Richtung tut, weil man dort den größten Prozentsatz an mobilisierten Mitarbeitern unter den ukrainischen Unternehmen hat. Solche Unternehmen finden einen neuen Arbeitsplatz innerhalb ihrer Strukturen und schulen den Veteranen entsprechend um. Sie haben ein Zentrum für die Schulung und Zertifizierung von Mitarbeitern, und sie tun dies auf eigene Faust und auf eigene Kosten“, sagt die Recruiterin. „Es gibt auch andere Unternehmen, die ehemaligen Soldaten helfen, einen neuen Beruf innerhalb der Strukturen zu finden, aber dies wird durch Mentoring und Beratung von Kollegen umgesetzt.“
ORGANISATION FÜR DIE UNTERSTÜTZUNG VON VETERANEN
Das Projekt Heart of Azovstal läuft seit Februar 2023, um Soldaten zu unterstützen, die seit Beginn der groß angelegten Invasion der Russischen Föderation an der Verteidigung von Mariupol teilgenommen haben. Seitdem erhielten etwa 6000 Verteidiger der besetzten Stadt im Rahmen der Rehabilitation umfassende Hilfe nach ihrer Gefangenschaft.
Laut Tetjana Kuchozka, ebenfalls bei Heart of Azovstal beschäftigt, bekommen die Soldaten nach ihrer Entlassung mit Hilfe des Projekts eine langfristige physische und psychische Behandlung. Die NGO hilft Veteranen auch bei einer schnellen Anpassung an das zivile Leben, insbesondere bietet sie drei Optionen an:
eine kostenlose Ausbildung oder Besuch von Kursen an Hochschulen der Ukraine
einen Arbeitsplatz der jeweiligen Fachrichtung mit der Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung
Gründung eines eigenen Unternehmens.
„Im Rahmen unseres Zukunftsprogramms werden derzeit 145 ehemalige Soldaten ausgebildet, um neue berufliche Fähigkeiten zu erlernen oder ihre Qualifikationen zu erweitern. Das sind vor allem Berufe im Bereich IT und Cybersicherheit sowie Fahrerberufe“, sagt Tetjana Kuchozka. Im Umschulungsprozess durchläuft ein Soldat alle Phasen mit Unterstützung eines Psychologen und eines beruflichen Mentors. Letzterer ist notwendig, um dem Veteranen zu helfen, aus den verschiedenen Berufen eine interessante und vielversprechende Richtung zu wählen, in der er sich erfolgreich einbringen kann. Der Mentor hilft auch dabei, die militärische Erfahrung im Lebenslauf korrekt und für den Arbeitgeber verständlich und überzeugend darzustellen.
„Während des Projekts haben wir festgestellt, dass Soldaten und andere Militärangehörige über sehr gute Managementfähigkeiten verfügen, die im zivilen Leben benötigt werden“, sagt die NGO-Vertreterin. „Sie haben auch Erfahrung mit der Arbeit in Krisensituationen und Kenntnisse in militärischer Dokumentation.“ Nach der Demobilisierung seien die Veteranen oft verwirrt und gestresst, denn der Dienst an der Front und das zivile Leben seien eben zwei verschiedene Welten. Nach einer Weile würden die Veteranen von Unsicherheit erfasst: „Oft können sie aufgrund von Verletzungen und dem sich verschlechternden Gesundheitszustand nicht mehr das gleiche tun wie vor dem Krieg.“
Hennadii Assheurow, beruflicher Mentor bei Heart of Azovstal, analysiert die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Präferenzen jedes Kandidaten, um ein interessantes Tätigkeitsfeld anbieten zu können. Seiner Meinung nach können sich die ehemaligen Kämpfer von Mariupol in vielen Bereichen erfolgreich verwirklichen, indem sie ihre militärischen Vorerfahrungen nutzen. „Nach der Rückkehr ins zivile Leben hat man den Wunsch, sich in demselben Bereich weiterzuentwickeln, in dem man vor der russischen Invasion gearbeitet hat. Die meisten ehemaligen Soldaten lebten und arbeiteten in Mariupol. Daher binden wir im Rahmen des Projekts unsere Partnerunternehmen ein und suchen nach einem neuen Arbeitsplatz. Zu den beliebtesten gehören Sicherheitsdienste, weil die Jungs wissen, wie man mit Waffen umgeht und Befehle befolgt.“
Die Journalistin Olga Loiko, einst Chefredakteurin für die Bereiche Politik und Wirtschaft beim einflussreichen Online-Medium Tut.by, das 2021 von den belarussischen Machthabern liquidiert wurde, wusste, dass sie Belarus schnell verlassen muss. Nachdem sie fast ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hatte, wurde sie im März 2022 auf freien Fuß gesetzt, ohne dass die Anklage gegen sie fallengelassen wurde. Sie entschied sich umgehend zur Flucht. Im Oktober 2022 setzte der KGB sie schließlich auf die Fahndungsliste für Personen, die sich „an Aktivitäten von terroristischen Organisationen“ beteiligt haben. Sie kann deswegen nicht zurück nach Belarus.
Wann kommt bei anderen der Punkt, an dem man sich tatsächlich entscheidet, Belarus zu verlassen? Ob es die Angst ist, im Zuge politischer Verfolgung festgenommen zu werden. Gleichzeitig ist da die Furcht, ins Ausland zu gehen, wo man in einer fremden Welt ein neues Leben aufbauen muss, wissend, dass man seine Liebsten in der Heimat womöglich nie mehr wieder sieht. Wie plant man seine Flucht? Was muss man alles bedenken? Mit diesen schwierigen und schmerzhaften Fragen befasst sich Olga Loiko in einem Text für die Online-Plattform Plan B.
Tausende Notfalltaschen haben die Belarussen seit 2020 gepackt. Wechselwäsche, Zahnputzzeug, Thermounterhosen, Hygieneartikel. Der eine stellt sie an einen sichtbaren Ort mit detaillierten Anweisungen für die Angehörigen, der andere schiebt sie möglichst weit aus dem Blickfeld. Die Taschen stehen in unsanierten Mietwohnungen oder im Kofferraum schicker Autos und warten darauf, dass ihre Stunde schlägt. Vielen haben sie schon genutzt. Bestenfalls nicht im Gefängnis, sondern auf der Flucht aus dem Land.
Oder doch hierbleiben?
Eine geplante Ausreise ist mühevoll und erfordert eine mehrstufige Vorbereitung. Es gibt lange Debatten: Wohin überhaupt, was wird mit Arbeit, Wohnung, Besitzstand in Belarus, Verwandten. Man braucht Visa, Vollmachten, Apostillen, Katzenimpfungen. Anders sieht es im Fall einer plötzlichen Bedrohung aus. Oder einer verschärften. Als ich nach zehn Monaten hinter Gittern aus dem Untersuchungsgefängnis freikam, wusste ich genau, dass eine Ausreise unvermeidlich ist. Glücksspiel mit der Staatsmacht ist eine schlechte Idee, besonders, wenn es ein Spiel ohne Regeln ist. Wenn einfach Asse aus dem Ärmel gezogen werden können. Wenn einfach alle Trümpfe aussortiert werden.
Ich will nicht weg. 45 Jahre mehr oder weniger geordnetes Leben sind nicht nichts. Verwandte, Eigentum, die Überzeugung, dass das hier mein Land ist. Mit all seinen Ecken und Kanten. Andererseits habe ich auch keinen Hang zu co-abhängigen Beziehungen. Ich glaube nicht an Liebe ohne Gegenseitigkeit. An ein „ich bleibe um jeden Preis“. Darin steckt etwas von Lukaschenkos „die Geliebte gibt man nicht her“. Oder Kotschanowas „Ich halte zu ihm bis zum Schluss“. Wenn meine Anwesenheit der Heimat so lästig ist, dass sie mich eine gefährliche Verbrecherin nennt, inhaftiert und dann auch noch zur „Terroristin“ erklärt, sollten wir doch besser getrennt wohnen. Für eine gewisse Zeit oder für immer.
Und das ist für viele der Stolperstein. Ein One-Way-Ticket. Niemals nach Hause zurückkehren. Nie mehr die Eltern sehen. Auf verschiedenen Seiten der Grenze sein, mit Kindern, Partnern, Freunden. Am neuen Ort nicht einleben können. Für diejenigen, die das Gefängnis hinter sich haben, ist es leichter: das Leben grundlegend zu ändern ist weniger schlimm, als wieder hinter Gittern zu landen. Die Familie und alle Angehörigen werden sich besser fühlen, wenn ich nicht im Gefängnis bin. Es ist ruhiger und billiger.
Die Illustrationen zu diesem Text wurden von einer ehemaligen politischen Gefangenen gezeichnet, die Folter und Zwangsemigration erlebt hat. Ihr Pseudonym: Who Is
Punkt ohne Wiederkehr
Es ist wichtig, die Entscheidung selbst zu treffen. Es wird viele Pseudounterstützer geben. Der Druck, der im Land auf einem lastet, kommt der Belastung zehn Meter unter Wasser gleich. Verlass das Land! Du musst das Land verlassen! Warum geht sie nicht? Alle geben Ratschläge, egal ob sie noch im Land sind oder schon draußen. Es ist gut, wenn man die Möglichkeit hat, das Thema in Ruhe mit jemandem zu besprechen, der noch bei Verstand ist. Wie gefährlich es sein kann, wenn jemand das Land nicht rechtzeitig verlässt, können die Angeklagten von Gruppenverfahren berichten. Es ist also auch Teil des Spiels, das Land so zu verlassen, dass man niemanden im eigenen Umfeld gefährdet.
Den Ratgebern möchte ich raten: Wenn ihr euch solche Sorgen um jemanden macht, bietet ihm Hilfe an. „Wenn du das Land verlässt, können wir auf deine Wohnung aufpassen/ deinen Eltern im Haushalt helfen/ deine Katze oder deinen Kanarienvogel vorübergehend bei uns aufnehmen/ dir mit dem Visum helfen/ dir Tipps geben, wo du kostenlos bei Freunden in Warschau oder Vilnius unterkommen kannst.“
Gut zu wissen: Egal wie präzise euer Ausreiseplan ausgearbeitet ist, seid bereit, alles über den Haufen zu werfen, wenn die Gefahr plötzlich um die Ecke kommt. Rote Linien – Eröffnung eines Strafverfahrens, Ergänzung eines neuen Anklagepunktes und ähnliches – sind rote Linien. Die Hauptsache ist dann, nicht innezuhalten, indem man sich farbenblind oder kurzsichtig stellt. Tasche schnappen, Haus verlassen …
Man muss fahren
Geschichten darüber, wie Belarussen der Umarmung des Heimatlandes entfliehen, gibt es unzählige. Über Felder, durch Flüsse, über Zäune, Flughäfen, Busbahnhöfe, Züge. „Sie werden schießen – und das nicht zur Warnung. Sie müssen 500 Meter rennen, das schaffen Sie.“ „Bei Ihrem Pass klingelt was, sie werden ihn mitnehmen, ein FSB-Mann wird Sie befragen – es dauert nicht lange, maximal 20 Minuten. Bemühen Sie sich, ruhig zu bleiben.“ „Vergessen Sie nicht, aus dem Zug auszusteigen. Manche sind so aufgewühlt und aufgeregt, dass sie es vergessen.“ Die redlichen, gesetzestreuen und manchmal sogar ängstlichen Belarussen haben sich in einer neuen Realität wiedergefunden.
Das Gesetz brechen? Im Januar 2021 terrorisierte ich nur das zuständige Finanzamt – ich wollte ganz schnell 50 Rubel Einkommensteuer zahlen! „Was heißt hier: Warten Sie, die Summe wurde noch nicht eingefordert? Dann fordern Sie sie ein! Lassen Sie es uns händisch eingeben! Was, wenn ich verhaftet werde, wer zahlt dann die Steuer für mich?“ Die Mitarbeiterinnen der Steuerbehörde schauten einander perplex an, aber dann verstanden sie die Situation.
Und nun habe ich den Status „Terrorist“ und ein Ausreiseverbot und verlasse das Land unter der wachsamen Führung des BYSOL-Teams (viele Grüße an alle und danke nochmals!). Jetzt breche ich wirklich das Gesetz, so weit ist es gekommen.
Im Grunde ist alles ganz einfach. Grundlegende Vorsichtsmaßnahmen, das Telefon zuhause lassen (stattdessen ein „sauberes“ Telefon mitnehmen), Freunde vorwarnen (wo muss der Ausreisende im Fall des Notanrufs abgeholt werden, wie bekommen die Verwandten die Schlüssel usw.) Die Familie weiß am besten von nichts – sie muss die Ungewissheit aushalten, dafür aber auch nicht lügen.
Ein leichtes Schneegestöber weht durch die Straßen von Minsk. Ich empfinde kein bisschen „Abschied von der Heimat“. Eigentlich wäre es angebracht, es wirklich an mich heranzulassen. Das kommt später. Schnell der Abschied von den Freunden (Der Gedanke „Es ist doch für immer“ huscht vorbei. Nur fast richtig geraten. Es ist noch kein Jahr vergangen, und wir sind wieder Nachbarn.) Die Marschrutka, die keine ist, steht in der Toreinfahrt des Bahnhofs. Los geht’s.
Es müsste schrecklich sein, dabei ist es einfach nur surreal. „Hast du deinen Pass?“ „Klar, wie soll ich sonst über die Grenze kommen? Er wird kontrolliert, dachte ich …“ Es stellt sich heraus, dass man auch leicht ohne Pass über die Grenze kommt, es kostet nur zweieinhalb Mal so viel. Im Auto sitzen der gerissene Fahrer, zwei Damen russischer Staatsbürgerschaft von zweifelhafter Beschäftigung – und eben ohne Pässe, zehn Beagle-Welpen mit gefälschten Dokumenten und ich, Terroristin auf der Flucht oder James Bond mit Minimaleinkommen.
Die Grenzkontrolle ist rein formal, wir halten nur unsere Dokumente hoch – und schon sind wir auf russischem Staatsgebiet. Nur die zwei Frauen ohne Pass müssen anschließend aus der Dachgepäckbox geholt werden – schon kann es weitergehen.
Über die verschiedenen Fluchtrouten wurde schon viel erzählt. Vielleicht unnötigerweise. Die Machthaber müssen besser nicht alles wissen, und die neuen Flüchtlinge nicht allzu sehr auf schon beschriebene Fluchtrouten setzen. Sie können sich als kompromittiert erweisen und gefährlich sein. Es gibt Leute, die sich mit der Evakuierung befassen, mit den Routen und Visa, professionell. Es ist besser, sie zu Rate zu ziehen.
Und danach?
Was danach kommt, ist unterschiedlich. Manchen fallen die ersten Tage schwer. Oft sind das diejenigen, die ins Unbekannte gefahren sind. Dann folgt die Euphorie über das Gefühl der Sicherheit. Man muss nicht bei jedem Anruf zusammenzucken, bei jedem Klopfen an der Tür, bei Stimmen im Treppenhaus, bei den charakteristischen Bussen ohne Nummernschild (oder auch mit). Dann folgt die Bürokratie, das Asylverfahren. Ein Haufen komplizierter Angelegenheiten und Probleme. Oft bedrückend, aber immer lösbar. Es wird ein Meer von Emotionen sein. Die Freude über Begegnungen mit Freunden und neue Reisen. Die Verzweiflung darüber, geliebten Menschen, die in Belarus geblieben sind, nicht helfen zu können. Unsicherheit bei der Arbeitssuche.
Es wird Frust geben, und Enttäuschung. Bei vielen auch den Wunsch zurückzukehren. Ich respektiere jede Entscheidung. Zu viele Faktoren haben Einfluss darauf. Zu schwierig ist es, bei Null zu beginnen, besonders, wenn man nicht mehr ganz jung und gesund ist. Zu schmerzhaft ist es, einen Teil der Familie zurückzulassen, und zu teuer, alle mitzunehmen.
Glaubt man Remarque, und es gibt nicht viele Schriftsteller, die so tief in die Gefühlswelt von Menschen eingetaucht sind, die in die Emigration gezwungen wurden, so steht einer der schwierigsten Abschnitte noch bevor. Wenn (und falls) es möglich sein wird zurückzukehren, wird man es dann tun? Wird man das endlich wieder geordnete Leben (irgendwann wird es ja wieder geordnet sein) dann wieder aufgeben? Aber das ist schon eine andere Geschichte.