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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • „Die Ukraine hat uns betrogen“

    „Die Ukraine hat uns betrogen“

    Was immer man denkt über die Umstände des Referendums vor eineinhalb Jahren: In Sewastopol sind viele von Herzen froh, nun zu Russland zu gehören. Iwan Shilin von der Novaya Gazeta hat ein Stimmungsbild zusammengetragen – kleine Kuriositäten inklusive.

    Drei Tage vor dem Feiertag hatten die Medien Sewastopols über die Sperrung der Straßen informiert: von 5 bis 12 Uhr. Doch um 8 Uhr flitzen immer noch Autos in beiden Richtungen über die Uliza Lenina, die Hauptstraße der Stadt.

    „Sie müssen wenden“, bedeutet ein Polizist einem Toyota, der ins Zentrum fahren will. „Ich hab den hier“, der Fahrer streckt einen roten Ausweis aus dem Fenster. „Alles klar, bitte.“ Der Polizist gibt den Weg frei.

    Nach dem Verkehr zu urteilen gibt es viele Fahrer mit einem roten Ausweis. Die Versammlung der Stadtbewohner ist für 9 Uhr angekündigt. Doch schon gegen 8 Uhr sind beim Denkmal der Stadtgründerin Katharina der II. viele Menschen anzutreffen. Ständig begrüßen Neuankömmlinge aus allen Richtungen Bekannte: „Einen frohen Feiertag!“ Viele lächelnde Gesichter.

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    „Wo soll der Umzug beginnen?“, frage ich einen Kämpfer der Selbstverteidigungskräfte, der auf der Straße umhergeht.
    „Kommt darauf an, zu welcher Organisation Sie gehören.“
    „Ich bin auf eigene Faust da.“
    Der Kämpfer blickt erstaunt: „Dann wohl auf dem Suworow-Platz.“

    Der Kämpfer sagte das, jedoch habe ich keine Hinweise gefunden, dass man die Menschen zum Feiertag dort hinbeordert hätte. Die typische Antwort der Menschen, die kommen: „Die Vorgesetzten mussten uns nicht auffordern, wir sind von selbst gekommen.“ Die Bedeutung dieses Feiertags ist den meisten unbekannt, man weiß wenig über die Ereignisse von 1612. In Sewastopol bezieht man den Tag der Einheit des Volkes auf sich.

    Wir werden in die Ukraine kommen, wir werden nach Weißrussland kommen

    Um 8.30 Uhr, eine halbe Stunde vor Beginn des Umzugs, versinkt die Straße in einem Meer von Flaggen. Eine weißrussische fällt mir auf. Hochgehalten wird sie von einem grauhaarigen Mann im Tarnanzug. Wassili Wassiljewitsch ist 66 Jahre alt, 30 davon hat er in der Schwarzmeerflotte gedient.

    „Ich selbst bin aus Weißrussland, deshalb trage ich diese Flagge. Damit habe ich den ganzen Krim-Frühling bestritten, ich war bei den Selbstverteidigungskräften Sewastopols“, erzählt er. „Auch hier bei uns wollten die sich auf dem Nachimow-Platz versammeln, diese Ukr… – diese Ukrainer, aber wir haben sie aufs Schönste verjagt. Großenteils Junge waren es. Haben sich hier eingeschmuggelt als angebliche Studenten, als angebliche Bauarbeiter. Ich glaube, das waren keine Studenten oder Bauarbeiter, das waren gut ausgebildete Kämpfer. Doch wir vom Schwarzen Meer sind unbezwingbar: Wir haben denen die Leber auf den Asphalt geschmiert.

    Den Russischen Frühling auf die Krim und Sewastopol zu beschränken sei Unsinn, findet Wassili Wassiljewitsch.

    „Gerechterweise müssten alle slawischen Länder zu einem einzigen werden“, fährt er fort. „Ich überlege mit den Jungs schon, wie wir das hinkriegen. Wir gehen in die Ukraine, gehen nach Weißrussland, nach Serbien. Alles wird zu einem einzigen Staat.“
    „Wann?“, erkundige ich mich.
    „Das sind erst Pläne, noch nichts Konkretes.“
    „Wird der Staat Russland heißen?“
    „Natürlich, wie soll er denn sonst heißen?“

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    15 Minuten vor dem Marsch wird Musik eingeschaltet – über Sewastopol sind ja viele Lieder geschrieben worden. Die Leute treten von den Bürgersteigen auf die Fahrbahn und stellen sich in Kolonnen auf. Die kleinste Kolonne, die Selbstverteidigungskräfte Sewastopols, zählt nur etwa 50 Personen. Ich nähere mich einem Mann, der mit einem Transparent dasteht. Alexej ist 25 Jahre alt und arbeitet als Autoschlosser. In seiner Freizeit ist er bei der Selbstverteidigung.

    Mit der Ukraine haben wir zusammengelebt wie mit einer Ehefrau

    „Warum wir nicht in der Ukraine geblieben sind?“, wiederholt er meine Frage. „Wissen Sie, es ist wie im Familienleben. Eine Pralinen-Blumen-Phase gab es zwar nicht, aber am Anfang war das Zusammenleben erträglich. Als dann Juschtschenko an die Macht kam, kündigte sich Uneinigkeit an: Aus irgendwelchen Gründen begann Kiew, mit den USA und der EU zu verkehren. Aber das war eigentlich eher wie ein Freund der Ehefrau, den sie bald satt hatte. Und da trat dann unser Mann, Janukowitsch, auf den Plan. Ja, und als dann der Maidan kam und siegte, hat uns die Ukraine meiner Meinung nach einfach betrogen, ist zum Nachbarn gegangen. Und wollte dann noch unser Kapital: Kämpfer für die Eroberung der Krim und Sewastopols. Aber da haben wir gezeigt, dass wir stark sind. Zumal Russland uns unterstützte.“

    Alexej stand während des Krim-Frühlings am Checkpoint in Tschongar.

    „Als im Fernsehen fast täglich über verhaftete bewaffnete Kämpfer berichtet wurde, war das natürlich erfunden“, sagt er. „Es gab einzelne Versuche, Waffen hineinzuschaffen, wobei die Fahrer bei der Festnahme gewöhnlich sagten, die seien doch für uns. Aber wir stellten alles auf den Kopf und beschlagnahmten die Waffen. Ich glaube schon, dass diese Hilfe für die Kiew-Anhänger bestimmt war.“ Der Ukraine wünscht Alexej, dass sie „möglichst schnell zur Vernunft kommt“.

    Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit

    Der Umzug beginnt. Mindestens 15.000 Teilnehmer. Die erste Kolonne steht auf dem Nachimow-Platz, die letzte nicht weit vom Suworow-Platz. Vor der Kolonne der Nationalen Befreiungsbewegung werden eine Trikolore und Putin-Porträts hergetragen.

    „Zwischen der Ukraine und uns bestand keine Einheit“, sagt der Mann, der vorne geht. „Sie ist ein höchst vielfältiges Land: Lemberg zieht es in die eine Richtung, Iwano-Frankowsk wird ohnehin bald an Ungarn übergehen, und wir wollten zu Russland gehören. Aber Kiew hat uns, als wir noch zusammengehörten, zweimal Mieses angetan: Das erste Mal 2006, als beschlossen wurde, dass das Erlernen der ukrainischen Sprache Pflicht wird (Die Novaya Gazeta fand übrigens keine Bestätigung für diese Information – I.Sh.), und das zweite Mal ein Jahr später, als Timoschenko ankündigte, sie werde Sewastopol in die Knie zwingen (Timoschenko hat mehrmals erklärt, sie habe nie etwas Derartiges gesagt). Und deswegen konnte uns nichts mehr halten, als es zum Euromaidan kam. Jetzt hat sich die Ukraine außerdem auch auf ein sehr gefährliches Spiel eingelassen: Sie tanzt nach der Pfeife der Weltregierung. Sie wissen doch, dass Obama, Merkel und all die anderen nur Marionetten sind?“

    Ich nicke verständig.

    „Putin versucht, sich dem zu widersetzen. Die Weltregierung richtet die Länder zugrunde, nur Auserwählte führen ein Leben im Reichtum – haben Sie von der ‚goldenen Milliarde‘ gehört? Auch die Ukraine wird man zugrunde richten, die lässt keiner in den Club der Elite.“

    Unverhofft kommt eine Frau zu mir geeilt und streckt mir eine Zeitung entgegen. „Nationale Befreiungsbewegung: Für Souveränität“, lese ich. Auf der Titelseite das Gesicht des Abgeordneten Fjodorow. „Die Propagandamaschine, die uns von früh bis spät das Gehirn wäscht, ist mächtig“, schreibt er nicht etwa über Kisseljow oder Solowjow. „Doch die USA verstehen das Wesen des „russischen Wunders“ nicht.“ Das „russische Wunder“ sind nach Auffassung des Abgeordneten Fjodorow die Siege in den Kriegen gegen Napoleon und Hitler. Schwer zu sagen, ob sich Barack Obama für deren Rolle eignet. Aber er ist ja ohnehin nur eine Marionette … Dann folgen Klischeeartikel: Zentralbank – Agent der USA, Verfassung – zugeschnitten auf den Westen. Auflage 100.000 Exemplare.

    Es hätte eine Föderalisierung gebraucht

    Der Umzug, der um den ganzen zentralen Stadtring hätte führen sollen, endet abrupt: Die Polizei lässt die Leute nicht auf die Uliza Bolschaja Morskaja. Aber das stört niemanden. Die Leute rollen ihre Flaggen und Transparente zusammen und verziehen sich einfach. Sie haben den ganzen Weg über nichts skandiert, sind einfach mitgelaufen und haben der Musik zugehört: Ein Orchester spielte einen Marsch.

    Ein Teil der Stadtbewohner bleibt auf dem Lasarew-Platz, um sich zu fotografieren. Ich bemerke eine Frau mit vier Medaillen auf der Brust. Darunter auch eine Für die Heimkehr der Krim.

    Foto © Iwan Shilin
    Foto © Iwan Shilin

    „Nein, nein, ich habe natürlich nicht gekämpft“, wehrt sie ab und stellt sich vor: Tatjana Jermakowa, Präsidentin der Russischen Gemeinschaft Sewastopols. „Die Medaille hat man mir wahrscheinlich dafür verliehen, dass ich seit 1990 immer wieder Kampagnen für die Heimkehr der Krim und Sewastopols nach Russland initiiert habe. Damals, 1990, zeichnete sich schon ab, dass die UdSSR zusammenbrechen würde, und so stellten wir die Puschkin-Gesellschaft für Russische Kultur auf die Beine. Wir reisten nach Moskau, um Gorbatschow zu treffen, dann Chasbulatow, 1992 nahmen wir an einer Sitzung teil, auf der die Verfassungswidrigkeit der Übergabe der Krim an die Ukraine anerkannt werden sollte. Dann, als die Versuche, sich Russland anzuschließen, gescheitert waren, setzten wir uns für die russische Kultur ein: In Russland feiert man jetzt am 6. Juni [Puschkins Geburtstag – dek] den Tag der Russischen Sprache. Unsere Gesellschaft gehörte zu den Initiatoren dieses Feiertags.“

    Auf meine Frage, ob Sewastopol in der Ukraine hätte bleiben können, antwortet Jermakowa: „Die Ukraine hat ihre Fehler schon lange vor dem Euromaidan begangen. Wir haben beispielsweise jedem Präsidenten Briefe geschrieben: Föderalisieren Sie das Land, wir brauchen mehr Selbständigkeit, wir wollen kein Ukrainisch lernen, wir wollen eigene Gesetze. Aber es wurde jedesmal abgelehnt. Deswegen nein. Sewastopol war immer ein Vorposten Russlands auf der Krim, mit uns hätte man behutsamer umgehen müssen.“

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    Entlaufene Zukunft

    Das Begräbnis des Essens

    Kontakt der Zivilisationen

    Russland auf der Flucht vor sich selbst

  • Presseschau № 6

    Presseschau № 6

    Der für seine radikalen Aktionen bekannte Künstler Pjotr Pawlenski sorgt in Russland wieder für Aufruhr. Diesmal hat er die Eingangstür des Inlandsgeheimdienstes FSB in Brand gesetzt. Nun wird diskutiert: Galerie oder Gefängnis? Medienbeherrschende Themen diese Woche sind außerdem der Dopingskandal im Sport sowie die Frage, wie die Urlauber nach dem A321-Absturz auf dem Sinai mit dem Flugstopp nach Ägypten umgehen sollen. 

    Kunst oder Vandalismus? Die Bilder zeigen den brennenden Eingang eines Gebäudes. Im Schein der Flammen ein hagerer Mann. Sekunden später wird er von einem Verkehrspolizisten abgeführt. In der Nacht auf den 9. November hat der für seine kompromisslosen Aktionen bekannte Künstler Pjotr Pawlenski die Tür des Inlandsgeheimdienstes FSB an der Moskauer Lubjanka in Brand gesetzt. Die Aktion mit dem Titel Bedrohung sei eine Anklage dagegen, dass der FSB 146 Millionen Menschen unter seiner Terrorherrschaft halte, sagte Pawlenski vor Beginn seiner Anhörung im Saal des Tagansker-Bezirksgerichts. Ihm droht nun ein Prozess wegen Vandalismus, das Moskauer Gericht hat die Untersuchungshaft um 30 Tage verlängert. Pawlenski selbst verlangte ein strengeres Vorgehen. Er fordere, wegen Terrorismus angeklagt zu werden, sagte der Künstler unter Verweis auf die „Krim-Terroristen“ um den ukrainischen Filmregisseur Oleg Senzow, welche wegen eines Brandanschlags zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.

    Mit seinen radikalen Aktionen provoziert Pawlenski: 2012 stand er mit zugenähtem Mund in St. Petersburg auf der Straße, um gegen die Verurteilung von Pussy Riot zu protestieren. 2013 nagelte er sein Skrotum auf dem Roten Platz fest. Im vergangenen Jahr schnitt er sich auf dem Dach der berüchtigten Serbsky-Klinik in Moskau ein Stück seines Ohrläppchens ab, um gegen den politischen Missbrauch in der Psychiatrie in Russland zu protestieren.

    Der Staat reagiert. Diverse psychiatrische Gutachten der Behörden zielen darauf ab, dem Aktionskünstler seine Schuldfähigkeit abzuerkennen, um ihn damit in eine Klinik einweisen zu lassen. Auch nach der brennenden FSB-Tür wurden Rufe laut, Pawlenski „von der Gesellschaft zu isolieren“. Ein Abgeordneter des Moskauer Stadtparlaments verlangt zudem, dass die Ermittlungsbehörde wegen Extremismus gegen Journalisten und Blogger ermitteln soll, welche die Aktion fotografierten und Bilder davon verbreiten. Nutzer sozialer Netzwerke ließen sich davon jedoch nicht abschrecken. Ein Online-Reiseportal nutze die brennende Türe gar, um für Urlaub in Afrika zu werben.

    Die brennende FSB-Tür wurde auch unter Oppositionellen und Gegnern des Putin-Regimes hitzig diskutiert. Die Meinung, ob es sich bei der Aktion um Kunst handelt oder ob Pawlenski vor Gericht gehört, gehen auseinander. So kontrovers die Aktionen sind, eines scheint festzustehen: Je strenger die Strafe, desto stärker entfaltet sich das aktionistische Szenario, erklärt der Galerist Marat Gelman in Slon das Funktionieren von Pawlenskis Kunst. Wer sich für die Arbeit des polarisierenden Künstlers interessiert, kann sich übrigens auch außerhalb Russlands mit seinen Arbeiten auseinandersetzen. Im November wird in Hamburg die erste Pawlenski-Retrospektive eröffnet.

    Dopingskandal. Die einen würden ihre Konkurrenz direkt besiegen, die anderen würden es vorziehen, das Image eines Landes zu ruinieren. Mit derart markigen Worten kommentierte der russische Sportminister Wladimir Mutko den massiven Dopingskandal, mit dem sich Moskau seit Anfang der Woche konfrontiert sieht. Hochrangige Politiker und staatsnahe Medien sprachen von haltlosen Beschuldigungen, von einer politisch motivierten Schmutzkampagne gegen Russland. Die Vorwürfe der Anti-Dopingagentur WADA wiegen allerdings schwer: In Russland werde staatlich gesponsertes Doping betrieben, heißt es in dem am Montag vorgestellten Bericht. Die Korruption im Sport hat für die WADA Systemcharakter. Berichten von Athleten zufolge musste man sich bloß mit der Nummer seiner abgegebenen Dopingprobe und 30.000 Rubel (450 Euro) an bestimmte Trainer wenden, welche alles Nötige veranlassen würden. Kurz: Keine Proben – kein Problem, beschrieben russische Medien den Ablauf.

    Den Untersuchungen der WADA liegt eine ARD-Dokumentation zu Grunde. Das russische Sportministerium fordert die Agentur dazu auf, richtige Beweise vorzulegen und sich nicht auf die Arbeit von Journalisten zu berufen. Dem beanstandeten Moskauer Labor, in welchem angeblich mehr als 1400 Proben zerstört wurden, hat die Wada bereits die Akkreditierung entzogen. Dopingproben russischer Athleten werden nun vorerst außerhalb des Landes getestet.

    Die Anschuldigungen wiegen schwer für die erfolgsverwöhnte Sportnation, welche an den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 vor eigenem Publikum die meisten Medaillen erringen konnte. Nun droht der gesamten russischen Leichtathletikmannschaft eine Sperre für die Olympischen Sommerspiele 2016 in Brasilien. Einen kollektiven Rückzug lehnt Moskau jedoch ab. Nur diejenigen Athleten sollen gesperrt werden, die auch des Dopings überführt wurden. Präsident Wladimir Putin ordnete erst einmal eine interne Untersuchung an.

    A321. Fast scheint es, als wäre in den russischen Medien die Suche nach den Ursachen der Flugzeugkatastrophe über dem Sinai, der 224 Menschen zum Opfer fielen, in den Hintergrund gerutscht. Viel mehr zu interessieren scheint, wie nach dem durch den FSB initiierten Flugstopp vom vergangenen Freitag die Rückreise der in Ägypten gestrandeten 80.000 russischen Touristen mitsamt ihrem Gepäck verläuft. Auch müssen russische Touristen nun umdisponieren, war Ägypten doch ihr beliebtestes Reiseziel. Zwar bieten die Behörden der annektierten Krim das Schwarze Meer nun als Ersatz für das Rote Meer an. Bereits gebuchte Ferienreisen könnten aber nicht einfach umgetauscht werden, heisst es.

    Behörden rechnen mit einem Flugstopp von mehreren Monaten, die Verluste für die Reisebüros werden auf 1,5 Milliarden Rubel geschätzt (etwa 21 Millionen Euro), schreibt Vedomosti. Das alles sei der russischen Regierung jedoch herzlich egal, schreibt der regierungskritische Journalist Oleg Kaschin. Der Kreml könne sich das erlauben, unangenehme Fragen würden wohl auch kaum gestellt, falls ein Terroranschlag zweifelsfrei als Ursache des Absturzes etabliert würde. Peinlich wäre für den Kreml laut Kaschin wohl einzig das Eingeständnis, dass sich Russland im vergangenen Jahrzehnt bei der Terrorbekämpfung im Kreis gedreht hat und keinerlei Fortschritte erzielt wurden.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 1

    Presseschau № 2

    Presseschau № 3

    Presseschau № 4

    Presseschau № 5

  • Symbolischer Wohlstand

    Symbolischer Wohlstand

    Der ungeschriebene russische Gesellschaftsvertrag scheint sich zu wandeln: Statt materieller Sicherheit bietet der Staat seinen Bürgern nun zunehmend eine Art seelischen oder moralischen Bonus. Eine durchaus zweischneidige Art der Kapitalanlage, meint Maxim Trudoljubow von den Vedomosti.

    Wenn das Geld ausgeht, müssen die Herrschenden, wer auch immer es sei, von einer großzügigen Sozialpolitik übergehen zu einem reichen spirituellen Leben. Statt Brot zu verteilen, nährt man selbstlosen Patriotismus. Statt Freiheiten zu gewähren, zieht man die Zügel straff.

    Die Grundlage des ungeschriebenen Vertrags mit dem Kreml war lange Zeit eine ganz und gar materielle: Der Anstieg des Realeinkommens gewährleistete das Einverständnis mit der generellen Linie der Chefetage. Aber in irgendeinem Moment – möglicherweise wegen des Maidans, möglicherweise wegen des Abfalls des Ölpreises – hörte diese Grundlage auf, materiell zu sein. Zwischen den Bewertungen der Wirtschaftslage des Landes und den Popularitätsratings des Kreml besteht insofern kein Zusammenhang.

    Plötzlich war der Wohlstand, der stets das zentrale Thema der Verhandlungen mit der Staatsmacht war, nicht länger materiell sondern symbolisch. Und sogar der wichtigste russische Indikator, den man längst in den Medien anstelle von Börsenindizes und Wechselkursen veröffentlichen müsste – das Beliebtheits-Rating des Präsidenten – spiegelt heute nicht mehr den Sättigungsgrad des Konsumhungers wider, sondern die Verbesserung des symbolischen oder moralischen Selbstgefühls eines bedeutenden Teils der Bevölkerung.

    Es muss viele geben, die zum Glauben ans Symbolische bekehrt wurden – über die gewaltige Zahl sprechen all jene, die Stimmen auszählen und in der Gesellschaft Meinungen zu dem ein oder anderen Thema erfragen (ob man das, was die Menschen im heutigen Russland auf die Fragen in Interviews antworten, als frei geäußerte Meinungen ansehen kann, soll bitte jeder selbst entscheiden).

    Der neue Wohlstand hat wohl kaum direkt etwas zu tun mit der subjektiven Befriedigung im Leben – mit dem, was der Einfachheit halber in verschiedenen internationalen Indizes Glück genannt wird. Das ist ein modischer Kennwert, der seinerzeit sogar das Bruttosozialprodukt ersetzen oder ergänzen sollte. Das Glücksniveau in der Russischen Föderation ist in den Putin-Jahren gestiegen, bleibt aber niedrig. Der Index Happy Planet beispielsweise versucht  zu messen, in welchem Maße ein Staat dazu in der Lage ist, seinen Bürgern ein langes, stabiles und gesundes (auch in ökologischer Hinsicht) Leben zu ermöglichen. Russland steht in diesem Index auf Platz 122 von 151. Im World Happiness Report, der die subjektiv empfundene Lebensqualität erfasst, belegt Russland Platz 64 von 158. Und wenn man den ganz und gar [staats-]loyalen Sozialen Optimismus betrachtet, der von dem russischen Meinungsforschungzentrum WZIOM erhoben wird, so zeigt sich, dass dieser sinkt: Im August 2014 betrug der Index der Lebenszufriedenheit der Russen 77 Punkte, im August 2015 lag er bei 56 Punkten.

    Im Grunde handelt es sich hierbei weder um Zufriedenheit mit dem Leben, noch um Freude über seine hohe Qualität, Dauer oder seine allgemeinen Annehmlichkeiten. Vermutlich ähnelt der russische symbolische Wohlstand einem moralischen Wohlbefinden, das üblicherweise darin besteht, dass man bei einem Streit auf Seiten der Guten ist oder in einem Kampf mit dem Bösen und der Dunkelheit auf Seiten des Guten und des Lichts. Ein tiefes Gefühl der eigenen Richtigkeit, vor dem Hintergrund der Unrichtigkeit aller anderen; die Freude, Teil von etwas Großem und Starkem zu sein; die Befriedigung, es „dem Westen gezeigt zu haben“. Möglicherweise gesellt sich hier auch ein Gefühl von Geborgenheit hinzu – ein Leben hinter Festungsmauern. Dieses Gefühl von Geborgenheit findet übrigens keine faktische Entsprechung, da jeder durch Zufall den Spezialkräften im Namen eben jener Sicherheit zum Opfer fallen kann, doch darum geht es jetzt nicht. Es geht darum, dass die Menschen umgesiedelt sind: aus Russland in eine magische Welt der Symbole.

    Und noch etwas. Es mag eine Festung sein, aber es ist kein Zufluchtsort. Flüchtende aufzunehmen oder solche, die ein besseres Leben suchen, will und kann Russland nicht. Menschen aus anderen Ländern, einschließlich der Syrer oder Ukrainer (an deren Wunsch, ihr Land zu verlassen, Russland heute unmittelbaren Anteil hat), die aufrichtig in Russland leben und arbeiten wollen, haben es extrem schwer, hier unterzukommen. Das Verhältnis zu Migranten in der russischen Festung ist offen feindselig, aber auch das ist offensichtlich Teil des moralischen Wohlbefindens und des symbolischen Wohlstands, der für die Gesellschaft so unabdingbar ist.

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    Der russische Frühling

    Russland als globaler Dissident

    Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?

    Wer lebt glücklich in Russland?

    Zerfall eines Konzerns: ein Szenario

    Das wahre und das vermeintliche Vaterland

    Banja, Jagd und Angeln …

    Kaliningrader Bundesflagge

  • Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der 50-Milliarden-Dollar-Prozess

    Der Konzern YUKOS, in den 1990er Jahren entstanden und in den damaligen zwielichtigen Auktionen privatisiert, avancierte zunächst zu einem unternehmerischen Aushängeschild Russlands. Von 2003 bis 2006 wurde Yukos dann in einer Reihe aufsehenerregender Prozesse vom Staat zerschlagen und in staatsnahe Besitzverhältnisse überführt. Seine Gesellschafter – als prominentester unter ihnen der politisch ambitionierte Michail Chodorkowski – wurden verhaftet. Kein anderes Ereignis bündelt die wirtschaftlichen und politischen Umbrüche im ersten Jahrzehnt dieses Jahrunderts in so eindrucksvoller und dramatischer Weise.

    Zehn Jahre nach diesen Ereignissen verpflichtete ein Urteil des Ständigen Schiedsgerichts in Den Haag den russischen Staat zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von 51,6 Milliarden US-Dollar. Russische Vermögens- und Kulturwerte im Ausland könnten hierfür gepfändet werden. Russland strebt nun in einem neuen Prozess die Rücknahme dieses Urteils an. RBC, ein auf Wirtschaftsthemen spezialisiertes Internetportal, hat 800 Seiten Prozessunterlagen beider Seiten analysiert und geht hier der Frage nach: Worum und warum streiten die Parteien weiterhin?

    Zwar wird die YUKOS-Affaire auch von deutschsprachigen Medien immer wieder aufgegriffen, dieses Material von RBC bietet jedoch eine ausgesprochen vollständige Zusammenschau der letzten Ereignisse und ist dazu reich an Insiderinformationen, wie etwa über das von der russischen Seite angestrengte linguistische Gutachten.

    Um dieses komplexe Thema in der nötigen Tiefe darstellen zu können, publizieren wir zeitgleich auch mehrere speziell hierfür verfasste Gnosen.

    Laut dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag wurde den ehemaligen YUKOS-Aktionären Schadensersatz von russischer Seite in Höhe von 50 Mrd. EUR zugesprochen. RBC hat den Verlauf des darauf folgenden Prozesses am Haager Bezirksgericht untersucht, von dessen Ergebnis maßgeblich abhängen wird, ob die YUKOS-Aktionäre diese Summe tatsächlich beanspruchen können.

    Im Januar 2015 hatte Russland beim Bezirksgericht die Aufhebung des Haager Schiedsgerichtsurteils beantragt (RBC hat die Argumente der russischen Seite eingehend analysiert), im Weiteren wurde über den Verlauf des Prozesses nichts mehr bekannt. Im Mai 2015 jedoch haben die Aktionäre von YUKOS  (Yukos Universal, Hulley Enterprises und Veteran Petroleum, die gemeinsam etwa 70 % des Ölkonzerns kontrollieren) ihre Erwiderung auf Russlands Antrag eingereicht. Die Vertretung der russischen Seite hat Mitte September darauf schriftlich geantwortet.

    Der Zugang zu beiden Dokumenten, die zusammen mit den entsprechenden Anhängen mehr als 800 Seiten lang sind, gelang dank eines zeitlich parallel laufenden Verfahrens am District Court of Columbia in Washington DC, USA. Dort wollen Yukos, Hulley und Veteran die Anerkennung des Haager Schiedsspruchs auf dem Gebiet der USA erreichen, damit sie im amerikanischen Rechtsraum russisches Staatsvermögen sperren lassen dürfen. Russland (in diesem Prozess vertreten durch die Kanzlei White & Case) hat am 20. Oktober [2015 – dek]  beim Washingtoner Gericht beantragt, die Haager Entscheidung nicht anzuerkennen.

    Bei den Dokumenten, die Russland bei dem amerikanischen Gericht eingereicht hat (und die in die amerikanische Gerichtsdatenbank aufgenommen wurden), handelt es sich auch um Unterlagen, die die Parteien während des laufenden Prozesses am Bezirksgericht in Haag ausgetauscht haben. Im Mai hatten die YUKOS-Aktionäre (vertreten durch die Amsterdamer Kanzlei De Brauw Blackstone Westbroek) dem Gericht eine 400-seitige Antragserwiderung zugesandt. Am 16. September reichte Russland seine ebenso viele Seiten umfassende Antwort darauf ein. Wie der Vertreter Russlands, der Juraprofessor Albert Jan van den Berg dem amerikanischen Richter mitteilte, geht das Verfahren nun in die Schlussphase: Am 9. Februar 2016 finden vor dem Bezirksgericht in Den Haag die Anhörungen statt, das Urteil wird für April 2016 erwartet.

    Austausch von Liebenswürdigkeiten

    Obwohl das Haager Bezirksgericht weder imstande noch befugt ist, die Entscheidung des Schiedsgerichts zu revidieren (es können ausschließlich eng begrenzte rechts- und verfahrenstechnische Fragen verhandelt werden), haben Russland und YUKOS ihre Aussagen dazu genutzt, ihren langjährigen Propagandakrieg fortzusetzen. Die Aktionäre von YUKOS verwenden 23 Seiten ihrer Stellungnahme darauf, aus anderen Gerichtsverfahren zu zitieren (darunter die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu den Klagen von Michail Chodorkowski und Platon Lebedew sowie der YUKOS-Aktionäre) und Erklärungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens anzuführen, die zeigen sollen, dass „das Verhalten der Russischen Föderation gegenüber YUKOS zum Gegenstand weltweiter Verurteilung geworden ist“. Der Verteidigung von YUKOS zufolge hat „die internationale Gemeinschaft, einschließlich internationaler Organisationen, NGOs sowie weiterer Institutionen und Persönlichkeiten des gesellschaftlichen Lebens weltweit, die Angriffe der Russischen Föderation auf YUKOS und die mit ihr verbundenen Personen einhellig verurteilt“.

    In den Erklärungen der YUKOSsianer werden Persönlichkeiten aufgezählt, die öffentlich für YUKOS eingetreten sind – etwa US-Präsident Barack Obama, Ex-Präsident George Bush, Hillary Clinton, die europäischen Politiker Jerzy Buzek und Catherine Ashton, der britische Premierminister David Cameron, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der frühere deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Von den Persönlichkeiten aus Russland, die die Angriffe auf YUKOS verschiedentlich kritisiert haben, werden Ex-Premierminister Michail Kassjanow, der ehemalige Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow, der erste Vize-Premierminister Igor Schuwalow, der frühere Medwedew-Berater Igor Jurgens, der Wirtschaftswissenschaftler Jewgeni Jasin sowie die Oppositionspolitiker Wladimir Ryshkow und Garri Kasparow genannt.

    Ein eigenes Kapitel verwenden die Vertreter von YUKOS auch darauf, die „Missachtung des internationalen Rechts und des internationalen Systems zur Beilegung von Streitigkeiten durch die Russische Föderation“ zu illustrieren. „Die Versuche Russlands, den Haager Schiedsspruch aufheben zu lassen, passen ins Gesamtbild seines Verhaltens – nämlich, dass es Entscheidungen internationaler Gerichte und Tribunale nicht respektiert. Russland hat nicht eine Entscheidung eines Investitionsschiedsgerichts freiwillig erfüllt“, heißt es in der Erwiderungsschrift der YUKOS-Aktionäre. Als Beweis werden Beispiele angeführt, wie etwa die Weigerung Russlands, im Fall der Festsetzung des holländischen Schiffs Arctic Sunrise und der Festnahme der an Bord befindlichen Greenpeace-Aktivisten an einem Schiedsverfahren nach dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen mitzuwirken, oder die nur selektive Umsetzung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Russland. Die Verteidigung von YUKOS kommt zu dem Schluss, dass das laufende, von Russland beim Bezirksgericht in Den Haag angestrengte Verfahren sich konsequent in eine lange Reihe von Prozessen einfügt, in denen Russland „unbegrenzte Ressourcen“ darauf verwendet, sich der Befolgung von Entscheidungen internationaler Gerichte und Schiedsgerichte zu widersetzen.

    Russland erwidert darauf mit der Feststellung, dass der internationale Ständige Schiedshof in Den Haag „dem Einfluss unausgesetzter Lobby- und PR-Kampagnen“ der ehemaligen YUKOS-Aktionäre sowie „der russischen Oligarchen, die Yukos Universal, Hulley und Veteran kontrollieren, ausgesetzt war“. Die russische Seite weist das Bezirksgericht darauf hin, dass die früheren YUKOS-Aktionäre schon seit langem eine internationale Kampagne betreiben würden, um eine einseitige Wahrnehmung der YUKOS-Affäre durchzusetzen. So rechnet die russische Vertretung beispielsweise vor, dass die mit YUKOS verbundenen Organisationen einschließlich der in Gibraltar ansässigen GML, in den Jahren 2003–2009 nicht weniger als 3,7 Mio. US-Dollar auf Lobbyaktivitäten zugunsten ihrer Interessen in den USA verwendet hätten.

    Die Erörterung der von den YUKOSsianern so bezeichneten „Missachtung des internationalen Rechts durch Russland“ hält die russische Seite im Kontext des besagten Verfahrens für unangebracht, die Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zugunsten von YUKOS bewertet sie als politisch voreingenommen und ohne eigenständige Sachkenntnis. Russland unterstreicht noch einmal gesondert, dass das Gericht die Erklärung von Michail Kassjanow nicht berücksichtigen solle, da dieser seine Zeugenaussage beim Haager Schiedsgerichtshof später widerrufen habe (was die YUKOS-Verteidigung verschweigt).

    „Alle diese Materialien [Urteile anderer Gerichtsverfahren, Aussagen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens] stellen einen Versuch dar, die Russische Föderation durch für das Verfahren irrelevante und politisch motivierte Anklagen zu diskreditieren“, schreibt die russische Seite.

    Linguistisches Gutachten

    Russland setzt vor allem auf die Behauptung, dass die Haager Schiedsrichter, die YUKOS 50 Mrd. US-Dollar zugesprochen haben, ihr Mandat nicht in eigener Person wahrgenommen und damit ihre Berufsethik verletzt hätten, da der kanadische Jurist Martin Valasek, der offiziell nur als Assistent des Richters fungierte, entscheidenden Einfluss auf die Verhandlung genommen habe. In seiner Stellungnahme für das Bezirksgericht behauptet Russland unter Berufung auf ein vorgelegtes linguistisches Gutachten, dass der Text der Entscheidung des Haager Tribunals zum Großteil nicht von den Schiedsrichtern selbst, sondern von Valasek verfasst worden sei. Wenn dies zuträfe, wäre es ein schwerer Verstoß gegen das Mandat des Gerichtshofs, der eine Aufhebung des Urteils rechtfertigen könnte.

    Russland hat zu diesem Zweck die forensische Linguistin Carol Chaski herangezogen, die mittels statistischer Verfahren zu dem Schluss kam, dass Valasek „mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit“ (d. h. einer Genauigkeit von über 98 %) 71 % des Abschnitts zum Schadensersatz verfasst habe und dass (mit einer Fehlertoleranz von unter 5 %) 79 % des Passus zu vorläufigen Einwendungen und 65 % des Passus zu den Verbindlichkeiten von ihm stammten. Die von ihr angewandte Methode zur Autorschaftsbestimmung umfasst der russischen Verteidigung zufolge die in der theoretischen Linguistik angewandte syntaktische Standardanalyse sowie neueste statistische Verfahren. Sie wurde über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren entwickelt und unter anderem vom Justizministerium der USA gefördert.

    In dem im Januar eingereichten Prozessantrag hatte die russische Seite hervorgehoben, dass Valasek, der ursprünglich als ausschließlich für Verwaltungsarbeiten zuständig vorgestellt worden war, tatsächlich erheblich mehr Zeit auf das Schiedsgerichtsverfahren verwendet hätte als jeder der Schiedsrichter. Nach den Aufzeichnungen des Gerichtssekretärs hat er eine Rechnung über 3006,2 Arbeitsstunden ausgestellt, davon 2625 während der Hauptverhandlung. Damit ist sein Zeitaufwand um 65 % höher als der des Schiedsgerichtsvorsitzenden Fortier in der gleichen Prozessphase (1592 Stunden).

    In der Erwiderung der YUKOS-Vertreter heißt es jedoch, dass die Verdächtigungen hinsichtlich der Rolle von Valasek bei der Vorbereitung des endgültigen Urteils nicht stichhaltig seien. Sie wendet ein, dass von den Arbeitsstunden des Gerichtsassistenten während des Verfahrens nicht auf die Aufgaben geschlossen werden könne, die er in dieser Zeit wahrgenommen habe. Selbst wenn die Unterstützung durch Valasek über die Regelung rein administrativer Fragen hinausgegangen sei, handele es sich um gesetzlich zulässige Tätigkeiten, so der Anwalt der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Russland führt hingegen an, dass der Haager Schiedsgerichtshof sich weigert, weitere Einzelheiten der Tätigkeit Valaseks offenzulegen. Dies bekräftigt nach Auffassung der russischen Seite die Vermutung, dass der Gerichtsassistent faktisch an der Entscheidung in der Hauptverhandlung beteiligt war.

    Eine Armee von Juristen und die Taktik der Prozessverschleppung

    Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre werfen Russland vor, den Prozess um Jahre hinausgezögert zu haben. Bei dem Schiedsgerichtsverfahren in Den Haag habe Russland eine „Armee von Juristen“ aufgefahren: Bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Verfahrens waren 17 Juristen anwesend, und bei der Hauptverhandlung stieg ihre Anzahl auf 39 Personen. Dabei habe Russland alles getan, um den Prozess hinauszuzögern, so der Anwalt der YUKOSsianer.

    Die Verhandlung in dieser Sache war eine der langwierigsten in der Geschichte – es dauerte zehn Jahre, bis die YUKOS-Aktionäre ein endgültiges Urteil erwirken konnten. Der Hauptgrund für diese beispiellos lange Verfahrensdauer sei das „obstruktive Verhalten“ der russischen Seite gewesen, die versucht habe, die Verfahrensfristen zu torpedieren, und sich auch anderer Methoden der Prozessverschleppung bedient habe. Sie habe darum ersucht, den Prozess in drei separate Verfahren aufzuspalten und sich geweigert, an der Festsetzung der Verhandlungsdaten mitzuwirken, schreibt der Vertreter der ehemaligen YUKOS-Aktionäre. Schließlich wurde der Prozess in zwei Verfahren aufgeteilt, die jeweils fast fünf Jahre dauerten. Anschließend versuchte Russland, die Hauptverhandlung ein weiteres Mal zu unterteilen – in ein Verfahren zu den Verbindlichkeiten und in eines zur Frage des Schadensersatzes. Dieser Antrag wurde zwar abgelehnt, aber er führte zu drei Verhandlungsrunden, in denen Dokumente vorgelegt wurden, und zwei verfahrensrechtliche Verhandlungen, wodurch der Prozess nach Angaben des YUKOS-Verteidigers unnötig hinausgezögert wurde. Wenn dem Ersuchen stattgegeben worden wäre, würde das Schiedsgerichtsverfahren bis heute andauern.

    Eine weitere Prozessverschleppungstaktik der russischen Seite bestand den YUKOSsianern zufolge darin, dass sie Vorauszahlungen für die Inanspruchnahme des Gerichts nicht rechtzeitig leistete. Dies gefährdete die Fortführung der Verhandlungen und den Zeitpunkt der Vorentscheidung und der endgültigen Urteilsverkündung. So weigerte sich Russland zwischen Ende 2008 und Mitte 2009 – während der Vorbereitung der Vorentscheidung und der Verhandlung über die Zuständigkeit des Gerichts – seinen Anteil an den Kosten in Höhe von 750.000 Euro zu zahlen. Das hätte den Prozess fast zum Stillstand gebracht. Letztlich wurde der Betrag auf Ersuchen des Gerichts von den Klägern beglichen, denen Russland das Geld mit neunmonatiger Verspätung und erst nach zweimaliger Mahnung durch das Haager Schiedsgericht erstattete. Dieses Szenario wiederholte sich vor der Verkündung des endgültigen Urteils im Sommer 2014. Die ehemaligen YUKOS-Aktionäre hinterlegten für die beklagte Partei 250.000 Euro, von denen Russland nach Angaben der YUKOS-Vertretung 20.000 Euro noch immer nicht getilgt hat.

    Die Vertreter der russischen Seite erklären diese Verzögerung mit Verfahrensanforderungen der staatlichen Bürokratie und der Notwendigkeit, zahlreiche Genehmigungen einzuholen. Sie bestreiten kategorisch, dass Russland bewusst versucht habe, den Prozess in die Länge zu ziehen.


    Die Entschädigungen in der YUKOS-Sache in Zahlen
    114,174 Mrd. $
    an Entschädigungszahlungen haben die ehemaligen YUKOS-Aktionäre – Yukos Universal Limited, Hulley Enterprises Limited und Veteran Petroleum Limited – gefordert.
    50 Mrd. $
    muss Russland den ehemaligen YUKOS-Aktionären nach dem Urteil des Ständigen Schiedshofs in Den Haag als Entschädigung zahlen.
    1,86 Mrd. €
    Entschädigung muss Russland den YUKOS-Aktionären aufgrund eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zahlen.
    300.000 €
    muss Russland den YUKOS-Aktionären als Rückvergütung ihrer Auslagen beim EGMR erstatten.
    Um 2,6 Mio. $ pro Tag
    steigt seit dem 15. Januar [2015 – dek] aufgrund des Zahlungsverzugs die gemäß der Entscheidung des Haager Schiedsgerichts an die YUKOS-Aktionäre auszuzahlende Summe.
    887 Mio. $ pro Jahr
    betragen die Verzugszinsen für Russland, wenn es die 50 Mrd. $ im Jahr 2015 nicht zahlt.
    130 Mrd. Rubel (knapp 2 Mrd. €)
    für die Zahlung der Entschädigung aus dem YUKOS-Verfahren am EGMR finden sich nicht im Entwurf für den Haushalt 2016.
    500 Mio. Rubel (7,5 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan für das Jahr 2016 für die Zahlung von Entschädigungsgeldern im Zusammenhang mit den Entscheidungen des EGMR vorgesehen.
    1,242 Mrd. Rubel (18,6 Mio. €)
    sind im Haushaltsplan 2016 für juristische Dienstleistungen zur Vertretung der Interessen Russlands am EGMR vorgesehen.
    2,695 Mrd. Rubel (40 Mio. €)
    aus dem Haushalt sind im Jahr 2016 zur Gewährleistung des Schutzes der Interessen der Russischen Föderation „in internationalen Urteilen“ eingeplant.​

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  • Das wahre und das vermeintliche Vaterland

    Viel ist über „Leviathan“ von Andrej Swjaginzew gerätselt worden: Ist es ein politischer Film? Ein metaphysischer? Ein religiöser? In diesem Text nimmt der Regisseur sein eigenes Werk unter die Lupe, und es zeigt sich: Ihm selbst geht es vor allem um die Ethik, um den Wert des einzelnen Menschen. Es sei ein urtypisches russisches Elend, sagt er, die Persönlichkeit des Einzelnen zu verachten, und nichts sei schädlicher für eine Zivilisation. „Leviathan“ ist für ihn vor allem ein Hymnus an die eigentliche Heimat des Menschen – die Menschlichkeit.

    Der folgende Text stammt aus dem Februar dieses Jahres, als Leviathan gerade in Russland in die Kinos kam. Ich habe ihn damals nicht veröffentlicht, weil ich den Zuschauern die Gelegenheit geben wollte, sich eine eigene Meinung über das Gesehene zu bilden. Jetzt aber, nachträglich, nachdem öffentlich wie privat so viel gesagt wurde, habe ich mich gefragt, wie ich selbst als Zuschauer den Film gesehen hätte. Bekanntlich kann man jedes Werk unterschiedlich interpretieren, und da es in einem Kunstwerk viele Sinnströme gibt, ist es oft schwer, sie alle in einer einzigen Aussage zu fassen. Hier möchte ich deshalb nur auf ein Thema des Films eingehen – auf eines der Hauptthemen.

    Wenn man mit der Arbeit an einem Film beginnt, sucht man unwillkürlich nach Parallelen und Verbindungen des eigenen Stoffes zu den ewigen Motiven. So war es auch hier: Als mir die Idee kam, die Geschichte der Konfrontation eines Einzelnen mit dem herzlosen Moloch des Systems zu erzählen, musste ich sofort an Heinrich von Kleists Novelle Michael Kohlhaas denken, die in ihrer Spannung der wahren Geschichte des Pechvogels Marvin John Heemeyer – einem Schweißer aus Colorado – sehr ähnelt. Heemeyers Revolte war die erste Inspiration für meinen Leviathan. Später kamen die Anspielungen auf das Buch Hiob hinzu.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Alle Sujets wiederholen sich im Laufe der Zeit. Wir hatten nicht die Absicht, Kleists Novelle oder die Parabel von Hiob zu illustrieren oder die Geschichte des amerikanischen Schweißers faktentreu nachzuerzählen. Wozu auch? Die erste Geschichte kann man in den Bibliotheken, die zweite in der Bibel und die dritte auf YouTube finden. Sie alle bildeten lediglich den Nährboden, eine Art metaphysischen Lehm, aus dem ein völlig neues, eigenständiges Werk modelliert wurde, dessen hauptsächliches Material jahrelang beobachtete Eigentümlichkeiten und Liebreize des russischen Lebens waren. Und sein Titel wurde Leviathan.

    Der Dorfpriester Wassili verweist den Zuschauer am Ende des zweiten Drittels des Films auf den Schluss des Buches Hiob, wo dem Gerechten der Herrgott erscheint. An dieser Stelle des Alten Testaments erwähnt Gott Leviathan – das schreckliche Seeungeheuer, das unverwundbar und, wie alles andere unter der Sonne auch, von Ihm, dem Herrgott, erschaffen ist. Doch allein die Parallele zu den Bildern des Alten Testaments hätte nicht ausgereicht für die Entscheidung, unserem Film einen solch ernsten Titel zu geben. Ein Seenungeheuer, ein Wal hat noch nichts  gemein mit der vom Menschen selbst erschaffenen Maschine der Gewalt. Die Verwendung des Namens Leviathan in einem solchen Kontext ist aber nicht mein Verdienst. Lange vor uns hat die Geschichte selbst die Parabel von Hiob unter die Lupe genommen und den Sinn der Zitate verdeutlicht: Ich meine das Traktat von Thomas Hobbes, einem englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens.

    Der große Wal, das schreckliche Ungeheuer – das ist der Staat, ein Idol, das vom Menschen zu seiner eigenen Sicherheit geschaffen wurde, zur Rettung vor sich selbst. Der Staat ist laut Hobbes der ideale Ausweg aus dem Zustand vom „Krieg aller gegen alle“, in dem „der Mensch dem Menschen ein Wolf ist“. Um dieser Sackgasse zu entkommen, hat die Menschheit den Staat erfunden – eine politische Ordnung, die auf dem Gesellschaftsvertrag basiert. Der Souverän stellt seinen Untertanen verschiedene Machtinstitutionen zur Verfügung, die dem einfachen Bürger Sicherheit garantieren sollen. Polizei, Gericht, gesetzgebende Versammlungen, mit anderen Worten: An die Stelle vom „Krieg aller gegen alle“ tritt ein administrativ-bürokratisches System, das die Beziehungen der Menschen untereinander regelt. Eine Lösung des Problems? Ja. Aber um diese Sicherheit zu erlangen, muss der Mensch dem Souverän seine Freiheit abtreten.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Als ich Hobbes’ Ideen kennenlernte, fiel mir sofort die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis auf. Besonders in unserem Fall ist doch klar, dass der Untertan, der seine Freiheiten dem Staat abtritt, davon ausgeht, dass sich der Staat als Gegenleistung dazu verpflichtet, ihn zu verteidigen. Das sind aber nur vermeintliche Verpflichtungen und es ist nur eine Illusion von Sicherheit. Denn laut Hobbes schuldet der Souverän niemandem etwas. Tatsächlich befindet sich der Mensch also in einem System heuchlerischer Sklaverei, wo der „Krieg aller gegen alle“ noch schrecklichere Formen annimmt, weil er sich hinter dieser Heuchelei versteckt. Indem der Mensch seine Freiheit abtritt, unterschreibt er faktisch einen Vertrag mit dem Teufel. Für mich bedeutet Hobbes’ Leviathan genau das, und zwar nicht auf dem Papier, sondern im Leben. Schrecklich ist weiterhin, dass Hobbes, dieser tiefgründige Analytiker der Struktur des Lebens, auch die Kirche als eine Form der Macht über die Menschen und als Stütze Leviathans sieht. In seinem Weltbild hätte Hobbes ihr aber lieber eine dem Souverän untergeordnete Rolle gegeben. Das wäre auch im Interesse der Kirche selbst. Es ist also kein Zufall, dass die Kirche dem Menschen vorschlägt, sich als Sklave sowohl Gottes als auch des Souveräns zu sehen und sich immer daran zu erinnern, welch bescheidenen Platz er in der Welt einnimmt und wie wenig individuelle Verantwortung er trägt.

    Hier stellt sich für den Menschen die fundamentale Glaubensfrage: Wer bin ich wirklich – ein Sklave Gottes oder Sein Sohn? Die Antwort scheint mir auf der Hand zu liegen: Ein Sklave verkauft seine Freiheit für einen Teller Suppe aus Angst vor seinem Schicksal, Angst um seine Zukunft und um das Wohl seiner Kinder … Kurzum, egal womit er diese freiwillige Sklaverei rechtfertigt, wenn er sein Schicksal anderen anvertraut, muss ihm doch bewusst sein, dass er im Tausch für etwas Vermeintliches seine größte Gabe, sein wahres Eigentum – den freien Willen – aufgegeben hat.

    Und dann, als Antwort auf diesen Handel, kam der furchtlose und opferbereite Menschensohn in die Welt und bot den Menschen die Befreiung an. Man hat ihn gekreuzigt, sich dann nach und nach Seinen Sieg angeeignet und aus dessen Überresten neue Fesseln geschaffen. Aber diese Stimme lebt und spricht durch Jahrhunderte zu uns. „Ihr seid meine Brüder“, sagt Er uns durch seine Apostel. Und wenn er tatsächlich der Sohn Gottes ist und wir Seine Brüder sind, dann sind auch wir zwangsläufig Söhne Gottes.

    Foto © Anna Matwejewa
    Foto © Anna Matwejewa

    Ich finde es schade, dass die Politik und die zeitweilige Veränderung des geistigen Klimas in unserem Lande viele Zuschauer daran hindern, diesen einfachen Gedanken zu hören: Mit meinem Film trete ich für die Einmaligkeit des menschlichen Lebens als einzigen wahren Wert und einzige Wahrheit ein. Keine großen Worte – ob Vaterland, Gott oder Gesetz – geben uns das Recht, das Leben eines anderen Menschen zu vernichten. Die Respektlosigkeit dem Menschen und dem Eigenwert seiner Persönlichkeit gegenüber ist ein urtypisches russisches Elend, das bereits seit vielen Jahrhunderten andauert und unser Leben noch lange beeinträchtigen wird. Wahrscheinlich so lange, bis wir begreifen, dass diese sklavische Eigenschaft – die Persönlichkeit des anderen zu verachten – schädlich für jede Zivilisation ist. Es ist wohl das Schicksal des Menschen, jeden Tag neu wählen zu müssen, in wessen Königreich wir gehören und wessen Söhne wir sind – die Gottes oder die Leviathans. Und Heimat, das sind nicht nur Hügel, Birken und Bächlein. Die Heimat eines Menschen ist das, wonach sich seine Seele am meisten sehnt. Die Heimat, das ist der Gewaltige Ozean, der große und weite Kreis des Weltalls und der kleine Kreis des nahen Umfelds – deine Familie und deine Freunde, die dir geistig nah sind. Das alles zusammen – und nicht irgendwelche Parolen und Präsidenten, Parlamente und Waffen, Priester und Propagandisten machen das Gut eines Menschen aus. Das Licht des heimischen Herdes, das Licht des Geistes und der Erkenntnis und schließlich Gottes selbst – das alles zusammen ist unser wahres Vaterland.

    Und egal, ob wir in der am weitesten entwickelten oder archaischsten Gesellschaft leben, wir werden alle früher oder später vor diese Wahl gestellt, als Sklaven oder als freie Menschen zu handeln. Und egal ob wir gläubig oder atheistisch sind: Wir werden uns dieser Prüfung nicht entziehen können. Und sollten wir naiv glauben, dass die eine oder andere Staatsordnung uns von dieser Wahl befreien würde, so irren wir uns gewaltig. Im Leben des Bürgers eines jeden Landes kommt früher oder später die Stunde, wo er mit diesen Fragen konfrontiert wird: Zu wem gehörst du? Wer bist du? Und gerade weil ich dem Zuschauer all diese beängstigenden Fragen noch stellen kann und weil es hierzulande noch möglich ist, einen tragischen Helden oder einen „Gottessohn“ zu finden, ist mein Vaterland für mich noch nicht verloren.

    Februar 2015

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    Leviathan gegen Leviathan

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    „Der Kommissar ist ein sehr netter Mensch.“

  • Presseschau № 5

    Presseschau № 5

    Die Trauer um die Opfer des Flugzeugabsturzes im Sinai dominiert die russischen Medien. Außerdem Thema in den russischen Zeitungen in dieser Woche: Die mangelnde Korruptionsbekämpfung und die wichtigsten politischen Entscheider neben Putin. Zudem hat ein kurioser Twittertrend das russische Internet erfasst. 

    Russland trauert um die 224 Opfer der Flugzeugkatastrophe im Sinai. Die Betroffenheit, die am Wochenende herrschte, macht in den Medien jedoch zunehmend Spekulationen Platz. Die Absturzursache des Fluges 7K9268 der russischen Fluglinie Kogalymavia auf der Route zwischen Scharm-el-Sheik und St. Petersburg ist zwar immer noch unklar, trotzdem dringen immer weitere Details an die Öffentlichkeit – ob verifiziert oder nicht: Die Rede ist von einem ungewöhnlichen Geräusch, das in der Kabine unmittelbar vor dem Absturz zu hören gewesen sei, erste Transskripte von Gesprächen aus dem Cockpit sind zu lesen. Auch das Staatsfernsehen hält sich nicht zurück. Der Korrespondent steht mitten in der Absturzstelle, fasst Wrackteile an, weist die Zuschauer auf immer noch herumliegende persönliche Gegenstände der Passagiere hin. Kogalymavia selbst hat einen technischen Fehler als Ursache kategorisch zurückgewiesen, wohl auch um Forderungen nach finanzieller Entschädigung von sich abzuwenden. Laut der Fluglinie war die Unfallmaschine in einem guten Zustand, die Crew erfahren.

    Die Politik ihrerseits versuchte den Eindruck zu vermitteln, die Katastrophe möglichst rasch aufklären zu wollen. Eine Regierungskommission wurde gegründet, den Hinterbliebenen eine finanzielle Entschädigung versprochen. Transportminister Maxim Sokolow und Alexander Bastrykin, Leiter des Ermittlungskomitees, reisten nach Ägypten. Das Katastrophenmanagement des Kremls wurde jedoch kontrovers diskutiert. Kritisiert wurde etwa, dass Präsident Wladimir Putin erst drei Tage nach dem Unfall den Angehörigen im TV sein Beileid aussprach. Zuvor hatte Putins Sprecher verlauten lassen, der Präsident plane aufgrund des Flugzeugabsturzes keinen öffentlichen Auftritt. Mit Kritik wurden auch die Medien bedacht. Etwa ob es ethisch sei, überhaupt Bilder der Verstorbenen zu zeigen. Der kremlkritische Sender Dozhd widmete dem Thema eine ganze Sendung. In Russland wird anders öffentlich getrauert als in Westeuropa: Bereits unmittelbar nachdem am Samstag das Verschwinden der Maschine vom Radar bekannt wurde, zeigten TV-Sender Urlaubsbilder, welche die Verstorbenen noch kurz vor dem Abflug auf die sozialen Netzwerke hochgeladen hatten und beleuchteten die persönlichen Geschichten der Besatzung.

    Große Aufmerksamkeit in den russischen Medien und dem Runet, wie das russischsprachige Internet in Russland selbst genannt wird, erfährt die Frage, ob es sich um einen Terroranschlag gehandelt hat. Auch für westliche Medien scheinen sich die Indizien zu erhärten. CNN berichtet von einer Bombe, die Terroristen an Bord gebracht haben können. Wedomosti beruft sich auf die Analyse der amerikanischen Denkfabrik Stratfor, wonach an Bord eine Bombe explodiert sein könnte. Offizielle Stellen in Ägypten und Russland weisen die Anschlagstheorie bislang zurück. Putins Sprecher Dimitri Peskow warnte davor, den Absturz mit der russischen Militäroperation in Syrien in Verbindung zu bringen. Sollte sich die Anschlagstheorie jedoch bewahrheiten, wäre dies ein großer Schlag für den russischen Staat, für seine Fähigkeit, Sicherheit und Leben seiner Bürger zu garantieren, meint Slon. Für viele Russen vertrauter, plausibler und direkt aus der russischen Realität gegriffen sei allerdings „die russische Nachlässigkeit“, schreibt das Magazin weiter. Kogalymavia gehe es einzig um Profitmaximierung, bei möglichst geringen Investitionen, ihre Flotte habe ein relativ hohes Durschnittsalter. Nach dem Absturz erzählten etwa Familienmitglieder der Besatzung im TV, ihre Angehörigen hätten sich über den Zustand des 18-jährigen Flugzeuges beschwert. Hinter dem Absturz könnte also ebensogut ein kaputtes Flugzeug, eine laxe Sicherheitskultur oder Korruption stehen.

    Die Ernsthaftigkeit der russischen Anstrengungen zur Bekämpfung der Korruption ist fraglich. Internationale Standards zu etablieren, zu denen einzelne Staaten nicht bereit seien, sei unzulässig, bekräftigte Sergej Iwanow, der Chef der Präsidialadministration, in seiner Rede auf der UN-Konferenz zur Korruptionsbekämpfung in St. Petersburg. Mit solchen Auftritten will der Kreml einzig von den eigenen Versäumnissen bei der Korruptionsbekämpfung ablenken, kritisiert Transparency International Russland und macht darauf aufmerksam, dass Russland den Artikel 20 der UNO-Antikorruptionskonvention, der illegale Bereicherung unter Stafe stellt, immer noch nicht ratifiziert hat. Offiziellen Angaben zufolge ist zudem die durchschnittliche Bestechungssumme gestiegen. Als erfolgreiches Beispiel zur Korruptionsbekämpfung verweist Moskau gerne auf die Verhaftung des Gouverneurs von Komi, Wjatscheslaw Gajser. Das Ermittlungskomitee eröffnete im September gegen Gajser und 19 weitere hochrangige Beamte ein Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bei Hausdurchsuchungen seien mehr als 60 Kilogramm Schmuck gefunden worden.

    Dass sich die Behörden bezüglich Korruption nicht gerne reinreden lassen, zeigte sich auch am Rande der Konferenz. Als Aktivisten des Fonds für den Kampf gegen Korruption den Konferenzteilnehmern in St. Petersburg eine Broschüre über die illegale Bereicherung russischer Politiker verteilen wollten, wurden sie von der Polizei festgehalten. Regelmäßig veröffentlicht der von Alexej Nawalny gegründete Anti-Korruptionsfonds Berichte über das angebliche Luxusleben hochrangiger Politiker, unter anderem zur teuren Luxusuhr, die Putins Sprecher Dimitri Peskow bei seiner Hochzeit trug. Zuletzt stand Verteidigungsminister Sergej Schoigu im Zentrum der Aufmerksamkeit – die angeblich 18 Millionen Dollar teure „Datscha“ schaffte es sogar bis in die Bildzeitung. In Russland selbst sind die Reaktionen auf den Palast des Verteidigungsminister gemischt. Einige zeigen sich wütend, für andere hat Schoigu seiner Verdienste um die Armee wegen einen solchen Palast mehr als verdient. Auch wenn das offizielle Moskau die Veröffentlichungen des Anti-Korruptionsfonds jedesmal geflissentlich nicht zur Kenntnis nimmt, ein Dorn im Auge scheint die Arbeit von Nawalny den Behörden doch zu sein. Anfang Oktober brachte der Inlandsgeheimdienst FSB ein Gesetzesprojekt ein, nach dem Informationen über die Besitzer von Villen, Jachten und Flugzeugen nicht mehr an zivilgesellschaftliche Akteure erteilt werden dürfen. Ein Schutz vor Alexej Nawalny, kommentierte RBC Daily.

    Von Interesse ist die Moskauer Elite nicht nur für Korruptionsbekämpfer, sondern auch für Kreml-Astrologen: Jewgeni Mintschenko hat dieser Tage eine neue Version seiner alljährlichen Präsentation Politbüro 2.0 veröffentlicht. So bezeichnet Mintschenko das informelle Netz rund um Präsident Putin, welchen nachgesagt wird, die Entscheidungen im Land zu treffen. Besonders einflussreich: Sergej Iwanow aufgrund der Militäroperation in Syrien, da er dem Präsidenten zu dem Schritt geraten haben soll. Auch Premierminister Dimitri Medwedew ist wieder näher an Putin herangerückt. Grund dafür sind die Dumawahlen von 2016, für die Medwedew als Parteivorsitzender der Kreml-Partei Einiges Russland antritt. Vor einem Jahr belegte er gemeinsam mit dem Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin noch den letzten Rang innerhalb des „Politbüros“, nun ist es der vierte Rang. Ebenfalls an Einfluss gewonnen hat der Oligarch Arkadi Rotenberg. An Einfluss verloren haben laut Mintschenko dagegen Igor Setschin, der Präsident des Ölkonzerns Rosneft, und der Oligarch Gennadi Timtschenko.

    Zum Abschluss nun noch ein aktueller russischer Twitter-Trend: Rechtzeitig zum Tag der Einheit des Volkes am 4. November rief die staatliche Nachrichtenagentur Ria Novosti dazu auf, unter dem Hashtag #здесьхорошо (#hieristesschön) Fotos ihrer Lieblingsecke in Russland hochzuladen. Doch anstatt pflichtbewusst sibirische Wälder, goldene Kirchtürme oder einen Sonnenuntergang über dem Schwarzen Meer zu posten, drehten viele Nutzer den Spieß einfach um. Unter #hieristesschön finden sich nun fast ebensoviele Bilder kaputter russischer Straßen, einer fallenden Ölpreiskurve, oder wiederum die prächtigen und luxuriösen Paläste der Oligarchen und Beamten.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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    Presseschau № 1

    Presseschau № 2

    Presseschau № 3

    Presseschau № 4

  • November: Arnold Veber

    November: Arnold Veber

    Wenn Moskaus junge Szene feiert, ist der Fotograf Arnold Veber mit der Kamera dabei. Er selbst sieht in den nächtlichen Exzessen eine Reaktion auf Leere und Perspektivlosigkeit der russischen Gesellschaft – aber unterscheiden sie sich wirklich so sehr von dem, was nachts auf den Straßen von Neukölln oder Shoreditch geschieht? Aus Vebers Serie „Wtschera ja wsjo“ (ungefähr: Gestern hab ich’s mir gegeben) von 2015 stammt auch unser Titelbild für den November.

    „Schon ungefähr sechs Jahre fotografiere ich die Szene jetzt, aber früher sind die Leute nicht in diesem Maße ausgetickt“, sagt der junge Fotograf Arnold Veber (geb. 1991), der sich trotz seines deutsch klingenden Namens keiner deutschen Vorfahren bewusst ist, in einem Interview. „Einerseits ist diesen Leuten eigentlich alles völlig egal, aber andererseits bemühen sie sich, up-to-date zu sein, modisch, und bei allen gibt es so eine, sagen wir, Verlorenheit.“ 

    In manchem erinnern Vebers Fotos an die Arbeiten des russischen Großmeisters der Dokumentarfotografie Igor Mukhin, der auch sein Lehrer an der renommierten Rodtschenko-Schule für Fotografie und Multimedia in Moskau war. Mukhin wurde bereits in den 90ern durch seine Arbeit mit Rockmusikern zu einem Chronisten des Moskauer Nachtlebens. Was hat sich seitdem verändert? Bei einigen Aufnahmen Vebers fragt man sich für einen Augenblick, in welchem Jahrzehnt, ja in welchem Jahrtausend man sich überhaupt befindet. Feiert die Jugend nicht immer und überall irgendwie gleich? 

    Zumindest in fotografischer Hinsicht springt dann aber der Generationenunterschied zwischen den beiden Künstlern deutlich ins Auge. Veber fotografiert viel unmittelbarer, viel dreckiger, in seinen Arbeiten lässt sich deutlich der Einfluss von Autoren wie Wolfgang Tillmans entdecken, die ihre Sujets nicht nur von außen untersuchen, sondern selbst Teil der von ihnen eingefangenen Kultur sind.

    Veber hat zunächst viel mit Video gearbeitet und sich auf diesem Weg erst nach und nach an das stillstehende Bild herangetastet. Dieses ist bei ihm oft so großartig komponiert, dass die Banalität der Szenerie vollkommen hinter der Macht von Grafik und Erzählung zurücktritt. So scheinen bei ihm drei einander nackt umarmende Mädchen unter ihrer Bettdecke wie in einer Wolke zu schweben, der Arm eines Pelzmantels schiebt sich molluskenhaft ins Bild, um am anderen Bildrand eine Flasche aus einer Manteltasche zu ziehen, eine skurrille Tanzbewegung von Beinen in reflektierenden Leggings gibt dem Einschenken eines Tequilashots eine unfreiwillige Komik, und vor der Kulisse eines winterlichen Stalin-Hochhauses wirken beiläufig gehaltene Zigaretten wie in die Oberfläche des Fotos eingeschnittene Riefen – bildbestimmend. Alles ist dabei durchtränkt von heftigem Gefühl, von Träumerei, von Sexualität (soll man es hier Begehren nennen?), und auch von Rohheit und  – unterschwelliger – Brutalität. Zärtlichkeit jedenfalls begegnet einem auf diesem Bildern nur in Momenten der Erschöpfung  – oder, vielleicht, der Trance.

    Nur selten kann man in dieser Unmittelbarkeit und dieser künstlerischen Qualität Blicke in ein Leben werfen, das für den Rest der Menschen weitgehend im Verborgenen stattfindet. Dies müssen auch die Kuratoren des alljährlichen Künstleraustauschs zwischen Moskau und Düsseldorf bemerkt haben, als sie Veber gemeinsam mit der Foto-Künstlerin Vivian del Rio für einen zweimonatigen Arbeitsaufenthalt an den Rhein einluden, wo im Atelier am Eck bis zum 25. Oktober dieses Jahres ihre Doppelausstellung gezeigt wurde. 

     

    Fotos: Arnold Veber
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, einführender Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 03.11.2015

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    Oktober: Denis Sinjakow

    September: Olga Ludvig

  • Die Kirschhölle

    Die Kirschhölle

    Über hundert Jahre ist es her, da erzählte uns Anton Tschechow vom Ende des malerischen Lebens der Wohlhabenden und Gebildeten auf dem Lande, vom Ende des Kirschgartens, vom Ende der Unschuld. Über ein altes Herrenhaus ohne Kanalisation und Warmwasser und seine Bewohner berichten Andrej Urodow (Text) und Arthur Bondar (Fotos). Eine Reportage aus einer Welt, in der die Kirschgärten noch stehen, die alten Gärtner jedoch verschwunden sind.

    Ins Dorf Koltyschewo fährt nur ein einziger Bus, die Nummer 21. In Koltyschewo gibt es keine Straßen, nur Hausnummern. Das Haus Nummer 1 wird hier Herrenhaus genannt. Es ist ein altes Gutshaus, erbaut vor über zweihundert Jahren. Niemand weiß genau, wie alt es ist, selbst im Hausbuch steht „Baujahr unbekannt“. Nach der Revolution baute man die herrschaftliche Villa zu einem Mehrfamilienhaus um, und in den folgenden hundert Jahren ließ man es langsam, aber sicher verrotten. Aus der aristokratischen Vergangenheit ist noch die Lindenallee übrig, die mittlerweile zu Baracken führt.

    Fotos © Arthur Bondar
    Fotos © Arthur Bondar

    Im ersten Stock des Herrenhauses wohnt heute die Familie von Tatjana Iwanowa, einer Packerin 4. Ranges. In der einen Wohnung leben sie und ihre Kinder und Enkel, in der anderen ihre Mutter und ihr Bruder. Sie ist in den siebziger Jahren, noch als Kind, hergezogen und erinnert sich an die Erzählungen der Alteingesessenen.

    Vor der Revolution wurde an Feiertagen ein langes Tischtuch auf unserer Wiese ausgebreitet, und alle, die beim Gutsherrn arbeiteten, hatten frei, und er selbst setzte sich auch zu ihnen

    „Als wir kamen, wohnten hier nur alte Mütterchen. Sie hatten schon viele Jahre auf dem Buckel und hatten noch bei unserem Gutsbesitzer Popow gearbeitet. Sie erzählten, dass es an der Kamenka früher einen Hühnerstall gegeben hatte, an der heutigen Bushaltestelle eine Nagelfabrik und beim Haus hinter den Linden große Pferdeställe. Davon ist heute nichts mehr übrig. Auf der anderen Seite der Straße, wo die Einfamilienhäuser stehen, wuchsen ringsum Birken, dort war ein Teich, an den erinnere ich mich noch aus den 1970er Jahren. Vor der Revolution wurde an Feiertagen ein langes Tischtuch auf unserer Wiese ausgebreitet, und alle, die beim Gutsherrn arbeiteten, hatten frei, und er selbst setzte sich auch zu ihnen. All die alten Mütterchen lobten ihn in den höchsten Tönen. Sie erzählten, dass er seinen Arbeitern das Essen dreimal täglich direkt auf das Feld brachte.

    Es heißt, in der Tretjakow-Galerie hängt ein kleines Gemälde unseres Gutshauses, das Werk eines unbekannten Künstlers – da hatte unser Haus noch große Balkone und Stuck an der Fassade. Jetzt kann man das von unserem Haus wirklich nicht mehr behaupten. Ein paarmal sind Nachfahren der Gutsbesitzer gekommen – die alten Mütterchen haben sie noch durch das Dorf geführt, es ist lange her. Ein Neffe Popows kam eigens aus Paris angereist. Sie glaubten, man würde sich hier vor ihnen verneigen wie im Ausland ‚Bitte nehmen Sie es, es ist ja Ihres‘, stattdessen hieß es aber: ‚Bitte kaufen Sie es, es ist ja Ihres‘.“

    Vom Adelsnest ist fast nichts mehr übrig. Neben den Holzschuppen und dem neuen Spielplatz, der schon seit vier Jahren auf Sand wartet, steht ein Sockel. Darauf stand früher ein Denkmal – ein kleiner Engel. Hier wurde der jüngste, in früher Kindheit verstorbene Sohn des Gutsbesitzers Popow begraben. Daneben soll, so die Hausbewohner, auch der zweite Sohn Popows liegen, ein im Ersten Weltkrieg umgekommener Testpilot. Es gibt jedenfalls zwei kleine Hügel vor dem Denkmal. Die Skulptur verschwand vom Sockel, als ein Dorfbewohner nachzusehen beschloss, ob darin Schätze versteckt waren. Einen Meter vom Denkmal entfernt liegt ein betrunkener Mann in Tarnhosen. „Das kam zu Popows Zeiten wohl nicht vor“, denke ich und mache sorgfältig einen Bogen um den schlafenden Dorfbewohner.

    Früher war das Flüsschen noch ein Fluss, da konnte man solche riesigen Fische fangen. Der Legende nach soll Katharina II. dort ihre Pferde versenkt haben, nun ja, das passiert schon mal

    Am Hauseingang treffe ich eine alte Frau, streng wirkt sie: Polina Pawlowna, Tatjanas Mutter. In den Händen hält sie ein kleines Einkaufsnetz und zwei dünne Stöcke, mit deren Hilfe sie zum Laden und zurück geht. Sie ist 82 Jahre alt und lebt im ersten Stock. Mit jedem Tag wird es schwieriger, die steile Treppe hochzugehen. Im Hof steht ihr großer Sessel, auf dem sie sich nach dem Einkaufen ausruht. Als sie sitzt, taut Polina Pawlowna sichtlich auf: Zuerst erscheint ein Lächeln, dann beginnt sie zu reden. Ihre Stimme ist sehr leise, ich muss mich neben sie auf die Erde setzen, um alles zu verstehen.

    „Eine gute Gegend ist das hier. Früher war das Flüsschen noch ein Fluss, da konnte man solche riesigen Fische fangen. Weiter hinten wird es sumpfig. Der Legende nach soll Katharina II. dort ihre Pferde versenkt haben, nun ja, das passiert schon mal. Ich selbst bin in Odessa geboren, aber ich scheue die Sonne. Kälte, Regen halte ich aus, aber die Sonne – wenn sie sich zeigt, fühle ich mich sofort unwohl. Mit meinem Mann bin ich seit 56 Jahren zusammen, früher sind wir hier überall herumgestreift. Er ist Invalide, beide Beine amputiert, er wohnt in einem Holzhaus hier in der Nachbarschaft. Dort hat er es einfacher. Und ich wohne mit der Familie im Herrenhaus.“

    Sobald sie sich im Schatten ein wenig von der verhassten Sonne erholt hat, gibt sich Polina Pawlowna ihren Erinnerungen hin:

    „Das Sterben macht mir keine Angst. Ich habe im Norden, in Uchta, als Aufseherin gearbeitet. Es war kein Umerziehungslager, es war ein echtes Gefängnis. Von dort kehrte man nicht unbedingt zurück. Es gab da eigene Gesetze, ist halt der Norden. Der schrecklichste Ort der Welt. Der Fluss Petschora – seine Ufer sind so hoch wie unser Gutshaus, und unten Wasser. Den ganzen Tag wird geflößt, verladen, abtransportiert. Da fiel oft jemand einfach zwischen den Stämmen ins kalte Wasser und war nicht mehr zu retten.

    Ich war sehr quirlig und half allen, aber die Vorgesetzten erwischten mich kein einziges Mal. Erzähl alles, was du willst, aber sag den Vorgesetzten nie die Wahrheit, zeig dich kooperativ, aber lass die Wahrheit weg. So lebten wir dort.

    Ich redete mit den einfachen Leuten, mit den reichen, mit den Gefangenen und mit den Vorgesetzten. Wenn man gescheit sein will, muss man mit den Leuten reden. Was bringt es, immer nur zu Boden blicken?“

    Unvermittelt kehrt Polina Pawlowna aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück:

    „Unsere jungen Leute sind einmal zur Verwaltung gegangen und haben gesagt: ‚Gebt uns Zement und Baumaterialien, wir renovieren alles selbst.‘ Aber die wollen nicht, die geben nichts, sie warten lieber darauf, dass das Haus einstürzt. Aber sie werden sterben, und unser Haus wird noch hundert Jahre nicht zusammenfallen, das weiß ich.“

    Sie werden sterben, und unser Haus wird noch hundert Jahre nicht zusammenfallen, das weiß ich

    In den letzten zwanzig Jahren gab es im Gutshaus keine einzige Grundsanierung. Vor zwei, drei Jahren wurden die Heizungsrohre ersetzt, weil die alten den Geist aufgegeben hatten. Der einzige gute Brunnen war schon kurz vor dem Brand von 1998 verseucht. Das Wasser wurde erst trüb und danach ganz schwarz. Man musste ihn zuschütten, deshalb führten sie vom Wasserturm her eine Leitung mit einem Kaltwasserhahn zum Haus – er befindet sich unten im Hausflur.

    Bevor man das Wasser trinken kann, muss man allerdings zwei, drei Tage warten, bis sich der Rost setzt. Der spezifische Geruch verschwindet auch dann nicht, sauberes Wasser muss man deshalb bei der Zapfsäule im Nachbardorf holen. Als neben dem Haus ein Graben ausgehoben wurde, erinnern sich die Bewohner, fanden sie darin Münzen aus Zeiten vor der Revolution, Geschirr und sogar einen alten Teekessel aus Bronze.

    Für ihre Kommunalka zahlen alle Bewohner gewissenhaft ein paar tausend Rubel [etwa 15 Euro] im Monat. Schulden haben sie keine, aber von Kanalisation und Gas haben sie auch noch nie etwas gehört. Sie waschen sich in den Banjas, die direkt im Hof des Herrenhauses stehen. Die Toilette ist im Freien. Wegen der Schulden der Firma Dubrawa, die früher für das Haus verantwortlich war, schaltete die neue Verwaltung im Mai das Licht im Eingang ab. Solange die Verwaltungen einander gegenseitig den verlotterten Zustand des Hauses vorwerfen, müssen die Hausbewohner alles selbst machen. Sie haben eine Lampe direkt aus einer Wohnung in den Eingang gestellt.

    „Scheiße, Mann, bist du Baptist oder was?“
    „Nein, Journalist.“
    „Ach so, na, ist doch eh alles das gleiche“

    Im Erdgeschoss wohnt Irina, ihr Mann ist Invalide. Vor zwei oder drei Jahren war der Fußboden im Erdgeschoss beschädigt, Irinas Mann konnte nicht mehr allein mit dem Rollstuhl in die Wohnung fahren. Die Verwaltung schwieg, und so betonierte sie einen Teil der Türschwelle selbst zu und baute eine kleine Rampe.

    „Ich habe ihn kürzlich aus dem Krankenhaus abgeholt, meine Schwester und mein Bruder haben mir dabei geholfen. Mit einem amputierten Bein ist er noch Auto gefahren, aber jetzt hat ihm auch das zweite den Dienst versagt. In unser Auto setzt sich keiner mehr, ich habe noch keinen Führerschein. Ich habe jahrelang im Nachbardorf in der Schule gearbeitet, als Laborantin, in der Mensa als Leiterin der Wirtschaftsabteilung. Dann wurde die Schule geschlossen, es blieben wohl nur der Kindergarten und die Anfängerklassen. Ich fand Arbeit in der Geflügelfabrik, aber auch dort gab es Entlassungen, und jetzt suche ich nach einer neuen Stelle … Bitte seien Sie leise. Meine Nachbarin im Erdgeschoß schläft gerade. Sie wohnt hier mit ihren Kindern, nachts arbeitet sie am Flughafen.“

    Wir bemühen uns, die Dielenbretter nicht knarren zu lassen und gehen hinauf zu Polina Pawlownas Wohnung im ersten Stock. Sie zeigt uns ihre Bücher und steckt uns Broschüren mit Auszügen aus der Bibel zu. Ein hagerer Mann in Tarnhosen platzt ins Zimmer. Derselbe, der neben dem Denkmal schlief.

    „Scheiße, Mann, bist du Baptist oder was?“
    „Nein, Journalist.“
    „Ach so, na, ist doch eh alles das gleiche“, sagt er enttäuscht und verschwindet in seinem Zimmer, aber er taucht gleich wieder auf und brummt irgendwas vor sich hin. Polina Pawlowna versucht ihn hinauszuführen. „Mein Sohn Pjotr ist meine schwierigste Prüfung“, seufzt sie. Pjotr lässt sich nicht beruhigen:
    „Ich habe im Donbass gekämpft, ich bin kriegsverletzt!“
    Er streckt uns einen Pass mit einem annullierten Stempel der russischen Durchgangskontrolle an der ukrainischen Grenze entgegen.
    „Wie hat es Sie dorthin verschlagen?“
    „Ein Freund aus der Armee war bei mir auf Besuch, wir sind angeln gegangen, haben dort ein bisschen gesoffen, na und dann sind wir hingefahren.“

    Polina Pawlowna schüttelt skeptisch den Kopf, sie scheint daran gewöhnt zu sein, nicht alles zu glauben, was der Sohn erzählt. Wir gehen zusammen in den Hof hinaus. Draußen ist es wie in einer Sauna, vermutlich kommt ein Gewitter. Im Schatten der alten Linde ist es weniger schwül. Die alte Frau nimmt ihren gewohnten Platz im großen Sessel ein und versinkt wieder in Erinnerungen.

    Das Gefängnis ist wie Krieg. Es gab dort einen Berg. Einmal war die Sonne schon untergegangen, und der Berg leuchtete immer noch. Einer der Insassen erklärte mir: ‚Was da leuchtet, sind Knochen.‘

    „Ich war kampflustig und verprügelte meine Schwester, andere Kinder, alle. Ich ging auch alleine in den Wald, ich hatte vor nichts Angst. Man wird so geboren, so stark. Unser Papa war auch so. Die Häftlinge taten mir leid. Ich brachte ihnen im Ärmel Tee. Sie mussten sich doch Tschifir machen, aber es war kein Tee aufzutreiben. Wir Aufseher waren immer zu zweit unterwegs. Ich sagte zu meinem Partner: ‚Geh nur voraus, ich bringe kurz die Stiefel in Ordnung‘, und dann legte ich den Tee irgendwo auf dem Gelände unter ein Blatt. Und sie warteten natürlich schon auf mich. Es gab viele schlimme Dinge. Das Gefängnis ist wie Krieg. Es gab dort einen Berg. Einmal war die Sonne schon untergegangen, und der Berg leuchtete immer noch. Einer der Insassen, ein Jude, erklärte mir: ‚Was da leuchtet, sind Knochen.‘ Die Leute erfroren, starben, und man schichtete sie auf dem Berg auf, und von dort kam dann das Leuchten.“

    In der Stille vor dem Gewitter verstummt plötzlich alles. Selbst Pjotr hört auf, Radau zu machen. Auf dem Weg zur Haltestelle komme ich an dem Laden vorbei. An einem kleinen Plastiktisch trinken Männer Bier: „Hast du dich verlaufen, Junge? Was hast du hier überhaupt verloren?“

    Plötzlich erklingt in der Ferne ein ersterbender, trauriger Ton. Wenn man will, kann man sich einbilden, es wäre der Ton einer reißenden Saite, aber es ist nur der Bus Nr. 21, der beim Näherkommen ein Signal gibt.

     

    Namen teilweise geändert – dek

     

     

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  • Presseschau № 4

    Presseschau № 4

    Den roten Faden für die Presseschau in dieser Woche bilden die Medien selbst: Von den russischen Staatsmedien wird der Militäreinsatz in Syrien mit allen ästhetischen Mitteln in Szene gesetzt, außerdem verlieren viele unabhängige Medien aufgrund eines neuen Gesetzes weiter an Handlungsspielraum. Zwei Schlüsselfiguren der russischen Medienszene sind bereits von ihren Ämtern zurückgetreten.

    Die Kamera fliegt über eine zerstörte Stadt. Panzer feuern, Geschosse schlagen in Gebäude ein. Menschen versuchen sich vor den Gefechten in Sicherheit zu bringen. Unterlegt ist die Szene mit harten Elektroklängen. Die postapokalyptisch anmutenden Bilder aus der Vogelperspektive erinnern an ein Videospiel, an einen Hollywood-Blockbuster. Doch der knapp vier Minuten lange Film zeigt keine Fiktion, sondern soll eine Offensive der syrischen Armee in Jobar, einem Vorort von Damaskus, zeigen. Auf YouTube ist der Clip wegen Verletzungen des Copyrights inzwischen gesperrt. Vorher wurde er aber mehr als 2 Millionen mal angeklickt.

    Gefilmt wurden die Bilder von russischen Kriegskorrespondenten mit einer Drohnen-Kamera. Die russische Propaganda zeigt die Luftschläge als präzise und technisch bestens organisiert, als sauberen und einfachen Krieg, wie Andrej Perzew von der Denkfabrik Carnegie in Moskau schreibt. Eigene Crews der Staatsmedien begleiten die russische und syrische Armee. Berichtet wird von militärischen Erfolgen, Korrespondent und Kamera scheinen stets hautnah mit dabei zu sein. Gezeigt werden die Bilder unter anderem in der TV-Sendung Wojna (Krieg) im staatlichen Nachrichtenkanal Rossija 24. Hier berichtet Kriegskorrespondent Ewgeni Podduby regelmäßig von Kriegsschauplätzen. Untermalt von dramatisch klingender Musik beschränkt sich die Sendung meist auf das Zeigen angeblich militärischer Erfolge und den Einsatz modernen Kriegsgeräts, Kritik am russischen Vorgehen kommt nicht vor. Gefilmt wird gerne direkt im Schützengraben, in kugelsicherer Weste, mit Helm oder in Nachtsichtoptik für mehr Authentizität – vor einigen Monaten noch aus der Ostukraine, nun aus Syrien.

    Ob die Beiträge dem TV-Publikum ein deutlicheres Bild von der Militäroperation und der Lage in Syrien vermitteln, ist fraglich. Von einer PR-Kampagne eigens für die Generation Putin schreibt Slon. Die Pressearbeit des russischen Verteidigungsministeriums ist Militärexperten zufolge in der Tat neu. Man gibt sich transparent, wohl auch, um von Berichten diverser Menschenrechtsorganisationen abzulenken, die von zivilen Opfern russischer Luftschläge berichten. Kritische Experten werden wiederum in den Abendnachrichten diskreditiert. Die Militärs veröffentlichen hochauflösende Bilder und Videos von anscheinend hochpräzisen Bombenabwürfen und verbreiten diese in sozialen Netzwerken. Deren Videospiel-Ästhetik führte wohl auch dazu, dass ein TV-Moderator in Ägypten gleich Bilder zeigte, die aus einem Videospiel stammen, um den Erfolg russischer Angriffe zu zeigen.

    Unabhängige Berichterstattung dürfte in Russland künftig noch schwieriger werden, nicht nur in Bezug auf bewaffnete Konflikte. Der Kreml hat in den vergangenen Monaten die Kontrolle der Medienbranche verstärkt. Anfang 2016 tritt ein Gesetz in Kraft, welches ausländischen Unternehmen verbietet, mehr als 20 Prozent an russischen Medien zu halten. Bereits haben erste Medienunternehmen ihre Anteile verkauft und sich aus Russland zurückgezogen, darunter Edipresse aus der Schweiz und Axel Springer aus Deutschland. Zu Diskussionen Anlass gab insbesondere die Zukunft der Zeitschrift Forbes, die Axel Springer Russland als Lizenzausgabe der amerikanischen Forbes herausgab. Mit ihrer Liste der reichsten Oligarchen und Beamten erregte die Zeitschrift immer wieder Aufsehen, der mächtige Rosneft-Chef Igor Setschin gewann wegen der geschätzten Höhe seiner angeblichen Einkünfte, die das Magazin veröffentlichte, gar einen Prozess gegen Forbes. Übernommen wurde das Tochterunternehmen des deutschen Verlagshauses nun von Alexander Fedotow, Besitzer von Artcom Media. Bereits in seinem ersten Interview versprach der neue Besitzer zwar, sich nicht in die redaktionellen Belange einmischen zu wollen, machte jedoch klar, was er ändern will. Forbes sei in Russland zu politisch. Politik und Gehälter von Beamten seien aber nicht Themen, die die Leser in erster Linie interessieren würden, wie er auch in einem Interview mit der Moderatorin Xenija Sobtschak bekräftigte. Als Folge scheiterte der geplante Verkauf von 20 Prozent an Regina von Flemming. Die bisherige Vorstandsvorsitzende von Axel Springer Russland trat daraufhin zurück. Fedotow kündigte zudem an, Geo, Gala-Biographie und die Kinderversion von Geo einstellen zu wollen.

    Bereits im Mai verkaufte die finnische Mediengruppe Sanoma ihren Anteil an der Moscow Times, der einzigen englischsprachigen Zeitung in der russischen Kapitale, an Demian Kudrjawzew, bis 2012 CEO des Verlagshauses Kommersant. Kudrjawzew verneinte einen Einfluss des Kremls auf den Kauf und kündigte an, Geld für die Modernisierung der notorisch unterfinanzierten Zeitung in die Hand zu nehmen. Wohl nicht genug, wie sich nun zeigt. Kommenden Monat stellt das Blatt auf wöchentliche Erscheinungsweise um. Nun hat auch Chefredakteur Nabi Abdullaew seinen Rücktritt angekündigt. In einem Interview nannte er Unstimmigkeiten mit dem neuen Besitzer bezüglich der künftigen Aufteilung der Zuständigkeiten über die Redaktion als Grund.

    Unklar ist bislang, wie sich die Situation um die renommierte Wirtschaftszeitung Wedomosti weiter entwickelt. Sanomoa, verkaufte seinen 33-prozentigen Anteil ebenfalls an Kudrjawtsew. Die Besitzer der Financial Times und des Wall Street Journals, welche die restlichen Anteile halten, müssen nun bis Jahresende jeweils ebenfalls auf höchstens 20 Prozent reduzieren. Der stärkere Griff der Politik nach der Medienbranche hatte sich angekündigt: Bereits bei der Parlamentsdebatte im vergangenen Jahr war die Rede vom Kampf gegen eine Fünfte Kolonne. Das Ausland habe einen Informationskrieg angezettelt, dem es zu begegnen gelte. Der Schutz der nationalen Souveränität, von der der Vorsitzende der Staatsduma Sergej Naryschkin damals sprach, geht gewissen Politikern allerdings noch nicht weit genug. Diskutiert wird zurzeit ein Gesetzesvorschlag, laut dem Medien jegliche Art von ausländischer Unterstützung melden müssen, ähnlich dem Gesetz, laut welchem NGOs mit ausländischer Finanzierung unter das Register ausländischer Agent fallen.

    A propos NGOs: Diese Woche wurde die Liste mit den russischen NGOs veröffentlicht, die finanzielle Unterstützung vom Kreml erhalten. Am meisten Geld erhalten patriotische Projekte und Organisationen, etwa die Biker von den Nachtwölfen oder die Bewegung Antimaidan. Unterstützt werden aber auch ausländische Agenten, darunter etwa Memorial oder die St. Petersburger Soldatenmütter. Gerade für viele kleinere NGOs kompensieren die Kreml-Gelder den Wegfall der ausländischen Finanzierung jedoch nicht. Das Beispiel einer Hotline in Moskau, die Opfern sexueller Gewalt hilft, zeigt, dass die Zivilgesellschaft immer stärker auch unter finanziellem Druck steht.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

    Noworossyrija – Freiwillig für Assad in den Krieg

    Wie schon in der Ukraine sind auch in Syrien russische Kämpfer als Freiwillige am Konflikt beteiligt. Die Vermittlung dieser Kräfte übernehmen spezielle Agenturen im Internet. Das russische Portal The Insider, das vornehmlich Informationen aus schwer zugänglichen Quellen sowie geleakte Dokumente veröffentlicht, hat mit dem Vertreter einer solchen Vermittlungsagentur gespochen. Dabei entstand ein Interview, das seltene Einblicke in diese fast unbekannten Abläufe gewährt.

    Wir veröffentlichen das Material einschließlich des redaktionellen Vorspanns von The Insider.

    Nachdem in der Süd-Ost-Ukraine eine relative Waffenruhe eingetreten ist, hat sich Russland auf einen neuen Krieg zur Verteidigung des syrischen Dauerpräsidenten Baschar al-Assad eingestellt. Wie im Fall der Ukraine befinden sich an diesem Brennpunkt neben regulären Truppen auch Freiwillige. „The Insider“ berichtete bereits davon, wie deren Anwerbung für den Krieg in der Ukraine erfolgte. Jetzt wurden dieselben Mechanismen bei der Suche nach Freiwilligen im Krieg für Assad angewandt.

    Am 24. September kündigte dobrovolec.org [wörtl. Freiwilliger.org – dek] ein Auswahlverfahren für Interessenten an, die im Rahmen der „russischen heroischen Passion“ nach Syrien wollen, um dem „proamerikanischen oder religiös-extremistischen Regime Widerstand zu leisten“. Um für den Einsatz angenommen zu werden, muss man älter als 23 sein, eine Ausbildung im Umgang mit Schusswaffen haben, eine suchtmedizinische Unbedenklichkeitsbescheinigung und Angaben zu den nächsten Verwandten vorlegen.

    Wie viele russische Kriegsfreiwillige in Syrien tatsächlich im Einsatz sind, wie sie mit Assads Regierungstruppen kooperieren und warum durchaus nicht jeder, der in der Süd-Ost-Ukraine im Einsatz war, nun gegen die Dschihadisten kämpfen darf, erzählt einer der Koordinatoren von dobrovolec.org, hier unter dem Namen Kirill.

    Warum hat Ihr Projekt eine neue Richtung genommen?

    Wir haben das Programm erstmal dichtgemacht, zumindest vorübergehend. Schon seit einigen Tagen ist das Auswahlverfahren gestoppt – für die wichtigsten Gebiete der Organisation waren die Kontingente voll. Wir sehen das so: Es gibt eine Front, es gibt da Arbeit, warum also nicht hinfahren? Ich denke, der Bedarf wird sich in nächster Zeit verdoppeln. Wenn sich die Front ausweitet, braucht man mehr Fachleute. Nach diesem für die Verhältnisse der syrischen Armee derart erfolgreichen Angriff kann das jetzt durchaus so kommen. Also, sagen wir mal, jetzt werden Fachleute für die Panzerabwehr gebraucht. Später sinkt der Bedarf dann wieder …

    Mit der Vorbereitung Richtung Syrien haben wir Ende des Sommers begonnen, aber die Front Noworossija hat nach wie vor Priorität – in Prozenten ausgedrückt beansprucht die neue Richtung nur 5 Prozent unserer organisatorischen Kapazität und null der materiellen. Alles ist auf Noworossija und die angrenzenden Gebiete abgestimmt.

    In welchen Teil von Syrien gehen diejenigen, die Ihre Dienste in Anspruch nehmen?

    Geografisch kann ich das nicht sagen. Das wird alles geheimdienstlich kontrolliert – da wird ja schließlich geschossen. Die ausgewählte Truppe arbeitet eng mit der Regierungsarmee zusammen, aber auch Russen haben direkte Befehlsgewalt. Ja, letztlich stehen sie unter Leitung des Befehlshabers Baschar al-Assad, aber sie sind ihm nicht direkt unterstellt.

    Wie das alles abläuft? Jemand schreibt uns: „Ich diene in der-und-der-Einheit der Volksrepublik Lugansk, kann bis zum so-und-so-vielten kündigen, möchte zwei Wochen zu meiner Familie und besorge dort gleich alle Papiere.“ Alles auf freiwilliger Basis – der Betreffende entscheidet selbst, ob er am nächsten Tag fährt oder nicht. Wir drängen schon darauf, dass sie länger bleiben, aber auch wenn es weniger als ein halbes Jahr ist, passt das – niemand wird dort festgehalten. Es gab schon Fälle, da wollten die Leute aus familiären Gründen weg, wenn irgendwas Schreckliches passiert war zum Beispiel.

    Was die Ausrüstung angeht, empfehlen wir das mitzunehmen, was jeder Profi sowieso hat – Schießbrille, Kolben, Visiere. Jeder nimmt das, woran er gewöhnt ist. Aber eine Schutzweste und eine Munitionstasche MOLLE sollte man dabeihaben. Für seine Verlegung muss der Betreffende nichts zahlen.

    Das heißt, die Transferkosten übernimmt die andere Seite?

    Das geht auf Kosten verschiedener Fonds, Spenden, also alles aus dem Wohltätigkeitssektor, kurz gesagt. Auch den Kurden haben wir ein paar Freiwillige geschickt, das war noch im Frühjahr. Aber das waren wirklich buchstäblich Einzelfälle – ein junger Mann aus Petersburg ging zu den YPG (Volksverteidigungseinheiten von West-Kurdistan). Er wollte die syrische Kultur kennenlernen, ein wenig kämpfen vielleicht, ja, und er hatte schon immer mit den Kurden sympathisiert. Er ist Orientalist, wollte gern Erfahrungen sammeln – wir konnten ihm Kontakte vermitteln. Mittlerweile ist er wieder in Russland. Die Kurden stellen keine ernstzunehmende Kraft dar. Wenn man von irgendeiner Art Organisiertheit sprechen will, dann sind sie das genaue Gegenteil – vom Niveau her eine schlichte Volksmiliz.

    Für den Fall einer Gefangennahme, ist da eine Versicherung vorgesehen?

    Es ist überhaupt nicht vorgesehen, dass sich jemand gefangennehmen lässt, schließlich sind die Leute nicht unmittelbar in der Nähe von gefährlichen Einsatzorten. Ein Techniker der Funküberwachung hält sich womöglich 300 Kilometer von einem gefährlichen Ort entfernt auf. Wir haben eine Karte, auf der die Gebiete eingezeichnet sind, wo man so etwas gern macht, Geiselnahmen, Sklavenhaltung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt herrscht in diesen Gebieten keine derartige Gefahr. Aber sollte etwas passieren, dann wird was unternommen – wir brauchen die Fachleute ja selbst, warum sollten wir sie jemandem anders überlassen? Viel wahrscheinlicher ist es, dass Journalisten, von denen es dort weitaus mehr gibt, in so eine Lage geraten.

    Welche Motivation hat Ihre Klientel?

    Viele fahren aus patriotischen Beweggründen – sie waren im Ersten und Zweiten Tschetschenienkrieg, haben sich an den Antiterrormaßnahmen im Nordkaukasus beteiligt. Diese Menschen kennen das bärtige Gesicht des Feindes, und viele sind revanchistisch gestimmt, schließlich haben sie mit schon einmal mit solchen Rebellen gekämpft, vom gleichen Typ.

    Was sind das für Rebellen?

    In dem Fall eher Usbeken und Tadshiken, auch Tschetschenen. Solche, die in den 1990er Jahren [aus den russischen Teilrepubliken – dek] ausgereist sind, sich in Westeuropa niedergelassen haben und dann in der Ukraine im Bataillon Scheich Mansur und im Bataillon Dschochar Dudajew [auf ukrainischer Seite gegen die Russen – dek] gekämpft haben.

    Wir haben einen tollen Jungen bei uns, der hat von Ende Mai 2014 bis zum August im Gebiet um den Flughafen von Donezk gekämpft. Er ging nach Syrien mit den Worten: „Ich war noch nie da, aber eine aufregendere Last-Minute-Tour hätte ich nicht finden können!“ Die Leute sympathisieren schon rund fünf Jahre mit Assad – nicht mit seinen Ideen, nicht mit der Baath-Partei (Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung), sondern weil dieser Mann der westlichen Aggression, den radikal eingestellten Bartträgern und sonstigem Unsinn Widerstand leistet. Und nun gibt es die Möglichkeit, dorthin zu gehen, und die Leute denken sich: „Vier Jahre lang habe ich Posts geteilt, ihn geliked, da muss ich ihm doch jetzt helfen.“

    Das Auftauchen des großen und schrecklichen IS hat eine Rolle gespielt, aber eine kleinere als für den durchschnittlichen Zuschauer. Die meisten von uns haben den Konflikt lange beobachtet und wissen, dass beim Thema IS viel Mythos ist, der unbesiegbare Staat, die haben ja selbst ein solches Medienbild geschaffen, alles ein bisschen an den Haaren herbeigezogen. Der IS kontrolliert einen riesigen Medienraum, und den füllen sie mit einzigartigen Inhalten.

    Das Projekt nennt sich dobrovolec.org [Freiwilliger.org], arbeiten die Menschen im Fall von Syrien tatsächlich nur aufgrund ihrer Motivation oder bekommen sie ein Honorar?

    Das kann ich nicht sagen. Wir zahlen niemandem etwas, schauen aber später auch niemandem in die Tasche. Allerdings ist es ein wichtiges Kriterium – wenn jemand in seinen ersten Briefen schreibt, dass er einen bestimmten Lohn in bestimmter Frist braucht, dann lehnen wir ihn ab. Solche Anfragen gab es ziemlich häufig, aber im Wesentlichen sind das so Freundchen, die uns überhaupt nicht interessieren.

    Das sind zwanzigjährige Jungs, die sich für coole Kämpfer halten, die sehen aus wie Agenten oder Supersöldner aus einem Hollywoodfilm. Aber sie haben keine ernstzunehmenden Erfahrungen, keine Ausbildung – das sieht man in den ersten Zeilen ihrer Briefe. Es gibt viele Abenteurer, die sich nicht nur auf europäischem Territorium aktiv dabeisein wollen, sondern auch an exotischen Orten. Aber wir können ihnen keine wilden Partys bieten – die Arbeit hier ist einigermaßen ernst und in gewisser Weise eine sitzende Tätigkeit.

    Treten Leute aus Ihrer Organisation als Ausbilder auf?

    Naja, Ausbilder für irgendeine Spezialeinheit auf nicht-militärischer Ebene können sie schon sein. In Syrien waren unsere Berater in den letzten fünfzig Jahren gelegentlich, aber konkret habe ich nie gehört, dass unsere Leute unmittelbar die Armee ausgebildet hätten.

    Wie viele Menschen, die von Ihnen kommen, befinden sich insgesamt in Syrien?

    Das kann ich nicht sagen.

    Mehr als hundert oder weniger?

    Mehr als hundert, aber nicht sehr viel mehr. Worin der Unterschied zur Rekrutierung nach Noworossija liegt? Dort zählten sowohl Quantität als auch Qualität. Wir mussten damals die goldene Mitte finden, hier haben wir ein solches Problem nicht – Massen sind hier nicht gefragt. Es werden nur Profis ausgewählt, die wirklich gebraucht werden. Deswegen schicken wir nicht mal welche in Reserve, sondern nur so viele, wie wirklich gebraucht werden.

    Wurden viele von denen abgelehnt, die sich beworben haben?

    Von 40 Personen lehnen wir 39 ab. Man muss das Auswahlprinzip verstehen – es ist nicht das Ziel, so viele wie möglich zu finden, es gibt genügend, die kämpfen wollen. Unsere Leute sind nicht nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt, kurz, sie rennen nicht mit Maschinengewehren herum. Unsere Aufgabe ist, grob gesagt, mit Grips zu helfen und nicht mit Händen. Dort fehlen Militärexperten, echte Profis.

    Das an Militärakademien ausgebildete Offizierskorps der syrischen Armee kann es mit unseren jungen Offizieren nicht aufnehmen – das ist ein völlig anderes Niveau. Es fehlt dort an Personal für Hochtechnologie-Anlagen, die mit der Technik umgehen können, an Analytikern. Wenn man kein Profi ist, kann man zum Beispiel viel weniger aus Aufklärungsdaten herauslesen – da fehlt es einfach an der Ausbildung.

    Verstehe ich es richtig, dass alle, die dorthin gehen, Offiziere sind?

    Bei weitem nicht jeder, der dorthin geht, ist Offizier. Natürlich geben wir den Absolventen von Militärakademien den Vorzug, aber es gibt auch solche, die keine militärische Hochschulbildung haben, aber eine Hochschulbildung haben natürlich alle. Oft kann man das durch vielfältige militärische Erfahrungen kompensieren. Manche haben Kampferfahrung aus Noworossija – von denen kommen sehr viele Bewerbungen. Von denjenigen, die wir jetzt nach Syrien schicken, waren 30 bis 40 Prozent in Noworossija. Jetzt sind sie in Syrien, weil dort die Lage eben allgemein unklar ist.

    Und warum sind es so wenige? Reicht die Qualifikation nicht?

    Zum einen ja. Das sind schließlich völlig unterschiedliche Kriege. Können Sie sich vorstellen, welche militärischen Aktionen in Noworossija durchgeführt wurden und wie sehr sie sich von denen im Nahen Osten unterscheiden? Außerdem hat der IS Raketenwerfer, Panzer, Haubitzen – die sind alle genauso veraltet wie die der syrischen Armee, aber klar, in der letzten Zeit wird da erneuert. Aber auch hier gibt es Mangel – es fehlt nach den Luftangriffen an Profis. Die Europäer, die auf Vertragsbasis im Islamischen Staat gearbeitet haben, sind jetzt wieder zu Hause, weil die Summen, die sie bekommen, es nicht wert sind, sich umbringen zu lassen.

    Gibt es vor dem Hintergrund der Waffenruhe immer noch die gleiche Zahl von Freiwilligen, die in die Gegend westlich von Rostow wollen?

    Sie ist geringer geworden im Vergleich mit den Kämpfen von Debalzewo im Januar und Februar, aber der Zustrom ist recht groß, auch wenn das Interesse zurückgegangen ist. Jetzt lehnen wir die Leute oft selbst ab – wenn jemand nur einfacher Schütze ist, hat er da nichts verloren. Dann kann er da höchstens Wache schieben, aber wen interessiert das schon? Dann sagen wir ihm das auch so – du wirst doch höchstens auf der Wache sitzen.

    Wir stehen in Kontakt mit denen, die schon wieder zurück sind, und bei einer Wiederaufnahme irgendwelcher militärischen Handlungen werden sie schnell mobilisiert. Das geht dann alles viel schneller – wir können nach kürzester Zeit alle Positionen besetzen. Etwas anderes sind Ausbilder, die einen intellektuellen Beitrag leisten wollen, die sind bei uns immer willkommen. Aber wenn jetzt jemand dorthin fährt, um zu kämpfen, und in seinem Bereich gibt es keine Einsätze, was soll er dann machen? Warum soll man zur Arbeit gehen, zum Beispiel in ein Büro oder sagen wir in einen Schützengraben, wenn es nichts zu tun gibt?

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