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Fernseher gegen Kühlschrank
Quo vadis, Russland? Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, der Ölpreis im Keller, die westlichen Sanktionen gehen weiter. Ökonomische Schwäche durch vermeintliche außenpolitische Erfolge zu kaschieren – das könne auf Dauer nicht gut gehen, warnen zwei renommierte Experten: Alexej Lewinson vom Lewada-Zentrum und Ljubow Borussjak von der Moskauer Higher School of Economics. Für Slon skizzieren sie die unterschiedlichen politischen Perspektiven und Hoffnungen innerhalb der russischen Gesellschaft für das kommende Jahr.
Denkt man darüber nach, was das neue Jahr wohl bringen mag, stellt sich auf die eine oder andere Weise die Frage nach möglichen Veränderungen: Die einen träumen von einer Wende zum Besseren, die anderen fürchten den Wandel zum Schlechteren. Die meisten jedoch setzen auf die Erhaltung des Status Quo, also darauf, jede Veränderung zu vermeiden.
Immer häufiger jedoch begegnet einem der Gedanke, dass sich der gegenwärtige Zustand unmöglich aufrechterhalten lässt. Wenn es zurzeit überhaupt ein Gleichgewicht gibt, dann funktioniert es so: Wirtschaftliche Schwächen werden durch außenpolitische Erfolge ausgeglichen – und seien es nur eingebildete. Dabei ist vielen klar: Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiter. Und bedeutende militärische und politische Erfolge sind nicht zu erwarten.
In dem bekannten Halbscherz von der Schlacht „Fernseher gegen Kühlschrank“ wird angedeutet, dass der leere Kühlschrank bald gewinnen wird. Danach, so darf man annehmen, kommt es zu Hungerrevolten. Und was folgt dann? Eine Revolution nach dem Muster der Februar- oder der Oktoberrevolution? Die Wenigsten sind in der Lage, sich den nächsten Schritt vorzustellen, bzw. bereit, die möglichen Szenarien zu durchdenken. Bei der einen Perspektive – dem möglichen Untergang Russlands – wäre das Höchste der Gefühle an Reaktion ein heftiges Erschrecken: Es wäre das Ende – über das, was danach kommt, möchte niemand nachdenken.
Wir sind weder Anhänger des Schlachtszenarios zwischen Kühlschrank und Fernseher noch erwarten wir Revolution und Untergang, aber dass das derzeitige Gleichgewicht durch ein anderes ersetzt werden muss, steht außer Frage. Wissen wir, wie es aussehen wird? Nein. Was wir aber kennen, sind einzelne Utopien. Und die versuchen wir im Folgenden zu beschreiben.
Die Utopie des Krieges
Eine weitere Perspektive ist die Rückkehr zu der Situation, wie sie sich direkt nach der Angliederung der Krim, aber vor den Sanktionen und der Wirtschaftskrise darstellte: Russland auf dem Gipfel des Ruhms, „wir sind stark, aber friedlich“ und das wird der Westen bald anerkennen. Dies wünschen sich die Mehrheit der Bevölkerung und die Eliten am meisten. Doch es ist klar, dass dieser Zustand in den nächsten Jahren (ja, überhaupt) unerreichbar ist.
Umfragen zufolge hat sich seit dem Krim-Anschluss in der russischen Gesellschaft das Bewusstsein durchgesetzt, nicht in „alltäglichen“, sondern in „Ausnahme-Zeiten“ zu leben. Ein solches Ausnahme-Bewusstsein denkt in den Kategorien der Heldentat. Es geht deshalb davon aus, dass weder Opfer noch Mühen gescheut werden sollten, dass der Sieg keinen Preis kennt und dass die Siegesfreude ausnahmslos alle ergreifen und vereinen wird.
Das Alltagsbewusstsein beruht auf entgegengesetzten Prinzipien: Es muss das normale Leben in der Gesellschaft gestalten. Im Alltag muss man zwangsläufig rechnen, wie teuer gewisse Dinge sind, und Wünsche danach prüfen, ob sie überhaupt zu erfüllen sind.
Natürlich erlaubt es das epische, von Heldentaten geprägte Bewusstsein, in einem wunderbaren Zustand zu verweilen, während das Alltagsbewusstsein mit düsteren Gedanken über die Lage und die dafür Verantwortlichen beschäftigt ist. Das derzeit Fatale ist, dass mithilfe der Medien versucht wird, die Ausnahmesituation (und das entsprechende Bewusstsein) nicht nur als Normalität, sondern auch als Norm zu verankern und das Alltagsbewusstsein als subversiv zu denunzieren. Die Gesellschaft im Ausnahmezustand zu halten und den alltäglichen Zustand verbieten zu wollen, ist jedoch utopisch und deshalb nicht machbar.
Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015
Diese Unerreichbarkeit treibt Politiker und Normalbürger zu abenteuerlichen Entscheidungen – zur Suche nach Lösungen mittels militärischer Erfolge. Die Schwelle, die uns vom realen Krieg als dem schlimmsten Übel abhält, ist in letzter Zeit dramatisch gesunken. So viele haben mit dem Begriff „Dritter Weltkrieg“ herumgespielt, dass es an der Zeit ist zu fragen, weshalb die Staatsanwaltschaft noch kein einziges Verfahren nach Artikel 354 des Strafgesetzbuches eingeleitet hat. Alle, die politisches Kapital aus Überlegungen schlagen wollen, wie sehr ein Krieg das gesellschaftliche Wohlergehen befördern könnte, seien daran erinnert, dass im Strafgesetzbuch ein Gesetz zu dieser Frage existiert: „Öffentliche Aufrufe zur Entfesselung eines Angriffskriegs … unter Nutzung der Medien durch Personen, die ein öffentliches Amt der Russischen Föderation oder eines ihrer Bestandteile innehaben, werden mit einer Geldstrafe … oder einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren belegt.“
Eine weitere Utopie der heutigen Zeit ist allerdings die Perspektive, die internen Probleme des Landes ausgerechnet durch solche extremen außenpolitischen Mittel zu lösen. Doch so werden diese Probleme nicht gelöst. Die Annahme, dass Russland sich auf militärischem Weg eine neue, vorteilhaftere Position in der Welt erringen könnte, ist nicht haltbar. Nicht haltbar deswegen, weil sie auf der primitiven Logik beruht, dass Frieden ein Ergebnis von Krieg ist. Die Stellung eines Landes in der modernen Weltordnung wird jedoch nicht mehr durch die Faktoren bestimmt, die in der Geopolitik relevant waren – einer Disziplin des vergangenen Jahrhunderts.
Was ist also zu tun? Die Gelder, die im Staatshaushalt für die Verteidigung vorgesehen sind, verteilen sich letztlich auf Millionen von Beschäftigten in der Rüstungsindustrie und bei den Streitkräften. Auch wenn wir der Auffassung sind, dass es für das Wohl der Gesellschaft besser wäre, diese Mittel in andere Wirtschaftsbereiche zu lenken, darf man das nicht vergessen. Die Hauptsache ist also, dass die mit diesen Geldern hergestellten Kugeln nicht abgefeuert werden. Das Land durch militärische Erfolge zu retten, ist eine Utopie. Es ins Unglück zu stürzen, ist hingegen leider eine sehr realistische Perspektive.
Die Atrophie des gesellschaftlichen Denkens
Es wäre wunderbar, anstelle dieser beiden dargelegten Perspektiven, die wir zu Utopien erklärt haben, eine dritte vorzuschlagen: Nennen wir sie „freies, demokratisches Russland“. Die über 80 Prozent der Bevölkerung, die heute ihre Zustimmung zu Putin bekunden, haben schließlich früher einmal ihre Zustimmung zu Gorbatschow und dann zu Jelzin zum Ausdruck gebracht und damit deutlich gemacht, dass sie die Perspektive einer demokratischen Entwicklung im Land unterstützen. Die Verteidigung dieser Ideale ist bekanntlich schwächer und schwächer geworden, heute scheint sie aus der politischen Realität Russlands völlig verschwunden zu sein. In der Tat gibt es zurzeit keine soziale Schicht, die eine solche Agenda verfolgen würde. Und auch von einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die sie öffentlich vertreten würde, fehlt jede Spur.
Aber darin liegt unserer Ansicht nach gar nicht das größte Problem. Denn die Ideen von Menschenrechten, von demokratischen Freiheiten und von einer demokratischen Gesellschaft sind im öffentlichen Bewusstsein als solche präsent, wenn auch zurzeit in verdeckter Form. Die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz haben gezeigt, dass diese Ideen in jedem Moment an die Oberfläche gelangen und große Menschenmengen inspirieren können. Das Problem ist, dass sie nach wie vor fast in demselben Gewand daherkommen, wie sie die Glasnost-Ära hervorgebracht hat – das heißt so, wie sie von den russischen Demokraten der Sacharow-Generation formuliert wurden. Die Aufgaben, die das moderne Russland stellt, lassen sich jedoch nur mit einer Neufassung dieser Ideen bewältigen, die die zeitlosen Werte von Gerechtigkeit und Freiheit zeitgemäß auslegt.
Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015
Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen sind nicht die edlen, zeitlosen Werte der Demokratie gefragt, sondern edle und moderne demokratische Konzepte. Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten inmitten des Kulturkonflikts, der über Europa hereingebrochen ist und über Russland hereinzubrechen droht? Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten in einer Gesellschaft, in der die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten einhellig abgelehnt wird? Wie kann sich die Gesellschaft aus der moralisch-rechtlichen Verstrickung lösen, die sich unter anderem aus dem Konflikt zwischen dem Recht der Nationen auf Selbstbestimmung und dem Verbot der Revision von Grenzen ergibt?
Und vor allem: Wie lässt sich der friedliche Übergang bewerkstelligen, weg vom augenblicklichen – als Putinismus, Autoritarismus, Totalitarismus und so weiter bezeichneten – Zustand, hin zu diesem freien und demokratischen Russland? Uns scheint, die russische Gesellschaft hat aufgehört, über diese Frage nachzudenken. Vielleicht ist es eine Utopie, sie zu stellen? Hoffen wir, dass das neue Jahr eine Antwort auf diese Frage bringt. Oder ist auch das – eine Utopie?
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Warum sind Polizisten bestechlich?
Welche Veränderungen hat 2014 gebracht?
Ein neues Jalta auf den Trümmern Syriens?
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Presseschau № 12: Justiz 2015
Diese Woche stehen in Russland die Räder noch weitgehend still. Nach den Neujahrsfeierlichkeiten gönnt sich das Land traditionell eine Auszeit. Gedruckte Zeitungen erscheinen erst nächste Woche wieder, online beschränken sich viele Medien auf Rezept-Tipps und Ratschläge, wie man Streit mit der Familie und Freunden während der Feiertage vermeidet.
Die Pause im Nachrichtenstrom bietet eine gute Gelegenheit, sich auf ein Thema zu konzentrieren, welches vor lauter Ukraine, Syrien, Sanktionen und Gegensanktionen in der ausländischen Wahrnehmung oft zu kurz kommt: dasjenige der Rechtsprechung. Dass diese in Russland oft ihren eigenen, für den Außenstehenden wenig transparenten Regeln folgt, ist bekannt. Schuldsprüche sind in mehr als 90 Prozent aller Prozesse an der Tagesordnung. Die offensichtlich politisch motivierten Urteile gegen die Brüder Alexej und Oleg Nawalny sind ja auch im Westen ausführlich diskutiert worden.Auch das vergangene Jahr war nicht arm an kontroversen Gerichtsurteilen. Medial den ganzen Sommer über breitgetreten wurde der Fall Jewgenija Wasiljewa. Er bot einigen Sprengstoff: Die hochgestellte Mitarbeiterin des Verteidigungsministeriums hatte durch manipulierte Verkäufe staatlicher Immobilien Gelder in Millionenhöhe veruntreut. 2012 wurde der Skandal aufgedeckt und kostete nicht nur sie selbst, sondern auch Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow, mit dem sie gerüchteweise mehr als nur eine Geschäftsbeziehung verband, den Job. Bereits die Untersuchungshaft verbrachte Wasiljewa recht kommod in ihrem Moskauer Luxusappartement unter Hausarrest, betätigte sich kreativ und veröffentlichte sogar einen Song über die Pantoffeln des Herrn Verteidigungsministers. Offensichtlich war der Arrest aber nur Formsache, denn tatsächlich wurde sie regelmäßig auf Shoppingausflügen angetroffen. Im Mai 2015 erging dann unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit das Urteil, Wasiljewa wurde zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Ob sie überhaupt je einen Tag hinter Gittern verbrachte, ist allerdings unklar, denn auch weiterhin wurde sie in Freiheit gesehen, angeblich in einer Moskauer Bankfiliale. Gerüchteweise ließ sie sich im Straflager durch ein Double vertreten. Bereits im August wurde ihr dann die restliche Gefängnisstrafe auf Bewährung erlassen – ihrer positiven Charaktereigenschaften wegen, so das Gericht.
Die Öffentlichkeit reagierte mit Unverständnis. Vor drei Jahren berichteten Medien noch von 1500 Stück Schmuck, welche Ermittler in Wasiljewas 13-Zimmer-Wohnung beschlagnahmt hatten. Von einer Durchsetzung der staatlich propagierten Antikorruptionskampagne konnte offenbar nicht die Rede sein. Privilegien und Beziehungen erlaubten es der Beamtin, sich ihrer Strafe zu entziehen. Übrigens: Ex-Verteidigungsminister Serdjukow ging gar völlig straffrei aus. Sogar mit seiner Karriere geht es nun wieder steil nach oben. Im Oktober 2015 wurde er auf einen Direktionsposten bei der Staatskorporation Rostechnologii berufen.
Ein gänzlich anderes Gesicht zeigt das System jedoch in anderen, oft minderschweren Fällen. Etwa bei Oleg Senzow. Der ukrainische Filmregisseur und sein Mitangeklagter Oleksandr Koltschenko wurden in einem harten Urteil Ende August zu 20, respektive zehn Jahren Haft verurteilt. Die beiden wurden beschuldigt, 2014 auf der frisch durch Moskau annektierten Krim Terroranschläge auf Infrastrukturobjekte geplant und ausgeführt zu haben. Senzow, welcher international bereits mit seinem Film Gaamer in Erscheinung trat, streitet die Vorwürfe ab. Er habe als Aktivist der pro-ukrainischen Automaidan-Bewegung nur ukrainische Truppen mit Gütern des täglichen Bedarfs versorgen wollen, als diese im Februar 2014 durch die plötzlich auftauchenden Grünen Männchen am Verlassen ihrer Stützpunkte gehindert wurden. Beobachter kritisierten den Prozess als politisch motiviert. Koltschenko gibt an, einzig an einem Brandanschlag auf das Büro der Kremlpartei Einiges Russland in Simferopol teilgenommen zu haben. Vor Gericht widerrief einer der Zeugen der Anklage sein Geständnis, es sei unter Folter zustandegekommen. „Ein Gericht von Besatzern kann per Definition nie gerecht sein“, gab sich Senzow bei seinen letzten Worten im Gerichtssaal kämpferisch.
Die beiden Ukrainer sind nur ein Beispiel für die selektive Anwendung der Rechtsprechung 2015. Zunehmend machten russische Gerichte im vergangenen Jahr von repressiven Gesetzen Gebrauch, schreibt Vedomosti. Unabhängigen Informationszentren wie OVD-Info zufolge sei die Zahl politisch motivierter Strafverfolgungen von 184 im Jahr 2014 auf 230 in diesem Jahr gestiegen, so Vedomosti weiter. Das bislang letzte umstrittene Urteil erging Anfang Dezember: Der Aktivist Ildar Dadin wurde wegen der Teilnahme an vier nicht genehmigten Demonstrationen zu drei Jahren Straflager verurteilt. Zum ersten Mal kam dabei ein Artikel zur Anwendung, der wiederholte Verletzungen des Demonstrationsrechts unter Strafe stellt. Wie bereits berichtet, sind noch weitere Personen aufgrund dieses Artikels angeklagt, etwa Wladimir Ionow. Der 75-jährige Aktivist entzog sich jedoch der russischen Justiz und floh kurz vor der Verkündung seines Urteils ins ukrainische Charkiw.
In Russland wird das Strafgesetzbuch immer stärker zum einzigen Instrument des Dialogs zwischen Staatsmacht und Gesellschaft, fasst die Novaya Gazeta die Entwicklung der vergangenen Monate zusammen. Die hier geschilderten Fälle bilden dabei nur einen kleinen Ausschnitt ab. Zu den prominentesten Häftlingen, welche derzeit noch auf ihre Urteile warten, gehört etwa die ukrainische Militärpilotin Nadja Sawtschenko. Ihr wird vorgeworfen, während des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine Informationen an Artillerieeinheiten weitergegeben zu haben, die dann zum Tode zweier russischer Journalisten führten. Zudem wird sie beschuldigt, illegal die russische Grenze überquert zu haben. Dem hält Sawtschenko entgegen, dass sie durch prorussische Separatisten im Juli 2014 gefangen genommen und gegen ihren Willen nach Russland gebracht worden sei. Zuletzt wurde ihre Untersuchungshaft bis zum 16. April 2016 verlängert, im Falle eines Schuldspruches drohen ihr bis zu 25 Jahre Haft.
Ebenfalls noch in Untersuchungshaft befindet sich Pjotr Pawlenski, welcher im November die Eingangstür der FSB-Zentrale an der Lubjanka in Brand gesteckt hatte. Der Performancekünstler hatte bei seiner Anhörung explizit auch für sich eine Anklage wegen Terrorismus gefordert und auf Senzow und Koltschenko und die Taten verwiesen, die ihnen zu Last gelegt werden.
Die Eigenheiten des russischen Rechtssystems zeigen sich auch an dem nach wie vor nicht aufgeklärten Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Die Bilder aus der Mordnacht und vom Gedenkmarsch, auf dem eine Woche später Zehntausende des Oppositionspolitikers, ehemaligen Vizeministerpräsidenten und Abgeordneten des Regionalparlaments von Jaroslawl gedachten, gehören zu den eindrücklichsten und verstörendsten des gesamten Jahres.
Bereits kurz nach der Bluttat am 27. Februar wurden fünf Verdächtige den Medien vorgeführt, Ende Dezember Anklage erhoben. Die Spuren des Mordes führen in Kreise tschetschenischer Sicherheitskräfte. Laut dem Ermittlungskomitee hat der Fahrer des ranghohen tschetschenischen Polizeioffiziers Ruslan Geremejew, Ruslan Muchudinow, das Verbrechen organisiert und in Auftrag gegeben. Geremejew selbst zu befragen, schafften die Behörden nicht, auch mögliche Verstrickungen von Republikchef Ramsan Kadyrow wurden nicht untersucht. Die Anklage geht davon aus, der Mord sei aus Rache erfolgt, wegen der öffentlichen Unterstützung Nemzows für das französische Satiremagazin Charlie Hebdo, schreibt der Kommersant. Die politische Tätigkeit des Kremlkritikers scheidet laut den Ermittlern als Motiv aus. Muchudinow ist zurzeit international zur Fahndung ausgeschrieben.
Die offizielle Version trifft bei politischen Weggefährten und Angehörigen des ermordeten Kremlkritikers auf Unverständnis und Empörung. Wadim Prochorow, der Anwalt der Hinterbliebenen, kritisiert in einem Interview mit der New Times, dass die Behörden den Vorgesetzen Muchudinows aus ihren Untersuchungen aussparten, sämtliche Angeklagten hätten nicht aus eigener Initiative gehandelt. Ein persönliches Motiv hätten auch die anderen Beschuldigten nicht, nur ihre Hintermänner. Er sei überzeugt, dass die Auftraggeber durch den Mord Russland von einer angeblichen Fünften Kolonne säubern wollten, so der Anwalt weiter. Von einem politischen Motiv geht auch Tochter Shanna Nemzowa, welche Russland nach dem Mord verlassen hat, aus. Die Journalistin, welche nun für die Deutsche Welle arbeitet, macht sich erst für die Zeit nach Putin Hoffnung auf eine restlose Aufklärung des Verbrechens.
Beobachtern zufolge sollen die harten und oft selektiv anmuntenden Gerichtsurteile des vergangenen Jahres in erster Linie potentielle Kritiker davon abhalten, öffentlich ihren Unmut zu äußern, sind im September 2016 doch Dumawahlen geplant. Politische Proteste seien für den Einzelnen vor dem Hintergrund einer sozialen Krise gefährlich, kommentiert Vedomosti. Dies stimmt wenig hoffnungsvoll für den Start ins neue Jahr.
Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org
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Aus der Tiefe
„Szenen aus der Tiefe“ – so lautet der Untertitel von Maxim Gorkis berühmtem Theaterstück „Nachtasyl“ (1902). Gorkis Helden sind allesamt einmalige, einprägsame Charaktere, die unter fürchterlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft ein Leben ohne Zukunft führen. Auch heute sind Außenseiter und Obdachlose im russischen Alltag sehr präsent. Maria Tarnawskaja tauchte in St. Petersburg an den Grund und spürte ihrem Schicksal nach.
Es ist drei Uhr nachmittags an einem Dienstag, ich stehe in einem kleinen Park bei der Metrostation Tschkalowskaja. Vor mir hocken zwei Männer gekrümmt auf allen Vieren und übergeben sich direkt auf meine Schuhe.
Das sind Wladimir Leonidowitsch und Dima, sie sind 56 und 27 Jahre alt, vor einer Stunde haben wir uns zum ersten Mal im Leben gesehen und vor fünf Minuten die Kantine verlassen, wo ich sie zum Mittagessen eingeladen habe.
Wladimir Leonidowitsch und Dima sind obdachlos. Wladimir mit zehnjähriger Erfahrung: Er ist gebürtiger Moskauer, wuchs im Viertel um die Patriarchenteiche auf, die Eltern starben, er heiratete ein junges Mädel, reiste für längere Zeit dienstlich nach Sibirien, die Frau war, wie sich herausstellte, ein Luder und brachte es während seiner Abwesenheit irgendwie fertig, ihn aus der Wohnung abzumelden, sie zu verkaufen und sich in unbekannte Richtung abzusetzen.
Dima ist erst im Januar zu Wladimir Leonidowitsch gestoßen, als dieser sich dank einer glücklichen Fügung mit seinen Leuten zerstritten und beschlossen hatte, lieber komfortabel im Wartesaal des Moskauer Bahnhofs zu übernachten – dank Beziehungen brauchte er ein paarmal im Monat nur die Hälfte oder überhaupt keinen Eintritt zu bezahlen. Dima war ihm sofort aufgefallen: Er war der einzige, der nicht lag, sondern saß. Aber er saß so kerzengerade da und riss die Augen so unnatürlich auf, dass Wladimir Leonidowitsch sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei, worauf er zur Antwort bekam: „Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts.“
Der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima
Das erwies sich als die reine Wahrheit – der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen und nicht einmal seine Lieblingsfarbe oder sein Lieblingsessen. Er hatte keinerlei Papiere, Fahrscheine oder sonstige Dinge bei sich. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima, „nach dem einsamen Mammutkind aus dem Zoologischen Museum, über das sie sogar einen Trickfilm gedreht haben“, und beschloss, dass Dima 27 ist.
Sie waren auf der Polizei, wo man allerdings noch nie etwas von einer Suchdatenbank gehört hat; Foto und Fingerabdrücke einer Person werden mit einem lokalen, ebenfalls unvollständigen Fahndungskanal abgeglichen – und da sollte man besser gar nicht auftauchen, weil der hauptsächlich für die Suche nach flüchtigen Verbrechern gedacht ist.
Jetzt bleiben die beiden immer zusammen: Dima hat Angst, sich zu verlaufen und sein neues Gedächtnis zu verlieren, und Wladimir Leonidowitsch hatte in seinem früheren Leben zwar Literatur unterrichtet, wollte aber immer Psychologe werden. Dima ist sein idealer Gefährte – es sei hochinteressant, zu entschlüsseln, wer er sei, und gleichzeitig aus ihm einen neuen Menschen zu machen. „Dima ist meine Galateia, Tscheburaschka, mein Sancho Panza, mein Freitag und Doktor Watson“, sagt Wladimir Leonidowitsch stolz über seinen Freund.
Und jetzt reiern mir die beiden auf die Schuhe. Ich hoffe, dass sie einfach zu viel gegessen haben. Denn Wladimir Leonidowitsch hat zwei Suppen, Hering im Pelzmantel, Frikadellen mit Kartoffelpüree, Teigtaschen und ein Stück Sandkuchen genommen, und Dima hat ihm alles nachgeplappert. Ich hatte noch gedacht, es könnte in Anbetracht ihrer körperlichen Konstitution zu viel des Guten sein – beide sind eher klein, dünn, hager –, sagte aber nichts, um nicht als geizig dazustehen, und ich wollte sie auch nicht in Verlegenheit bringen. Wladimir Leonidowitsch hatte mich gestern angerufen: „Ich habe Sie neulich gesehen, Sie suchen Obdachlose, weil Sie sehen wollen, wie wir leben – ich bin bereit, mich mit Ihnen zu treffen.“
Als er nicht mehr erbricht, blickt mich Wladimir Leonidowitsch von unten an, wischt sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und sagt: „Der Sandkuchen war zu viel. Dafür darfst du mich jetzt Wolodja nennen.“
Vor ein paar Tagen habe ich mich tatsächlich nach Obdachlosen umgesehen und damit im Nachtasyl der 1990 eröffneten Wohltätigkeitsorganisation Notschleshka begonnen. Die städtische Liegenschaftsverwaltung KUGI vermietet ihnen das baufällige Gebäude zu sozialen Sonderkonditionen, das ist ein Fünftel des eigentlichen Preises, aber auch noch durchaus beträchtlich. Die Energie- und Wasserversorger Lenenergo und Wodokanal gewähren keinen Rabatt. Renoviert hat man selbst: Das Baumaterial wurde von hilfsbereiten Organisationen gebracht, was noch fehlte, kaufte man, und nicht nur Profis, sondern auch die Bewohner waren aufgefordert, das Dach neu zu decken und die Zimmer zu streichen.
„Es ist überaus wichtig, dass man Leute von der Straße in einen sozialen Kontext einbezieht. Obdachlose verlieren ziemlich schnell ganz normale Fähigkeiten: Verantwortung für etwas zu übernehmen, etwas zu vereinbaren – sie brauchen das nicht. Auf der Straße sind andere Fertigkeiten gefragt: Wichtig ist, dass man sich bei Minus zwanzig richtig anzieht und mit zwei Stunden Schlaf am Tag auskommt“, erzählt der Leiter der Notschleshka Grigori Swerdlin.
Grischa ist 36 und arbeitet schon ein Drittel seines Lebens hier. Sein Arbeitstisch steht in der Mansarde des Heims neben denjenigen der Fundraiser und Geschäftsführer. Insgesamt sind sie zusammen mit den Sozialarbeitern, Psychologen, Juristen, Verwaltungsmitarbeitern und Fahrern zwanzig Leute. Alles angenehme, lächelnde, charmante Menschen mit höherer Bildung, allesamt um die dreißig. Ihre Schützlinge sind durchschnittlich fünfundvierzig, zwei Drittel von ihnen männlich.
Die Obdachlosen kommen jeden Tag ins Haus an der Borowaja. Die Sozialarbeiter hören jedem zu und versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen: Der eine braucht einen einfachen Rat, ein anderer juristische Hilfe, und manche sind es einfach müde, auf der Straße zu leben. Mit letzteren stellen die Sozialarbeiter eine Art Betreuungsplan auf, in dem sie Punkt um Punkt vereinbaren, was in den nächsten Monaten zu erledigen ist: einen neuen Pass besorgen und sich temporär in der Notschleshka anmelden, eine Arbeit finden, ab dem zweiten oder dritten Gehalt ein Bett in einem Wohnheim oder ein Zimmer mieten – langsam, Zentimeter um Zentimeter, wieder hochkommen.
Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher
„Obdachlose lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen“, sagt Grischa. „Am häufigsten hängt die Obdachlosigkeit mit Familienangelegenheiten zusammen: eine Wohnung wurde nicht aufgeteilt, ein Mann verlässt seine Frau ins Nichts, dazu kommen schauderhafte Geschichten von herangewachsenen Kindern, die ihre eigenen Eltern rauswerfen. Die zweite Gruppe sind Abgänger aus Waisenhäusern. Die haben gesetzlichen Anspruch auf Wohnraum, viele werden aber betrogen oder haben einfach keine Ahnung, wie man Geld verdient oder einen Haushalt führt, sie kennen die Preise von Dingen nicht. Wir hatten hier einen Jungen, der sein Zimmer verspielt hat, an Spielautomaten , weil er davon ausging, dass man ihm nach dem ersten auch ein zweites Zimmer geben würde, wie vorher. Die dritte große Kategorie sind Opfer von Wohnungsschwindlern. Eine Wohnung wiederzubekommen, gelingt uns höchstens fünfmal im Jahr, meistens ist alles so verworren, dass es unmöglich ist, die Immobilie zurückzukriegen.“
Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher. Oder Leute aus der Provinz, die zum Geldverdienen in die Großstadt fahren, und dann geht etwas schief, die Papiere kommen abhanden, es gibt keinen Ort zum Schlafen und man schämt sich, nach Hause zurückzukehren oder wenigstens anzurufen und zu sagen, dass man in Not geraten ist.
„Ja, merkwürdigerweise schämen sich die Leute vor ihrer Familie über ihren Misserfolg.“ Die Sozialarbeiterin Valentina Marjanowa sieht aus wie eine Absolventin des Smolny-Instituts für höhere Töchter: graues Haar, Hochsteckfrisur, aufrechte Haltung, Anstand, Brosche. „Sie kennen nicht mal ihre Grundrechte. Doch leider sind wir gezwungen zu wählen: Wenn wir ein freies Bett haben, wählen wir zwischen einem Anwärter, der vor fünf Jahren auf der Straße gelandet ist, und einem, der seit drei Monaten auf der Straße lebt, den letzteren – die Wahrscheinlichkeit, dass er zu einem normalen Leben zurückfindet, ist sehr viel größer.“
Sie helfen auf jede erdenkliche Weise, geben einen Platz in einem Gemeinschaftszimmer, Kleidung, Essen, schicken die Leute zum Arzt, holen zusammen Stempel und Unterschriften ein, sorgen für Unterhaltung: Einmal im Monat gibt es einen Ausflug in die Eremitage, Konzerte werden organisiert, in der Bibliothek gibt es viele gute Bücher, und dort stehen auch drei Computer und ein Fernseher mit einer Filmsammlung.
Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle
Durchschnittlich bleiben die Leute fünf Monate in der Notschleshka – das ist gewöhnlich lange genug, um in jeder Hinsicht zu Kräften zu kommen. Wer keinen Umbruch seiner Situation herbeizuführen versucht und das Heim stattdessen als Umschlagplatz missbraucht, wird mehrmals ermahnt und schließlich weggeschickt, damit ein Platz für einen motivierten Obdachlosen frei wird.
An solchen mangelt es nicht. Einer von ihnen kam vor vier Jahren in miserablem Zustand zu einer der Aufwärmestellen, die die Notschleshka den Winter über an mehreren Stellen in der Stadt einrichtet. Er meldete sich im Heim an. Besorgte sich neue Papiere, fand Arbeit, mietete sich eine Schlafstatt, sparte genug für einen kleinen LKW. Begann, Transporte durchzuführen, heiratete eine Ärztin aus der staatlichen Übernachtungsstelle Dom notschnowo prebywania. Unterdessen haben sie mit einem Kredit eine Wohnung gekauft.
Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle.
Witali ist 28, er kommt aus dem Verwaltungsgebiet Nishni Nowgorod. In St. Petersburg fand er Arbeit als Schießtrainer und lebte in einem Hostel. Dann stahl man ihm die Tasche mit Geld, Sachen, Papieren – und Witali landete auf der Straße. Am Bahnhof warb ihn eine Organisation an, die ihm versprach, bei der Besorgung neuer Papiere und einer Arbeit zu helfen.
Letztlich arbeitete Witali ein paar Monate als Lastenträger. Nach der Trillerpfeife aufstehen, nach der Trillerpfeife schlafengehen, zum Frühstück Brei, zum Mittagessen eine dünne Suppe, zum Abendessen eine Kinderportion von etwas Undefinierbarem. Weder Geld noch Papiere, nur Versprechen. Als er gehen wollte, bedrohten sie ihn. Und als er sich schwer am Bein verletzte, jagten sie ihn weg.
In der „Notschleshka“ ist er seit zwei Tagen: Er war schon beim Arzt, hat einen Pass beantragt und sich in der Bibliothek Anna Karenina, Die Stechfliege und Das Ende einer Utopie: Aufstieg und Zusammenbruch der Finanzpyramide ausgeliehen.
Katerina ist von ihren Cousins aus der Wohnung geworfen worden
Katerina ist von ihren Cousins, mit denen sie viele wunderbare Erinnerungen an Sommer, Erdbeeren und frischgemolkene Milch verbindet, aus der Wohnung geworfen worden. Die Großmutter, bei der Katerina von klein auf gelebt hat, hatte zwei Testamente hinterlassen: die Wohnung war für Katerina, das Haus und Grundstück außerhalb der Stadt für die Cousins. Ins Testament für die Cousins hat sich das Wort „sämtlich“ eingeschlichen, statt „Hausbesitz“ hieß es dort „sämtlicher Hausbesitz“. Und die Cousins konnten beweisen, dass sich „sämtlicher Hausbesitz“ auf das ganze unbewegliche Vermögen bezog, also auch auf die Wohnung. Katerina schubsten sie einfach zur Tür hinaus.
Laut Statistik gab es im letzten Jahr in St. Petersburg 60.000 Obdachlose. Mit jedem Jahr werden es mehr. Und jedes Jahr ändert sich die Belegschaft – das bedeutet, dass Menschen sterben, verschwinden, und an ihre Stelle treten andere. Dieser gruselige Umstand fällt besonders Igor, dem Fahrer des Busses der Notschleshka, auf: Jeden Abend fährt er zusammen mit Freiwilligen warme Mahlzeiten in die vier Bezirke, mit deren Verwaltungen Vereinbarungen getroffen werden konnten, und versorgt dort Obdachlose mit Essen.
Der Bus heißt zwar Nachtbus, eigentlich ist er aber abends unterwegs: Die erste Station ist um sieben Uhr am Rangierbahnhof, die letzte um halb elf am Bahnhof Nowaja Derewnja. Das Essen wird von Kantinen, Cafés und Restaurants kostenlos zubereitet. Jeden Tag gibt es einen Eintopf auf Fleischbasis, süßes Gebäck und Tee.
Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten. Wie sie im Winter neben Essen auch warme Mützen verteilten und ein junger Kerl gleich mehrere unterschiedliche haben wollte, um in dem Haus, das er sich zum Überwintern gesucht hatte, nicht die Aufmerksamkeit der Wachfrau zu erregen. Wie manchmal Verlage der Notschleshka Bücher spenden und sie immer sofort weg sind – nicht um Papirossy zu drehen, sondern wirklich zum Lesen. Wie ein sehr bescheidener Obdachloser plötzlich Nachschlag wollte und sich herausstellte, dass er drei Kätzchen zu sich genommen hatte, die auch etwas zu essen brauchten.
Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten
Das Publikum unterscheidet sich von Haltestelle zu Haltestelle. Am Rangierbahnhof sind es größtenteils Alkis. Im Bezirk Ligowo kommen nicht nur Obdachlose, sondern auch Rentner, die zwar eine Wohnung haben, aber unterhalb der Armutsgrenze leben.
Auf der Wassiljewski-Insel gibt es viele Punks und Alternative – sogenannte Neformaly. Und in Nowaja Derewnja Kranke, Behinderte und Heimkinder. Überall geht das Abendessen äußerst höflich vonstatten: Man bildet eine Schlange, lässt die Frauen vor, führt gepflegte Gespräche, bedankt sich für das Essen, sammelt die gebrauchten Teller in eine Tüte und bringt sie zum Müllcontainer. Betrunkene gibt es zwar, aber nicht sehr viele, und die verhalten sich ruhig. Im Grunde sehen alle so aus, dass sie in einer Menschenmenge nicht sehr auffallen würden – wie ganz normale Menschen.
In Nowaja Derewnja hält der Bus an einer Nachtunterkunft mit einem Malteser-Zelt davor. In einem kleinen Raum hängt ein strenger männlicher Geruch, hier wohnen sechs oder sieben Menschen, zwei von ihnen haben keine Beine. Der Zimmer-Chef ist Wassili, ein sehr sympathischer Mann, der Anfang der 1990er im Gefängnis landete, und als er rauskam, war es, als hätte es ihn nie gegeben: Er tauchte in keiner Datenbank auf, keinem Dokument, weder beim Standesamt noch bei seinen ehemaligen Arbeitgebern noch in der Poliklinik – nirgends. Seitdem versucht Wassili zu beweisen, dass es ihn gibt, doch die Sache läuft schleppend.
Von Beruf ist Wassili Schneider, aber jetzt beschäftigt er sich mit etwas ganz anderem: Zusammen mit den Obdachlosen hat er eine Genossenschaft zur Herstellung von Birkenwaren gegründet. Er ist sehr geschickt darin, Ikonen, Ausweishüllen und märchenhaft verzierte Schatullen aus Birkenrinde zu fertigen. Wassili ist verantwortlich für Gestaltungskonzept und Ästhetik, seine Kumpel für die kleineren, aber wichtigen Arbeiten – Igor, einer der Invaliden kann zum Beispiel sehr gut kleben, ist schnell im Flechten. Igor hat seine Beine unlängst im Donbass verloren, doch darüber will er nicht reden.
Ich gebe allen einfach so meine Telefonnummer, vielleicht entschließt sich jemand, in einem anderen Rahmen mit mir zu sprechen. Und ein paar Tage später bekomme ich tatsächlich einen Anruf – von Wladimir Leonidowitsch, der nun mit dem gedächtnislosen Dima im Park an der Metrostation Tschkalowskaja vor mir kniet. „Wir sollten uns erst mal ausschlafen“, sagt Wladimir Leonidowitsch. „Wir können uns dann morgen treffen.“ Geld für das Ticket lehnen sie ab und verschwinden in der Metro.
Die eine betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld
Am nächsten Morgen gehen wir ins Botkinski-Krankenhaus, wo es eine Erste Hilfe eigens für Obdachlose gibt. Hier ist alles wie im Bilderbuch: Es versammeln sich Obdachlose, auf die schon eher der Begriff Penner, Bomsh, passt – mit eingeschlagenem Schädel, faulenden Gliedern, pilzschwarzen Nägeln, ausgeschlagenen Zähnen, eingedrückten Augen und umgeben von schwerem Gestank nach billigem Sprit, Dreck und Fäkalien. Diese Patienten machen etwa die Hälfte aus, die andere Hälfte – Obdachlose, die aussehen wie der Durchschnittsrusse – gehen in dieser Menge lebender Bruegel-Figuren schlichtweg unter.
Die eine Krankenpflegerin betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld. Sie geht zwischen ihnen hin und her, trägt bei dem einen eine Salbe auf, gibt einem anderen eine Tablette. In der hintersten Ecke sitzt ein schmächtiger Jugendlicher mit blutverschmiertem Gesicht. Wladimir Leonidowitsch steuert geradewegs auf ihn zu.
„Hier, eine Geschichte für Sie“, sagt er und deutet auf den jungen Mann. „Darf ich vorstellen – Wladik, desertierter Soldat.“ Vor Entsetzen werden Wladiks graue Augen schwarz, er springt auf, will die Flucht ergreifen, aber Wladimir Leonidowitsch packt ihn geschickt am Kragen und flüstert ihm ins Ohr: „Keine Angst, du Depp, hat doch niemand gehört, wir verraten dich nicht, ist für die gute Sache.“ Nicht sofort, aber bald, entspannt sich Wladik, kommt mit uns nach draußen, bittet uns, ihn weder bei seinem Namen noch reale Orte zu nennen und auch sein Äußeres nicht zu beschreiben.
Das Reden fällt Wladik schwer, er ringt mit den Worten: „Vor vier Jahren hat mich der Kompanieälteste im Suff vergewaltigt und mir befohlen zu schweigen, dann hat er mich nochmal vergewaltigt und mich gezwungen, ihm die Stiefel zu lecken. Ich hab’s nicht ausgehalten, bin weggerannt. Hab mich im Wald verlaufen, Wölfe und Bären gesehen, einmal habe ich die abgefressene Leiche eines Jägers gefunden und mir sein Gewehr geschnappt, ging sofort leichter mit der Essensbeschaffung. Dann bin ich auf eine Bahnstrecke gestoßen, durchs ganze Land bis nach Petersburg gefahren. Habe immer davon geträumt, es einmal zu sehen. Jetzt bin ich hier, was ich tun soll, weiß ich nicht, wahrscheinlich buchten sie mich ein als Vaterlandsverräter. Zum ersten Mal seit zwei Jahren habe ich meine Mutter angerufen, die ist am anderen Ende in Ohnmacht gefallen. Dann kam meine Schwester ans Telefon, ich sag zu ihr: ‚Ljuba, ich bins, ich bin am Leben.‘ Sie hat geweint und geantwortet: ‚Ich rufe gleich die Polizei! Wir haben Wladik vor zwei Jahren in einem geschlossenen Sarg beerdigt. Er ist bei Übungen umgekommen! Wer bist du?!‘ Wobei ich gehört habe, dass sie mich an der Stimme erkannt hat. Aber am meisten mache ich mir Sorgen, dass ich jetzt schwul bin.“
Dima hört mit offenem Mund zu. Genau wie ich. Wladik verstummt. Wladimir Leonidowitsch holt aus seiner Tasche ein iPhone 5 und schaut nach, wie spät es ist. Als er meinen verwirrten Blick bemerkt, sagt er: „Ach das … Komm, ich zeigs dir. Ich hab es ehrlich gegen eine Uhr getauscht, und die Uhr habe ich gefunden.“
Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren
Wir gehen über den Apraschka, und ich verliere inmitten dieses orientalischen Basars vollkommen die Orientierung: Gassen, Korridore, Lagerräume – nie im Leben würde ich den Ort, zu dem wir jetzt gehen, wiederfinden. Wladimir Leonidowitsch scheint sehr zufrieden: „Gut, dass du dir nichts merken kannst, dann bleiben wir heil. Überhaupt, sei vorsichtig beim Schreiben. Keine Namen, Adressen, Behörden, und versuch gar nicht erst Fotos zu machen. Dir ists egal, aber wir müssen so leben. Irgendeine kleine Beamtin Anna Iwanowna könnte ihren Namen in deinem Artikel entdecken und wütend werden. Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren. Aber wegen diesen kleinen Häkchen führen sie sich auf wie die Lenker des Schicksals. Und wenn sie morgens Streit mit ihren Mann hatte, diese kleine Sadistin, kann ich meine Bescheinigung erstmal vergessen.“
Wir bleiben vor einer Tür zu einem Halbkeller stehen. Wladimir Leonidowitsch sagt: „Den Mann hier nennen wir mal Hasan“, und klopft ein Geheimzeichen an die Tür. Ein paar Sekunden später macht uns ein orientalisch aussehender Mann auf. Die Szene gleicht eins zu eins der Episode mit dem Nazi im Film Brat-2. Der Orientale sieht mich ohne zu blinzeln an und fragt: „Wer ist das?“ „Sie gehört zu uns“, entgegnet Wladimir Leonidowitsch. Der Orientale zieht eine Augenbraue hoch, wiegt den Kopf, aber gibt die Tür frei und lässt uns herein.
Im flackernden Licht trüber Glühbirnen öffnet sich vor mir Ali Babas Höhle 2.0. Berge von iPhones und Tablets, ausgeschüttete Ray-Ban-Brillen, die coolsten Bikes – das verlorene, oder besser: das gestohlene Hipster-Paradies. Irgendwo hier steht mit Sicherheit auch das Fahrrad meines Bekannten, das ihm vor ein paar Tagen vor der Tür einer angesagten Bar geklaut wurde. Hasan hält mir ein iPhone mit einem holographischen Kätzchen-Aufkleber hin: „Hier, gehört dir, wenn du willst. Dreitausend.“ Ich will nicht, aber Wladimir Leonidowitsch streckt Hasan eine kleine Tüte entgegen. Der wirft einen Blick hinein und gibt ihm zum Tausch ein iPad.
Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen
Am nächsten Tag laufe ich mit Wladimir Leonidowitsch und Dima durch die Randbezirke. Wladimir Leonidowitsch erzählt mir von den vielen Obdachlosen, die in die Fänge von Zigeunern, Dagestanern, Landwirten und Organisationen geraten, die sich als „Rehabilitationszentren“ ausgeben. Die kenne ich bereits: In Igors Nachtbus habe ich Dutzende Visitenkarten gesehen, bedruckt mit orthodoxen Kreuzen und hübschen Stadtansichten, und auf jeder von ihnen ein Spruch wie: „Dein Weg in die Freiheit!“, „Werde ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft!“, „Arbeit, Wohnung, Zukunft!“, „Der Beginn deines Siegeszugs!“
Die Namen der Organisationen unterscheiden sich nur unwesentlich von den Slogans: Lebenslinie, Perspektive, Land der Zukunft – Dutzende gibt es davon. Ihre Autos warten direkt an den Haltestellen des Nachtbusses. Als ich mit Igor unterwegs war, bin ich einmal hingegangen, um mit einem von ihnen zu sprechen. Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen.
„Die Rechnung ist simpel“, klärte Igor mich danach auf. „Sie sammeln Hunderte von Leuten ein, stecken sie wie die Schweine in Scheunen oder Baracken und fahren sie jeden Tag zum Bau, zum Verladen und zu anderen Arbeiten. Sie füttern sie mit Versprechungen über Pässe und Geld, aber nichts davon passiert, sie kassieren nur das Geld von den Auftraggebern. Die Arbeit eines Menschen bringt im Durchschnitt 1.000 Rubel pro Tag. Du kannst dir selbst ausrechnen, wie viel das zusammen macht, wenn in einer Baracke rund 500 Menschen leben. Kein schlechtes Business, oder?“
An einem der nächsten Tage gehe ich zu einer der vielen Banjas, die im Branchenbuch für Obdachlose aufgeführt sind. Heute ist ermäßigter Eintritt – Baden zum Preis von zwanzig Rubel. Die nette Frau am Telefon sagt mir, sie verstehe natürlich, dass es in der Stadt viele Mittellose gebe, und wer in annehmbarem Zustand komme, den lasse man nicht nur sich, sondern auch seine Wäsche waschen.
Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat
Am Abend des ermäßigten Tages wird der Waschraum von oben bis unten desinfiziert. Ich setze mich auf die Bank am Eingang und beobachte die Leute. Aus der Tür kommt eine reizende kleine Alte, ich habe sie schon an der Nachtbus-Haltestelle auf der Wassiljewski-Insel gesehen. Reingewaschen, rotwangig und mit frisch hennagefärbten Haaren. Ich komme leicht mit ihr ins Gespräch, offenbar freut sie sich über jedes Gramm Aufmerksamkeit. Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat.
Die Geschichte der alten Frau ist die herzzerreißendste, die ich in der letzten Zeit gehört habe. Die Frau heißt Galina, hat früher als Buchhalterin in Jekaterinburg gearbeitet, lebte mit ihrem Mann und den Söhnen in einer Dreizimmerwohnung. Ihr Mann, ein passionierter Wettangler, starb an einem Herzinfarkt, kurz vor Silvester 2006, direkt über seinem Eisloch. „Alle haben dagesessen, auf Fische gewartet, und niemand hat mitbekommen, dass er tot ist. Erst am nächsten Tag, als sie wiederkamen und sahen, dass er immer noch dasaß.“
Ein halbes Jahr später, im Sommer, verschwand der jüngste Sohn, Galinas Liebling. Hatte gesagt, er würde für ein paar Tage zu Freunden fahren, und kam nicht wieder. Mehrere Monate suchte Galina nach ihm, lag mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus, schickte eine Suchanzeige in die Sendung Warte auf mich, ging zu Hellsehern – vergebens. Dann erinnerte sie sich, dass er immer von St. Petersburg geträumt hatte, aber sie ihn nie hatte gehen lassen. Sie ließ alles stehen und liegen, kam hierher, klapperte sämtliche Polizeireviere und Leichenschauhäuser ab und fand ihn schließlich auf einem Foto, das den stark verstümmelten, verwesenden Körper eines „Unbekannten, etwa zwanzig Jahre alten Mannes“ zeigte, mit einer Nummer darauf, wie bei allen nicht identifizierten Toten. Ihr Sohn hätte eine charakteristische Narbe gehabt, „wie Harry Potter“ – daran habe sie ihn erkannt. Auf der Bescheinigung aus der Pathologie stand, dass er an einer schweren Vergiftung gestorben war, und dann, als er bereits tot war, von einem Auto, dessen Halter nicht ermittelt werden konnte, angefahren wurde.
Galina machte sich auf die Suche nach dem Grab, das diese Nummer trug. Der Friedhof in Kolpino ist übersät mit gleichförmigen nummerierten Hügeln. Täglich werden hier Unbekannte beerdigt – Bomshi und solche, deren Identität aus irgendwelchen Gründen nicht festgestellt werden konnte. Am nächsten Tag sah sie, wie irgendwelche Eltern buchstäblich mit bloßen Händen die gefrorene Erde aufkratzten, um zu einem Sarg vorzudringen. Eben diese Menschen riefen den Krankenwagen, als Galina dort in Ohnmacht fiel. Nach einer Weile im Krankenhaus wurde ihr klar, dass sie keine Kraft hatte, ihren Sohn noch einmal zu bestatten. Sie rief ihren Ältesten in Jekaterinburg an, der sagte: „Oh, hallo Mama! Hast du mich doch nicht ganz vergessen! Übrigens, ich habe dich aus der Wohnung abgemeldet“, und legte auf.
Der Friedhof ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses
Galina blieb in St. Petersburg, ihr Pass ging verloren, sie zog auf den Friedhof – das ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses. Die Bewohner haben Mitleid mit ihr und vertreiben sie nicht.
In der Grabkammer ist es auf ganz eigene Art heimelig: In einem Glas stehen ein paar Blumen, auf der Grabplatte ist eine verhältnismäßig frische Tischdecke ausgebreitet, darauf alte Ausgaben der Zeitschriften Sem dnej [Sieben Tage] und Cosmopolitan. In der Ecke liegt eine ordentlich zusammengerollte Matratze.
Galina schlägt vor, auf „den Seelenfrieden der Entschlafenen“ zu trinken, ich lehne so delikat wie irgend möglich ab. „Rate mal, wie alt ich bin?“, fragt Galina zum Abschied. Ich will ihr ein Kompliment machen und sage „60“, obwohl ich sie auf knapp 70 schätze. Galina seufzt traurig: „56.“
Am Tag darauf ruft mich ein gewisser Fjodor an, ein paar Stunden später Sinaida, dann Roma, Shanna und noch jemand. So geht das einige Tage lang weiter. Alle wollen mir ihre Geschichte erzählen, laden mich ein zum Besuch auf eine Müllhalde, zu einer geheimen Abtreibung, zum Angeln oder zur Erdbeerernte. Jemand weint und schreit in den Hörer: „Versteh doch, wir sind auch Menschen! Nicht alle verstehen das! Versteh du es bitte!“ Ich stehe da und schweige.
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Mit den Renten wird die Zukunft des Landes konfisziert
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Januar: Backstage im Bolschoi
Kaum eine andere kulturelle Institution wird im Ausland so sehr als Symbol Russlands wahrgenommen wie das Bolschoi-Theater, wörtlich das „Große Theater“. Gegründet 1776 zur Zeit Katharinas der Großen, wird es vor allem mit klassischem Ballett verbunden, mit über 200 Tänzern beherbergt es die größte Ballett-Compagnie der Welt.
Das Bolschoi-Theater ist aber nicht nur ein Ort der Kunst, sondern auch ein Ort der Skandale, Affären und Intrigen. Die Renovierung des Hauses von 2005 bis 2011 hat mehr als eine Milliarde Euro verschlungen, viel davon soll in privaten Taschen gelandet sein. Eintrittskarten werden von Spekulanten vor Beginn der Vorstellungen auf der Straße zu astronomischen Preisen weiterverkauft, Konkurrenz und Spannungen unter den Künstlern sind legendär. Im Januar 2013 wurde der damalige Intendant Sergej Filin Opfer eines Säureanschlags, bei dem er fast vollständig sein Augenlicht verlor, verantwortlich war vermutlich einer der Tänzer der Theaters.
Der Fotograf Misha Friedman hat die Stimmung hinter den Kulissen des Bolschoi-Theaters eingefangen und zeigt das Menschliche ebenso wie das Professionelle, das Poetische wie das Kuriose. Seine Arbeit ist oft Themen gewidmet, die sich erst auf den zweiten oder dritten Blick erschließen. Er hat die Petersburger LGBT-Community ebenso mit der Kamera begleitet wie die Polizeieinheiten in Kiew während ihrer Reform; in einem ästhetisch wie konzeptionell ungewöhnlichen Fotoessay beleuchtet er das Problem der Korruption in Russland. Seine Arbeiten erscheinen weltweit, so bei der New York Times, Politico oder Le Monde.
Fotos: Misha Friedman / Salt Images
Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, Text: Martin Krohs
Veröffentlicht am 04.01.2016Weitere Themen
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Sprache und das Trauma der Befreiung
Zum Jahresende ein nachdenklicher Longread. Was haben Deutschland und Russland aus dem 20. Jahrhundert mitgenommen, mit all den Gräueln, die es beiden Ländern bereitet hat und die von ihnen ausgingen? Und wie prägt der Umgang mit diesem Erbe die russische Gegenwart und die Verhältnisse in Europa? Der Kulturhistoriker und Philologe Gasan Gusejnov, einer der originellsten Intellektuellen des heutigen Russland, betrachtet diese Fragen in ihrem sprachlichen Spiegel. In dem zieht wieder und wieder der Schriftzug von der „größten geopolitischen Katastrophe“ vorüber … Ein grundlegender Text, der den Geist einer Epoche einfängt und eine Fülle jener Themen berührt, die dekoder 2015 an den Start gehen ließen.
Wir veröffentlichen Gusejnovs Aufsatz in einer Version des Literaturjournals NLO, die in Abstimmung mit dem Autor neu überarbeitet wurde.
1.
Nicht umsonst hat Platon zum Nachdenken über Sokrates’ Ausspruch aufgefordert, die erste und wichtigste Eigenschaft des Philosophen sei die Furchtlosigkeit. Wenn du nicht in Kauf nimmst, dass das Ergebnis deines Denkens dir ein Trauma zufügt (sei es ein seelisches oder ein äußerlich sichtbares), dann lohnt es sich gar nicht erst, damit zu beginnen. Doch auch die Umkehrung gilt: Jahrzehntelang totgeschwiegene Traumata und der einer Gesellschaft dadurch zugefügte psychische Schaden lassen die Menschen panisch werden, und in der Panik ballen sie sich zu Horden zusammen und kehren sich selbst von dem Wissen ab, das noch gestern, ungeachtet von Leid und Kränkung, mehr oder weniger von allen geteilt wurde.
Wollte man lediglich die Kriegstraumata auflisten, die die seit Mitte des 20. Jahrhunderts geborenen oder aufgewachsenen postsowjetischen Generationen sich selbst zugefügt haben, so würde diese Liste in erster Linie die Langzeiterfahrung des Totschweigens und der Verdrängung erlebter nationaler Katastrophen verzeichnen.
Das erste Totschweigen betrifft die Ausmaße der Verluste im Zweiten Weltkrieg. Für jeden Krieg bezeichnende und unvermeidliche Phänomene wie Gefangenschaft und Plünderei, Korruption und sexuelle Gewalt, Verrat und Betrug wurden unter ideologischen und künstlerischen Mythen begraben. Die äußerst seltenen erfolgreichen Versuche, unter dem Joch der Zensur hervorzukriechen, wurden durch Repression und psychische Traumata zweiter Ordnung unterbunden.
Die durch die ebenso unangebrachte wie unqualifizierte Lenkung des Massenbewusstseins beim sowjetischen Menschen verursachten psychischen Traumata haben die Menschen so weit gebracht, dass sie aufgehört haben, das im Zuge der sogenannten Nachkriegskonflikte Erlebte als stark traumatische Erfahrung wahrzunehmen – das betrifft sowohl Konflikte außerhalb der Grenzen der UdSSR (der Krieg in Afrika und im Fernen Osten, die militärische Intervention in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 und schließlich in Afghanistan 1979) als auch die im postsowjetischen Raum (der von 1991 bis 2009 andauernde Krieg im Kaukasus, die Kriege in Zentralasien, in Moldau und Transnistrien und seit 2014 in der Ukraine).
Das traditionelle russische Verständnis von Geschichte als etwas, das mit der Vergangenheit und mit Volksmassen zu tun hat, und nicht als etwas, das in der Gegenwart von einzelnen Individuen erlebt wird, hat zu einer traumatischen Spaltung im Bewusstsein des sowjetischen Menschen geführt – einer Spaltung zwischen dem unmittelbar alltäglichen Selbstverständnis des Menschen und einem mit diesem Selbstverständnis nicht in Zusammenhang gebrachten Gesamtweltbild.
Auf der persönlichen Ebene kann so jemand seinen Status, seine Ressourcen und Perspektiven zutreffend oder zumindest plausibel einschätzen und dabei selbst im Fall eines extrem geringen Selbstwertgefühls eine erstaunliche Gelassenheit bewahren. Geht es aber um den Platz seines Landes in der Welt, darum, wie die Führung des eigenen Staates beurteilt wird, geht es um die symbolische Bewertung seines Landes, dann kommt diesem Menschen das Maß abhanden, er wird zum Träger eines schimärischen geopolitischen Bewusstseins, dazu bereit, sich an die phantastischsten Verschwörungstheorien zu klammern.
Die kulturelle Dimension dieser Spaltung oder, genauer gesagt, dieses sich vielfach wiederholenden Traumas, lässt sich auf eine äußerst einfache Formel bringen: Die Menschen haben ihre Toten nicht beweinen dürfen, und letzten Endes, in unserem konkreten Fall mit dem beginnenden Zerfall des sowjetisch-russischen Imperiums, kam ihnen die für ein erträgliches Zusammenleben unabdingbare Empathie abhanden, also die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen.
Ein Beleg für diese Behauptung ist die hohe Wirksamkeit plumper Propaganda, der selbst die vergleichsweise gebildeten Schichten der Bevölkerung nicht imstande sind, zu widerstehen. Als wären es die eingefrorenen und wieder aufgetauten Melodien aus einem Rabelais-Roman oder die Geschichten von Baron Münchhausen, brechen auf den heutigen Russen ideologische Klischees von anderthalb Jahrhunderten herein, die man schon seinen Vorfahren aufgetischt hat, angefangen vom Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts bis hin zu Stalins zehn Schlägen gegen das verendende Dritte Reich.
Dieses ganze kakophone Getöse vermag allerdings nicht die zentrale, aufgestaute Kränkung zu dämpfen, die aus dem Begreifen der Tatsache resultiert, dass die Mehrheit der Nachbarn im Großen Europa sowie in einem beträchtlichen Teil Eurasiens die Ereignissen in der heutigen Russischen Föderation als den fortgesetzten Zerfall des Imperiums sieht und ganz und gar nicht als das Werden eines neuen freien und starken Staates.
Man kann noch beliebig oft und beliebig laut erklären, das ist uns alles total egal. In Wirklichkeit liegt genau darin der Kern des Traumas – und es ist ganz und gar nichts total egal. Der Groll auf die anderen, seien sie real oder eingebildet, ist nichts weiter als eine Emotion, die das eigentliche psychische Geschwür verdeckt: die nicht vollzogene Beweinung der Toten.
Es gab eine Zeit, in der man das noch hätte tun können. Doch der Reueton der Perestroika wurde als Schwächlichkeit verworfen. Viele waren der Ansicht, der wirtschaftliche Aufschwung würde sie ganz von allein der Notwendigkeit entledigen, sich mit den Traumata der Vergangenheit auseinanderzusetzen, die den Menschen von ihren eigenen Leuten zugefügt worden waren.
Doch diese Annahme erwies sich als Illusion, denn traumatische Erfahrung lagert sich in der Sprache ab. Werden die Schlüsselwörter nicht reflektierter Epochen in das Spiel einer neuen Zeit eingeworfen, befördern sie darum unvermeidlich, wie ein unglücklich geworfener Angelhaken einen alten Schuh, das ganze für immer auf dem Grund der Geschichte begraben geglaubte Material wieder an die Oberfläche.
Wer von den Bandera-Faschisten der 1940er und der Kiewer Junta der 2010er Jahre anfängt, der muss damit rechnen, dass man ihn an den Holodomor der 1930er und den Emser Erlass der 1870er Jahre erinnert.
Die Aktualisierung früherer Kränkungen verstärkt den Schmerz und verlagert das Trauma auf eine neue Ebene, nämlich in die Zukunft, denn der nächste Schritt besteht in der Rache an all denen, die vermeintlich verantwortlich sind für deine Kränkung. Und weil du das selbst ja nicht sein kannst, sind alle anderen schuld. Die Besonderheit der gegenwärtigen Rachepraxis liegt darin, dass ephemere Verwünschungen und Beleidigungen besonders lange haltbar sind.
2.
1967 erschien in Deutschland Die Unfähigkeit zu trauern von Alexander und Margarete Mitscherlich1, eines der wichtigsten Bücher zum kollektiven Trauma der Deutschen und dessen Heilung, das die westdeutsche Gesellschaft vermutlich nicht weniger beeinflusst hat, als die Studentenrevolution von 1968. Dieses und weitere von den Eheleuten Mitscherlich sowie von Alexander Mitscherlich allein verfasste Bücher besaßen die erforderliche Sprengkraft, um die Mauer des Schweigens einzureißen, die die kaum erst ins aktive Leben eingetretene erste Nachkriegsgeneration und ihre stumm gewordenen Eltern trennte. Paradoxerweise wurde die Verständigung der Generationen um den Preis eines lautstarken und für viele endgültigen Bruchs mit der Vergangenheit erreicht. Dieser Bruch verhalf den Deutschen zu einer gemeinsamen politischen Sprache, und diese Sprache wurde zur Sprache der westdeutschen Zivilgesellschaft, in der der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner Rede 1985 den 8. Mai 1945 zum ersten Mal als Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnete und damit die Bedeutung dieses Tages für sein Land definierte. Bis zu dieser heute allgemein gültigen deutschen Formel mussten 40 Jahre vergehen.
Die „Befreiung“, von der Weizsäcker sprach, und die „Trauer“, von deren Notwendigkeit die Mitscherlichs gesprochen hatten, wurden zu Schlüsselbegriffen eines langen historischen Weges. Man kann die Befreiung nicht verstehen, solange nicht die ganze Trauer ausgedrückt ist. Aber trauern muss man lernen.
Die erste Aufbauphase des bundesrepublikanischen Staates (1945–1955) wurde mit dem Schlüsselwort Wunder belegt. Nach der totalen Zerschlagung Deutschlands waren nach Ansicht der Menschen zwei Wunder geschehen. Das erste war natürlich das unter der Führung des von 1949 bis 1963 amtierenden Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard erreichte Wirtschaftswunder. Das zweite ist in die deutschen Geschichtsbücher und Lexika eingegangen als das Wunder von Bern: Gemeint ist der Sieg der [bundes]deutschen Nationalmannschaft über Ungarn bei der Fußballweltmeisterschaft am 4. Juli 1954; die bundesweite Begeisterung über diesen Sieg war die erste Äußerung von Enthusiasmus der Westdeutschen nach der jahrelangen Nachkriegsdepression.
Warum hat die Gesellschaft, nachdem sie vom emotionalen und materiellen Aufschwung gekostet hat, dann doch vom Wunder als politischem Ideologem Abstand genommen? Weil hinter dem Rücken dieses Wunders weiterhin die auch durch dieses Wunder keineswegs zu erklärende Wirklichkeit der nicht weit zurückliegenden Vergangenheit stand – nicht einfach die Besonderheit im Verhältnis der europäischen Nachbarn zu Deutschland, sondern die Realität dessen, was tatsächlich geschehen war. Denn genau das war es, was die Menschen mit der Zeit immer mehr beschäftigte.
Das Ideologem des Wunders erwies sich als psychologische Falle, geistreich verspottet in der bekannten Filmkomödie Das Spukschloss im Spessart. Die Sowjetunion befand sich zu dieser Zeit auf dem Höhepunkt der Entstalinisierung, die Entfernung von Stalins Mumie aus dem Mausoleum stand bevor, und der Film über die im Wirtschaftswunder-Deutschland ausgegrabenen Skelette trug, wie es schöner nicht hätte sein können, zu einer Art westlicher Ausleuchtung dieses (nach 1953 und 1956) dritten Versuchs bei, sich von Stalin und dem Stalinismus zu verabschieden. Offiziell galt das „Spukschloss“ in der UdSSR als gegen den „Revanchismus in der BRD“ gerichtete Komödie, doch den Silberpreis des Moskauer Filmfestivals von 1961 bekam der Film nicht allein hierfür.
Unterdessen setzte die sowjetische Propaganda alles daran, das westdeutsche Entnazifizierungsprogramm vor der Gesellschaft zu verheimlichen. Aus der Vielzahl der politischen Debatten in Deutschland wählte man lediglich das aus, was für die sowjetische Propaganda relevante Gegenstände betraf (unter anderem den Revanchismus). Keine Beachtung fand in der sowjetischen Zeit auch das Schlüsselthema der Mitscherlichs – das Trauma, das sich der Täter selbst zufügt, aber auch die Mitglieder von verbrecherischen Organisationen, und nicht nur die allein. Die meisten Deutschen hätten sich nämlich, so Mitscherlich, so weitgehend mit dem Regime abgefunden, dass sie auch nach dem Krieg, in der Adenauer-Ära, „politisch erstarrt“ gewesen seien. Die Generation, die sich mit Hitler und den Nazis, also den Kriegsverlierern, identifiziert hatte, versperrte sich instinktiv dem Konzept der Befreiung, das erst dann annehmbar wurde, als die westdeutsche Gesellschaft sich grundlegende demokratische Werte zu eigen gemacht und entsprechende Normen etabliert hatte.
An dieser Stelle wird nun die Rolle der Schlüsselbegriffe, anhand derer nicht nur der politische Diskurs rekonstruiert, sondern auch die Überwindung des Traumas durch Narration beschrieben wird, besonders wichtig. Zwischen den kritischen Debatten der Intellektuellen und einer breiten Einbeziehung der „erstarrten“ Bevölkerungsmehrheit in das politische Leben über die Artikulation eines unmittelbaren Zusammenhangs, etwa zwischen dem Wirtschaftswunder und der politischen Freiheit vom Nationalsozialismus, vergeht einige Zeit.
3.
Betrachtet man die historische Bahn, auf die die Russische Föderation derzeit geraten ist, wird jedoch klar, dass kein Vergleich die Situation in unserem Land auch nur annähernd vollständig beschreiben kann. Einige generelle Fixpunkte lassen sich dennoch herausstellen. Es geht ja um die Reaktion der Träger einer Sprache auf die gesellschaftlichen Traumata, die manchem vielleicht doch vergleichbar erscheinen mit denen, die die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Den gewohnten Disziplinkategorien folgend, sollen im Folgenden kurz und knapp einige Realien der russischen Politiksprache beschrieben werden, die jemand einmal treffend als „Schlüsselwörter des historischen Augenblicks“2 bezeichnet hat. Die im Grenzgebiet zwischen Literatur, Sozialpsychologie und Politik verhandelten Schlüsselbegriffe entfalten sich zu Phrasen der besonderen Art. Daran, wie das gesellschaftliche Umfeld sie entfaltet, lässt sich erkennen, wie sich das Verhältnis der Sprachträger zu ihrem kollektiven historischen Trauma entwickelt.
Dabei klingt nur ein einziges Trauma, gewissermaßen die Spitze des Eisbergs, deutlich hervor, eben jenes, das aus der Statusveränderung des Landes und somit der Veränderung der Situation jedes einzelnen Bewohners resultiert. Auf der Ebene der politischen Rhetorik ist dieses Trauma durch drei selten öffentlich angefochtene Phrasen markiert, nämlich: den Zerfall der UdSSR als die „größte geopolitische Katastrophe“, das „Chaos der 1990er“ oder die „wilden Neunziger“ (die Jelzin-Zeit) und die „Erhebung von den Knien“ (die gegenwärtige Phase). Die allgemein angenommene Übersetzung dieser emotional gefärbten Ideologeme besagt in etwa Folgendes: Das goldene Zeitalter, das sich zusammensetzt aus einem Mosaik von Ereignissen der russischen Geschichte seit 1612 (oder bei Bedarf auch seit den Zeiten Alexander Newskis) bis zum Ende der 1980er Jahre, wurde quasi hinweggefegt durch die „geopolitische Katastrophe“ der Perestroika und die Auflösung (sprich: den Zerfall) der UdSSR, wonach eine Zeit der Wirren anbrach. Wenn, so will man uns glauben machen, diesen Wirren nicht just an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert durch das neue Regime Einhalt geboten worden wäre, hätten jene Kräfte, die es angeblich geschafft haben, die Sowjetunion zu zerstören, längst auch die Russische Föderation zerstört – das letzte Bollwerk des zerfallenen sowjetisch-russischen Imperiums.
Offenbar ist das der grundlegende Legitimierungsmythos des Regimes, der mit den Mitteln der Propaganda verbreitet wurde und für einen großen Teil der aktiven Bevölkerung der Russischen Föderation allgemeine Gültigkeit erlangt hat. Wenn man die Mitscherlich-Konzeption anwendet, fällt einem das zentrale Drama des Augenblicks auf: Die Kette aus Russland-Mythen verfälscht den Inhalt des Traumas, das die ehemaligen Bürger der UdSSR erlitten haben. Das tatsächliche Trauma (Jahrzehnte der Unfreiheit, die physische Vernichtung ganzer Bevölkerungsschichten, die komplette Deportation ganzer Völker, ohne Gerichtsverfahren verhängte, gesetzeswidrige Repressalien gegen die Menschen unter beliebigem Vorwand) wurde ersetzt durch das frische emotionale Trauma des Zerfalls einer Staatsmaschine. Man muss bloß hinzufügen: eben jener Staatsmaschine, die für das ursprüngliche Trauma verantwortlich ist.
Das echte Trauma, das der Mehrheit in der UdSSR und im Russischen Reich über das 20. Jahrhundert zugefügt worden ist, wurde einfach so durch die Schlüsselphrase der „größten geopolitischen Katastrophe“ ausgetauscht. Der Beginn einer schmerzhaften Diskussion über das Trauma, eines öffentlichen Diskurses über die den Systemzusammenbruch begründenden Mechanismen, die das Trauma ausgelöst hatten – all das wurde erfolgreich gestoppt, vor allem mit ziemlich primitiven Propagandatricks, die an die Gefühle der Bürger appellierten.
Durch die Mitscherlich-Brille betrachtet wird deutlich, wie Russlands heutige politische Elite – jene soziale Schicht, die bei der Überwindung ihres Narzissmus und beim Erlernen der Fähigkeit zu trauern am meisten Hilfe benötigt hätte – sich die Ratlosigkeit der gerade erst zum politischen Leben erwachten Bevölkerung zunutze machte und die Rolle des gesellschaftlichen Psychotherapeuten an sich riss. Die Mitscherlichs wussten nichts von Öl- und Gaspreisen im beginnenden 21. Jahrhundert, aber sie beschrieben die Steigerung des ökonomischen Wohlstands als den wichtigsten „Verdränger“ von Reflexion. Ihrer Meinung nach war es gerade das Wirtschaftswunder, das die unausweichliche Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit um zehn Jahre verzögerte.
Die Jahre der Entstehung eines Trauma-Narrativs und der sie begleitenden Diskussionen zu dem Thema fielen mit dem wirtschaftlichen Durcheinander und den schwierigen administrativ-territorialen, teilweise zu lokalen Kriegen führenden Konflikten der ausklingenden 1980er und 1990er Jahre zusammen. Dieser Umstand ermöglichte es Ende der 1990er Jahre dem aktiven Teil der postsowjetischen Gesellschaft, die Initiative zu ergreifen – den zahlreichen Mitarbeitern der früheren Straf- und Ideologie-Organe, die selbst zutiefst traumatisiert waren von der Unfähigkeit, die eigenen Opfer zu betrauern.
Dieser Kreis hatte sich für eine gewisse Zeit sogar die Kontrolle über wichtige Machtzentren zurückgeholt, angefangen von den hauptsächlichen Rohstoffquellen bis hin zu den wichtigsten Medien. Doch die einzige Ideologie, zu der die neue Generation der Kreml-Chefs sich als fähig erwies, erschöpfte sich in der Konservierung des Traumas.
Kontrolliert durch fremde Armeen, hatten die Deutschen es leichter, sich auf ihr Trauma zu konzentrieren, sich darüber auszutauschen und allmählich aus der Sackgasse herauszufinden, in die sie sich unter der Führung der Nationalsozialisten verirrt hatten. Die Notwendigkeit, den Staat von Grund auf neu zu errichten, war den Menschen sowohl im Westen wie im Osten Deutschlands bewusst. Dass die eigenen Tschekisten Kontrolle bekamen über die Situation, in die sie selbst und ihre ehemaligen Chefs Russland geführt hatten, konnte nur mithilfe der entsprechenden ideologischen Klischees aufrechterhalten werden. Die aus diesen Klischees erwachsende geopolitische Schimäre zieht diejenigen in ihren Bann, die in der Sprache leben.
Am Tag der Einheit des Volkes, am 4. November 2008, hörte ich gemeinsam mit Millionen Passagieren in der Moskauer Metro die schmissigen Reden über die Befreiung der Hauptstadt von den „polnischen Besatzern“ im Jahre 1612, las an den Wänden und Türen der Waggons den höhnischen Spruch: „Die Behutsamen behütet die Bank“, wurde eingeladen, den neuen Agitationsstreifen Der Admiral im Kino zu bewundern (während man am Abend desselben Tages im TV dazu eingeladen wurde, sich zum wiederholten Male den Film 1612 anzuschauen) und verstand, dass man den Passagieren auf diese Weise nahelegte, sich so weit wie möglich weg von der politischen Moderne und dem sowjetischen 20. Jahrhundert in eine galvanisierte Vergangenheit der einen oder anderen Zeit der Wirren zu versetzen. Gleichzeitig geschieht eine bewusst-unbewusste Außerbetriebsetzung des einzigen Erkenntnisinstruments, über das die Menschen verfügen – ihrer Sprache. Doch auch wenn die Frage, wie bewusst oder unbewusst die Operationen an der Sprache in den letzten zehn Jahren durchgeführt wurden, eine interessante und wichtige ist, ist das ein eigenes Thema.
Das Hauptproblem bleibt die Verstärkung des sozio-historischen Traumas bei den Patienten infolge der massenhaften Verbreitung von falschen Informationen bezüglich ihrer Leiden. Warum wurde die offizielle Rhetorik der ersten postsowjetischen Jahre zur doppelten Befreiung Russlands von der Ideologie des Kommunismus und von der Praxis des Kolonialimperialismus an der Jahrtausendwende so entschieden eingestampft?
Wie die genannten deutschen Wissenschaftler in ihren sozialpsychologischen Arbeiten zeigen konnten, ist das Prozedere der kollektiven Traumatherapie vernunftbasiert. Der emotionale Faktor wird selbstverständlich berücksichtigt, ist aber nicht der wichtigste. Es geht um die Suche nach einem allgemeingültigen Ausweg aus einer unerfreulichen Situation. Die Rationalisierung der Gefühle muss gekoppelt sein an Beherrschtheit innerhalb des politischen Diskurses. Dort, wo die Zensur auf der inhaltlichen Ebene aufgehoben ist, ist sie auf der Ebene ihrer stilistischen Gestaltung unabdingbar. Der Stil ist in der Lage, jede Kommunikation, nicht einmal nur in traumatherapeutischen Kontexten, zu blockieren und außer Kraft zu setzen.
Damit der Akt der politischen Kommunikation selbst nicht zu einer Quelle neuer kollektiver Traumata wird, befindet sich eine freie Gesellschaft in einem ständigen Diskurs über politische Korrektheit. Durch allgemeingültige und akzeptable, maximal leidenschaftslose Schlüsselbegriffe wird der Prozess der Konsenssuche rationalisiert und entemotionalisiert. Im Gegensatz dazu wird hier bei uns, alten sowjetisch-russischen Klischees folgend, einer politkorrekten Heuchelei die Wahrheit des freimütigen Sprechakts entgegengestellt. Sei es die apolitische Zügellosigkeit eines Wladimir Shirinowski oder die öffentlichen Entgleisungen populärer TV-Moderatoren. Das Fernsehen präsentiert Alexander Gordon, Wladimir Solowjow, Lolita und ihresgleichen als Meister der maximal freimütigen Verkündung von Binsenweisheiten.
In den Sprechakten dieser öffentlichen Autoritäten mit ihrer äußersten rhetorischen Schärfe (sprich: Unbändigkeit) wird ein Bouquet abstrakter Drohgebärden bei gleichzeitigem Verschweigen eines konkreten Sinngehalts versprüht. Die inakzeptable Grobheit der Äußerung substituiert nämlich ihren Sinngehalt, mit anderen Worten: Sie ist bereits der ganze Sinngehalt der Äußerung, und nicht zufällig wurde die diffuse Drohung, jemanden „im Klo abzumurksen“ zur faktischen Devise der ersten Amtszeit von Wladimir Putin.3 Diese Drohung war an mutmaßliche Terroristen gerichtet, aber in den aktuellen Sprachgebrauch fand sie in einer erweiterten Bedeutung Eingang – als Universalformel für den Umgang mit Widersachern.
Der Zuschauer oder Zuhörer, der die Drohreden von Politikern oder Medienleuten geduldig ertragen muss, überlässt ihnen Stück für Stück sein ganzes politisches Subjekt-Sein. Die minimale passive Reaktion auf solche TV-Sendungen könnte in einer gebildeten Gesellschaft ein Zuschauer-Boykott sein. Der minimale Ausdruck einer auf Vernunft gründenden Aktivität in einem Rechtsstaat wäre die Diskussion über die Verantwortung von Moderatoren und Redakteuren des TV-Senders für das emotionale Stimulieren von sozialem Zwist. Dort aber, wo weder das eine noch das andere geschieht, kommt es zum „politischen Stillstand“, wie er in anderer Spielart von den Mitscherlichs für die deutsche Gesellschaft zu Adenauers Zeiten diagnostiziert wurde. Um seine Mitbürger dazu zu bewegen, sich als selbständig politisch Handelnde zu begreifen, wird Kanzler Konrad Adenauer 1966 vor der Klagemauer in Jerusalem auf die Knie gehen, genau wie Kanzler Willy Brandt 1970 und Boris Jelzin 1993 in Warschau vor dem Denkmal-Kreuz für die Erschossenen von Katyn.
4.
Im Unterschied zu den Deutschen nach der unmissverständlichen Zerschlagung des Nationalsozialismus, ging die Bevölkerung der Russischen Föderation während der Auflösung der UdSSR über den Zerfall des Russischen Reichs und der dahinter stehenden politischen Strategie einfach hinweg. Die spontane, heilsame und vernunftbasierte Rhetorik vom Ende der UdSSR als Befreiung vom Totalitarismus empfanden nur diejenigen als Kapitulation im globalen Kalten Krieg, die diesen Krieg tatsächlich verloren hatten – Geheimdienstleute sowie Partei- und Staatsapparat. Für die allgemeine Bevölkerung aber war es ein Signal für den Zerfall des Russischen Reiches, der zu Beginn der 1920er Jahre in die Gründung der Sowjetunion umgelenkt worden war. Doch dann traf es sich so, dass sich die Bürger der Russischen Föderation durch die Verwendung der Bezeichnung Russland dem Verständnis verschlossen, ja, sich sogar selbst das Nachdenken über eine offensichtliche Tatsache verboten: dass einige andere ehemalige Republiken der UdSSR ebenfalls ein „anderes Russland“4 sind. Eben deswegen ist auch die formal korrekte Eigenbezeichnung der heutigen Russischen Föderation in gewisser Hinsicht ein Substitut für den geschichtlichen und politischen Sinn hinter dem Begriff, ein Substitut, das einer kollektiven Reflexion bedarf. Durch die historische Verbindung des Russischen Reichs beispielsweise zur heutigen Ukraine mit ihrer sich von Russland unterscheidenden, selbst gewählten Ausrichtung des gesellschaftlich-historischen Weges, wird das zweisprachige Land zu einer maximalen Quelle des Ärgers für alle Politiker, die nostalgische Gefühle für die UdSSR hegen. Die bloße Tatsache der Existenz eines anderen Russland, eines Kiewer Russland, in dem weder das Merkmal Sprache noch das Merkmal Kultur eine eindeutige Unterscheidung in sogenannte ethnische Russen und ethnische Ukrainer zulässt, ruft in der unmittelbaren Nähe zum Russland Moskaus bei der gesamten Führungsschicht der Russischen Föderation einen ausgeprägten politischen Minderwertigkeitskomplex hervor.
Auf sprachlicher Ebene äußert sich dieser Komplex, der genereller Natur und nicht auf die unmittelbar mit der Ukraine zusammenhängende Situation beschränkt ist, schon in den Namen der Organisationen, die für sich die volle Macht in der Russischen Föderation beanspruchen: Einiges Russland, Gerechtes Russland – all diese Bezeichnungen sind ja nichts als unfreiwillige Enthüllungen, die den Mangel an globaler politischer Legitimität zeigen. „Russland“ und „russisch“ ersetzen oder bedeuten hier „UdSSR“ und „sowjetisch“. Und genau deshalb erscheint alles, was früher sowjetisch war, heute jedoch juristisch gesehen nicht russisch ist, in der Phantasie der Elite des Moskauer Russland als Irrtum oder heimtückische Bedrohung, als Objekt rechtmäßigen Misstrauens oder offener Feindschaft.
Einmal freiwillig in die Rolle der retrospektiven Beschützerin der UdSSR geschlüpft, verbreitet die politische und Medienelite der heutigen Russischen Föderation ihre Sprache des Hasses sowohl auf ehemalige Teile des Imperiums („das georgische Regime“, wie der russische Außenminister despektierlich zu sagen pflegte) als auch auf den großen Widersacher: den Sieger des Kalten Krieges. Die Vertreter der Straforgane, die bis heute nicht, nicht einmal nach ihren eigenen Gesetzen, für die Niederlage der UdSSR in jenem Krieg zur Verantwortung gezogen wurden, konservieren die Gesellschaft im Zustand des Traumas – als wollten sie sich nachträglich dafür rächen, dass der wiederholte Zerfall des Russischen Reiches 1991 vergleichsweise friedlich ausfiel.
Wenn die Position der Russischen Föderation gegenüber den USA formuliert wird, beruft sich die herrschende Klasse der heutigen Russischen Föderation ständig in der Art auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, als wäre sie der Rechtsnachfolger der UdSSR, der dazu verdammt ist, die historische Mission der Verliererseite weiterzuführen. Betrachtet man einmal die USA und die UdSSR provisorisch als zwei Dritte Roms, ein republikanisches und ein imperiales, so zeigt sich, dass der Niedergang unseres, des imperialen, Teils die Bevölkerung des größten Fragments der ehemaligen UdSSR, also die Menschen der Russischen Föderation, an eine Weggabelung gebracht hat. Auf der einen Seite Freiheit und Bündnissuche mit den USA, auf der anderen Revanche-Versuche eines autoritären Zentralstaates.
Diejenigen, die der Bevölkerung der Russischen Föderation Revanche, antiamerikanische und NATO-feindliche Rhetorik nahegelegt haben, handeln offenbar instinktiv. Die Ironie der politischen Geschichte Russlands offenbarte sich in einem zentralen Schimpfwort für die Amerikaner und Amerika: Pindossy und Pindossija. In vorrevolutionären Zeiten waren Pindossy eine abfällige Bezeichnung für die Griechen (angeblich nach dem Namen des Berges Pind), wobei die Etymologie dieses ethnischen Schmähausdrucks nicht ganz klar ist. Womöglich haben sich die Amerikaner diesen Spitznamen nach dem Krieg um die jugoslawische Erbfolge im Zuge der Überschneidungen der Friedenseinsätze der Russischen Föderation und der USA auf dem Balkan eingehandelt.5 Doch woher auch immer die Bezeichnung kommt, zwingt uns der Gebrauch eines verallgemeinernden Schimpfwortes zu einem genaueren Blick auf den psychologischen Kontext dieser xenophoben Rhetorik.
Warum findet unsere Gesellschaft auch 20 Jahre nach der Auflösung der UdSSR keine klare, deutliche, politische Formulierung für die Quelle des eigenen Traumas? Die Bevölkerung der Russischen Föderation versteht, dass der reale Status eines neuen, jungen, demokratischen, russischen Staates nicht mit dem Phantom einer Supermacht Russland vereinbar ist, aber sie will nicht verstehen, warum das so ist. Alexander Mitscherlich sagt, dass ein Trauma nur mithilfe von gewissenhaft angeeignetem Wissen überwunden werden kann, darunter auch solchem, dessen sich das eigene Bewusstsein schämt. Dabei müssten die intellektuellen und moralischen Einstellungen selbst radikal überwunden werden, die zu Hitler geführt hätten, „da das, was geschah, nur geschehen konnte, weil dieses Bewusstsein korrumpiert war“6, schreibt Mitscherlich. Genau vor diesem Wissen fürchten sich die der UdSSR nachtrauernden russischen Politiker wie vor dem Feuer.
Natürlich kann man das als eine äußerst strittige Frage bezeichnen. Schließlich wurde auch die Diskussion um die Buße, die während der Perestroika in Gang gekommen war, gewaltsam beendet, und zwar aus Angst, das Land könnte unter all denjenigen verteilt werden, die irgendwann einmal vom Russischen Reich gekränkt wurden. Oder dass es unter dem Deckmantel von Kontributionszahlungen an all die Letten, Tschurken, Chatschen und Schlitzaugen ausverkauft wird, und an die ganzen Pindossija- und NATO-Huren entlang der neuen russischen Grenzen. Und hier betreten wir ein höchst schwieriges linguistisch-politisches Feld: Je durchsichtiger seine Logik, umso nebulöser die politischen Folgen.
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1.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart
2. Šmeleva, T. V. (1993): Ključevye slova tekuščego momenta, in: Collegium: Meždunarodnyj naučno-chudožestvennyj žurnal, Nr. 1, S. 33-41
3.Camus, R. (2006): “We’ll whack them, even in the outhouse”: on a phrase by V.V. Putin, in: Gusejnov, Gasan (Hrsg.): Language and Social Change: New Tendencies in the Russian Language, kultura, Nr. 10, S. 3-8
4.siehe auch: Gusejnov, G. (1992): Istoričeskij smysl političeskogo kosnojasyčija: Ukraina i russkoje obščestvo, in: Znamja, Nr. 9, S. 191; Guseinov, G. (1993): The Russian-Ukrainian Conflict: Tradition and Prospects, in: Anthropology and Archaeology of Eurasi:. Sociolinguistics, Semiotics, and Society, Vol. 32 (1), Washington, S. 53-65
5.Offenbar ist der Begriff pindos in dieser modernen Bedeutung erstmals am 7. November 1999 im Fernsehen in einer Reportage aus dem Kosowo aufgetaucht. Ein Soldat sagte in einem Interview, dass man dort mit diesem Wort die amerikanischen Friedenstruppen bezeichnete – NLO
6.Mitscherlich M. / Mitscherlich A. (1967): Die Unfähigkeit zu trauern: Grundlagen kollektiven Verhaltens, Stuttgart. S. 82
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Russland als globaler Dissident
Wer lebt glücklich in Russland?
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Presseschau № 11
Die Einschränkung der Menschenrechte in Russland geht weiter: Ein neues Gesetz hebelt die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus. Auf seiner alljährlichen Pressekonferenz vermeidet Putin Aussagen zu den innenpolitischen Skandalen des Jahres und beschwört Stabilität und internationalen Einfluss Russlands, während türkische Staatsbürger mit Anfeindungen der Behörden zu kämpfen haben. Außerdem: Hype um den neuen Star Wars-Film.
Menschenrechte. Es sind keine guten Nachrichten zum Thema Menschenrechte,die in der vergangenen Woche in Russland für Schlagzeilen sorgten. Nachdem der Aktivist Ildar Dadin wegen der Teilnahme an vier nicht genehmigten Protestaktionen zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, unterschrieb Präsident Wladimir Putin am Dienstag ein Gesetz, laut welchem Urteile des Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) für Russland nicht mehr bindend sind. Moskau hat nun neu die Möglichkeit, dessen Urteile durch den Verfassungsgerichtshof zu prüfen. Stellt der fest, dass diese gegen das Grundgesetz verstoßen, müssen die Urteile des EGMR nicht mehr umgesetzt werden.
Die Staatsmedien begrüßen den Schritt. Nun habe die russische Justiz eine Möglichkeit erhalten, Entscheidungen des EGMR zu korrigieren, schreibt die regierungseigene Zeitung Russkaja Gazeta. Moskau müsse sich vor weiteren anti-russischen Entscheidungen des EGMR schützen, behauptet Ria Novosti. Nach dem politisch motivierten Entscheid in der Yukos-Affäre, bei der das Straßburger Gericht Moskau zu einer Zahlung von 1,9 Milliarden Euro an die ehemaligen Aktionäre des 2007 aufgelösten Ölkonzerns verurteilte, müsse in Zukunft mit allem gerechnet werden, gab sich die Nachrichtenagentur überzeugt.
Russland hat sich jedoch mit dem Beitritt zum Europarat 1996 und der zwei Jahre später erfolgten Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention dazu verpflichtet, die Urteile des EGMR umzusetzen. Der Menschenrechtsaktivist Lew Ponomarjow kritisiert, dass Russland sich darauf beschränkt, Entschädigungssummen zu bezahlen, Aufforderungen zu systematischen Reformen würden hingegen nicht umgesetzt. Für viele russische Bürger ist das Gericht in Straßburg eine wichtige Instanz: Nach der Ukraine und Italien stammten 2014 die meisten anhängigen Fälle aus Russland. Die ehemaligen Yukos-Aktionäre haben den EGMR ebenso angerufen, wie etwa die Hinterbliebenen der Geiselnahme in Beslan, Opfer des Atomunfalls in Majak und auch die Anwälte von Ildar Dadin.
Jahrespressekonferenz des Kremls. Bereits zum elften Mal lud der Kreml zur Pressekonferenz von Präsident Putin, neben dem Direkten Draht der zweite mehrstündige Live-Auftritt pro Jahr des russischen Präsidenten. Und so versuchten mehr als 1000 akkreditierte Journalisten aus dem In- und Ausland mit lautem Rufen und selbstgemalten Schildern, Putin und seinen Pressechef Dimitri Peskow auf sich aufmerksam zu machen, um ihre Frage stellen zu können.
Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise interessierte die Pressevertreter hauptsächlich die Entwicklung des Ölpreises und wie stark die Pensionen 2016 der Inflation angepasst werden (vorgesehen ist eine Indexierung von vier Prozent). Ebenso angesprochen wurden die Proteste der Lastwagenfahrer, die immer noch gegen eine neue Maut protestieren oder das seit dem Abschuss der SU-24 stark belastete Verhältnis zur Türkei. Hier das komplette Transkript mit allen Details der knapp über dreistündigen Veranstaltung. Eine Frage betraf auch die innenpolitischen Skandale der letzten Monate: den Mord an Boris Nemzow, die Korruptionsaffäre um Generalstaatsanwalt Juri Tschaika oder die steile Karriere von Putins angeblicher Tochter und den Geschäften ihres Ehemannes. Putin vermied klare Antworten, wich aus. Im Online-Magazin znak.com schreibt die Fragestellerin später, wichtiger als überhaupt Antworten zu erhalten sei ihr gewesen, dass solche Fragen im landesweiten Fernsehen überhaupt gestellt würden.
Während Vedomosti auf der Pressekonferenz einen eher müden, uninteressierten Putin sah, welcher aus Gründen der Staatsräson mit diesem öffentlichen Auftritt Stabilität zu demonstrieren versuchte, zeigte sich die kremltreue Presse zufrieden. Schützend habe sich der Präsident vor den Generalstaatsanwalt und die Minister gestellt, welche von der Opposition angegriffen wurden. Damit demonstriert Putin, dass der Kreml in Krisenzeiten erst recht nicht auf Druck reagiere, schreibt der Moskovski Komsomolets. Der Präsident habe gezeigt, wer am Steuer sitzt und das seine Hände nicht zittern, so die Zeitung weiter. Noch weiter ging der Politologe Sergej Markow in einem Kommentar für Izvestia: Es sei egal, dass auf der Pressekonferenz mit keinen wirklichen Neuigkeiten aufgewartet wurde. Die russische Armee in Syrien und die humanitären Konvois, mit welchen Moskau seit mehr als einem Jahr den Donbass versorgt, sprechen im Namen Putins. Der Präsident spreche nicht durch Worte, sondern er liebe es, seine Taten für sich sprechen zu lassen. Und dafür lieben ihn die Bürger und fürchten ihn seine Gegner, schreibt Markow weiter.
Türkei. Welche realen Konsequenzen die scharfe Rhetorik russischer Offizieller hat, zeigt sich dieser Tage. Bereits bevor mit Jahreswechsel das Gesetz in Kraft tritt, das russischen Arbeitgebern untersagt, Menschen mit türkischem Pass anzustellen, nimmt der Druck auf die rund 200.000 türkischen Staatsbürger zu, welche in Russland arbeiten oder studieren. Wie Mediazona schreibt, sehen sich diese plötzlich verstärkten Kontrollen ausgesetzt, etwa bei der Passkontrolle am Flughafen oder durch den Föderalen Migrationsdienst, der verstärkt Kontrollen an den Arbeitsorten durchführt. Meduza.io berichtet gar von Studenten, die ihre Studienplätze wegen angeblichen Drogenmissbrauchs oder des Verdachts auf Terrorismus verloren haben.
Star Wars. Der mittlerweile siebte Teil der Star Wars-Reihe sorgt auch in Russland für Aufsehen. Ganz im Gegensatz zu 1977: Als in den USA der erste Teil der Weltraumsaga in die Kinos kam, nahm das in der UdSSR so gut wie niemand zur Kenntnis, schreibt die Izvestia. Erste sowjetische Kritiken betrachteten damals den Film, abgesehen von den Spezialeffekten, als nichts besonderes, später wurde etwa die Ähnlicheit der Uniformen der imperialen Sturmtruppen mit denen sozialistischer Länder festgestellt und daran antisowjetische Züge von Star Wars festgemacht. Erst 1990 kam der erste Film der Trilogie in der Sowjetunion in den regulären Kinoverleih, mit absolut sehenswerten Plakaten (ganz herunterscrollen), die eigens für die Kinos entworfen wurden. Für den aktuellen Film hängen nun seit Wochen riesige Werbeposter im Zentrum Moskaus, auf denen Filmfiguren für die Produkte eines Kreditkartenunternehmens werben.
Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org
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Bürgerrechtler im Agentenmantel
Vor drei Jahren wurde das sogenannte „NGO-Agentengesetz“ erlassen. Das Gesetz soll formal die Finanzierung von Zivilgesellschafts-Organisationen aus dem Ausland stoppen. De facto aber entzieht es unbequemen Gruppen die rechtliche Existenzgrundlage. Was machen sie daraus?
Igor Sashin, Vorsitzender der Menschenrechtskommission Memorial in der Republik Komi, Syktywkar
Wir sind keine „ausländischen Agenten“, wir sind Menschenrechtsaktivisten, und wir wollen als Menschenrechtsaktivisten überleben. Dieses ganze Theater mit den „ausländischen Agenten“ ist ein Versuch, uns anzuschwärzen und durch den Dreck zu ziehen. Wir finden das abscheulich, ekelhaft. Die haben versucht, uns diesen Stempel aufzudrücken, wir finden das ungeheuerlich.1 Laut dem Gesetz, seinen Implikationen und sämtlichen gängigen Anwendungspraktiken hätten wir nicht darunter fallen dürfen. Vor diesem Hintergrund haben wir dann die Organisation geschlossen. Wir haben alle dafür nötigen Papiere eingereicht, eine Auflösungskommission eingesetzt und sämtliche Konten aufgelöst. Das sind Dinge, die parallel laufen, all so Zeug eben, soll das laufen, wie es will. Aber sämtliche Menschenrechtsaktivitäten, die mit konkreter Hilfe zu tun haben, führen wir unverändert fort.
Wir gehen in die Gerichte, haben immer noch Sprechzeiten und unterstützen Menschen, indem wir sie beraten und unsere Öffentlichkeitsarbeit fortsetzen. Wir machen weiter mit unseren Monitorings und Nachforschungen, treffen Vertreter verschiedener Institutionen und versuchen sie zu überzeugen, dass sie etwas ändern müssen. Wir machen weiter, Arbeit gibt es genug.
Es gibt immer Menschen, die leiden. Menschen, die den Handlungen Stärkerer zum Opfer fallen, und die müssen verteidigt werden. Daran kommen wir nicht vorbei. Die Welt geht kaputt, die Starken fressen die Schwachen. Da muss sich jemand dazwischen stellen.
Der Rest muss einem echt total egal sein. Es wird immer Leute geben, die einem zuschauen, wie man etwas Gutes tut, und einen dann dringend mit Dreck bewerfen und ins Gesicht spucken wollen. Die werden einen ständig besudeln und stören, aber das ändert gar nichts, tut mir leid. Unsere Aufgabe bleibt es, Menschen zu helfen, egal was passiert und welche Bedingungen man uns aufzwingt. Denn es gibt sonst niemanden, der den Schwachen hilft und ihnen zur Seite steht – auch den Allerschwächsten und selbst dann, wenn es ganz üble Gestalten sind.
In Komi haben sie zum Beispiel gerade Gajser und seine Seilschaft verhaftet. Die werden jetzt von jedem als Fußabtreter benutzt, aber man muss sich trotz allem für sie einsetzen, weil zwei von ihnen schwer krank sind. Man muss klären, warum sie inhaftiert sind – einer aus der Truppe ist schwerbehindert und ein anderer ist totkrank, er hat Krebs. Das gehört zum Leben, aber das geht so nicht.
Wioletta Grudina, Aktivistin der regionalen Initiativgruppe Maximum, Murmansk
Unter Menschenrechtsorganisationen wird inzwischen schon gewitzelt: Wenn du nicht auf der Liste der „ausländischen Agenten“ stehst, hast du nichts erreicht.
Uns hat man vor etwa einem Jahr als „ausländische Agenten“ eingestuft, im Februar. Wir waren die zweite schwul-lesbische Organisation, die so eingestuft wurde – die andere ist Rakurs. Bei der Überprüfung unserer Organisation wurden ein paar Kalender von Rakurs gefunden, und das wurde dann als ein Kriterium genannt, dass wir ein „ausländischer Agent“ sind – dass wir Kalender eines anderen „ausländischen Agenten“ haben!2 Das war alles an den Haaren herbeigezogen und unglaubhaft. Selbst ganz normale Postings unseres Leiters Sergej Alexejenko im sozialen Netzwerk Vkontakte wurden als politische Aktivitäten gewertet. Das Gesetz ist so unscharf formuliert, dass es beliebig ausgelegt werden kann, und entsprechend läuft das alles auch ab.
Wir wurden gezwungen, eine gewisse „politische Tätigkeit“ einzugestehen und erhielten eine Geldstrafe von 300.000 Rubel. Wir haben die Strafe bezahlt und unsere Organisation ist jetzt aufgelöst. Erst vor wenigen Wochen wurde die letzte Auflösungphase im Justizministerium abgeschlossen. Jetzt sind wir nur noch eine Initiativgruppe. Natürlich hat das auch Vorteile: Weil wir jetzt keine juristische Person mehr sind, kann der Staat auch keine Vorwürfe aufgrund des „Agentengesetzes“ und anderer absurder Gesetze mehr gegen uns erheben.
Unsere Organisation kümmert sich um die psychologische und rechtliche Unterstützung in der LGBT-Community. Und ich würde nicht sagen, dass wir uns wesentlich verändert haben, abgesehen davon, dass wir offiziell aufgelöst wurden. Klar bedeutet es einen großen finanziellen Verlust und das hat uns schwer getroffen. Tee und Kekse kosten Geld, die Leute wollen ermutigt werden, die Mitarbeiter müssen ihr Gehalt bekommen.
Wenn eine Organisation als „ausländischer Agent“ eingestuft wird, ist da sofort das Klischee „Die werden doch alle vom US-Außenministerium bezahlt“ – und so weiter und so fort. Wir wurden auch zur Zielscheibe von Provokationen. Die Leute wollen nicht hören, was wir zu Menschenrechtsverletzungen oder der weit verbreiteten Diskriminierung zu sagen haben. Sie interessieren sich nur für das Geld, das wir angeblich aus dem Ausland bekommen. Die Organisation erhält auch Geld aus dem Ausland, weil die Regierung und die Staatsorgane in Russland solche Aktivitäten nicht unterstützen, obwohl sie sich in nichts von denen der regierungsfreundlichen Organisationen unterscheiden und wir einfach nur die Idee einer demokratischen Gesellschaft fördern.
Mit diesem Gesetz soll ganz grundsätzlich Druck auf das Engagement und die Initiative von Bürgerseite ausgeübt werden. Als wir als „ausländische Agenten“ eingestuft wurden, gab es viele öffentliche Veranstaltungen. Wir haben uns laut und deutlich zu uns selbst und zu den Rechten und Freiheiten in der Region allgemein geäußert. Ich denke, dass wir den Behörden mit unseren Aktivitäten im Weg waren und sie uns einfach vom Feld genommen haben.
Kirill Korotejew, Anwalt des Menschenrechtszentrums Memorial, Moskau
Wir arbeiten weiter wie bisher. Die Verwaltungsentscheidung des Justizministeriums beeinflusst unsere Tätigkeit in keiner Weise. Die Arbeit hat sich nur in einer Hinsicht verändert: Wir haben jetzt mehr damit zu tun, uns selbst zu verteidigen. Jetzt gerade zum Beispiel sprechen wir beide ja nicht über meine eigentliche Arbeit. Wir reden weder über die Opfer des Terroranschlags in Beslan oder die der Bombardierung von Katyr-Jurt noch über das Verschwinden von Personen noch über die Versammlungsfreiheit in Moskau. Wir sind gezwungen, uns selbst zu verteidigen – manchmal übrigens recht erfolgreich. Zum Beispiel haben wir den Prozess am Verfassungsgericht zu Beginn dieses Jahres gewonnen.3 Aber das Verfassungsgericht hält sich nicht gern an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, und die übrigen russischen Gerichte halten sich nicht gern an die Entscheidungen des Verfassungsgerichts.4 Deshalb schreibt das Samoskworezki-Bezirksgericht auf die direkte Anweisung des Verfassungsgerichts, unser Verfahren zu revidieren: „Das ist doch nicht wichtig genug.“
In diesem Jahr gab es die üblichen juristischen Schikanen, außerdem fand das Justizministerium auf der Website der Internationalen Gesellschaft Memorial „eine Aussage von Mitgliedern und Mitarbeitern des Menschenrechtszentrums Memorial zum Bolotnaja-Prozess, in der diese das Urteil kritisieren.“ Daraus wird gefolgert, dass wir „die verfassungsmäßige Ordnung untergraben“.
Auch die Entscheidung des Justizministeriums, uns in die Liste der „ausländischen Agenten“ aufzunehmen, kam auf ziemlich lächerliche Weise zustande. Im April 2013 gab es einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der besagte, dass wir mit der Kritik an der russischen Gesetzgebung und den Informationen zu den Festnahmen in Moskau eine politische Tätigkeit ausüben. Im Februar 2014 führte das Justizministerium eine Überprüfung durch, die keinen Hinweis darauf ergab, dass wir gegen das „Agentengesetz“ verstoßen. Im Juni 2014 trat ein Gesetz in Kraft, das dem Justizministerium erlaubte, Organisationen durch eigene Entscheidung in die Liste „ausländischer Agenten“ aufzunehmen. Und da wurden wir plötzlich in das Register eingetragen, und zwar unter Berufung auf den Antrag der Staatsanwaltschaft von 2013, dessen Gültigkeit eigentlich bereits im gleichen Jahr abgelaufen war.
Die Akten des Justizministeriums taugen also zu nichts, und wenn man ein entsprechendes Ziel hat, kann man sie auch ignorieren. Die Prüfungsakte des Justizministeriums aus dem Jahr 2014, in der kein Verstoß gegen das „Agentengesetz“ festgestellt wurde, musste dem überholten Antrag der Staatsanwaltschaft weichen. Das Justizministerium hatte die Wahl zwischen zwei Akten – einer veralteten und fremden und einer eigenen und aktuelleren. Und es hat sich für die fremde und veraltete Akte entschieden. Da fragt man sich, wozu wir eigentlich überhaupt ein Justizministerium brauchen? Das alles ist im Grunde natürlich zum Lachen – das Justizministerium hat seine eigene Belanglosigkeit bestätigt. Wenn hier jemand die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung untergräbt, dann natürlich das Justizministerium. Zu diesen Grundlagen der Verfassungsordnung gehört gemäß Artikel 13 der Verfassung zum Beispiel der weltanschauliche Pluralismus.
1.Die Menschenrechtskommission Memorial wurde im Juli 2015 in die Liste des Justizministeriums aufgenommen – Takie Dela
2.Die schwul-lesbische Hilfsorganisation Rakurs aus Archangelsk wurde im Dezember 2014 in die Liste aufgenommen – Takie Dela
3.Im Februar hat das Verfassungsgericht anerkannt, dass das derzeitige Verfahren zur staatsanwaltschaftlichen Überprüfung von NGOs verfassungswidrig ist und das Verfahren der antragstellenden Organisationen in die Revision überwiesen – Takie Dela
4. Mittlerweile wurde in Russland mit einem am 4. Dezember 2015 von der Duma verabschiedeten Gesetz entschieden, dass die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur noch umgesetzt werden, wenn der Verfassungsgerichtshof zuvor geklärt hat, dass diese nicht gegen das russische Grundgesetz verstoßen – dek
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Bestrafter Protest
Seit Juli 2014 ist in Russland ein Gesetz in Kraft, nach dem Ordnungsverstöße gegen das Demonstrationsrecht als Straftat geahndet werden können. Nun ist das neue Gesetz zum ersten Mal angewendet worden: Für vier Protestaktionen im Laufe des vergangenen Jahres muss der Aktivist Ildar Dadin für drei Jahre ins Lager. Damit fällt die Strafe sogar höher aus, als vom Staatsanwalt gefordert. Beobachter sehen darin eine Warnung davor, sich im politischen Protest zu engagieren.
Der politische Aktivist Ildar Dadin ist vom Basmanny-Gericht in Moskau wegen wiederholten Verstoßes gegen das Demonstrationsrecht zu drei Jahren Lagerhaft im allgemeinen Vollzug verurteilt worden. Er ist damit die erste Person in Russland, deren Verurteilung mit dem neuen Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs begründet wurde. Dieser Artikel stellt den wiederholten Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen unter Strafe. Der Staatsanwalt hatte nur zwei Jahre Lagerhaft im allgemeinen Vollzug beantragt – also ein weniger strenges Strafmaß, als es Richterin Natalja Dudar letztlich verhängte. Dadin lehnte es ab, sich schuldig zu bekennen.
Ildar Dadin wurde die Teilnahme an vier Aktionen im Jahr 2014 angelastet, wobei nach Auskunft seiner Anwältin Xenija Kostromina für drei dieser Fälle bereits rechtskräftige Gerichtsentscheidungen erfolgt waren; im vierten Fall war das Verwaltungsverfahren im Hinblick auf die Eröffnung eines Strafverfahrens eingestellt worden. Dem Aktivisten wird die Beteiligung an Protestaktionen am 6. und 23. August, am 13. September sowie am 5. Dezember 2014 angelastet. Bei der letzten Aktion hatten acht Aktivisten mit einem Transparent „Gestern Kiew – morgen Moskau“ die Straße blockiert, Fackeln angezündet und sich in Richtung Lubjanka bewegt. Dadin war am 15. Januar auf dem Manegenplatz festgenommen worden. Er erhielt 15 Tage Arrest. Am 30. Januar wurde er im Gerichtstermin dem Ermittlungsrichter überstellt, wo die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit verhandelt wurde. Am 3. Februar wurde Dadin unter Hausarrest gestellt. Der Ermittlungsrichter hatte Untersuchungshaft gefordert, mit dem Hinweis darauf, dass Dadin am Kiewer Maidan beteiligt gewesen sei. Zuvor waren Verfahren nach Artikel 212.1 des Strafgesetzbuchs auch gegen die Aktivisten Wladimir Ionow, Mark Galperin und Irina Kalmykowa eröffnet worden. Sie alle hatten sich an anderen oppositionellen Aktionen beteiligt.
Die Verschärfung des Demonstrationsrechts nahm nach den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz am 6. Mai 2012 ihren Anfang. Einen Monat später wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Strafen für Ordnungverstöße bei der Durchführung von Demonstrationen drastisch erhöhte. Im Juli 2014 traten dann die Änderungen im Strafgesetzbuch in Kraft. Vorgeschlagen hatten diese Gesetzesänderungen die Staatsduma-Abgeordneten Igor Sotow (von der Partei Gerechtes Russland) sowie Andrej Krassow und Alexander Sidjakin (beide von der Partei Einiges Russland). Sidjakin sagte, die Änderungen seien notwendig, um zu verhindern, dass sich die ukrainischen Ereignisse in Russland wiederholen. Artikel 212.1 des Strafgesetzbuches sieht bis zu fünf Jahre Freiheitsentzug vor. Bestraft wird der wiederholte Ordnungsverstoß bei der Ausrichtung bzw. Durchführung von Versammlungen, Demonstrationen, Aufmärschen oder Mahnwachen. Dazu müssen innerhalb von 180 Tagen mehr als zwei Ordnungswidrigkeiten nach Artikel 20.2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten erfolgt sein.
Zu dem Urteil erklärt Sidjakin: „Es widerspricht meiner Überzeugung als Jurist, das Urteil zu kommentieren, ohne alle Seiten des Verfahrens zu kennen. Das Strafmaß hat vier Funktionen: Schutz, Wiedergutmachung, Prävention und Bestrafung. Die Verteidigung wird wohl Berufung einlegen, und das Gericht wird alle ihre Argumente prüfen“, erklärt Sidjakin. Der Präsident habe in seiner letzten Ansprache gesagt, dass für kleinere Vergehen trotz allem administrative und keine strafrechtlichen Sanktionen in Betracht kommen müssten, bemerkt der Abgeordnete Rafael Mardanschin (Einiges Russland), Mitglied des Strafrechts-Ausschusses der Duma. „Aber die Ansprache liegt noch nicht lange zurück und die Anstrengungen zur Humanisierung haben gerade erst begonnen“.
Der Menschenrechtsaktivist Pawel Tschikow sagt, dass dies das erste Urteil nach dem neuen politischen Artikel des Strafgesetzbuches sei und dass es kurz vor Beginn des Wahljahres Angst verbreiten solle: „Ein Urteil, das nicht mit Freiheitsentzug verbunden ist, hätte eine Amnestie bedeutet. Und auch bei der Verurteilung zu einem Jahr Gefängnis wäre er freigekommen, weil er sich schon fast ein Jahr unter Hausarrest befindet. Ein solches Urteil signalisiert, dass von den Richtern in Bezug auf diesen und andere Artikel keinerlei Erbarmen und Nachsicht zu erwarten sind.“ Laut Tschikow wird bereits am Dienstag bekanntgegeben, welches Strafmaß der Staatsanwalt für Ionow beantragt: „Ionow könnte wegen seines fortgeschrittenen Alters verschont bleiben. Kalmykowa hat sich bereits schuldig bekannt. Aber Galperin muss sich leider auf eine echte Haftstrafe gefasst machen.“
Es werden Präzedenzfälle geschaffen, um ein Signal an alle zu senden, die bereit sind, sich in der Protestbewegung zu engagieren – so der Politologe Konstantin Kalatschew. „Vor dem Hintergrund der sozialen Krise wird der politische Protest zu einer gefährlichen Sache.“ Der Politologe hält solche Methoden jedoch für sinnlos, weil „man den Menschen den politischen Protest nicht aberziehen kann. Sie wissen, worauf sie sich einlassen und sind bereit, das Risiko einzugehen.“
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