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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Presseschau № 9

    Presseschau № 9

    Putin bestraft die Türkei mit Einschränkung der Reisefreiheit und einem Importembargo für Lebensmittel. In der Folge steigen die Lebensmittelpreise. Weitere Themen, die die russische Presse in dieser Woche beschäftigten: der Blackout auf der Krim, Korruptionsvorwürfe gegen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika und zu guter Letzt eine tierische Freundschaft im Wladiwostoker Zoo, die als Vorbild für die Beziehung zwischen Putin und Erdogan diskutiert wird.

    Russisch-türkische Spannungen: Der Abschuss der russischen Su-24 an der syrisch-türkischen Grenze hat zwei sich in ihrer Starrköpfigkeit sehr ähnliche eurasische Machtpolitiker auf Konfrontationskurs gebracht: Wladimir Putin wartete vergeblich auf eine Entschuldigung von Recep Tayyip Erdogan, verweigerte auf dem Klima-Gipfel in Paris auch das Gespräch mit ihm – obwohl Erdogan versuchte, Putin auf dem Flur abzupassen, wie der Kommersant berichtete.

    Stattdessen holte Putin einen ganz dicken Knüppel heraus. Per Ukas belegte er die Türkei mit einem umfangreichen Sanktionspaket: ein ab dem 1. Dezember geltendes Import-Embargo für Hühnerfleisch, Salz und bestimmte Obst- und Gemüsesorten, eine Auftragssperre für türkische Unternehmen, schärfere Kontrollen türkischer Schiffe und Lastwagen.

    Der Wirtschaftszeitung Vedomosti war die Bedrohung der einst so blühenden russisch-türkischen Geschäftsbeziehungen eine zweiseitige Analyse wert. Das Fazit: Der Türkei drohen 12 Mrd. Dollar Verluste – oder 1,6 Prozent des BIP. Einen hohen Preis haben aber Russlands Verbraucher zu zahlen: Die Großhandelspreise für Tomaten (auf der Sanktionsliste) und Zitronen (nicht betroffen) sind jetzt schon auf gut das Doppelte gestiegen. Begründung: Transporte aus der Türkei werden an der Grenze sehr penibel kontrolliert und auf diese Weise zurückgehalten.

    Außerdem setzt Russland zum 1. Januar 2016 den visafreien Reiseverkehr mit der Türkei aus. Außenminister Sergej Lawrow begründete dies mit einer von der Türkei ausgehenden „realen terroristischen Gefahr“. Die Türkei wird dies wohl kaum mit gleicher Münze heimzahlen, wenn sie wenigstens einen Teil ihres Tourismusgeschäfts mit den Russen retten will: 2014 machten 3,2 Mio. Russen in der Türkei Urlaub, aber nur 135.000 Türken in Russland. Doch nun hat Russland den Verkauf von Türkei-Reisen verboten und wird den Charterflugverkehr stoppen, sobald alle Urlauber zurückgekehrt sind. Der Chef der staatlichen Tourismus-Agentur Rostourism hofft jedenfalls, dass schon nächstes Jahr drei bis fünf Millionen Russen mehr Urlaub im eigenen Lande machen – neben der Türkei ist ja seit dem Anschlag auf den Airbus über dem Sinai auch Ägypten für erholungssuchende Mitbürger tabu. Russische Individualtouristen lassen sich davon aber nicht unbedingt beeindrucken: Sie buchen weiter munter Linienflüge und Hotels am Bosporus und in den Seebädern.

    Die Zeitung Vedomosti kommentiert, dass Russland durch diesen Konflikt endgültig zu einem „Land mit negativer Tagesordnung“ geworden ist: Nadelstich-Sanktionen und den einen oder anderen kleinen Handelskrieg mit Nachbarn gab es früher auch schon, doch nun scheinen alle Behörden kollektiv ihre ganze Energie nur noch darauf zu richten, möglichst viel zu verbieten – momentan eben alles Türkische. Selbst der bekannte Showman und Leiter eines nach ihm benannten A-Capella-Chores Michail Turezki denkt bereits ernsthaft darüber nach, seinen (eigentlich polnischen) Familiennamen zu ändern – schließlich klingt der genauso wie das russische Adjektiv „türkisch“.

    Isolierte Krim: Am 22. November sprengten krimtatarische und rechtsnationale Gruppen alle vier Stromleitungen, die aus der Ukraine auf die Krim führen. Seitdem leben die zwei Millionen Einwohner der von Russland vereinnahmten Halbinsel im Energienotstand. So gibt es in Sewastopol nur vier Stunden am Tag Strom aus den wenigen eigenen Kraftwerken, berichtet RBK. Die Energiekrise führte sogar zu einem heftigen Zerwürfnis zwischen Krim-Republikchef Sergej Aksjonow und dem kremltreuen TV-Sender NTW: Der hatte behauptet, die Regionalregierung habe Moskau vorgeflunkert, die Halbinsel sei für solche Situationen gewappnet und erst der kompetente Einsatz Moskauer Minister habe Ordnung ins Chaos gebracht. Aksjonow bezeichnete dies als „Lüge“ und „Blödsinn“, der eines zentralen TV-Kanals nicht würdig sei.

    Lenur Isljamow, der krimtatarische Initiator der Lebensmittel- und Stromblockade der Halbinsel, kündigte unterdessen in einem Interview mit Open Russia auch noch eine Seeblockade an. Auf der Krim gibt es, so schreibt der Kommersant in einer Blackout-Reportage, mittlerweile Versorgungsengpässe, vor allem bei Milchprodukten und anderer kühl zu haltender Ware – aber auch die Hoffnung, dass es jetzt besser wird: Seit Mittwoch liefert ein erstes Unterwasserkabel zusätzlichen Strom aus Russland. In der ukrainischen Nachbarprovinz Cherson weisen die Behörden inzwischen auf die Gefahr durch grenznahe Chemiefabriken auf der Krim hin: Dort sind Speicher mit mehreren hundert Tonnen Chlor, Ammoniak und Salzsäure die meiste Zeit ohne Stromversorgung – und könnten das Land im weiten Umkreis verseuchen.

    Korruptionsvorwürfe: Begonnen hatte die Woche mit der Veröffentlichung von geharnischten Vorwürfen gegen die Familie und Kollegen von Generalstaatsanwalt Juri Tschaika durch den oppositionellen Korruptionsjäger Alexej Nawalny. Tschaikas Sohn Artjom besitze neben einer Villa auch noch ein teures Hotel in Nordgriechenland. Teilhaberin daran sei die Ex-Frau eines Tschaika-Stellvertreters Olga Lopatina – die wiederum in Südrussland ein gemeinsames Business mit der erst 2010 nach einem brutalen Massenmord aufgeflogenen Zapok-Bande betrieben habe. Tschaika bezeichnet die Nawalny-Enthüllungen als erlogene Auftragsarbeit, auch Lopatina dementiert alles. Die meisten russischen Print-Medien fassen diese Story mit Samthandschuhen an oder ignorieren sie ganz – nur die Zeitung RBK habe sich damit auf die Titelseite getraut, so Nawalny auf Facebook.

    Amur und Timur: In solchen angespannten Zeiten ist es kein Wunder, dass die ungewöhnliche Freundschaft zweier Bewohner eines Wildparks bei Wladiwostok dieser Tage quer durch alle (sozialen) Medien die Herzen der Russen erfreut: Denn der Ziegenbock Timur war eigentlich als Lebendfutter in das Gehege des sibirischen Tigers namens Amur gesteckt worden. Das Unausweichliche blieb aber aus: Der Tiger hatte keinen Appetit auf den Bock, der seinerseits keinerlei Angst vor dem Herrscher der Taiga zeigte – worauf beide dicke Freunde wurden und nun täglich gemeinsam spazierengehen. Russlands YouTube-User diskutieren nun darüber, inwieweit dieses idyllische Beispiel nicht auch als Rollenmodell für die Menschheit – und Putin und Erdogan im Besonderen – taugen könnte.

    Lothar Deeg aus Sankt Petersburg für dekoder.org

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  • Dezember: Norilsk

    Dezember: Norilsk

    Norilsk ist eine der kältesten Städte auf unserem Globus – und einer der bedeutendsten Rohstofflieferanten überhaupt. Wer hier lebt, muss sich anpassen an extreme Bedingungen: Dauerfrost, neun Monate Winter, eine verheerende ökologische Situation. Wie die Menschen in Norilsk diese Aufgabe bewältigen, zeigen die großartigen Aufnahmen von Elena Chernyshova. Sie hat in ihrer mehrfach preisgekrönten Reportage (u. a. World Press Photo Award 2014) das Leben einer Stadt eingefangen, die oft im Dunkeln liegt, aber nie schläft.

    400 km nördlich des Polarkreises gelegen, führt keine Landverbindung nach Norilsk. Die Stadt ist nur über Luft- und Wasserwege mit dem übrigen Russland verbunden. Die Flüsse werden im Winter unpassierbar.

    Mit einer Bevölkerung von 175.300 ist Norilsk eine der größten Städte nördlich des Polarkreises. Die Stadt wurde 1940 auf dem Reißbrett entworfen – von Architekten, die in Lagern des Gulag-Systems interniert waren. Sie sollten eine ideale, logisch aufgebaute Stadt erschaffen.

    Aufgrund ihrer Lage hat die Stadt ein strenges, subarktisches Klima. Norilsk ist eine der kältesten Städte der Welt. Die Winter sind lang, mit Durchschnittstemperaturen von -25 °C. Während harter Fröste, wenn die Temperatur unter -40 °C fällt, quillt Dampf aus den Kanälen der Wasserversorgung und hüllt die Straßen in dichten Nebel.

    Die winterliche Kälteperiode erstreckt sich über circa 280 Tage pro Jahr, dabei fegen an mehr als 130 Tagen Schneestürme durch die Stadt.

    Während 8–9 Monaten pro Jahr ist die Stadt von Schnee bedeckt. Mehr als 2 Millionen Tonnen Schnee fallen in dieser Zeit auf die Landfläche des Großraums Norilsk, pro Einwohner 10 Tonnen. Die Schneeverwehungen erreichen eine Höhe von 2–3 Metern. 

    Während des neunmonatigen Winters ist jeder Weg eine Expedition und mit Gefahr verbunden. Die Arbeitsplätze sind 20–30 km von der Stadt entfernt, die Straßen dorthin führen durch die offene Tundra. 

    Wenn Schneestürme herrschen, wird der öffentliche Verkehr in Kolonnen organisiert. 15–20 Busse befördern die Arbeiter zwischen der Stadt und den Arbeitsorten hin und her. Sollte ein Bus eine Panne haben, können die Passagiere von einem anderen aufgenommen werden. Solche Konvois verkehren nur drei Mal pro Tag. 

    Nach dem Zerfall der Sowjetunion stieg Norilsk Nickel  (einer der Generaldirektoren war bis 2007 Michail Prochorow) zum weltgrößten Produzenten von Nickel, Palladium und Platin auf. Trotz des harschen Klimas sind die Minen das ganze Jahr rund um die Uhr in Betrieb, auch bei Temperaturen von -50 °C.

    In Norilsk gibt es sechs unterirdische Minen. Die Länge der Schächte, in denen das Erz abgebaut wird, beträgt mehr als 800 km, ihre Tiefe variiert zwischen 450 und 2050 Metern.

    Die Produktion von Norilsk Nickel pro Jahr:

    – mehr als 300.000 Tonnen Nickel (96 % der russischen und 17 % der weltweiten Gesamtproduktion)

    – 2.731.000 Unzen Palladium (41 % der weltweiten Produktion) – 683.000 Unzen Platin (11 % der weltweiten Produktion)

    – 419.000 Tonnen Kupfer (95 % der russischen Produktion und 2 % der weltweiten)

    Norilsk Nickel erwirschaftet 1,9 % des russischen Bruttosozialproduktes. 57 % der Bevölkerung arbeitet unmittelbar in den Abbau- und Produktionsbetrieben.

    Die Arbeitsbedingungen sind hart. Zu Hitze und Lärm kommt die Belastung durch schädliche Stoffe. Als Ausgleich dafür erhalten die Arbeiter 90 Tage Urlaub pro Jahr. Das Rentenalter beginnt mit 45 Jahren.

    Die Fabriken laufen jeden Tag, rund um die Uhr. Auf drei Arbeitstage im Schichtbetrieb folgt ein Ruhetag. 

    Nach Angaben des Blacksmith Institute ist Norilsk eine der 10 Städte mit der weltweit stärksten Umweltbelastung. Das russische Statistikinstitut Rosstat führt Norilsk als die am stärksten verschmutzte Stadt des Landes.
    Jedes Jahr entlassen die metallurgischen Kombinate fast zwei Millionen Tonnen Gas in die Atmosphäre, vor allem Schwefeldioxid (98 %), aber auch Schwefelkohlenwasserstoffe, Stickoxide und Phenole. Die Menge dieser Emissionen entspricht denen Frankreichs oder einem Prozent des weltweiten Emissionsaufkommens. Auch Schwermetalle wie Blei, Nickel, Selenium und Kobalt werden in die Atmosphäre abgegeben. Das Norilsker Nickelkombinat gilt als größter Einzelluftverschmutzer der Erde. 

    Für die Umweltverschutzung ist in erster Linie eine veraltete technische Ausstattung verantwortlich. An mehr als 200 Tagen im Jahr überschreiten die Emissionen das gesetzlich zugelassene Maximum. In den nächsten Jahren sollen die Emissionen der Fabriken durch eine Erneuerung der technischen Ausrüstung maßgeblich verringert werden. Die ökologische Situation in der Stadt ist aber weiterhin alamierend.

    Zwar ist die Stadt Norilsk wohlhabend, dennoch verfallen viele Gebäude. Fast die ganze Stadt ist auf Pfeilern im Permafrost-Boden errichtet worden. Wenn die oberen Bodenschichten auftauen, werden die Verankerungen instabil, die Strukturen kommen in Bewegung, in tragenden Wänden tun sich große Risse auf. Viele Häuser sind unbewohnt und werden den Mächten der Witterung überlassen.

    Die Polarnacht dauert von Ende November bis Ende Januar. In dieser Zeit erhebt sich die Sonne nicht über den Horizont. Die natürlichen Rythmen des Körpers werden außer Kraft gesetzt, viele Bewohner klagen in dieser Zeit über Angstzustände, Nervosität oder Schlaflosigkeit.

    Eine Frau und ein Kind in ihrem Wohnzimmer. Während der kalten Monate geht ein Großteil des alltäglichen Lebens in geschlossenen Räumen vor sich, Dunkelheit und Kälte hindern die Menschen daran, sich für längere Zeit unter freiem Himmel aufzuhalten.

    Je nach Witterung müssen kleinere Kinder manchmal mehrere Monate am Stück in geschlossenen Räumen verbringen. Die Kindergärten haben daher spezielle Räume eingerichtet, die sich für Laufspiele, Radfahren oder andere Outdoor-Aktivitäten eignen.

    Trotz der schwierigen Lebensbedingungen und der ökologischen Situation ist die Geburtenrate in Norilsk höher als in anderen Regionen Russlands. Dennoch haben Klima und Umweltbedingungen einen negativen Einfluss auf die Gesundheit der werdenden Mütter. Die Mehrzahl der Geburten muss per Kaiserschnitt stattfinden. 

    Während der neun Wintermonate haben die Bewohner von Norilsk keine Gelegenheit, sich in einer grünen Natur zu erholen. Viele schaffen sich daher kleine grüne Oasen in ihren Wohnungen.

    Licht ist das wirkungsvollste Mittel, um die Polarnacht besser zu überstehen. In den 50er und 60er Jahren war eine spezielle Lichttherapie verbreitet. Heute gehen die Menschen ins Solarium, das überall und für wenig Geld zugänglich ist.

    Eine der beliebtesten Winteraktivitäten ist das Eisbaden. Die Außentemperatur spielt keine Rolle, im Gegenteil: Je kälter es ist, desto mehr Menschen kommen an die Badestellen. Nach dem Badegang kann man sich in kleinen Banjas am Rand des zugefrorenen Sees wieder aufwärmen, die mit heißem Dampf aus dem Heizkraftwerk auf Temperatur gehalten werden. 

    Die Einwohner von Norilsk haben ein spezielles Verhältnis zur Natur. Nach 9 Monaten in geschlossenen Räumen zieht es die Menschen im Sommer in die unberührte Tundra zu langen Wanderungen.

    Fotos: Elena Chernyshova
    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko
    Veröffentlicht am 01.12.2015

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  • Die verlorene Halbinsel

    Die verlorene Halbinsel

    Seit einigen Wochen wird die Versorgung der Krim über die ukrainische Festlandverbindung mehr und mehr erschwert. Zunächst waren offenbar allein informelle Gruppen für die Blockadebestrebungen verantwortlich, nun hat sich auch die ukrainische Regierung eingeschaltet. Auf wessen Konto die Sprengungen der Hochspannungsleitungen am 20. und 21. November gingen, scheint weiter unklar – doch sie werden die Einwohner der Krim nur noch mehr von Kiew entfremden, kommentiert Andrej W. Kolesnikow.

    Die Krim ist selbst ein Symbol – ein Symbol des Triumphs und des Stolzes, so 52 % der vom Lewada-Zentrum befragten Russen – und sie produziert ausschließlich Symbole. Denn ihre materielle Bedeutung ist nicht besonders groß. Wenn man ehrlich ist, wurde das Gebiet im Stich gelassen. Von Russland im Stich gelassen: Nach Krymnasch die Sintflut.

    Deutlich wurde dies nach der Sprengung der Hochspannungsmasten und dem Blackout der Halbinsel, die sich nun wirklich langsam in Aksjonows Die Insel Krim verwandelt hat. Das Interesse an der Krim und Ukraine erlischt in Russland und der Welt mehr und mehr. Möglicherweise wären auch die Bewohner der zur Insel gewordenen Halbinsel zu der nüchternen Erkenntnis gelangt, dass dieses Gebiet den Großen Bruder gar nicht in Bezug auf Hilfe und Investitionen interessiert, sondern nur als Flagge und Reliquie. Denkbar wäre das gewesen, wäre es nicht zur Unterbrechung der Stromversorgung gekommen und zur dadurch doppelt so gravierenden Entscheidung Petro Poroschenkos, die Transportwege auf die Halbinsel zu blockieren.

    Mit einem Mal erinnern sich alle wieder an die Ukraine, und der hybride Krieg im Donbass verwandelt  sich in einen Handels- und Informations- (und in diesem Sinne auch einen hybriden) Krieg um die Krim. Keine einzige Forderung der Krimtataren, die die ukrainische Seite übermittelt, wird erfüllt, stattdessen wird die Ablehnung gegenüber der Ukraine stärker, sowohl vonseiten der Krimbewohner als auch vonseiten der Kontinentalrussen.

    Wladimir Putin bekommt gleich mehrere Trümpfe auf die Hand. Er wird auch hier wieder in der Rolle Batmans auftreten, des Beschützers von über einer Million Menschen, denen Licht und Wärme genommen wurde. Und der Welt wird wieder die animalische Fratze der ukrainischen Fascho-Juden präsentiert. Auch die leicht abgenutzte Bedrohung durch die ukrainische Regierung kann man völlig überteuert wiederverkaufen. Es ist sowieso merkwürdig, dass die russische Propaganda die Blockade der Krim bislang noch nicht mit der Blockade Leningrads verglichen hat.

    Die ukrainische Regierung und die informellen Widersacher Putins haben, wie es oft geschieht, politisches Regime und einfache Menschen verwechselt. Sie wollten sich am Regime rächen, trafen aber die einfache Bevölkerung. Das Regime wird dadurch natürlich nur stärker, die belagerte Festung wird noch belagerter und somit zu einem sakralen Objekt, und die Werktätigen scharen sich noch enger um ihren Batman, der mit seinen Bomben Syrien den Frieden bringt.

    Genau den gleichen Effekt – die Ausbildung des Stockholm-Syndroms gegenüber ihrem Präsidenten – hatten die westlichen Sanktionen bei den Russen. Hier allerdings erfolgte die „Bombardierung von Woronesh“ vor allem durch die russische Führung selbst, die ihren Mitbürgern mittels Gegensanktionen einen Teil der Lebensmittel verwehrte, deren Qualität verschlechterte und die Preise eigenhändig in die Höhe trieb. Die Sanktionen aber hatten hauptsächlich die Eliten und Unternehmen getroffen. Im Falle der Krim nun sind es nicht die eigenen Leute, die den Betroffenen die Lebensgrundlage nehmen, sondern die ehemalig eigenen Leute, die zu Fremden werden. Es wird ja auch nicht gegen irgendwelche feststehenden Gangster aus der Führungsriege ausgekeilt, sondern gegen alle Bewohner der Halbinsel.

    Selbstverständlich wird die Krim für den Westen unter keinen Umständen zu einer Tauschwährung oder zum Verhandlungsgegenstand. Doch wird es bei den westlichen Führern wohl kaum auf viel Gegenliebe stoßen, dass die ukrainischen Eliten so effektive Unterstützung geleistet haben, um das positive Image des russischen Präsidenten in den Augen der russischen Bürger zu fördern. Solche Turbulenzen haben ihnen gerade noch gefehlt.

    Putins Russland wollte die Ukraine zu sich hinüberziehen, hat sie aber auf lange Sicht verloren. Die ukrainische Führung hat durch die Bestrafung der Krimbewohner die Krim verloren. Und Putin eine Steilvorlage geliefert.

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  • Liebe ist …

    Liebe ist …

    Das russische Volk steht geschlossen hinter seinem Präsidenten – dieser Eindruck jedenfalls ist weit verbreitet. Nur selten macht man sich die Mühe weiterzufragen: Was bedeuten die fantastischen Ergebnisse der Umfragen? Olga Dimitrijewa von „The New Times“ ist in eine Kleinstadt bei Nowosibirsk gefahren und hat mit Menschen gesprochen, weit entfernt vom Moskauer Politzirkus: über ihr Leben und über ihr Verhältnis zum Präsidenten, über seine Politik. Wie sich zeigt, sind nicht alle begeistert von Putin und die, die es sind, können nicht immer sagen, warum.

    … wenn das Gute wichtiger ist als das Schlechte

    Wie wohlhabend die Siedlung Listwjanka im Bezirk Iskitim im Gebiet Nowosibirsk ist, lässt sich am Zustand der Straßen ablesen. Zwei Stunden vom Flughafen in Nowosibirsk entfernt, verlassen wir die Fernstraße Nowosibirsk-Barnaul, und sofort fängt unser Auto heftig an über die Trasse zu holpern.

    „Haben Sie gemerkt? Die haben die Straße gemacht.“, sagt der einheimische Fahrer stolz.
    „Nein“, antworte ich unhöflich, aber ehrlich.
    „Die haben natürlich nur die Löcher zugemacht, nicht neu asphaltiert“, verteidigt der Taxifahrer den Straßenbaudienst.

    Offenbar stellt der Umstand, dass die Schlaglöcher nicht mehr so tief sind wie früher („Immerhin reißt es einem nicht mehr die Räder ab“) bereits einen großen Erfolg der Kommunalverwaltung dar.

    Insgesamt sind die Erfolge nicht sehr zahlreich. „Die Straße wurde neu gemacht; ein Kindergarten wurde eröffnet – jetzt müssen die Eltern ihre Kinder nicht mehr mit dem Auto sonstwohin bringen. Der Bevölkerungszuwachs ist nicht groß, aber immerhin“, fasst Karina, eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung, zusammen. Karina mag ihren Job, sie pendelt für ein Gehalt von 13.000 Rubeln [195 EUR] sogar aus der Nachbarsiedlung nach Listwjanka. Überhaupt ist sie zufrieden: „Wir sind für Putin, für Einiges Russland. Ich bin Mitglied von Einiges Russland, wie der Rest der Verwaltung übrigens auch, wir sind alle in der Partei. Nicht weil wir irgendwelche Prämien dafür bekommen, sondern einfach so, wir sind von uns aus eingetreten, weil wir fanden, es ist nötig.“

    Iossif Dimitrijewitsch Sudakow, ehemaliger Deputierter des Dorfrats von Listwjanka, bildet die hiesige Opposition. Ein kleiner älterer Mann mit ordentlich gestutztem weißem Bärtchen. Mehrmals ist er schon verprügelt worden. Man hat Flugblätter gegen ihn aufgehängt. Ihn vor Gericht gezerrt. Doch er sagt, das kümmert ihn nicht.

    In der Wohnung der Sudakows wird renoviert – seit zwei Jahren schon, wegen der Krise. Im kleinen Zimmer sitzt die kranke Schwiegermutter vor dem Fernseher, in dem mit voller Lautstärke der Erste Kanal läuft. Im größeren Zimmer (15 m2), dem „Saal“, wie man hier in der Gegend sagt, tischt Iossif Dimitrijewitsch mir als Korrespondentin von The New Times Anekdoten aus dem Leben eines Dorfdeputierten auf, während seine Frau Tamara Wassiljewna einen Sauerkrautkuchen serviert.

    Der Krieg an der politischen Front von Listwjanka wird vor allem gegen die Misswirtschaft geführt. „Einiges Russland schickt die Deputierten laut Listenplatz zu uns – und hinterher gehen sie nicht mal zu den Sitzungen des Dorfrats“, klagt Sudakow. Die Beamten, auf lokaler wie auf Bezirks- und Gebietsebene, haben nur ihre eigenen Interessen: „Noch im kleinsten Dorf werden Mittel veruntreut“, erklärt Iossif Dimitrijewitsch.

    Das Budget von Listwjanka ist nicht groß, 20 Millionen Rubel [300.000 EUR]. Sieben Millionen davon bringt die Siedlung selbst auf, der Rest kommt vom Bezirk und der Gebietsverwaltung. Trotzdem „bedient sich, wer kann“: Man besorgt sich irgendwo umsonst Kohle, kassiert aber Geld für Heizkosten; Arbeiter, die das Klubhaus renoviert haben, werden nicht bezahlt; wieder woanders wird Holz geklaut …“

    Probleme auf Landesebene beschäftigen die Sudakows weniger. Was die Ukraine und die Krim betrifft, ist das Ehepaar sowohl untereinander als auch mit dem Kreml einig: „Das Gebiet gehört uns“, dort wohnen Russen, die Bergwerke im Donbass wurden schließlich von Russen gebaut. Zu Syrien befragt, meint die Frau: Wir werden den Islamischen Staat besiegen, und der Ehemann meint, wenn wir früher eingegriffen hätten, hätten wir bestimmt gesiegt.

    Schließlich kommen wir auf Putin und seinen jüngsten Rekord zu sprechen – 90 Prozent Zustimmung, den Umfragen zufolge.  

    „Uns hat keiner gefragt! Ich habe es im Fernsehen gehört – 1400 Personen sind befragt worden. Ist das etwa eine Zahl für so ein Viel-Millionen-Land?“, empört sich Tamara Wassiljewna.
    „Jetzt wirst du ja gefragt! Du bist die Nummer 1401. Also, was meinst du?“, foppt Iossif Dimitrijewitsch seine Frau.
    „Ich weiß nicht. Übrigens habe ich darüber auch noch nicht nachgedacht“, kontert Tamara Wassiljewna und denkt dann kurz nach: „ Nun, was er auf internationalem Parkett macht – also nicht innenpolitisch, sondern außenpolitisch – das finde ich gut. Dass wir nicht mehr vor Europa und Amerika einknicken.“
    „Und die Innenpolitik?“, fragt Sudakow nach.
    „Nun, die Innenpolitik – also, das sind ja wir, Russland.“ Tamara Wasiljewna wirkt traurig: „Innenpolitsch gefällt mir das nicht.“
    „Höret die Stimme des Volkes!“, schließt sich Iossif Dimitrijewitsch seiner Frau an. „Sie hat vollkommen recht.“

    Die Sache mit Putins einerseits guter Außen-, andererseits schlechter Innenpolitik werde ich im Gebiet Nowosibirsk noch öfter zu hören bekommen.

    … wenn man sich in Sicherheit fühlt

    „Bei mir kam ein junger Mann zum Vorstellungsgespräch, ein Psychologe – er hat keinen Dienstrang, keine Erfahrung, sein Gehalt beträgt fünfdreiachtzig im Monat (5380 Rubel, NT) [80 EUR]. Das ist das Gehalt eines Psychologen! Vielleicht kann ich noch ein halbes Monatsgehalt eines Sozialpädagoge drauflegen, das sind dann noch einmal dreitausend-irgendwas. Zehntausend – wird er dafür arbeiten? Kann er davon leben? Ich denke mir die Gehaltsstufen nicht aus! Das ist der allgemeine Tarif im Gebiet Nowosibirsk. Wie man davon leben soll, fragen Sie?“ Die Direktorin der Dorfschule erwartet keine Antwort auf ihre Frage. Albina Nikolajewna ist eine große, laute Frau, sie spricht wie auf einer Kundgebung. Ihre Stellvertreterin Marina Wiktorowna, in deren Raum das Gespräch stattfindet, ist ruhiger, meist nickt sie nur stumm. Ab und zu schauen Lehrer zur Tür herein.

    „Wir haben Besuch von einer jungen Frau, aus dem Ausland“, erklärt die Direktorin dann mit einem Kopfnicken in meine Richtung.
    „Nicht aus dem Ausland, nur aus Moskau!“
    „Moskau ist für uns Ausland! Ein Staat für sich“, stimmen die Lehrer ihrer Vorgesetzten zu.
    „Ja, das müsste in Moskau mal jemand in der Zeitung schreiben: wie die Lehrer hier leben“, sagt die Chemielehrerin Irina Petrowna träumerisch. „Man terrorisiert uns mit Inspektionen. Es bleibt keine Zeit, mit den Kindern so zu arbeiten, wie man gern würde. Und dann noch das Personalproblem: Wenn unsere Generation irgendwann aufhört, kommen keine Jungen nach. Es gibt keine Wohnungen, keine anständigen Gehälter. De facto sinken die Gehälter – man sollte da nicht lügen! Wenn man sich das anschaut, kommt man zu dem Schluss, dass den Staat die Zukunft unseres Landes überhaupt nicht interessiert.“  

    Dass der Staat sich stattdessen für die Zukunft anderer Länder interessiert, passt den Lehrern gar nicht.

    „Ukraine, Ukraine, ich kann es nicht mehr hören“, sagt Albina Nikolajewna. „Allmählich habe ich den Eindruck, das zeigen sie nur deshalb dauernd, damit ich nicht ans tägliche Brot denke …  Mir hat der Donbass zwar leidgetan, aber bei uns gibt es auch Leute, die unterhalb der Armutsgrenze leben, und das ist die Mehrheit … Manche Kinder in der Schule können sich nicht mal ein Brötchen kaufen. Es heißt, 78 LKW-Kolonnen hätten sie gerade wieder losgeschickt (in den Donbass – NT) – Medikamente, Lehrbücher und so weiter … Wie lange soll das noch so weitergehen? Brauchen die eigenen Leute etwa nichts? Wir haben das Gefühl, wir kommen zu kurz.“
    „Und was sagen Sie zu Syrien?“
    „Beängstigend ist das …“ Die Konrektorin flüstert fast: „Ich habe Afghanistan noch zu gut in Erinnerung …“

    Marina Wiktorownas Telefon klingelt alle fünf Minuten. Sie drückt die Anrufe weg: Es ist ihre Bank, es geht um die verspätete Rückzahlungsrate für einen Kredit. In diesem Gespräch kommt die These von der einerseits guten, andererseits schlechten Politik des Kreml nicht vor. Hier ist alles schlecht. Gleichwohl verleihen die Lehrer ihrer Unterstützung für Putin vehement Ausdruck.

    „Alle sind für Putin – es gibt keine Alternative. Wo ist die Alternative? Medwedew?“, ereifert sich Albina Nikolajewna, auch sie Mitglied von Einiges Russland. Den hatten wir schon. Und sonst? Es fehlt … an Stärke, sozusagen. Ich sehe nirgends eine starke Persönlichkeit. Außer Putin. Putin ist stark … Und wir sind an ihn gewöhnt.“

    Doch Dafür-Sein und Keine-Alternative-Sehen ist nicht dasselbe.

    „Ich bin wie alle für Putin – weil ich Frieden will. Nur Frieden, mehr brauche ich nicht!“, erklärt die Direktorin. „Denn wenn Krieg ausbricht, was habe ich dann von einem neuen Kleid und allem anderen?“

    In der Sicherheitspolitik, erklärt Albina Nikolajewna, sei die Position des Präsidenten richtig:

    „Es war gut, dass sie die Krim zurückgeholt haben, bravo! Das ist doch unsere Grenze! Die Schwarzmeerflotte! Von dort aus hätten uns die Amerikaner, die Japaner, weiß Gott wer noch alles gepiesackt … Bei einem Atomkrieg kriegen alle ihr Fett weg, das sage ich Ihnen als Physikerin. Uns wird jetzt beigebracht, wie man eine Gasmaske aufsetzt. Eine Gasmaske! Gegen Chemiewaffen oder Bakterien hilft die nicht. Wenn es so weit kommt, ist alles zu spät, wer sich da ansteckt, bleibt als Invalide zurück, als Krüppel. Davor habe ich Angst. Vor einer Provokation. Vor Biowaffen. So etwas ist wirklich schlimm. Unsere Aufgabe ist es, einen Krieg zu verhindern. Finanzprobleme sind dagegen nicht so wichtig.

    Davon, dass „uns Putin vor einem Krieg bewahrt“, sprechen die verschiedensten Menschen. Anfangs erscheint mir das als ein verzweifelter Versuch irgendwie zu erklären, worin eigentlich die Verdienste unseres Präsidenten bestehen. Aber wann immer ich nachfrage – „Haben Sie wirklich Angst davor, dass die Amerikaner uns angreifen werden?“ –, antworten alle, erstaunt über meine Naivität, mit einer Gegenfrage: „Ja! Sie nicht?“

    … wenn man trotz allem dafür ist

    „Ich kriege zum Beispiel rund 35.000 [525 EUR]“, erzählt Katja offenherzig. Sie ist hübsch, blond, 26 Jahre alt, knapp 1,80 groß und Oberleutnant der Polizei. „Alle glauben, wir Bullen kriegen zwischen 80 und 100.000 [1200–1500 EUR]. Woher nehmen die Leute das bloß? Und wenn wir wenigstens noch geregelte Arbeitszeiten hätten, ohne Wochenendschichten und Nachteinsätze wegen irgendeinem entlaufenen Schoßhündchen … 35.000 sind gar nichts heutzutage.“  

    Katja bekleidet den Rang eines Oberleutnants der Polizei. Dass sie bei den Sicherheitskräften arbeiten wollte, wusste sie schon während der Schulzeit. „Mein Traum ist wahr geworden … schön blöd“, sagt sie. Derzeit ist sie im Mutterschutz, und wahrscheinlich spricht sie deshalb so offen über die Lebensbedingungen der Mitarbeiter des Innenministeriums: gestrichene Vergünstigungen, niedrige Gehälter, steigende Preise wie überall. Katjas Sorgen kreisen ums Abnehmen nach der Schwangerschaft und um die Hypothek, die sie aufnehmen will. Alles andere kümmert sie wenig.

    „Ganz ehrlich, uns ist es sch…egal, was da unten in der Ukraine passiert. Schlimm ist nur, wenn unsere Kollegen dort hinfahren, diese Irren, und dann kommen sie in Zinksärgen zurück. Syrien interessiert kein Schwein. Wir haben mit uns selber genug zu tun. Unsere Jungs werden nach wie vor nach Tschetschenien geschickt, nach Dagestan, und das ist Inland! Man hört heute zwar nicht viel davon, aber da unten gibt es immer noch Unruhen, Tote. Aber Syrien oder irgendwelche anderen Länder – das tangiert uns nicht, wenn du mich fragst.“

    Doch auf die Finanzen der Polizisten wirken diese „uns nicht tangierenden“ außenpolitischen Aktivitäten Russlands sich ganz direkt aus:

    „Früher gab es Prämien bei uns, wenn das Innenministerium zum Beispiel eine bestimmte Summe eingespart hatte – das war immer gutes Geld. Zum Jahresende wurde das unter den Mitarbeitern der Polizei aufgeteilt. Dabei kamen oft Prämien um die 20.000 Rubel [300 EUR] zusammen. In einem Jahr gab es bei uns sogar 50.000 [750 EUR] pro Nase. Aber das ist vorbei. Erst wurde alles Geld in die Olympiade gesteckt, dann kam die Krim, der man helfen musste, dann der Donbass, und jetzt ist es Syrien …“

    Katjas kleiner Sohn unterbricht uns, er ist aufgewacht und weint. Seine Mutter freut sich schon auf die Zeit, wenn er in den Kindergarten kommt und sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann, „zu ihren Halunken“. Für heute beendet die junge Polizistin, die bald in den Rang eines Hauptmanns befördert wird, das Gespräch, ihr Kind hat Hunger.

    „Putin fand ich früher nicht gut und ich finde ihn heute nicht gut. Als Präsident“, sagt sie abschließend. „Schau dich doch um bei uns, gibt es irgendeinen Grund, für Putin zu sein?“  

    Andrej, der im Kohle-Tagebau arbeitet, vergleicht die Situation im Land mit der Lage in seiner Firma:

    „Wir hatte einen Chef hier beim Fuhrpark, der war fürchterlich, wir wollten ihn alle nur loswerden. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. Inzwischen ist er versetzt worden, und sein Nachfolger ist zehnmal schlimmer! Und inzwischen denke ich, mit Putin ist es dasselbe.“

    Andrejs jüngste Kinder – zweijährige Zwillinge – gehen in den Kindergarten. Die ältesten sind schon fertig mit der Schule; seine Tochter studiert an der Universität, der Sohn an einer Fachschule für Verkehr und Technik. Zu Hause trifft man den Familienvater so gut wie nie an: Werktags fährt er seinen BelAZ-Muldenkipper, am Wochenende Taxi in Listwjanka. Mit seinem während der Krise auf 15.000 Rubel [225 EUR] gekürzten Gehalt kann Andrej seine vier Kinder nicht ernähren.

    „Aber was Putin macht – Hut ab. In der Außenpolitik zumindest. Innenpolitisch wird ihm allerdings keiner eine Träne nachweinen.“

    Der Gedanke kommt mir bekannt vor.

    „Und in der Außenpolitik, wofür schätzen Sie ihn da?“
    „Na ja, also die Krim, ich weiß nicht … das ist ja unheimlich teuer alles. Ich persönlich hätte das nicht gebraucht. Lauter unnötige Kosten! Am Ende sind es doch wir, denen das nach und nach abgeknöpft wird, wir haben ja auch eine Firma in Moskau, alles, was wir verdienen, fließt dorthin.“
    „Und dass Russland Flugzeuge nach Syrien schickt und dort bombardiert, was halten Sie davon?“
    „Genauso wenig. Das sind doch interne Konflikte dort, wieso mischen wir uns da ein? Wozu? Ich bin dagegen. Und das Geld dafür kommt ja auch wieder von uns. Im Fernsehen sagen sie das inzwischen ganz offen: Nachdem wir Syrien demoliert haben, werden wir es auch wieder aufbauen müssen.“

    Andrej schaut ständig auf ein mit Klebeband geflicktes Telefon – er fürchtet, einen Auftrag zu verpassen. Sein Tarif ist derselbe wie bei allen anderen: Eine Fahrt über die Schlaglöcher der instandgesetzten Straße in die Nachbarsiedlung kostet 200 Rubel [3 EUR], Fahrten im Dorf nur 50 [75 Cent] .  

    „Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie Putins Außenpolitik gut finden …“
    „Na ja … irgendwie ist er schon klasse  … ich weiß auch nicht. Immerhin respektiert man ihn auf der ganzen Welt, das heißt, für irgendwas ist das alles schon gut. Aber dass er sich überall einmischt, das gefällt mir nicht.“
    „Trotzdem, noch einmal: Die Dinge, die Sie nicht gut finden, die Wirtschaftskrise, Syrien, die Ukraine – für all das ist doch Putin verantwortlich, aber auf die Zustimmung zu ihm wirkt sich das nicht aus …“
    „Ach, ich weiß auch nicht“, sagt Andrej verlegen. „Trotz allem … Es gibt zwar keinen richtigen Grund, für ihn zu sein, aber ich bin trotzdem für ihn. Mir gefällt er einfach als Mensch!“

    … nicht für alle Ewigkeit

    Zu den Sitzungen des Dorfrats und Treffen mit Regierungsbeamten nimmt Iossif Dimitrijewitsch Sudakow grundsätzlich ein Diktiergerät mit. Und sein altes Mobiltelefon zeichnet alle Anrufe auf. Sudakow ist stolz darauf, wie viele Beweise er für die Veruntreuung des kommunalen Haushalts gesammelt hat – keine Veruntreuung „in außerordentlich großem, aber schon in großem Stil“. Er glaubt, dass all diese Beweise ihm in nächster Zeit nützen werden, und dass es „viele Verhaftungen“ geben wird.

    „Mit diesem Syrien wird alles nur schlimmer“, versichert Iossif Dimitrijewitsch. „Die Leute werden bald genug haben, und dann geht es los.“

    Allgemein sind die Leute in Listwjanka sehr duldsam. Im Gespräch fällt jedem von ihnen ein Beispiel aus seiner persönlichen Erfahrung dafür ein, dass es auch schon schlimmere Zeiten gegeben hat, und die haben sie auch überstanden. Heute ist es „Gott sei Dank noch nicht so schlimm wie in den Neunzigern“. Der 53jährige Waleri allerdings rechnet mit tiefgreifenden Veränderungen, und er weiß auch schon, wann es so weit sein wird:

    „Die Leute finden sich so lange mit der Lage ab, bis die westlichen Geheimdienste eine neue politische Führungsfigur aufgebaut haben. Sobald das der Fall ist, wird es mit der Geduld vorbei sein. Die Leute haben es satt!“

    Waleri hat zwei erwachsene Töchter – die ältere lebt in Moskau, die zweite in der Nähe von Nowosibirsk, in der Forschungsstadt Kolzowo. Waleri und seine Frau hatten kurz vor Beginn der Krise eine Hypothek aufgenommen, um in die Nähe ihrer jüngeren Tochter umzuziehen. Jetzt wird die Familie ihre Pläne nicht schmerzfrei umsetzen können: Die Firma, in der Waleri arbeitet, ist mit den Gehaltszahlungen im Rückstand. An die Ewigkeit des derzeitigen Regimes glaubt er nicht.

    „Das heißt, sobald es irgendeine Alternative zu Putin gibt, werden die Leute …“ Waleri fällt mir ins Wort:
    „Sofort! Im Moment ist ja wirklich niemand in Sicht, aber sobald irgendeine Alternative auftaucht, werden die Leute sich dem anschließen, der für diese Alternative steht! Putin wird im Nu vergessen sein, keiner wird mehr etwas wissen wollen von ihm!“

     


    Vorspann der Autorin
    Die Hof-Meinungsforscher verkünden einen neuen Rekord: Wladimir Putins Zustimmungwerte liegen mittlerweile bei knapp 90 Prozent! Es dürfte demnach gar nicht einfach sein, in diesem Land jemanden zu finden, der die Politik der Staatsführung nicht gutheißt. Neun von zehn Menschen auf der Straße sind voll und ganz dafür.
    Skeptiker rufen dazu auf, die Zahlen der offiziellen Meinungsforschung zu ignorieren. Unabhängige Meinungsforscher erklären, über Zahlen zu streiten sei sinnlos, doch die offensichtliche Beliebtheit Wladimir Putins zu leugnen, wäre schlicht dumm. Russlands Bevölkerung sei damit beschäftigt, das überraschend schwere Trauma des Zerfalls der Sowjetunion zu verarbeiten, und sehe noch nicht den Zusammenhang zwischen dem sinkenden Lebensstandard und den außenpolitischen Erfolgen des Präsidenten. Politologen präzisieren: Wenn man nicht von einem abstrakten „Gutheißen“, sondern konkret von vergangenen und bevorstehenden Wahlerfolgen spreche, so gebe es für das Wunder der Liebe des Volkes zum Präsidenten auch eine prosaischere Bezeichnung: Wahlfälschung. Die Folge sei der Niedergang des politischen Systems. Psychologen wissen eine Antwort auf die Frage, wer die marginalen 10 Prozent sind, die noch immer nicht in patriotische Ekstase verfallen sind, und woher sie kommen.
    Russlands Bevölkerung indessen liebt ihren Präsidenten weiterhin, von allen Widersprüchen unbeirrt, wie es Liebende nun einmal tun. „Innenpolitisch gibt es dafür keinen Grund. Aber es gibt einfach niemand anderen. Und außenpolitisch … Syrien war natürlich ein Fehler. Und für die Krim zahlen wir einen hohen Preis. Aber klasse, dass man wieder Respekt vor der Großmacht hat. Den Amis haben wir es gezeigt. Auch wenn jetzt alles teurer geworden ist. Aber vor allem: Es gibt einfach niemand anders.“

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  • Presseschau № 8

    Presseschau № 8

    Ereignisse dieser Woche: Abschuss des russischen Jagdbombers durch die Türkei. Es gibt emotionale Reaktionen, wütende Proteste – und ein neues Feindbild. Außerdem: In den Regionen protestieren LKW-Fahrer gegen die neue Straßenmaut. Jekaterinburg: Naina Jelzina, Witwe des ersten Präsidenten der Russischen Föderation, wirft anlässlich der Eröffnung des Jelzin-Zentrums einen Blick zurück auf die Regierungszeit ihres Mannes.

    Abschuss der SU-24. „Zehn türkische Flugzeuge gehören abgeschossen, Erdogan sponsert den Islamischen Staat!“ So die Reaktion eines Demonstranten vor der türkischen Botschaft in Moskau. Nach dem Abschuss eines russischen SU-24 Jagdbombers durch einen türkischen F-16 Kampfjet kam es am Dienstag und Mittwoch zu Protesten. Steine wurden geworfen, Fensterscheiben gingen zu Bruch. Ebenso wütend und emotional reagierten auch die Medien und die Politik. Einige Stunden nach dem Abschuss meldete sich Wladimir Putin zu Wort: Es handele sich um ein „Verbrechen“, einen „Stoß in den Rücken“, ausgeführt durch Komplizen der Terroristen, sagte der russische Präsident. Moskau und Ankara geben sich gegenseitig die Schuld an dem Abschuss.

    Der Abschuss der SU-24 beherrschte die Berichterstattung der Medien, mit der Türkei als neuem Feindbild: Bereits unmittelbar nach Bekanntwerden des Abschusses schrieb der Kommersant von einer Provokation Ankaras, um die von Moskau angestrebte breite Koalition gegen den Islamischen Staat zu verhindern, dank derer Assad womöglich länger an der Macht bleiben könnte. Das Staatsfernsehen zeigte einen Film über die Schlachten der russischen Armee gegen das osmanische Reich und in der populären Talkshow Der Abend mit Wladimir Solowjow diskutierten Politologen und Politiker die angeblichen gemeinsamen Wurzeln der türkischen Regierungspartei AKP und der ägyptischen Muslimbrüder, welche ja, ähnlich dem Islamischen Staat, ein Kalifat errichten wollten.

    Reagiert hat auch die Wirtschaft. Als erstes wurde der Tourismus zurückgefahren, weitere Großprojekte stehen auf der Kippe. Das Außenministerium in Moskau empfiehlt, von Reisen in die Türkei abzusehen, die größten Reisebüros verkaufen keine Touren mehr. Nach dem Verbot der Reisen nach Ägypten ist dies bereits der zweite Schlag innerhalb kürzester Zeit für die russische Tourismusindustrie: 40 Prozent aller Auslandsreisen aus Russland gingen im ersten Halbjahr 2015 an diese beiden Destinationen.

    Lastwagenfahrer protestieren. Zu erwarten ist, dass der Abschuss der SU-24 und der Streit mit der Türkei innerhalb Russlands noch zu einer noch stärkeren Unterstützung für die Politik des Kremls führen wird. Andernorts regt sich aber auch sozialer Protest, in mehreren Regionen streiken Lastwagenfahrer. Protestiert wird gegen die Mitte November neu eingeführte LKW-Maut – Projektbezeichnung: Platon. Durch die viel zu hohen Kilometertarife würden ihre Kosten unnötig steigen, ihre Arbeit lohne sich nicht mehr, klagen die Streikenden. Der Umfang des Protests lässt sich nur schwer beziffern, offiziellen Angaben zufolge nehmen landesweit nicht mehr als 2500 LKW-Fahrer teil. Laut den Lastwagenfahrern sollen es aber alleine in Dagestan mehr als 17.000 Protestierende sein. Der Konflikt wird bislang von den Staatsmedien ignoriert, trotz Forderungen der Zuschauer an den Ersten Kanal. Zu berichten gäbe es genug: In St.Petersburg protestierten die LKW-Chauffeure vor der Stadtverwaltung, in Samara und Petrosawodsk behinderten sie mit langsam fahrenden Kolonnen den Verkehr und in Dagestan wurde kurzerhand die Autobahn blockiert. Die Streikenden drohen nun auch dem Kreml: Am 30. November soll die Moskauer Ringautobahn, der MKAD, blockiert werden. Mit ihrer Kampagne erreichen die LKW-Fahrer politisch bislang kaum etwas, könnten aber zum Vorbild für die Organisation anderer Gruppen aus der Mittelklasse werden, welche ihren Unmut artikulieren wollen, schreibt Vedomosti. Medienberichten zufolge signalisieren die Behörden aber nun zumindest Gesprächsbereitschaft. Nicht alle Reaktionen sind jedoch gleich konstruktiv: Der Dumaabgeordnete Jewgeni Fjodorow hatte zuvor per Videobotschaft erklärt, der Protest gegen Platon sei von Agenten der Fünften Kolonne auf Geheiß der USA mit dem Ziel organisiert worden, den russischen Staat zu zerstören.

    Unmut über das neue System regte sich vor allem aber auch, weil von der LKW-Maut, mit deren Einnahmen eigentlich Straßen repariert werden sollten, nicht zuletzt Igor Rotenberg, der Sohn des Oligarchen Arkadi Rotenberg, der als Putin-Vertrauter gilt, profitiert. Die Fahrer nahmen kein Blatt vor den Mund: Wie die Novaya Gazeta berichtet, waren bei den Demonstrationen Transparente mit Schriftzügen wie „Russland ohne Rotenberg“, „Rotenberg ist schlimmer als der IS“ zu lesen.  Rotenberg-Junior soll zur Hälfte der Betreiber des Mautsystems, die Firma RT-Invest Transport Systeme, gehören. Open Russia schätzt den jährlichen Gewinn der Firma auf umgerechnet 43 bis 57 Millionen Euro pro Jahr – ohne vorangegangene Investition, da dafür staatliche Kredite herhalten. Igor Rotenberg ist nicht der einzige Sohn oder die einzige Tochter eines Oligarchen oder Politikers, der zur Zeit im Rampenlicht steht. Kritiker sprechen gar von einer neuen Aristokratie, die sich in Putins Russland entwickelt.

    Jelzin-Zentrum. Zum Abschluss noch ein Blick zurück in die 1990er Jahre, welche in Russland wieder im Fokus stehen. Anlass war die am Mittwoch in Ekaterinburg im Beisein von Putin und Medwedew erfolgte Eröffnung des Jelzin-Zentrums. Zu diesem Ereignis gab Naina Jelzina ein Interview: Die Witwe des ersten russischen Präsidenten spricht von einer schwierigen Zeit, die damals errungene Freiheit habe die Zukunft des Landes über viele Jahre hinweg bestimmt. Dekoder erinnerte bereits vor einigen Wochen mit mehreren Artikeln und Gnosen an den kontroversen Umgang mit dem unübersichtlichen ersten Jahrzehnt der Russischen Föderation.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

     

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  • Löst Syrien die Ukraine-Krise?

    Löst Syrien die Ukraine-Krise?

    Ein möglicher Schulterschluss zwischen Russland und dem Westen nach den jüngsten Terroranschlägen könnte auch Auswirkungen auf die Ukraine-Krise haben. Was hieße das für den Status der Krim, die Sanktionen gegen Russland, den Kurs der NATO? Kann es gar zu einer raschen Entspannung der Lage in der Ostukraine kommen? Arkadi Mosches dekliniert in EJ die Szenarien durch und bleibt skeptisch.

    (Der Originaltext wurde vor dem Abschuss des russischen Kampfflugzeugs durch die Türkei am 24.11.2015 veröffentlicht.)

    Die weitaus meisten Beobachter sind sich einig, dass die schrecklichen Anschläge der letzten Tage den Kontext der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen wesentlich verändert haben. Objektiv betrachtet ist das der Fall, weil eine gemeinsame Bedrohung zur Einigkeit zwingt. In dieser Hinsicht sind die Worte Wladimir Putins, der die Franzosen als Verbündete bezeichnete, von großer Bedeutung. Aber auch auf subjektiver Ebene stimmt es, denn jene Politiker und professionelle Lobbyisten im Westen, die auch schon zuvor dazu aufgerufen hatten, die durch die Ukraine-Krise entstandenen „Missverständnisse“ in den Beziehungen zu überwinden und zu „Dialog und Zusammenarbeit“ zurückzukehren, erhalten damit ein schlagkräftiges Argument. Im übertragenen Sinne haben Nicolas Sarkozy und der derzeitige deutsche Vizekanzler Sigmar Gabriel, die diesen Standpunkt vertreten und im Oktober Moskau besucht hatten, in ihrer Auseinandersetzung mit den französischen und deutschen Staatsoberhäuptern François Hollande und Angela Merkel die Initiative übernommen.

    Daher sollte man bereits in allernächster Zukunft erwarten, dass Bewegung in diese Diskussion kommt, und wahrscheinlich auch, dass praktische Schritte um den sogenannten Abtausch von der Ukraine und Syrien erfolgen. Es ist allerdings alles andere als selbstverständlich, dass ein solcher Abtausch tatsächlich Ergebnisse bringen wird.

    Erstens ist nicht wirklich klar, worin er bestehen könnte. Soll es um eine Änderung der Positionen des Westens zur Krim gehen? Diese Frage steht derzeit faktisch nicht auf der Tagesordnung. Formhalber abgegebene Verlautbarungen zählen nicht, und eine juristisch verbindliche Anerkennung der Zugehörigkeit der Halbinsel zur Russischen Föderation ist für den Westen unmöglich, was allen Beteiligten, auch dem Kreml, klar sein sollte. Geht es um eine Abkehr von der Osterweiterung der NATO und der EU? Wiederum: Da ohnehin weder Washington noch die europäischen Hauptstädte einen besonders starken Wunsch nach einer Erweiterung verspüren, könnten inoffiziell bestimmte Zusicherungen gegeben werden. Aber zum einen ist fraglich, ob Moskau ihnen Glauben schenken würde, zum anderen: Was soll mit dem Programm der schrittweisen Integration der Ukraine, Moldawiens und Georgiens in die EU geschehen, um das es sich ja beim Assoziierungs- und Freihandelsabkommen handelt? Soll sich Europa die russische Sichtweise mit einer Zukunft des Donbass' als Teil der Ukraine zu eigen machen? Berlin und Paris üben ohnehin schon maximal möglichen Druck auf Kiew aus, um von der Ukraine eine einseitige und vorgreifende Umsetzung des Minsker Abkommens in einer Auslegung zu erreichen, die für die DNR und LNR vorteilhaft ist. Weiterer Druck und Einmischungen in den konstitutionellen Prozess könnten dazu führen, dass das politische System der Ukraine destabilisiert wird und dass an die Stelle Petro Poroschenkos ein radikalerer Führer tritt, womit sich der Konflikt nur verstärken würde.

    Zweitens muss innerhalb der EU in einer ganz bestimmten Richtung gearbeitet werden. Es geht hier nicht um die berüchtigte „wertebasierte Politik“: Dass vor Kurzem die Sanktionen gegen Minsk ausgesetzt wurden beweist, dass Geopolitik und Pragmatismus Brüssel ganz und gar nicht fremd sind; nein, es geht um Prozeduren, auf denen die Union basiert. Im März 2015 hat der Europarat nämlich einen Beschluss gefasst (Paragraph 10 für jene, die es ganz genau wissen wollen), der unmissverständlich besagt, dass die gegen Russland gerichteten Sanktionen von der vollständigen Umsetzung des Minsker Abkommens abhängen, sprich, von der Rückgabe der Kontrolle über die Grenze an die Ukraine. Selbstverständlich ist dieses Dokument nicht in Stein gemeißelt, es kann durch ein anderes ersetzt werden. Doch dies kann nicht schnell geschehen. Zunächst wird eine öffentliche Diskussion entbrennen, dann schaltet sich das Europaparlament ein, und irgendwann werden sich die europäischen Führer überlegen, dass ihnen persönlich der politische Preis für die Aufhebung der Sanktionen zu hoch sein könnte.

    Drittens ist der Westen nicht mit der EU gleichzusetzen. Selbst wenn man für eine Sekunde die USA, Kanada und Australien außer Acht lässt, kann man doch eine andere überaus machtvolle politisch-bürokratische Maschinerie nicht ignorieren: die NATO. In den letzten anderthalb Jahren ist die transatlantische Allianz, wie man sagt, „zu ihren Wurzeln zurückgekehrt“ und orientiert sich nun gründlich in Richtung Abwehr von Sicherheitsrisiken ihrer Mitgliedsländer, die deren Ansicht nach vom Osten ausgehen. In einem Klima des gegenseitigen Misstrauens wird es sehr schwierig sein, die in Fahrt gekommene Allianz aufzuhalten. Moskau seinerseits wird wie gewohnt Gegenmaßnahmen ergreifen. Damit hätte eine Einigung in einzelnen Fragen der nahöstlichen Agenda keinerlei signifikante Bedeutung.

    Zuletzt das Wichtigste: Der russisch-ukrainische Konflikt an sich wird nicht einfach verschwinden. Selbst wenn eine weitere Eskalation im Osten der Ukraine vermieden werden kann, bekommt es der Westen, allen voran die EU, mit russischen Sanktionen gegen Kiew zu tun, die im Januar eingeführt werden, wenn die bereits erwähnte Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU in Kraft tritt. Hinzu kommt die Umschuldung, der Gastransport durch die Ukraine und der Ankauf von russischem Gas für den innerukrainischen Bedarf, Fragen von europäischen Bürgern und Unternehmen zur Krim, gegen die die Sanktionen ganz sicher nicht aufgehoben werden etc. Sollte dann jemand die Nerven verlieren und der Osten wieder in Flammen aufgehen, so kann man sämtliche Entwürfe einer möglichen Aussöhnung sofort zu Grabe tragen.

    Leider hat der Konflikt zwischen Russland und dem Westen für den heutigen Tag systemischen Charakter und geht weit über die Grenzen der Meinungsverschiedenheiten zur Ukraine und zu Syrien hinaus. Dieser Konflikt schwelte schon lange und er wird nicht schnell überwunden werden können, schon gar nicht durch irgendeinen „Abtausch“.

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  • Angstfreiheit als Kunst

    Angstfreiheit als Kunst

    Die brennende Tür der Lubjanka – nichts als Provokation … Der Journalist Oleg Kaschin widerspricht dem vehement. Nicht der Tabubruch macht Aktionisten wie Pjotr Pawlenski zu Künstlern, sondern ihr bewusstes Interagieren mit der Angst – derselben, die den Nicht-Künstler vor jeglichem Handeln zurückschrecken lässt. Die Furchtlosigkeit, sagt Kaschin, ist Pawlenskis Koautor.

    Das Russland der 10er Jahre – das sind Woina, Pussy Riot und Pawlenski. Einen vierten Namen gibt es nicht, aber auch drei sind schon viel. Drei Mal so viel wie einer und unendliche Male so viel wie null.

    Die Erklärungsversuche der Kunsthistoriker, hey Leute, das ist Aktionskunst, eine Tradition, die zum Dadaismus und zu Jackson Pollock hinaufreicht – das alles lenkt nur vom Wesentlichen ab. Wie man in der Wikipedia oft lesen kann: „Dieser Artikel beschreibt ein aktuelles Ereignis.“ Wenn das Ereignis nicht mehr aktuell ist, wird jemand einen Fachbegriff erfinden, so etwas wie Russischer Aktionismus der 2010er Jahre, nur kürzer (vielleicht Woinismus?), jemand wird eine Doktorarbeit schreiben, der nächste ein Buch, der dritte wird die heute einmaligen Aktionen bis ins Abgeschmackte kopieren, und erst dann wird man sagen können, was das eigentlich genau war und worin der Wert liegt – vorerst gibt es hier einfach ein paar Anmerkungen eines Zeitgenossen.

    Im spätputinistischen Russland mag vielleicht keine Hochkultur entstehen, aber zumindest bietet es als Raum und Zeit ideale Bedingungen für einen kulturellen Durchbruch. Wir erleben eine Übergangsphase zwischen Autoritarismus und Totalitarismus (der freilich nicht unbedingt kommen muss), in der sich offenbart, dass die normalen sozialen Verhältnisse bereits dabei sind, den vom Staat aufgezwungenen Platz zu machen, aber noch gibt es weder Massenverhaftungen noch totale Zensur. Minütlich verändert sich die Lage zum offensichtlich Schlechteren, das kollektive Bewusstsein und mit ihm die einstige Kunst kommen nicht mehr hinterher und werden somit minütlich altmodischer und archaischer, so wie jener Bürger, der dort drüben erbost in dem Kragen Nase und Kinn versteckt.* Die gesellschaftliche Unfreiheit hat noch nicht den Grad erreicht, dass sie jede nicht sanktionierte Aussage verunmöglichen würde. Im Russland des Jahres 1991 (das freiste unserer Generation bekannte Land) wäre ein Pawlenski gleichermaßen undenkbar wie im heutigen Turkmenistan oder Nordkorea (offenkundig die unfreisten Länder überhaupt).

    Die spannende Periode der russischen Geschichte, die wir gerade miterleben, könnte vermutlich großes Kino, große Literatur oder Musik hervorbringen, doch die größten Chancen auf einen Durchbruch hatte von Anfang an das, was wir zeitgenössische Kunst nennen, denn eine niedrigere Erwartungshaltung bedeutet immer auch ein Mehr an Möglichkeiten: Einer, von dem man nichts erwartet, ist immer im Vorteil gegenüber den Favoriten. Das postsowjetische Russland fand von Anfang an einen Konsens in Bezug auf moderne Kunst – Schwindelei bis hin zum Betrug sah man darin, nach dem Motto: „Mal hängt eine Installation rum, mal gibts eine Performance.“ Jemand stellt was Seltsames in der Gelman-Galerie aus, ein geldschwerer Depp kommt vorbei, bekommt erklärt, das sei genial, und kauft es – das ist die ganze Kunst. Schock, Provokation und was man sonst für Begriffe im Zusammenhang mit zeitgenössischen Künstlern verwenden mag – jedenfalls ist schon im Voraus klar, was man von so jemandem zu erwarten hat. Was kann da schon Interessantes kommen? Lieber schnell vorbeilaufen.

    Foto © Ilya Varlamov

    Doch an Woina, Pussy Riot und jetzt auch Pawlenski kommt man nicht einfach so vorbei und das sicher nicht, weil hinter der brennenden Tür ein imaginierter FSB-Wachmann hätte versteckt sein können (auf den Klageruf dieses Wachmanns, er hätte verbrennen können, baute die Hauptargumentationslinie der Pawlenski-Kritiker in den sozialen Netzwerken – fast wörtlich wie in dem Märchen von der dummen Else, die bittere Tränen vergoss, als sie sich vorstellte, wie sie einmal heiraten würde, einen Sohn gebären, wie dieser dann heranwachsen, in den Keller steigen und sich dabei das Genick brechen würde). Der Erfolg dieser Künstler besteht in der richtigen Synthese aus einem gesellschaftlich emotionsgeladenen Thema und der Art seiner Darbietung, aber als entscheidenden Faktor (und falls das ein alter Hut ist, sollen die Kunsthistoriker hier intervenieren) betrachte ich eine dritte Komponente ihrer Aktionen. Herkömmliche Vertreter der zeitgenössischen Kunst brechen Tabus, sie brechen mit Moralvorstellungen und einigem mehr, aber unsere Aktionskünstler dringen in einen Bereich ein, der weder durch Moral noch durch kollektiv empfundene Grenzen des Akzeptablen geschützt ist, sondern durch Angst. Die Angst – sie ist die dritte Komponente, ohne die die neue russische Kunst schlicht nicht existieren würde.

    Der herkömmliche Künstler weiß, dass er mit dem Raum, seiner Umgebung, den Passanten, mit was auch immer interagieren muss. Pawlenski aber (genau wie Woina und genau wie Pussy Riot) interagiert darüber hinaus mit der Angst der russischen Bevölkerung vor den Sicherheitsorganen, vor der Kirche, vor der Regierung, vor dem Bullen. Schon längst hat der Spießbürger gelernt, über das Schwarze Quadrat zu sagen, das sei ja keine Kunst, das würde er auch noch hinbekommen; aber das, was Pawlenski gemacht hat – kriegst du das hin? Nein, kriegst du nicht, weil du Angst hast. Angst vor dem Gaischnik auf der Lubjanka, Angst vor dem Gefängnis, Angst vor einem Prozess. Pawlenski hat keine Angst, die Furchtlosigkeit ist sein Koautor. Woher sonst kommen die ewigen, seit den Zeiten von Woina unablässigen Gerüchte und gegenseitigen Beschuldigungen innerhalb der Szene, man würde für die Sicherheitsorgane, die Polizei oder den Kreml arbeiten? Warum sonst sollte er keine Angst haben? Es fällt uns leichter, Furchtlosigkeit auf Verschwörungstheorien zu schieben. Der Gedanke an echte Furchtlosigkeit ist schier unerträglich.

    Unter Kritikern ist es mittlerweile ein Allgemeinplatz zu sagen, Pawlenski würde keinen solchen Erfolg haben, wenn der Staat sich anders verhielte. Sicher, aber man sollte auch bedenken, dass die Gerichts-Rituale, in denen seine Aktion ihre Fortsetzung finden, nur ein kleiner Teil jenes Verhaltens staatlicherseits sind, das Pawlenski zu Pawlenski macht. Die staatliche Sphäre, mit der er in seinen Aktionen interagiert, ist riesig und hat mit ihm selbst kaum Berührungspunkte, aber die von ihm in Brand gesteckte Tür brennt überall: In Kaliningrad, wo das Gerichtsverfahren gegen Aktivisten, die über einer Geheimdienst-Garage die deutsche Flagge gehisst hatten, mehr als anderthalb Jahre andauerte; in Wladiwostok, wo der Prozess gegen die Partisanen von Primorsk noch immer läuft; und im gesamten Gebiet zwischen Kaliningrad und Wladiwostok, wo es genau die gleichen Gerichte, genau die gleiche Polizei und überhaupt genau das gleiche von allem gibt. Die zweiflügelige massive Eingangstür zu 63.050 Rubel und 19 Kopeken [905,27 EUR], die lichtreflektierende Polizeiweste, der doppelköpfige Blechadler auf dem staubig-roten Samtstoff und davor eine Frau mit Robe, die etwas herunterleiert, das dein Schicksal für die nächsten Jahre bestimmt – so sieht Russland wohl heute aus. Und was den Künstler von uns, von den Bürgern unterscheidet ist Folgendes: Er macht aus diesem Russland mit seinen eigenen Händen etwas, das selbst die konsequentesten Regimekritiker in angstbeladene Hysterie versetzt, etwas, das zum Streiten zwingt, zum Nachdenken, zum Verrücktwerden. Es gibt die Meinung, dieses Russland tauge ohnehin zu nichts anderem – dann wäre Pawlenski überhaupt der Einzige, der es schafft, diesem Land etwas abzuringen.



    *aus dem Gedicht Zwölf von Alexander Blok, Übers. Alfred Edgar Thoss: Der Bürger dort drüben versteckt erbost / in dem Kragen Nase und Kinn; bei Paul Celan: Drüben der Burschui, Nas’ im Mäntlein

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  • Das besondere Theater

    Das besondere Theater

    Der freie Spielraum auf Russlands Theaterbühnen ist in den Nach-Perestroika-Jahren zu einem sozial-poetischen Spiegel für zivilgesellschaftliche Entwicklungen geworden. Die Bolotnaja-Bewegung hat im Bereich des Theaters Energie freigesetzt, so die Theaterkritikerin Jelena Kowalskaja. Körperliche Berührungen geben Anstöße zu sozialem und menschenfreundlichem Miteinander – geht das auch im Großen?

    „Lena, suchst du mal die Musik für das Trio raus?“

    Lena drückt auf eine Taste der Anlage, und plötzlich erklingt in dem Zimmer mit Aussicht auf einen Plattenbauwohnblock der sanfte, beseelte Gesang von Bono. Drei junge Frauen verschmelzen zur Musik in ein Knäuel, ihre Körper werden eins. Sie gleiten, türmen sich übereinander, geben einander Bewegungsimpulse, fangen die Partnerin mit ihren Körpern auf, wenn die das Gleichgewicht verliert.

    Das Trio besteht aus einer stützenden Basis und einem fragilen Element. Die Basis – das sind Lena und Wika, Natalja Popowas Mitarbeiterinnen. Und Miriam nimmt Tanzstunden in Natalja Popowas Studio. Sie hat eine schwer auszusprechende psychiatrische Diagnose. In ihrer Improvisation agiert sie mit den beiden anderen zusammen, aber geschehen tut das alles hier um ihretwillen.

    In einer Ecke des Zimmers sitzt Natalja Popowa, die Gründerin und Leiterin des Studios Krug [dt. Kreis], auf einem Stuhl. Neben ihr, auf den Matten entlang der Wand, verfolgen Katja, Klawa, Sascha, Ljoscha, Anton und die anderen Schüler und Mitarbeiter des Studios die Improvisation.

    Körperbewusstsein ist der erste Schritt. Und dann entsteht allmählich eine Komposition

    „Die jungen Leute müssen das Gewicht ihres Gegenübers spüren, seine Bewegungen vorausahnen, sie steuern“, erklärt mir Popowa leise. „So entwickeln sie ein Körperbewusstsein. Das ist der erste Schritt. Und dann entsteht allmählich eine Komposition. Das Gefühl für die Komposition ist ein soziales Gefühl. Durch die Übungen lernen sie, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren, Menschen anhand ihrer Körperreaktionen zu verstehen. Diese Fähigkeit kompensiert ihre intellektuellen Schwächen, sie fangen an, sozial adäquat zu reagieren. Oft zeigen sie dann sogar ihren Angehörigen, wie man richtig kommuniziert. Sie sagen zum Beispiel: ‚Du verstehst mich nicht, so muss man das machen.‘ Das kommt alles durch ihre Erfahrungen mit der Improvisation.“

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Heute sind die älteren Tänzer des Studios hier versammelt. Jeder hat seine eigene Diagnose, jeder war bereits in Therapie. Alle sind jenseits der Zwanzig. Am meisten Erfahrung hat Sascha, der bereits seit elf Jahren tanzt. Ein sympathischer junger Mann, der lächelt, als hätte er ein Geheimnis. Fast alle hier habe ich schon in dem Stück Slash gesehen, als es im Meyerhold-Zentrum aufgeführt wurde.

    Außer den Studioschülern sind auch ein paar Jüngere anwesend. Sie leiden an psychischen Problemen, ohne eine Behinderung zu haben: Serjosha kann sich nicht konzentrieren, Lena ist derart schüchtern, dass sie im Leben schlecht zurechtkommt.

    Die Mitarbeiter des Krug sind ehrenamtlich tätig. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt an anderer Stelle, verbringen aber bis zu zwanzig Stunden die Woche im Studio. Viele von ihnen – so wie Lena – waren früher selbst Schüler im Krug.

    Auf eine Übung folgt die nächste. Insgesamt wirkt das Ganze wie ein Abend mit zeitgenössischem Tanz – ziemlich professionell und ausgefeilt.

    „Ist Ihnen klar, welch Grazie hier geweckt wird?“ Nataljas Augen leuchten. „Sehen Sie? Das sind denkende Bewegungen! Sie denken, während sie sich bewegen. Fühlen und Denken im selben Moment; sie erforschen ihre Körper, die Beziehung zum Partner, neue Bilder entstehen. […]“

    Das Ganze findet im Kinder-Kreativ-Zentrum im Moskauer Bezirk Strogino statt, in einem leuchtend blau gestrichenen umzäunten zweistöckigen Gebäude. Die Mütter schlendern durch den Hof, während sie auf ihre Kinder warten. Am Eingang ein Wächterhäuschen und ein Drehkreuz. Ein Junge mit zerebraler Kinderlähmung hat sich mit seiner roten Jacke im Drehkreuz verfangen und lacht. Die Mutter ruft ihn sanft: „Sascha, wart mal, ich will dir noch die Schnürsenkel zubinden!“

    ***

    Natalja Popowa, die Gründerin und Leiterin des Krug, ist eine herausragende Persönlichkeit. Ihre Organisation heißt in voller Länge Regionale gemeinnützige Gesellschaft künstlerisch-sozialer Rehabilitation für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen sowie ihre Familien. In Natalja Popowa fließen die Bewegungen des inklusiven und besonderen Theaters des Landes zusammen. Sie und ihre Kollegen organisieren Proteater, das wichtigste Festival für das besondere Theater in Russland.

    Die besten inklusiven Theater Europas werden dazu nach Moskau eingeladen. Sie bringen theoretisch und praktisch Arbeitende zusammen, organisieren wissenschaftlich-praktische Konferenzen, publizieren Literatur, veranstalten Workshops, Sommerschulen und vieles mehr. Dabei leitet Popowa seit einem Vierteljahrhundert tagtäglich Kurse für Kinder und junge Erwachsene mit gesundheitlichen Einschränkungen.

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Hier, im Innersten ihres Kreises, ist auch das unter Theaterleuten wohlbekannte Krug II entstanden: das Andrej-Afonin-Theaterstudio, das mit dem wichtigsten Theaterpreis des Landes, der Solotaja Maska, ausgezeichnet wurde. Erhalten hat das Theater diesen Preis für das Stück Entfernte Nähe, das Afonin in Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Gerd Hartmann, dem Leiter des Berliner Thikwa-Theaters, inszeniert hat.

    Ich erinnere mich noch, wie ich das Stück vor zwei Jahren […] im Zentrum für Dramaturgie und Regie an der Begowaja-Straße sah. Ihrer Form nach war die Inszenierung modern, und zugleich war sie erfüllt von echter Menschlichkeit. Es gab darin etwas, wonach man sonst bei hellichtem Tag mit Fackel auf der Bühne vergeblich sucht, das, wovon Stanislawski, Artaud und Grotowski geträumt haben: den eigentlichen Menschen, den Menschen an sich.

    Dann entdeckte ich, dass Entfernte Nähe nur die Spitze des Eisbergs war. Es stellte sich heraus, dass im Land Hunderte von inklusiven Theatern aktiv sind. Die einen arbeiten, wie das Krug, mit geistig eingeschränkten Menschen. Andere, so wie der Petersburger Zirkus Upsala, mit Straßenkindern. Die nächsten wiederum nehmen sich Menschen mit Bewegungseinschränkungen an – so das Shest [Geste] in Nishni Nowgorod. Tausende von weiteren inklusiven Theatern arbeiten in ganz Europa.

    Das war im Jahr 2014. Die darstellende Kunst erlebte einen Aufschwung. Zwei Jahrzehnte nach der Perestroika waren die Grenzen des Theaters sehr weit über den Sozialistischen Realismus hinaus erweitert worden. Im Zuge der Bolotnaja-Proteste begann sich das Theater nicht bloß als Kunstform, sondern auch als öffentliches Forum, zivilgesellschaftliches Institut und soziales Instrument zu begreifen. Schon seit einem guten Jahrzehnt riefen das zeitgenössische Drama und junge Regisseure den Wohlsituierten die Existenz derjenigen in Erinnerung, die weniger Glück hatten. Das inklusive Theater ging noch weiter: Es zeigte die Probleme nicht nur, es packte sie auch an.

    In jenem Jahr leitete ich den Expertenrat der Goldenen Maske, und dabei stellte sich heraus, dass die Experten, bei allen unterschiedlichen Vorlieben in Sachen Ästhetik, sich in einem Punkt einig waren: bei der Begeisterung für soziales Theater. So kam es, dass 2014 in der Kategorie „Experiment“ das soziale Theater in allen seinen möglichen Formen vorgestellt wurde. In Entfernte Nähe tanzten besondere Darsteller im Duett mit Laiendarstellern ohne Behinderung, sie trugen Monologe vor und kochten gemeinsam Suppe, die im Finale unter den Zuschauern verteilt wurde. Auf dem Programm standen außerdem das Meyerhold-Zentrum mit dem Bildungsprojekt Alice und der Staat, das Liquid Theatre mit einem nonverbalen Stück über Alkoholabhängigkeit und das Stück Akyn Opera des Teatr.doc, in dem vier Tadshiken von ihren Abenteuern in Moskau erzählen und auf traditionellen Instrumenten spielen. Nicht unbedingt außergewöhnlich, aber erkenntnisfördernd: Diese Menschen in orangefarbenen Westen, die einige der Zuschauer, wenn man mal ehrlich ist, nicht einmal für Menschen halten, sind in Wirklichkeit Nachfahren einer großen Kultur, die um ein Vielfaches älter ist als unsere.

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    Etwas ganz Bestimmtes hob Akyn Opera und Entfernte Nähe von den anderen sozialen Theaterstücken ab: die ungekünstelten, echten Menschen auf der Bühne. Und genau die wurden zu den Siegern gekürt: Das Teatr.doc erhielt den Jurypreis für Akyn Opera, und Afonin konnte die Goldene Maske in der Kategorie „Experiment“ mit nach Hause nehmen – die Theaterwelt hatte das besondere Theater als Teil der großen Kultur anerkannt. […]

    ***

    Das besondere Theater als solches gab es schon in der UdSSR, es war aber nie dem Kulturamt unterstellt, so wie dies z. B. beim Gehörlosen-Theater der Fall war. In den 1960er Jahren wurde dank der Förderung des Komponisten Solowjow-Sedoj, dessen Tochter gehörlos war, das Mimik- und Gestik-Theater in Moskau gegründet. Die Darsteller des russland- und weltweit ersten professionellen Gehörlosen-Theaters lernten an der Schtschukin-Schauspielschule bei Boris Sachawa. Finanziert wurde das Theater aus dem Budget des Allrussischen Gehörlosenverbands und hatte in den ersten zehn Jahren einen dermaßen durchschlagenden Erfolg, dass es nahezu unmöglich war, an Karten zu kommen.

    In den 90er Jahren, nachdem der Gehörlosenverband eine ganze Reihe von Privilegien erhalten und kriminelle Züge angenommen hatte, verkam das Theater zu einer Art Diebesnest. Die Legende von einer Liebschaft zwischen der Schauspielerin Swetlana Wakulenko und dem Banditen Lewoni Dshikija, die später als Vorlage für den Kinofilm Land der Gehörlosen diente, machte die Runde. Es heißt, er hätte sieben Mal um ihre Hand angehalten und sie sieben Mal abgelehnt. Und als sie endlich einwilligen wollte, erfuhr sie, dass er bei einer Schießerei ums Leben gekommen war.

    Das Mimik- und Gestik-Theater existiert auch heute noch, aber es ist unwiederbringlich im Verfall begriffen. Dafür hat das Sachawa-Studio an der Schtschukin-Schauspielschule die Staatliche Spezialisierte Kunstakademie in Moskau hervorgebracht. Und die Akademie hat wiederum zwei bedeutende Theater hervorgebracht: das Sinematograf und das Nedoslow. Beide werden finanziell von der Akademie getragen. Mit dem Theater Piano von Wladimir Tschikischew an der Internatsschule für gehörlose Kinder gibt es in Nishni Nowgorod ein weiteres erstklassiges Gehörlosen-Theater.

    ***

    Der Aufschwung des sozialen Theaters in Russland kam mit den Bolotnaja-Protesten, als das zivilgesellschaftliche Selbstbewusstsein erwachte und einzelne Künstler erkannten, dass sie der Gesellschaft gegenüber eine Verpflichtung hatten. Denn Fakt ist: Vier Prozent der russischen Bevölkerung gehen regelmäßig ins Theater, finanziert wird es aber zu hundert Prozent durch den Steuerzahler. Was bekommen diejenigen zurück, die nicht die Möglichkeit haben, ins Theater zu gehen, oder die es einfach nicht gerne tun? Was kann Theater für diese Menschen leisten? Das junge Theater fand in ganz unterschiedlichen sozialen Projekten Antworten auf diese Frage. Den Anfang machten die freien Theater: Hier brachte Jelena Gremina, die Gründerin und Leiterin des Teatr.doc, den Stein ins Rollen. Sie rief das Projekt Theater plus Gesellschaft ins Leben und berichtete darüber im Jahr 2011 bei einem Treffen des damaligen Präsidenten Medwedew mit Kunstschaffenden. Im Kern ging es um staatliche Unterstützung für nicht-staatliche Theater im Gegenzug für verschiedene soziale Aufgaben. Medwedew reichte das Projekt ans Kulturministerium weiter und die Idee nahm Gestalt an. Neun Theater in ganz Russland arbeiteten drei Jahre lang mit Menschen, die auf die eine oder andere Weise vom kulturellen Leben ausgeschlossen sind. In Komsomolsk-am-Amur nahm sich Tatjana Frolowa alter Menschen mit Alzheimer an, im Zentrum für zeitgenössische Choreografie Dialog Dance in Kostroma unterrichteten professionelle Tänzer modernen Tanz für gehörlose Kinder und deren Eltern; das Liquid Theatre führte in einer Beratungsstelle einen Therapiekurs für Drogen- und Alkoholabhängige durch, das Rostower Theater 18+ brachte Intensivtätern szenisches Schreiben bei, das Teatr.doc selbst ging in eine Strafkolonie für Jugendliche etc. Nach den freien Theatern begannen bald auch die staatlichen, sich sozialen Projekten zu widmen. So ist ganz ohne staatliche Einflussnahme in Russland ein Theatermodell entstanden, bei dem das Künstlerische und das Soziale sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. […]

    Foto © Valeria Glagoleva
    Foto © Valeria Glagoleva

    „Womit wir uns hier beschäftigen?“, sagt Natalja leise, während die Tänzer bei der nächsten Übung sind. „Nicht so sehr mit den Grundlagen der Schauspielkunst. Eher mit dem, was Grotowski als Präexpressivität bezeichnete. Wir erarbeiten ein ästhetisches, außeralltägliches Verhalten, lernen, das eigene Verhalten zu kontrollieren. Auf diese Weise bekommen die Schüler einen Zugang zu kultiviertem Sein, und zwar über die Sprache der Symbole, darüber, dass sie das primäre Symbol zu verstehen lernen – ihren Körper. Normalerweise geschieht das in der Kindheit, noch bevor man schreiben, malen etc. lernt. Unsere jungen Leute haben in der Kindheit keine Methode an die Hand bekommen, die ihnen beim Verstehen der Welt geholfen hätte. Man erklärt dir etwas, obwohl du nicht siehst, nicht hörst, nicht verstehst. Und hier eröffnet sich dir plötzlich ein Instrument, die Fähigkeit, die Welt auf anderem Wege als dem des Verstandes zu begreifen.“

    „Ich möchte noch einmal herumgewirbelt werden!“, bittet Klawa zum x-ten Mal.
    „Ok, aber nicht kreischen.“
    „Ich versuch’s!“
    „Klawa übt Hebefiguren“, erklärt mir Natalja beiläufig.
    Alexej hebt Klawa behutsam auf seine Schulter und dreht sich langsam im Kreis.
    „A-a-a-a!“, ruft Klawa.
    „Sie kreischt schon wieder!“, rufen die anderen.
    „So wird eine Nummer geboren“, lacht Natalja. „Aus Fehlern, Problemen, Zufällen. Jedes mal wenn ich zuschaue, denke ich: Wie schön sie doch alle sind. So organisch. Dieses Organische muss bewahrt und gefördert werden – dann entsteht das besondere Theater und besondere Symbole. Dann wird es auch für die große Kultur interessant. Das ist doch wie ein Naturschutzgebiet, in dem alles gerade erst entsteht. Ein Naturschutzgebiet der Kultur.“

     

    Text gekürzt – dek

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  • Presseschau № 7

    Presseschau № 7

    Nach dem Terroranschlag auf die russische Passagiermaschine im Sinai verstärkt Russland seine Luftangriffe auf Ziele in Syrien – hochrangige Politiker verlesen Listen mit Angriffszielen in den Abendnachrichten und die Anschläge in Paris werden als Teil einer globalen Terror-Serie eingeordnet. Außerdem diese Woche: Der russische Leichtathletikverband sucht nach kreativen Auswegen aus seiner Suspendierung von internationalen Wettkämpfen und die Umgestaltung der russischen Medienlandschaft geht voran.

    Terroranschlag. 18 Tage nach dem Absturz der russischen Passagiermaschine über dem Sinai erklärt der Kreml die Spekulationen über die Absturzursache als beendet: „Es war eindeutig ein Terroranschlag“, konstatierte Alexander Bortnikow, Direktor des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Der russische Präsident Wladimir Putin drohte den Verantwortlichen umgehend Vergeltung an. An jedem Punkt der Erde würden die Terroristen gefunden und bestraft.

    Ausführlich berichteten die Abendnachrichten über Moskaus Reaktion: Russland verstärke seine Luftschläge gegen die Terroristen in Syrien, setze neu auch Langstreckenbomber ein. Fast harmlos klang es, wie Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow vor einer riesigen Leinwand in der Kommandozentrale im Moskauer Verteidigungsministerium minutenlang Listen mit Zahlen getätigter Flüge und zerstörter Ziele verlasen. Putin gratulierte den Militärs: Sie garantierten die Sicherheit Russlands und seiner Bürger.

    Kaum ein Wort verwendeten die Kommentatoren jedoch auf die politische Tragweite des Ereignisses. Bemerkenswert erschien einigen Medien einzig der Zeitpunkt der Verlautbarung: Der Flugstopp am 6. November sei eigentlich schon ein ziemlich sicheres Indiz für einen Anschlag gewesen. Mindestens zehn Tage wusste der russische Präsident also offenbar bereits, dass der Absturz auf einen Anschlag zurückzuführen sei, er habe es aber nicht für nötig gehalten, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, schreibt Slon. Innenpolitisch wird der Anschlag auf die Passagiermaschine dem russischen Präsidenten kaum gefährlich, meint der Politologe Kirill Rogow. Nach den Ereignissen in Paris sehen die Menschen in Russland nun nicht den Militäreinsatz in Syrien als Grund für den Anschlag, sondern verstehen die Katastrophe als Teil einer globalen Terror-Serie, so Rogow weiter.

    Die Veränderungen im Verhältnis zwischen Moskau und dem Westen interessieren die Medien hierzulande derzeit sowieso eher als ein drohender Terroranschlag. Nach dem G20-Gipfel in der Türkei sei Moskau nun wieder zurück auf der Weltbühne, die Staats- und Regierungschefs hätten sich auf dem Gipfel förmlich um ein Gespräch mit Putin gerissen. Etwas vorsichtiger formuliert der Kommersant: Die vom französischen Präsidenten Hollande vorgeschlagene Anti-Terrorkoalition könne zum Katalysator werden, welcher eine Annäherung der beiden Seiten nun wieder möglich macht. Die demokratische Opposition sieht für Russland momentan eine wichtige Chance. Nach Paris sei nun allen klar, wo der Feind sei, meint Jabloko-Parteichef Grigori Jawlinski. Russland müsse sich nun vorbehaltlos einer internationalen Anti-Terrorkoalition anschließen und zwar nicht zu den russischen, sondern zu den westlichen Bedingungen, schreibt Jawlinski in einem Kommentar für Vedomosti.

    Die russische Reaktion auf die Anschläge von Paris ist jedoch nicht frei von Seitenhieben: Zwischen guten und schlechten Terroristen unterscheiden zu wollen und bewaffnete Anti-Assad-Kräfte zu unterstützen, sei eine Illusion, war oft zu lesen. Der Westen flirte gar mit Terroristen, sagte die Dumaabgeordnete Swetlana Shurowa. Noch weiter gingen Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche, die forderten, Europa müsse sich von seinen unsittlichen Werten verabschieden, nur so könne man den IS bekämpfen.

    Der Tenor vieler Berichte war, dass im Kampf gegen den Terror Europa nun auf einen Teil seiner politischen Freiheiten verzichten müsse. Der Journalist Andrej Archangelski erinnert in diesem Zusammenhang an den Anschlag von Beslan 2004 . Damals verabschiedete Russland strengere Anti-Terrorgesetze und schaffte die Wahl der Gouverneure ab.

    Doping. Sieht sich Russland nach dem G20-Gipfel in der Politik nun wieder mitten im Kreise der Weltmächte, ist russischen Sportlern der Zutritt auf die internationale Bühne des Sports vorläufig versagt, zumindest teilweise. Die Internationale Leichtathletik Föderation hat nach dem Dopingskandal entschieden, den russischen Leichtathletikverband für eine unbestimmte Frist zu disqualifizieren. Suspendiert wurde auch die russische Anti-Dopingagentur (RUSADA), diese habe nicht gemäß dem Verhaltenskodex gehandelt. Nun wird verzweifelt nach Alternativen gesucht: Ein Vorschlag lautet, russische Leichtathleten könnten bei den Spielen in Brasilien 2016 unter der olympischen und nicht unter der russischen Flagge antreten.

    Medien. Das neue Mediengesetz, das 2016 in Kraft tritt und ausländischen Konzernen verbietet, mehr als 20 Prozent Anteile an russischen Medien zu halten, führt zu weiteren Veränderungen in der Branche. Noch unklar war das Schicksal der liberalen Wirtschaftszeitung Vedomosti, die jeweils zu einem Drittel dem Wall Street Journal und der Financial Times gehört. Medienberichten zufolge, soll nun Demjan Kudrjawtsew, welcher bereits die Moscow Times gekauft hat, auch Interesse an der Wirtschaftszeitung zeigen. Mit Jahresende stellt der neue Besitzer von Axel Springer Russland das Erscheinen des Magazins Geo ein. Die Medienbranche reagiert konsterniert: Hätte ihm jemand noch vor zwei Jahren gesagt, dass zwischen Moskau und Kiew keine Flugzeuge mehr verkehren, russische Zöllner bei der Einreise nach geschmuggeltem Käse suchen und Geo geschlossen wird, er hätte bloß gelacht und mit den Fingern an die Schläfe getippt, so Wladimir Jesipow, Chefredakteur des Magazins.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

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  • Junge Talente

    Seit einigen Jahren entstehen vermehrt patriotische Jugendbewegungen, die sich selbst als unabhängig bezeichnen: Sie treten als städtische Sittenwächter auf, die Videoclips von ihren Aktionen werden auf Youtube hunderttausendfach angeklickt. Kirill Rukow und Iwan Tschesnokow haben für „Yod“ einen Blick hinter die Kulissen geworfen. Was haben diese neuen Initiativen mit den ehemals so mächtigen „Unsrigen“ zu tun? Wie sind sie organisiert, wie werden sie finanziert?

    Die Bewegung Lew protiw, was auf Deutsch so viel heißt wie Der Löwe ist dagegen, ist wenig älter als ein Jahr. Von Anfang an werden der Gruppe Verbindungen zu den Aktivisten von StopCHAM (Stoppt ROWDYS), zu der kremlnahen Bewegung Naschi (Die Unsrigen) sowie eine heimlich, still und leise Aneignung von Haushaltsgeldern nachgesagt. Yod bringt ans Licht, warum an den Verdächtigungen manches dran ist und die letzte Naschi-Generation bis heute nichtöffentliche, aber intakte Strukturen bewahrt hat.

    Am Freitag, den 3. Juli [2015 – dek] traf eine junge Moskauerin mit dem Spitznamen Sister ihre Punk-Freunde auf dem Bolotnaja-Platz, sagte Hallo und schlenderte mit einer Flasche in der Hand weiter durch die Parkanlage. Gegen 19 Uhr gingen mehrere Aktivisten der Bewegung Lew protiw zu ihr hin. „Leider konsumieren Sie alkoholische Getränke an einem öffentlichen Platz. Wir fordern Sie hiermit auf, diese zu entsorgen“, sagten die Aktivisten, wobei sie die junge Frau mit einer Kamera filmten. Sister weigerte sich, doch die engagierten Bürger ließen nicht locker. Die leicht angetrunkene Moskauerin begann, zusammen mit ihren Freundinnen lautstark zu protestieren: „Kamera weg und die Aufnahme löschen, sofort!“, schrie sie und versuchte, das Gerät an sich zu nehmen. Es kam zu einem Handgemenge; vier junge Männer rangen die junge Frau zu Boden, schlugen auf sie ein, einer von ihnen schlug Sister mehrmals ins Gesicht. Jemand rief die Polizei. Die diensthabenden Polizisten nahmen die junge Frau und die Hälfte der Aktivisten fest, darunter auch den Lew protiw-Gründer Michail Lasutin. So berichteten zwei Augenzeugen: eine Freundin von Sister, die sich Shadow nennt, und jemand namens Alexander Lustenko. Nach dem Vorfall erhob sich in den sozialen Netzwerken eine regelrechte Welle der Empörung gegen Lew protiw. Die Menschen beschuldigten die Löwen, sie würden für Geld arbeiten, das Ganze sei ein PR-Projekt, sie seien genau solche wie die [Verkehrssünder-Jäger – dek] von StopCHAM; sie seien allesamt Naschisten.

    Diese Beschuldigungen sind durchaus nicht aus der Luft gegriffen – Lew protiw und StopCHAM verbindet dieselbe Führung, dieselbe Finanzierung über Präsidenten-Stipendien, die über ein Wettbewerbs- und Ausschreibungsverfahren vergeben werden. Hinter beiden Projekten verbergen sich eine Wohnung und vier Männer: Roman Schwyrjow, Alexander Smirnow, Denis Toloknow und Dimitri Alenin – ehemalige [sogenannte] Kommissare und Mitglieder der Naschi-Bewegung.

    Die Unsrigen – wie sie wuchsen

    Die Jugendbewegung Naschi wurde im Frühjahr 2005 von der Präsidialadministration ins Leben gerufen, um einer „russischen orangenen Revolution“ entgegenzuwirken. Geleitet wurde das Projekt von Wassili Jakemenko, der bis dahin an der Spitze der Bewegung Iduschtschije wmeste (Die zusammen Gehenden) gestanden und in der Präsidialadministration die Abteilung für die Beziehungen zu gesellschaftlichen Organisationen geleitet hatte; Wladislaw Surkow, damals stellvertretender Chef der Kremladministration, wirkte als Kurator. Naschi setzte sich zusammen aus gewöhnlichen Mitgliedern, Kommissaren und dem Föderalen Kommissariat, das formal die Führung der gesamten Organisation darstellte. Die ganze Bewegung war in einzelne Projekte zergliedert, von denen jedes über ein eigenes Logo, eine eigene Fahne und eine eigene Struktur verfügte, beispielsweise die Dwishenije Stal (Bewegung Stahl) oder die Partei Umnaja Rossija (Kluges Russland).

    Zu ihren Zielen erklärten Naschi den Kampf „gegen faschistische Organisationen und die mit ihnen sympathisierenden Liberalen, Bürokraten und Oligarchen“ sowie die Unterstützung des politischen Kurses von Wladimir Putin. Berühmtheit erlangte die Organisation, deren Mitglieder ein anonymer Beamter aus der Präsidialverwaltung einmal [Putins – dek] „Jubelbande“ genannt hatte, dann allerdings dadurch, dass sie Hetzjagden auf den britischen Botschafter Anthony Brenton und den Journalisten Alexander Podrabinek veranstalteten, dass sie auf Porträts von Bürgerrechtlern herumtrampelten und dem Politiker Michail Kassjanow eine Harke vor die Autoräder warfen, und durch das Aufsehen erregende Seliger-Forum, das von 2005 bis 2014 alljährlich im Gebiet Twer stattfand. Bis 2008 war das Camp die Trainingsbasis für die Schulung der späteren Kommissare. Ab dem darauffolgenden Sommer wurde das Forum für die gesamte Jugend geöffnet, die Zahl der Teilnehmer betrug bis zu 50.000. Wladimir Putin war mehrfach zu Besuch im Seliger-Camp.

    Nach Angaben der russischen Tageszeitung Vedomosti erhielt die eigentliche Naschi-Organisation in den Jahren 2007–2010 über Staatsaufträge und in Form von Fördergeldern mehr als 26 Millionen Rubel [390.000 EUR]. Organisationen, an deren Gründung ehemalige Naschi-Führer beteiligt waren, erhielten noch einmal 441 Millionen Rubel [6.615.000 EUR]. Außerdem bekamen Naschi 347 Millionen Rubel [5.205.000 EUR] über Staatsaufträge, die mit der staatlichen Jugendagentur Rosmolodjosh abgeschlossen wurden. Auch private Gelder flossen für die Jugendorganisation: 2010 stiftete der Geschäftsmann Michail Prochorow 45 Millionen Rubel [675.000 EUR] für das Seliger-Camp. Außerdem traten große westliche Firmen als Partner und Sponsoren des Forums auf, Mercedes-Benz etwa spendierte 2010 drei Fahrzeuge für Fahrten wichtiger Gäste, Intel stellte im gleichen Jahr die Computer-Ausstattung für die Seliger-Teilnehmer.

    2008 wurde Jakemenko Leiter der staatlichen Jugendagentur Rosmolodjosh. Seinen Platz bei Naschi nahm Nikita Borowikow ein. Das bedeutete für die Organisation eine grundlegende Umstrukturierung: Sie wurde in autonome Projekte aufgeteilt, Einfluss und Finanzierung wurden stark reduziert. 2012 verlor die Bewegung zwei ihrer wichtigsten Fürsprecher – Wassili Jakemenko verließ Rosmolodjosh und Wladislaw Surkow die Präsidialverwaltung. Im Folgejahr wurde Naschi offiziell für nicht mehr existent erklärt, und die verwaisten Aktivisten wechselten angeblich von der Politik ins Soziale.

    Tessak plus Baptist gleich Löwe

    Im August ist der Lew protiw-Gründer Michail Lasutin 20 Jahre alt geworden. Er sei ein phantasievolles Kind gewesen, habe gern Fußball gespielt, erzählt seine Mutter Natalja. „Mein Mischulja hatte schon immer einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und nie irgendwelche schlechten Angewohnheiten.“ Nach der Schule besuchte er die Moskauer Fachschule für Städtebau, Transport und Technik Nr. 41, die er im Juni dieses Jahres abschloss.

    Foto © Andrej Machonin. Streifzug von Lew protiw auf dem Bolotnaja-Platz
    Foto © Andrej Machonin. Streifzug von Lew protiw auf dem Bolotnaja-Platz

    Sein Anti-Raucher-Engagement habe vor etwas mehr als einem Jahr begonnen, erzählt Lasutin: Er habe an einer Haltestelle gestanden, neben ihm eine ältere Frau und ein Mann, der eine Zigarette rauchte. Da habe er spontan die Handykamera eingeschaltet und zu dem Mann gesagt, er dürfe in der Öffentlichkeit nicht rauchen. An jenem Tag fasste Lasutin den Entschluss, eine Bewegung gegen widerrechtliches Rauchen ins Leben zu rufen, und nannte sie Der Löwe ist dagegen. Gesellschaftlich engagiert war Michail Lasutin aber auch früher schon. Leicht findet man im Internet Videoclips des Projekts Lew protiw pedofilow, zu deutsch Der Löwe [ist] gegen Pädophile, in denen Lasutin auftritt wie der Occupy Pädophilie-Gründer Maxim Marzinkewitsch alias Tessak (das Beil). Angeblich ködert er dort Pädophile und macht dann Jagd auf sie. Er unterzieht seine Opfer drastischen Verhören, erniedrigt und demütigt sie, schlägt ihnen ins Gesicht, beschmiert das Gesicht mit Permanentmarker, und am Schluss des Videos hält er unbedingt den gekrümmten Daumen hoch: Tessaks Markenzeichen. Doch die Tatsache, dass Tessak-Marzinkewitsch derzeit bereits seine dritte Haftstrafe absitzt, hat Lasutin wohl veranlasst, sein Interesse von den Pädophilen auf die Raucher zu verlagern.

    Die zweite Schlüsselfigur in der Löwen-Mannschaft ist Leonid Lebed. Im Interview mit Yod bezeichnete er sich als „einen der markantesten Aktivisten des Projekts“. Leonid ist genauso alt wie Lasutin. Derzeit macht er eine Ausbildung zum Flugzeugtechniker. Wie ein Bekannter von ihm Yod berichtete, hatte Lebed seit dem Alter von acht Jahren die Mytischtschinski-Kirche der evangelischen Baptisten besucht, hatte jedoch aufgehört zu den Gottesdiensten zu gehen, als er 2014 bei Lew protiw eingestieg.

    Produktive Zusammenarbeit

    „Falls Ihnen das nicht klar sein sollte: Mischa [Michail Lasutin] war von Beginn an bei uns aktiv“, erzählt Dimitri Tschugunow, Gründer der Gruppe StopCHAM und Mitglied der Gesellschaftskammer der Russischen Föderation. Wann Lasutin zu ihnen stieß, kann Tschugunow nicht sagen, er sei nicht für die Organisation der Streifzüge zuständig, sondern gebe lediglich „ideologischen Input“, erklärt er.

    Die Streifzüge von Lew protiw und StopCHAM seien ganz ähnlich organisiert, erzählt Tschugunow. Lasutin habe das funktionierende Modell übernommen und für den Kampf gegen das Rauchen entsprechend angepasst; die StopCham-Aktivisten nähmen an den Aktionen von Lew protiw teil und umgekehrt; beide Projekte hätten ähnliche Videoclips. Wenn Lasutin oder seine Mitstreiter festgenommen werden, hilft Tschugunow, die Situation zu klären: „Wenn so etwas passiert und ich sehe, dass ich ein Video mit einer unrechtmäßigen Verhaftung vor mir habe, dann fahre ich dorthin und spreche als Mitglied der Gesellschaftskammer mit den Mitarbeitern der Polizei, ich finde heraus, auf welcher Grundlage sie den Betreffenden festgenommen haben und wie sie ihr Vorgehen begründen.“

    Tschugunow bestreitet nicht, dass StopCHAM präsidentielle Fördermittel erhält. „Das Geld wird für ein ganzes Jahr und für die gesamte Struktur vergeben. So können wir die Kosten für Verbrauchsmaterialien so gering wie möglich halten, das betrifft zum Beispiel die Postkarten (die wir in großer Stückzahl drucken) und die ständig kaputt gehenden Kameras, außerdem Fahrt-und Verpflegungskosten. Die Leute sollen nicht aus eigener Tasche draufzahlen, damit die sie sich nicht ausgenutzt fühlen oder so. Einen Teil des Geldes verteilen wir auch auf die Regionen“, erläutert Tschugunow. Ein Einkommen würde bei StopCHAM keiner bekommen, betont er, die Aktivisten schlössen sich der Bewegung der Idee und nicht des Geldes wegen an. Einnahmen erziele das Projekt außerdem durch die Monetarisierung von Youtube-Videos (in Videoclips mit einer hohen Zahl von Klicks wird Werbung geschaltet): „So können wir Profis beschäftigen oder zumindest zeitweise unter Vertrag nehmen, die qualitativ hochwertige Videoclips anfertigen. Es geht zum einen um die Montage, das ist klar, dann aber auch um SMM (Social Media Marketing) und die Verwaltung der Gruppen, von denen es irrsinnig viele gibt“, sagt er.

    Das mit der Youtube-Monetarisierung mache auch Lew protiw so, erzählt StopCHAM-Gründer Tschugunow. Doch die Einnahmen durch die Werbung seien gering, versichert er. Lebed pflichtet ihm ironisch bei: „[Unsere Werbeeinnahmen] sind höher als das Existenzminimum in Russland, aber niedriger als der Durchschnittslohn in Chile“ (wobei laut [dem Youtube-Statistik-Portal] Social Blade die monatlichen Einnahmen von Lew protiw bis zu 18.000 Dollar betragen könnten).

    Transparente Fördergelder

    Am 1. Juli 2015 erhielt eine gewisse autonome nichtkommerzielle Organisation namens Molodoj Talant (Junges Talent) für das Projekt Lew protiw präsidentielle Fördergelder in Höhe von 7.002.000 Rubel [105.030 EUR]. Gründer von Molodoj Talant sind laut Handelsregister: Dimitri Alenin, Alexander Smirnow, Denis Toloknow und Roman Schwyrjow. In offenen Quellen finden sich wenig Informationen zu ihrer Aktivistenvergangenheit, aber mit Sicherheit bekannt ist, dass alle vier Naschi-Kommissare waren.  

    Das Ausschreibungsverfahren für die Verteilung von Präsidenten-Grants existiert in dieser Form seit 2006. Bestimmt werden die Organisationen direkt durch einen Erlass des Präsidenten – die Undurchsichtigkeit dieser Auswahlphase fand sogar im letzten Bericht von Transparency International Erwähnung. Wie der Leiter des Russischen Jugendverbands (RSM) Pawel Krasnoruzki erklärt, müssen diejenigen, die sich um das „Präsidentengeld“ bewerben, zunächst bei einem konkreten Operator ihr Interesse anmelden, danach werden die Anträge innerhalb der Organisation etappenweise ausgesiebt: Im RSM wird die Einschätzung der Projekte durch einen Expertenrat vorgenommen. „Meist sind das habilitierte Wissenschaftler und Professoren aus den Bereichen, in denen ein bestimmter Wettbewerb stattfindet. Deren Identität geben wir nicht preis, wie Sie sicher verstehen, denn das würde sie enormem Druck aussetzen“, erläutert Krasnoruzki. „Zugänglich sind die Namen der Mitglieder der Wettbewerbskommission der nächste Etappe, die die endgültige Entscheidung trifft.“

    Die „Kommissarswohnung“

    Wie alle Firmen, die an irgendwelchen Ausschreibungen teilnehmen, müssen auch nichtkommerzielle Organisationen eine juristische Meldeadresse angeben. Für die autonome nichtkommerzielle Organisation Molodoj Talant (Junges Talent), die 2015 das Projekt Lew protiw vorgestellt hat, lautet diese Adresse: Ljuberzy, Oktjabrski prospekt 8, Korpus 3, Wohnung 48. Vor sieben Jahren, direkt nachdem Jakemenko zu Rosmolodjosh gewechselt war (es ist kein Geheimnis, dass er selbst aus Ljuberzy stammt), waren unter dieser Adresse innerhalb einer Woche noch drei weitere nichtkommerzielle Organisationen registriert worden, nämlich Mnogonazionalnaja strana (Multinationales Land), Sdorowoje pokolenije (Gesunde Generation) und Schag nawstretschu (Schritt aufeinander zu). Ihre Gründer sind eben jene Kommissare: Schwyrjow, Alenin, Tolokonow und Smirnow, wobei immer jeweils einer der vier den Posten des Direktors einnimmt. Über die Organisationen dieser Leute wurden also in der Folge mehrere Dutzend kremlnahe Projekte finanziert, die sich öffentlich für eigenständig erklärten.

    2010 war es noch Jakemenko, der für Rosmolodjosh die Finanzierung der „Kommissarsgemeinschaft“ regelte, doch die enormen Beträge riefen damals heftige Medienreaktionen hervor. Laut der Tageszeitung Vedomosti bekam die Organisation Gesunde Generation aus der Wohnung in Ljuberzy (diesmal trat Schwyrjow als Direktor auf) von Rosmolodjosh drei Staatsaufträge über einen Gesamtbetrag von 60,2 Millionen Rubel [903.000 EUR]. Die Tatsache, dass die Projekte der Naschisten mehr als die Hälfte aller Aufträge der staatlichen Jugendagentur erhielten, erklärte [die Rosmolodjosh- und frühere Naschi-Pressesprecherin Kristina] Potuptschik damals mit der „einzigartigen Kompetenz“ ihrer Mitglieder sowie der „Einzigartigkeit der Vorhaben“. Das Thema wurde schnell unter den Teppich gekehrt.

    Das Ljuberzyer Vierergespann und die unter ihrer Kontrolle stehenden nichtkommerziellen Organisationen haben in zweieinhalb Jahren 63,4 Millionen Rubel [905.000 EUR] erhalten. Das letzte Mal war es den Unterlagen zufolge Alenin, der im Februar 2015 in Erscheinung trat, als er in der entsprechenden Abteilung des Justizministeriums für das Moskauer Gebiet eine „Erklärung über die weitere Tätigkeit“ von Molodoj Talant unterzeichnete und damit bescheinigte, die Organisation erhalte keinerlei Gelder von ausländischen Organisationen. Wenn man aber Lebed und Tschugunow glaubt, denen zufolge das Molodoj Talant-Projekt Lew protiw durch die auf Youtube geschaltete Werbung tatsächlich Geld einnimmt, können die von ausländischen Werbekunden pro hunderttausend Views gezahlten Beträge formal auch bei Molodoj Talant gelandet sein.

    Zu der Adresse der „kommissarischen Viererbande“ in Ljuberzy gehört eine Telefonnummer, die in jedem Telefonbuch zu finden ist. „Was heißt junge Talente? Wir sind ganz normale Leute und wohnen hier“, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung. Auf die Frage, ob sie von einer Organisation dieses Namens schon einmal gehört habe, erwidert die Frau: „Kann sein, ja. Ein Freund meines Sohnes wollte irgendwo unsere Nummer angeben.“ Ihr Nachname sei Toloknowa, Denis Toloknow sei ihr Sohn, und der sei mit Dima (Alenin) seit Kindertagen befreundet: „Früher hat der Dima ja auch hier im Haus gewohnt, aber jetzt nicht mehr, der ist weggezogen.“


    Lew protiw – Der Löwe ist dagegen
    nichtkommerzielle Organisation, föderales Projekt
    Lew protiw ist eine russlandweite Bewegung, die gegen das Rauchen und den Konsum von Alkohol an öffentlichen Plätzen eintritt. Die Aktivisten der Bewegung gehen auf Streifzüge, bei denen sie rauchende Personen auffordern, ihre Zigaretten auszumachen und sich in speziell für das Rauchen ausgewiesene Zonen zu begeben, Alkoholkonsumenten werden gebeten, den Alkohol wegzupacken. Wenn jemand sich weigert, das Rauchen einzustellen, löschen die Teilnehmer der Bewegung die Zigaretten mit Wasser aus einer Sprühflasche. Alle Streifzüge werden mit einer Videokamera festgehalten, anschließend werden die montierten Clips auf Youtube hochgeladen. Lew protiw hat Zweigstellen in verschiedenen Regionen (z. B. in St. Petersburg, Woronesh, Rostow am Don) sowie in der Ukraine und Belarus – insgesamt ca. fünfzig. Bei vKontakte [dem russischen facebook – dek] haben sie 250.000 Follower. Obwohl die Aktivisten angeben, das Projekt sei nicht mit Politik, Religion o. ä. verbunden, beginnt einer der neuesten Clips von Lew protiw mit einer Jesus-Christus-Ikone und den Worten: „Gott gab uns das Leben …“
    StopCHAM – Stoppt ROWDYS
    nichtkommerzielle Organisation
    StopCHAM ist eine nichtkommerzielle Organisation, die im Jahr 2010 als eines der föderalen Programme der Jugendbewegung Naschi unter der Leitung von Dimitri Tschugunow, eines Komissars der Bewegung, gegründet wurde. Die nichtkommerzielle Organisation positioniert sich als russlandweites Projekt, das gegen Rowdytum und Verstöße von Autofahrern gegen die geltende Verkehrsordnung eintritt. Zweigstellen der Bewegung finden sich in den russischen Regionen (die größten in St. Petersburg, Petrosawodsk, Nowosibirsk und Rostow am Don) sowie in anderen GUS-Staaten wie der Ukraine und Belarus – insgesamt mehr als vierzig.
    2013 erhielt das Projekt aus präsidentiellen Förderprogrammen 5 Mio Rubel [75.000 EUR], im Jahr 2014 dann 6 Mio Rubel  [90.000 EUR] und in diesem Jahr [2015] 8 Mio. [120.000 EUR] Die Organisation ist berühmt für laute Skandale.
    Die heftigste Resonanz erfuhr eine Aktion im Frühjahr 2012, als die Gattin des Vizechefs der tschetschenischen Vertretung beim Präsidenten der Russischen Föderation Tamerlan Mingajew am Einkaufszentrum Jewropejski (Europäisch) falsch parkte. Die Auseinandersetzung endete in einer Schlägerei, während der die Gattin des diplomatischen Vertreters Madina Mingajewa und ihr Sohn versuchten, die Kameramänner dazu zu bringen die Videoaufzeichnung zu löschen, und den Aktivisten mit Rache drohten. Im Endeffekt entließ der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow den Vertreter Tamerlan Mingajew aus dem Amt.
    Ein anderer heftiger Skandal betraf den organisierten Abriss von Garagen im Timirjasew Bezirk in Moskau im August 2014. Damals traten Tschugunow und andere StopCHAM-Aktivisten zum Schutz der Eigentümer der Garagen ein und wurden von Unbekannten zusammengeschlagen. Tschugunow kam ins Krankenhaus.
    Im Februar 2015 wurden auf einem der vielen Streifzüge in Petersburg Aktivisten von Unbekannten brutal zusammengeschlagen. Ein Strafverfahren wurde eingeleitet, die Schuldigen wurden bis heute nicht gefunden. Im Frühjahr desselben Jahres schlugen Polizisten aus Chabarowsk dortige StopCHAM- Aktivisten zusammen, weil sie einen Aufkleber auf ein Polizeiauto klebten.

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