Viele der gewalttätigen Episoden, die sich seit dem Zerfall der Sowjetunion am Rande des ehemaligen Imperiums abgespielt haben, sind heute weitestgehend aus der Erinnerung verschwunden. Oleg Kaschin widmet dem als Blutsonntag in die Geschichte eingegangenen Tag des sowjetischen Einmarsches in Litauen eine nachdenkliche Rückschau. Er fragt, welche Lektionen Russland aus diesen Ereignissen für die Gegenwart lernen könnte.
25 Jahre sind vergangen seit dem Tag, als die Sowjetunion mit Panzern in Litauen einrückte, um sich dort zu verabschieden. Der 13. Januar ist der traurigste Tag in der postsowjetischen Geschichte Litauens: der Blutsonntag, als Abschluss eines zehnmonatigen Widerstands der Litauischen SSR, die im März 1990 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, gegen das sowjetische Zentrum, das sich nicht mit dem Zerfall des Landes abfinden wollte. Der Nervenkrieg zwischen Moskau und Vilnius, zu dem ab Herbst 1990 die Wirtschaftsblockade gegen Litauen gehörte, endete mit sozial und wirtschaftlich motivierten Massendemonstrationen, dem Rücktritt der litauischen Regierung und schließlich mit einem prosowjetischen Staatsstreich: Ein anonymes Komitee zur nationalen Rettung, auf dessen Bitte sowjetische Truppen in Vilnius einrückten, erklärte, die Macht in der Republik übernommen zu haben. Die Truppen besetzten die zentrale Druckerei und den Fernsehturm (bei dessen Erstürmung Zivilisten, die litauischen „himmlischen Hundertschaften“ sowie ein Soldat der Alfa-Spezialkräfte ums Leben kamen); an das verbarrikadierte Parlament, zu dessen Verteidigung sich mehrere tausend Bewohner der Stadt aufgebaut hatten, wagten sie sich nicht heran. Die merkwürdige Doppelherrschaft dauerte in Litauen noch bis August, und nach dem Scheitern des Staatskomitees für den Ausnahmezustand GKTschP [und damit dem Scheitern des Augustputsches gegen Michail Gorbatschow – dek] erkannte das neue Machtorgan, der Staatsrat der UdSSR, die Unabhängigkeit Litauens, Lettlands und Estlands an.
Die Dialektik des Totalitarismus zeigt sich darin, dass die Volksaufstände in der Sowjetunion nicht von den Diktatoren Stalin und Breshnew gewaltsam niedergeschlagen wurden, sondern von den Demokraten Chruschtschow und Gorbatschow. Für letzteren wurde Vilnius 91 zum Schlussakt eines Dramas, das ihn seine gesamte Amtszeit über begleitete, seit er im Dezember 1986 erstmals Gewalt anwenden musste – das war in Alma-Ata gegen kasachische [Demonstranten – dek], die mit der Ernennung eines Russen zum Ersten Sekretär der kasachischen Kommunistischen Partei nicht einverstanden waren. Wenngleich Gorbatschow den Massen als Schwächling in Erinnerung geblieben ist, der – sei es aus Dummheit oder aus böser Absicht – die Sowjetunion zugrunde gerichtet hat, war er es, der den Rekord für Truppeneinsätze im Innern gebrochen hat, mit dem Ziel, die Einheit des Landes zu erhalten. Litauen fordert von Russland bis heute die Auslieferung des Friedensnobelpreisträgers, um ihn zu den Ereignissen des „Blutsonntags“ zu vernehmen – das wird natürlich kaum jemals geschehen, aber Vilnius bleibt in der Sache äußerst hartnäckig. In einem anderen Fall, dem von Belarus, ist die Auslieferung der Führer der litauischen Kommunistischen Partei Mykolas Burokevitschjus und Juozas Jermalavitschjus an Litauen im Jahr 1994 aufgrund derselben Anschuldigung Teil der Landesgeschichte – sie führte zum Rücktritt der gesamten belarussischen Führung unter Stanislau Schuschkewitsch und zu einer tiefgreifenden politischen Krise, die damit endete, dass Alexander Lukaschenko an die Macht kam.
Für Litauen ist der Januar 1991 einer der großen Momente seiner Nationalgeschichte, die tatsächliche Erlangung der Unabhängigkeit, ein blutiges Drama mit, so seltsam das klingen mag, vollkommenem Happyend. Für Russland ein nahezu vergessener Perestroika-Vorfall an der Peripherie, eine von vielen Geschichten der Art, an die man sich besser nicht erinnert – stolz kann man nicht darauf sein, und Nutzen haben sie auch keinen.
Erinnert man sich aber doch, so sollte uns Russen nicht allein der litauische Fall interessieren, der zeigte, dass unbewaffnete, von der Freiheit träumende Menschen stärker sein können als Panzer. Interessanter und wichtiger ist es, dass wir uns an die erste Reaktion des offiziellen Moskaus auf das Blut in Vilnius erinnern.
Drei Tage nach der Erstürmung des Fernsehturms erklärten Präsident Gorbatschow und Verteidigungsminister Jasow auf einer Sitzung des sowjetischen Parlaments, ihnen sei nicht bekannt, wer den Truppeneinsatzbefehl gegeben habe, und die einzige praktische Konsequenz aus den litauischen Ereignissen war eine Verschärfung des Pressegesetzes, denn natürlich war die Presse daran schuld, dass Menschen ums Leben gekommen waren. Die Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, war von jeher ein Schwachpunkt des Kreml. In den Jahren unter Putin ist das absolut blamable „Wir waren’s nicht!” praktisch zum zentralen staatlichen Motto geworden.
Es lohnt auch, sich das Schicksal der Gruppe von prosowjetischen Funktionären zu vergegenwärtigen, die die Basis des Komitees zur nationalen Rettung gebildet hatte – nicht einer dieser prosowjetischen Litauer, die sich im Konflikt zwischen Moskau und Vilnius auf die Seite Moskaus gestellt hatten, konnte später auf dessen Unterstützung zählen. Moskau rettete niemanden vor dem Gefängnis, half niemandem, sich der Verfolgung entziehen. Der Einzige, dem das halbwegs gelang, war der Zweite Sekretär der litauischen Kommunistischen Partei Wladislaw Schwed, der in den neunziger Jahren in Moskau im Parteiapparat der LDPR Karriere machte, doch auch Schwed musste, um bis zu Shirinowski zu gelangen, einige Zeit im Vilniuser Lukischkes-Gefängnis absitzen. Moskau lässt seine eigenen Leute immer wieder fallen, Moskau schert sich nicht um seine situativen Verbündeten, und die Erfahrung der prosowjetischen Litauer wäre vermutlich nicht uninteressant für die moskautreuen Feldkommandeure und Politiker im heutigen Donbass, denn auch die können natürlich weder heute noch in Zukunft auf irgendetwas zählen. Auf der Krim waren es Sergej Axjonow und Natalja Poklonskaja, die das Komitee zur nationalen Rettung bildeten, und wie heiter ihr Leben in Zukunft noch aussehen wird, kann wohl niemand wissen.
Die Erfahrung des prosowjetischen Umsturzes in Litauen zeigt auch, dass sich Moskau vor 25 Jahren wie auch später nicht derart verhalten konnte bzw. zu verhalten lernte, dass es vom Zerfall des [Sowjet-] Imperiums profitierte oder zumindest keinen Schaden nahm. Tschetschenien 1994 (unter Berücksichtigung der dortigen Gemütsart und Kriegsfertigkeit) war fast eine wörtliche Wiederholung des litauischen Szenarios von 1991. Als Oberst Maschadow bereits Militärführer der Tschetschenischen Republik Itschkerien war, erinnerte er sich immer noch gerne an seine letzte Parade am 9. Mai 1991 in Vilnius, als seine Soldaten durch die Stadt liefen und von der dortigen Bevölkerung verflucht und bespuckt wurden – offensichtlich ähnelten sich Tschetschenien und Litauen stärker, als man gedacht hätte. Wer garantiert denn, dass die Konflikte im Kaukasus in den nächsten Jahren nicht wieder aufflammen. Hat Moskau diesbezüglich irgendwelche produktiven Ideen, außer dem Allheilmittel „Kadyrow noch mehr Geld geben“?
Über die ganzen 25 Jahre hat niemand die Frage beantwortet, wie sich Moskau verhalten soll, damit die Krisen an der Peripherie nicht in einer Bluthölle enden, und was Gorbatschow hätte tun sollen, damit er für Litauen genau so ein Held und Retter vor dem Totalitarismus geblieben wäre wie für den übrigen Westen. Wobei Litauen noch ein einfaches Beispiel ist, es gab auch noch, nun ja, Baku 1990, wo Gorbatschow ebenfalls Panzer hinschickte (für das heutige Aserbaidschan ist er genau so ein Übeltäter wie für Litauen), aber in Baku gab es auch noch das Progrom an den Armeniern – was also hätte man tun sollen: ohne Panzer auskommen und sich mit dem Gemetzel abfinden? Eine Antwort gibt es bis heute nicht.
Eine Antwort gibt es bis heute nicht, aber sie wäre nötig: Es gibt keine Garantie, dass die Erfahrungen aus dem Zerfall des Imperiums für Russland nicht doch noch einmal wichtig werden, zumal Russland vor regionalen politischen Krisen unterschiedlicher Heftigkeit nicht gefeit ist. Vor einigen Jahren haben Moskauer OMON-Truppen die Automobilisten-Demos in Wladiwostok auseinandergetrieben (und die Lokalpresse schrieb, wie 1991 die litauische, von einem Blutsonntag) – das ist wohl auch eine Lektion des Jahres 1991, wenn auch aus weit fleischärmerem Material als bei den Litauern.
Der 13. Januar 1991 ist für Russland ein Tag der nicht gelernten Lektionen und der unangenehmen Fragen. Wahrscheinlich bleibt unserem Land noch einige Zeit, um diesen Fragen und Lektionen auszuweichen, doch höchstwahrscheinlich nicht viel Zeit, und über einiges sollte man sich besser jetzt schon genau klarwerden.
Der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow ist mit seinen Äußerungen zur russischen Opposition derzeit in aller Munde. Oppositionelle wehren sich nicht nur in den sozialen Netzwerken, während in Tschetschenien „Pro-Kadyrow“-Flashmobs organisiert werden. Außerdem wird in den Medien kontrovers über die Ereignisse in Köln diskutiert und Deutschland eine düstere Zukunft prognostiziert, während Kulturminister Wladimir Medinski sich gegen Zensurvorwürfe wehrt.
Kadyrow. Russland im Januar 2016: Der Krieg in Syrien und die Terrorgefahr durch den Islamischen Staat haben in den Medien der Sorge um den Verfall des Rubels und einem neuen Skandal um Ramsan Kadyrow Platz gemacht. Der tschetschenische Republikchef attestierte der russischen Opposition in der kremlnahen Zeitung Izvestia unlängst eine „massive Psychose“. Er könnte ihnen bei der Bewältigung ihrer medizinischen Probleme helfen. Im tschetschenischen Dorf Braguny existiere eine exzellente psychiatrische Klinik, heißt es weiter in dem Text, welcher unter Kadyrows Namen veröffentlicht wurde (hier die englische Übersetzung). Oppositionelle seien „Schakale“. Man müsse sich ihnen gegenüber verhalten, wie gegenüber Volksfeinden und Verrätern, so Kadyrow zuvor während einer Pressekonferenz in Grozny.
Die Provokation aus Grozny wäre wohl ungehört verhallt, wenn nicht Konstantin Sentschenko, Abgeordneter im Stadtparlament der sibirischen Stadt Krasnojarsk, am 14. Januar auf seiner Facebook-Seite Kadyrow seinerseits als Schande für Russland bezeichnet hätte, nur um sich knappe 24 Stunden später für seine Aussage zu entschuldigen. Die Geschichte ist verworren, wirft allerdings ein Schlaglicht auf das Regime von Angst und Unterdrückung, welches der seit 2007 amtierende Kadyrow und seine Getreuen in der russischen Teilrepublik Tschetschenien in den vergangenen Jahren errichtet haben. Und so schrieb dann auch der Abgeordnete Sentschenko, dass ihn ein längeres Gespräch mit einer in ganz Russland bekannten Person von Kadyrows Autorität überzeugt habe. Auf der Instagram-Seite des tschetschenischen Machthabers tauchte daraufhin ein Video auf, in welchem sich Sentschenko für sein Unrecht entschuldigte. Kadyrow kommentierte mit: „Ich nehme an)))))“.
Ihre Fortsetzung fand die Affäre im Internet, wo sich Oppositionelle den Drohungen aus Grozny entgegenstemmten. Während die Journalisten Xenija Sobtschak und Pawel Lobkow in ihrer Sendung auf dem kremlkritischen Sender TV Dozhdironische Entschuldigungen an Kadyrow richteten, drohte Magomed Daudow, tschetschenischer Parlamentschef und loyaler Wegbegleiter Kadyrows, auf seiner Instagramseite der Opposition mit Tarzan, dem Hund des Republikchefs und dessen „juckenden Zähnen“. Als Antwort darauf veröffentlichten Vertreter der Opposition wiederum Bilder ihrer Haustiere: der Dumaabgeordnete Dimitri Gudkow etwa ein Bild seines riesigen tibetanischen Mastiffs. In Grozny wurden derweil Demonstrationen zur Unterstützung von Kadyrow organisiert und tschetschenische Medien berichteten von Pro-Kadyrow-Flashmobs. Hier noch eine ausführliche Chronologie der Ereignisse.
Mit politischen Konsequenzen werden Kadyrow und seine Entourage wohl auch nach dieser Provokation nicht zu rechnen haben. Nach längerem Schweigen aus dem Kreml erteilte Putins Sprecher Dimitri Peskow Kadyrow gar noch Rückendeckung. Dessen Äußerungen würden sich auf die „nicht-systemische Opposition“ beziehen, welche außerhalb der legitimen politischen Arena agiert. Vertreter der außerparlamentarischen Opposition dürften Peskows Worte nicht sonderlich beruhigen. Die Moscow Timesweist darauf hin, dass mit dem Begriff „systemische Opposition“ üblicherweise diejenigen Parteien bezeichnet werden, welche im Parlament sitzen und als loyal zum Kreml gelten. Kadyrow selbst will nach Ansicht der russischen Medien rechtzeitig zum Jahrestag der Ermordung von Boris Nemzow, deren Spuren nach Grozny führen, Stärke zeigen, so unter anderem dieNovaya Gazeta. Die Moskauer sind in ihrer Meinung über den tschetschenischen Machthaber gespalten, wie Straßeninterviews vonTV Dozhd und Radio Svoboda zeigen. Während die einen in ihm jemanden sehen, welcher Demokratie und Verfassung missachtet und eine dunkle Persönlichkeit hat, halten ihn andere für einen prima Politiker, welcher nach den blutigen Kriegen Frieden und Stabilität nach Tschetschenien gebracht habe. Die Russen dürften jedoch nicht den Fehler machen und Kadyrow mit allen Tschetschenen gleichsetzen, schreibt Oleg Kaschin.
Flüchtlingskrise in der EU. Die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof sind auch diese Woche nach wie vor Thema in Russland. Zur besten Sendezeit am Wochenende zeigte der Erste Kanal diese Woche nun eine Reportage über Lisa. Das minderjährige Mädchen sei in Berlin von Migranten aus dem Nahen Osten verschleppt und vergewaltigt worden. Die Polizei mache nichts und stelle sich schützend vor die Täter, so die angeblichen Verwandten des Mädchens vor den Kameras des Staatsfernsehens. Die Geschichte schlug in sozialen Netzwerken derart hohe Wellen, dass sich sogar die Berliner Polizei dazu äußerte: Das Mädchen sei zwar kurzzeitig als vermisst gemeldet worden, eine Entführung oder eine Vergewaltigung habe aber nicht stattgefunden. Ein Verfahren wurde kurz darauf eingestellt. Vor diesem Hintergrund wirkt der TV-Beitrag äußerst zweifelhaft, wie auch TV Dozhd berichtete. Für seine Propagandazwecke nimmt es das russische Staatsfernsehen mit der Wahrheit jedoch nicht immer allzu genau. Das zeigt auch das Beispiel, welches der russische Journalist Alexej Kowaljow auf seinem Blog schildert.
Diese Kritik hindert den russischen Boulevard jedoch nicht daran, Deutschland eine düstere Zukunft zu prognostizieren. In ihrem Bericht aus Nürnberg schildert die Korrespondentin der Komsomolskaja Prawda die ihrer Meinung nach absurde Willkommenskultur, wenn in Geschäften Flüchtlinge dazu aufgefordert werden, gleich noch ihre Familie mitzubringen. Man wisse ja, wie groß Flüchtlingsfamilien normalerweise seien. Ändere sich nichts, bleibe Deutschland nur die Wahl zwischen Faschismus und Islamismus, lautet das Fazit des Artikels. Rossija 24, einer der staatlichen Nachrichtensender, hat auf seiner Homepage gar eine eigene Themenrubrik eingerichtet. Unter dem Titel Angriffe in Deutschland berichtet der Sender über angeblich durch Flüchtlinge verübte Verbrechen. Laut dem Sender befinde sich Europa am Rande eines Bürgerkrieges.
Zensur. Zum Abschluss der heutigen Presseschau noch ein Nachtrag zu vergangener Woche. Die Bücherverbrennungen in der Republik Komi, der Bücher zum Opfer fielen, welche mit Unterstützung des Fonds George Soros herausgegeben worden waren, sorgten für heftige Kritik. Grund für die Aktion war, dass der Fonds 2015 auf die Liste der in Russland unerwünschten Оrganisationen gelandet war. Das Kulturministerium nannte die Verbrennung zwar unzulässig, sieht aber keinen Grund zum Kurswechsel. In einem Interview mit der Nesavisimaja Gazeta stellte Kulturminister Wladimir Medinski dieser Tage klar, es gäbe keine Zensur in Russland. Niemand beschäftige sich in seinem Ministerium damit.
PS. Aktuell widmen sich fast alle Medien den Ergebnissen des britischen Untersuchungsberichts über die Ermordung des ehemaligen russischen Spions Alexander Litwinenko 2006, hier der Bericht der BBC. In dem Bericht wird die These bekräftigt, dass der ehemalige KGB-Agent Andrej Lugowoi und der Geschäftsmann Dimitri Kowtun den Mord ausgeführt haben, außerdem geht der Bericht von einer Billigung durch den damaligen Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB Nikolaj Patruschew und Präsident Wladimir Putin aus. In einer ersten Reaktion nannte das Außenministerium in Moskau die Untersuchungen politisch motiviert. Doch da die Artikel erst im Erscheinen begriffen sind, davon mehr in der nächsten Presseschau.
In unregelmäßigen Abständen werden wir auf dekoder nun auch Beiträge aus russischen Blogs übersetzen, den Anfang macht diese Woche der Blog noodleremover (russisch: lapschesnimalotschnaja) von Alexej Kowaljow.
Jemandem Nudeln auf die Ohren hängen – das heißt in Russland soviel wie: jemanden für dumm verkaufen, jemandem einen Bären aufbinden. Die Wendung kommt wohl aus dem Gefängnis-Jargon, und mit Nudeln hat sie mit ziemlicher Sicherheit ursprünglich gar nichts zu tun, aber Kowaljow nimmt sie beim Wort: Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Fälle zu entlarven, in denen russische Massenmedien ihren Lesern (und Zuschauern) die Pasta auf die Ohrmuscheln zu kleben versuchen – und kratzt sie mit medienanalytischen Werkzeugen wieder ab. Fündig wird er dabei häufig, und seine Leser danken es ihm inzwischen mit bis zu 100.000 page views für jeden seiner Posts.
In dem hier übersetzten Beitrag wirft Kowaljow – der als ehemaliger Chefredakteur von inosmi.ru und Co-Chef von yodnews.ru die Medienszene genauestens kennt – einen Blick auf einige Persönlichkeiten, die im russischen Fernsehen als westliche Experten zu verschiedenen politischen Themen präsentiert werden. Dabei spielt die deutsche rechtsnationale Szene keine unbedeutende Rolle.
Gestern hatte euer ergebener Diener ein Gespräch mit den Kollegen des Internetfernsehens Nastojaschtscheje Wremja [currenttime.tv – dek], und zwar anlässlich eines kürzlich veröffentlichten noodleremover-Beitrags über die „Experten“, die in den russischen Fernsehprogrammen auftreten und sowohl für den einheimischen Markt, sprich für die WGTRK, tätig sind als auch für den ausländischen Markt, also beispielsweise für Sendungen von RTund Sputnik. Diese Experten werden gewissermaßen zur äußeren Legitimation propagandistischer Thesen benutzt – schaut mal her, wir haben uns diese ganzen Geschichten über das niederträchtige Amerika gar nicht selbst ausgedacht, sogar die amerikanischen Experten sagen das.
Es gibt also eine Handvoll Leute, die von Beitrag zu Beitrag ziehen, wo sie mal als „Experten“, mal als „Analytiker“ und mal als „Journalisten und Schriftsteller“ vorgestellt werden. Obgleich sie bei sich zu Hause keineswegs als Experten gelten. In Russland kann man ja Parlamentssprecher oder Leiter der größten Staatsbetriebe sein oder einen anderen höchsten Staatsposten bekleiden und dabei in der Öffentlichkeit den tumbesten verschwörungstheoretischen Blödsinn von sich geben, und das wird dann in den staatlichen Medien abgedruckt, ohne dass es irgendjemanden kümmern würde. Im Westen aber, im Gegensatz zu Russland, hat der Begriff Reputation doch ein gewisses Gewicht. Wenn jemand ein hohes Amt anstrebt oder in den seriösen Medien auftreten will, obwohl er irgendwelche komplett marginalen Standpunkte vertritt oder Anhänger einer Verschwörungstheorie ist, so wird er versuchen, diese für sich zu behalten. Denen, die ihre Leidenschaft für Aluhüte nicht im Griff haben, bleiben nur die Websites für den kleinen Kreis ihrer Gesinnungsgenossen – oder der Fernsehsender RT, wo man ihre Phantasien live an ein mittlerweile durchaus breites, wenngleich weltweit gesehen doch marginales Publikum ausstrahlt. So gelangen „Experten“ zuerst zu RT und von dort aus auch in die Westi – bei näherer Betrachtung entpuppen sie sich dann als stadtbekannte Irre, sonstige schräge Vögel oder als mehr oder weniger offene Nazis.
Manuel Ochsenreiter (Redakteur der rechten Zeitschrift Zuerst!) im Ersten Russischen Fernsehen
In meinem Gespräch mit Nastojaschtscheje Wremja kam eine interessante Frage auf, deren Beantwortung bedauerlicherweise nicht gesendet wurde. Woher kommen diese ganzen Leute eigentlich? Sitzt irgendein unbekannter Redakteur des Staatsfernsehens da und überlegt: „Welchen renommierten ausländischen Experten hole ich am besten in die Sendung, damit er dort über Amerikas heimtückische Intrigen berichtet?“ Wir wollen einfach mal versuchen, anhand jenes Westi-Beitrags über sogenannte Couchexperten Licht ins Dunkel zu bringen.
Da ist zum Beispiel William Engdahl, der behauptet, die USA hätten „einen umfassenden Plan zur Dämonisierung Russlands aufgestellt“. Engdahl ist Autor zahlreicher Bücher, Artikel und Vorträge über die schädlichen Folgen von Genmanipulation sowie darüber, dass die globale Erderwärmung ein Mythos sei und dass hinter sämtlichen globalen Entwicklungen in der Welt, vom Sturz des Schahs im Iran 1979 bis zur ägyptischen Revolution 2011, die CIA stehe. Er ist häufig zu sehen auf RT, unter anderem war er in der Sendung Truthseeker im Juli 2014 zugeschaltet, und zwar in der Ausgabe über das „gekreuzigte Baby“, die nach zahlreichen Zuschauerbeschwerden wieder aus dem Programm genommen wurde.
Wurde Engdahl in dem Westi-Beitrag als „Schriftsteller und Politologe“ vorgestellt, so betreibt er hier „investigativen Journalismus“
Außerdem ist Engdahl ständiger Autor des Zentrums für Globalisierungsforschung und seine Texte werden häufig auf der Website globalresearch.ca publiziert. Ich habe bereits darüber geschrieben, warum diese Seite eine solch wertvolle Quelle für die verschiedensten „Analytiker“ und „Politologen“ im russischen Fernsehen darstellt. Der Gründer des Zentrums für Globalisierungsforschung Michel Chossudovsky gehört dem wissenschaftlichen Beirat der italienischen Zeitschrift Geopolitica an, deren Chefredakteur Tiberio Graciani wiederum im obersten Rat der Internationalen eurasischen Bewegung sitzt, deren Vordenker und Anführer Alexander Dugin ist. Wenn ihr nicht darüber informiert seid, wer das ist, lest es bitte nach, so auf die Schnelle lässt sich das nicht sagen. Eine, kurz gesagt, facettenreiche Persönlichkeit, die in Russland innerhalb von wenigen Jahren vom „verrückten Professor“ zu einem der einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen mit einer enormen Wirkung auf die Innen- und Außenpolitik geworden ist. Über sein Verhältnis zur russischen Führung gibt wohl am deutlichsten ein Zitat von ihm aus dem Jahr 2007 Aufschluss. Seither haben sich seine Ansichten nicht allzu sehr geändert.
„Gegner des Putinschen Kurses gibt es nicht mehr, und wenn doch, sind sie psychisch krank und man muss sie zur Gesundheitsfürsorge schicken. Putin ist überall, Putin ist alles, Putin ist absolut, Putin ist unersetzlich.“ Der Anführer der Eurasischen Bewegung Alexander Dugin am 17. September, auf einem Empfang der Zeitung Izvestia
Es gibt noch eine italienische Zeitschrift für ultrarechte Intellektuelle, die Putin nach dem Prinzip „der Feind meines Feindes“ (Hauptsache, es geht gegen Amerika) unterstützen, und dort steht Engdahl beim wissenschaftlichen Beirat direkt in der Zeile unter Dugin. Man kann also davon ausgehen, dass Engdahl mit Dugin persönlich bekannt ist und über ihn Zugang hat zu den Köpfen und Büros der höchsten Führungsetagen, also auch zu den Chefs der staatlichen Fernsehgesellschaft WGTRK, dass er also nicht auf persönliche Initiative eines Jungredakteurs im russischen Äther auftaucht. Dugin nahestehende Kreise der europäischen Ultrarechten, Neonazis, Euroskeptiker und verschiedenste Verschwörungstheoretiker – das sind, wie es aussieht, die Hauptquelle, aus der das russische Fernsehen seine „Experten“ rekrutiert. Und nicht nur fürs Fernsehen. Da ist zum Beispiel Manuel Ochsenreiter, der regelmäßig sowohl auf RT als auch auf den russischen TV-Kanälen als „Journalist“ herumgeistert. Hier ist er beispielsweise in Gesellschaft von Alexander Dugin zu sehen:
Der Journalist Ochsenreiter ist natürlich ein ziemlicher Spezialfall: Er ist Redakteur der ultrarechten [deutschen] Zeitschrift Zuerst!, die in Deutschland immer wieder für Schlagzeilen sorgte (beispielsweise lehnte der Bauer-Verlag wegen Sympathien für die Nazis die Zusammenarbeit ab). Und Ochsenreiter ist nicht einfach nur ein häufiger Kommentator im russischen Fernsehen – er war auch „Beobachter“ bei den „Wahlen“ in der „Volksrepublik Lugansk“. Die sich anscheinend der Aggression der faschistischen Junta zur Wehr setzt. Mit Hilfe eines echten deutschen Neonazis, der früher eine Zeitschrift über die ruhmreichen Siege der Wehrmacht herausgegeben hat.
Izvestia, 2. November 2014: Ausländische Beobachter verzeichnen hohe Wahlbeteiligung bei den Wahlen in der Volksrepublik Lugansk Der Vertreter Deutschlands, Manuel Ochsenreiter, erklärte, er habe bislang „keinen einzigen Verstoß beobachtet“. Die ausländischen Beobachter, die an dem Wahlmonitoring teilnehmen – gewählt werden das Oberhaupt der Volksrepublik Lugansk und die Abgeordneten des Volkssowjets – verzeichnen eine hohe Wahlbeteiligung. „Wir kommen gerade aus einem Wahllokal – das war voll bis zum Anschlag. Mein erster Eindruck ist, dass die Menschen ein enormes Interesse daran haben, an diesen Wahlen teilzunehmen“, erklärte Manuel Ochsenreiter, der hier Deutschland vertritt, gegenüber der Nachrichtenagentur TASS. Die Gruppe, der er angehört, hatte ein Wahllokal in Brjanka besucht.
Und so sieht das Cover der Deutschen Militärzeitschrift aus, deren Chefredakteur Ochsenreiter bis 2011 war:
Weiter im Text unseres Westi-Beitrags: Nach Engdahl tritt dort Jeffrey Steinberg auf. Steinberg schreibt für die Zeitschrift Executive Intelligence Review, die von der sogenannten LaRouche-Bewegung (LaRouche Movement) herausgegeben wird. Die „Bewegung“ – diplomatisch ausgedrückt, in Wirklichkeit sind die LaRouchisten eine faschistoide Sekte mit ziemlich ekelhaften Ritualen (nachzulesen beispielsweise unter dem Stichwort „Ego-Striptease“ [im Wikipedia-Eintrag über LaRouche – dek]). Ihre Ansichten sind ebenfalls extrem verschwörungstheoretisch und sektenmäßig. Die LaRouchisten haben zum Beispiel einen kompletten Dachschaden, was die britische Königsfamilie angeht, die ihrer Ansicht nach generell an allem Unglück der Menschheit schuld ist, Königin Elisabeth II. kontrolliert persönlich das Kokainkartell und so weiter. Eben jener Jeffrey Steinberg behauptete zum Beispiel in einem Interview, Prinzessin Diana sei nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen, sondern auf Weisung Prinz Philips vom britischen Geheimdienst ermordet worden (eine populäre Verschwörungstheorie bezüglich Diana: murder, not accident). Bei der Zeitschrift Executive Intelligence Review (EIR) finden sich regelmäßig Cover im Geiste wie diesem hier:
LaRouche: Jetzt handeln, um Obamas Nazi-Plan zur Gesundheitsreform zu stoppen!
Wie ihr wahrscheinlich ahnt, ist in Amerika die Herausgabe von Zeitschriften mit einem derartigen Cover und solchen Ansichten zwar nicht verboten (man stelle sich das mal entsprechend in Russland vor), doch sie sind, gelinde gesagt, bei der breiten Masse nicht gerade beliebt. Ganz anders in Russland. Zum einen haben die LaRouchisten eine Niederlassung in Russland – das sogenannte Schiller-Institut. Und die Executive Intelligence Review hat auch eine russischsprachige Website. Dort steht genau das Gleiche wie im Original, bloß dass es in russischer Übersetzung noch hirnverbrannter wirkt:
Britische Agenten – Verfechter des Völkermords [an in der Ukraine lebenden Russen] – […] Organisation eines US-imperialen Umsturzes in der Ukraine. Mannomann. Dabei sind diese Leute nicht erst gestern aufgetaucht. Seit 2008 gibt Lyndon LaRouche auf RT regelmäßig Interviews.
Doch er ist nicht vom Himmel gefallen. Lyndon LaRouche ist kein persönlicher und langjähriger Freund von irgendjemandem, sondern vom Präsidentenberater zu Fragen der Wirtschaftsintegration Sergej Glasjew. Hier sehen wir LaRouche und Glasjew im Jahr 2001 auf einer gemeinsamen Pressekonferenz:
Und hier eine persönliche Gratulation von Sergej Glasjew an Lyndon LaRouche auf der russischen EIR-Seite:
Lieber Lyndon LaRouche! Von ganzem Herzen gratuliere ich Ihnen zu Ihrem runden Geburtstag, den Sie dieser Tage feiern, Sie, ein weltweit anerkannter Wissenschaftler, der verdientermaßen die Achtung von Spezialisten, Politikern und Personen des öffentlichen Lebens in verschiedenen Ländern der Welt genießt. Ihre visionäre Gabe und die von Ihnen lange vor der weltweiten Finanzkrise erarbeitete Prognose des Zusammenbruchs des internationalen Finanzsystems haben Ihnen den Ruhm eines Propheten und Gurus für die Schlüsselprobleme der Menschheitsentwicklung eingebracht! Aufrichtig wünsche ich Ihnen neue schöpferische Großtaten, eine robuste Gesundheit und das Glück, die Umsetzung Ihrer Vorschläge und Empfehlungen zur Gesundung und Entwicklung der Weltwirtschaft mitzuerleben. Ihr Sergej Glasjew 29.08.2012
Wie ihr seht, fallen diese „Experten“ und „Analytiker“ wirklich nicht vom Himmel und werden nicht auf Initiative irgendwelcher Nachrichtenredakteure ins russische Fernsehen geholt, sondern von ihren Freunden an der Spitze der russischen Macht. Dugin, Glasjew und die Partei Rodina unterhalten enge Verbindungen zu europäischen und amerikanischen Ultrarechten, Neonazis und sonstigen Obskuranten, die man als im Westen einflussreiche Politikwissenschaftler und Journalisten ins Fernsehen schleift – die sie aber natürlich nicht sind. Und die sich deshalb freuen wie die Schneekönige, wenn sie, zwar nicht im eigenen Land, aber in Russland, ins echte Fernsehen dürfen und als wichtige Leute vorgestellt werden. Die Partei Rodina, der Sergej Glasjew angehört, ist ebenfalls ein Großlieferant für unterschiedlichste handgemachte TV-„Experten“. Einer davon ist zum Beispiel John Laughland, der immer wieder in der Nachrichtensendung Westi zitiert wird. Mindestens schon seit 2002:
Heute wird Laughland als „Forschungsprogrammleiter des Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit“ zitiert. Dieses hat seinen Sitz in Paris und nennt sich solide The Institute of Democracy and Cooperation oder auch Institut de la Démocratie et de la Coopération. Nur ist Leiter des Instituts nicht Laughland und auch nicht irgendein Monsieur Sowieso, sondern die ehemalige (2003–2007) russische Dumaabgeordnete für die Partei Rodina Natalja Narotschnizkaja, die von Putin persönlich zur Leiterin ernannt wurde.
Narotschnizkaja und Laughland sind ebenfalls langjährige und gute Freunde.
John Laughland und Natalja Narotschnizkaja
Das Institut für Demokratie und Zusammenarbeit ist eine NGO, die offiziell von Russland aus gegründet wurde und gesponsert wird. Wenn ihr also solche Experten im Fernsehen seht, lasst euch nicht durch ein Institute of Democracy and Cooperation und einen Mister Laughland täuschen, die die NATO, Amerika und die Demokratie kritisieren – das sind alles einheimische Pflanzen. So weit für heute, lasst euch keine Nudeln auf die Ohren hängen und bleibt online.
PS: Für eine Vielzahl an nützlichen Hinweisen dankt der NudelentfernerAnton Schechowzow, der die Verbindungen zwischen dem russischen Polit-Establishment und den europäischen und amerikanischen Ultrarechten gründlich erforscht hat.
Die russische Wirtschaft ist stark von Importen abhängig. Das soll sich durch die Politik der Importsubstitution ändern, die u. a. als Antwort auf die westlichen Sanktionen eingeführt wurde. Dabei sollen nicht nur importierte Industriegüter durch solche einheimischer Produktion ersetzt werden, sondern auch viele Nahrungsmittel. Das ist gerade für den Käse folgenreich.
Wenn früher die Sowjetbürger von einem Paket aus dem Ausland träumten, schwärmten sie von Jeans und Kaugummi, während der einheimische Fetisch die Wurst war. Heute träumen die Russen nicht mehr von Jeans, Kaugummi und Wurst, sondern von Käse. Westlicher Käse ist vielen Russen lieb und teuer geworden, sich in Käsefragen auszukennen, gilt gerade in den großen Städten als Zeichen von Kultiviertheit und gutem Geschmack. Viel mehr als Träumen bleibt derzeit aber nicht: Importware wird an den Grenzen beschlagnahmt und vernichtet, während der russische Käse in den Läden meistens entweder nicht russisch oder kein Käse ist.
Seit Anfang letzten Jahres seien 200 Tonnen sanktionierter Lebensmittel aus dem Handgepäck nach Russland einreisender Fluggäste und aus Paketen an Russen beschlagnahmt worden, meldete die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde Rosselchosnadsor im November nicht ohne Stolz. In der Pressemitteilung hieß es, dass unsere Landsleute noch nie in der Geschichte der Russischen Föderation so viel Käse importiert hätten – erlaubt sind 5 Kilogramm, doch meistens wird diese Menge überschritten.
Seit August 2015 werden sanktionierte Lebensmittel vernichtet, wenn sie bei der Einfuhr auf russisches Territorium entdeckt werden. Im Herbst lernten die Russen das Wort „Incinerator“ – so heißen die Öfen, die bei der Verbrennung organischer Abfälle zum Einsatz kommen. Für den anfallenden Käse dachte man sich aber auch andere Vernichtungsmethoden aus. In Belgorod walzte man 9 Tonnen konfiszierten Käse mit einem Bulldozer platt, in Samara vergiftete man Edamer und Tilsiter mit dem Bleichmittel Belisna. Natürlich funktionierte es nicht überall: In Pulkowo wurden 20 Tonnen Käse zwecks Vernichtung beschlagnahmt, doch die Verantwortlichen kamen mit dem Auftrag nicht zurande, und der Käse wurde nicht vernichtet.
Am bedauernswertesten aber ist gar nicht das Schicksal des importierten, sondern das des russischen Käses. Das Produkt, das beim World Cheese Award schon vorher nicht für Medaillenklimpern sorgte, hat seit dem Beginn der Gegensanktionen hoffnungslos an Qualität eingebüßt, und statt Büffel-, Kuh- oder Schafmilch ist nun Palmöl der meistverwendete Rohstoff.
Bürgermeisterkäse
Auf der Straße beim finnischen Konsulat in St. Petersburg tauchte ein Werbeplakat in finnischer Sprache auf. Ein grauhaariges Großmütterchen mit einem Stück Butter auf einem Teller lächelt verschmitzt unter einer Aufschrift, die übersetzt lautet: „Wir können das genau so gut wie ihr.“ Die gleiche Reklame tauchte jeweils auf Deutsch, Englisch, Französisch und anderen Sprachen auch bei Dutzenden anderer Botschaften und Konsulate in St. Petersburg und Moskau auf. Damit wollten die Besitzer der neuen Marke Baba Valja die Konkurrenz auf den Arm nehmen. Der nächste Schritt der Troll-Marke war eine virale Reklame darüber, dass die Oma von den Plakaten, Valentina Konstantinowna, als Qualitätschefin der Firma eingestellt worden sei.
Der finnische Milchfabrikant Valio findet die Witze dieses Produzenten nicht amüsant: Dem Betrieb zufolge kopiere Baba Valja sein Markenzeichen, die Qualität von Butter, Mayonnaise und Käse sei aber ungleich schlechter. In der russischen Firma erklärt man, dass man es humorvoll möge und nicht vorhabe, mit den Witzen aufzuhören. „Wir werden mit Valentina Konstantinowna auf jeden Fall weitere lustige Aktionen auf die Beine stellen“, kündigt der Vertreter der Firma Stanislaw Alexejew an.
Auch der neue Käsefabrikant Oleg Sirota – der Schwiegersohn von German Sterligow, einem der ersten russischen Multimillionäre – mag es humorvoll. Er hat die Käserei Russischer Parmesan eröffnet und darauf eine Flagge Neurusslands gehisst und erzählt nun Journalisten, dass er für seine Ziege Merkel auf der Suche sei nach einem Bock Obama. Sirota verhehlt nicht, dass er ohne Embargo nicht in dieses Business eingestiegen wäre, und ist voll des Lobes über die Gegensanktionen. Die Eröffnung der Fabrik war sogar auf den Jahrestag der Sanktionen abgestimmt. „Mein größter Alptraum ist, dass die Sanktionen aufgehoben werden könnten“, hat Sirota in Medieninterviews mehrmals gesagt.
Der leidenschaftliche Imker und ehemalige Bürgermeister Moskaus Juri Lushkow hat ebenfalls bekanntgegeben, dass er auf seinem Bauernhof in der Oblast Kaliningrad mit der Herstellung von Pendants europäischer Spitzenkäse beginnen will. Und dass die erste Sorte zu Ehren seiner Gattin Elena Baturina vielleicht Elena heißen wird. Wobei auch eine zweite, für die Käufer verständlichere Namensvariante in Erwägung gezogen werde – Lushkowski.
Die in der Käseproduktion führende Region Altai meldet ein so starkes Produktionswachstum, dass es dort unterdessen an Rohmilch fehlt. Letztes Jahr wurden in diesem Gebiet 72.000 Tonnen Käse erzeugt – 16 Prozent der gesamten russischen Produktion. Dieses Jahr ist das Käsevolumen um ein Drittel gewachsen. Übrigens hat der Ankauf von Rohmilch und der dann erfolgende Weiterverkauf an verarbeitende Betriebe letztes Jahr einige Bewohner der Gegend zu Milliardären gemacht. In der Region Altai gibt es davon jetzt fünf, früher war es nur einer.
Insgesamt wuchs die Käseproduktion im ganzen Land im vergangenen Jahr um mehr als 21,6 Prozent. Auch wenn es sich in Wirklichkeit nicht bei allen 500.000 Tonnen russischen Käses tatsächlich um Käse handelt.
Ein spezielles Rezept
Der Importkäse verschwand nach der Bekanntgabe der Gegensanktionsmaßnahmen vom 7. August 2014 nicht sofort aus den russischen Theken – es waren Vorräte für einige Monate vorhanden, die dann allmählich zur Neige gingen. Eine Zeitlang lief der Verkauf durch das Thema „laktosefrei“ weiter. Zur Erinnerung: Laktosefreie Milchprodukte fallen nicht unter das Embargo, und bei den meisten Hartkäsesorten muss nicht einmal groß getrickst werden, weil sie aufgrund ihrer besonderen Herstellung laktosefrei sind. Doch dieses Schlupfloch wurde im Juni 2015 bei der Verlängerung des Embargos gestopft. Daraufhin versuchten die Einzelhändler zu beweisen, dass das Antisanktionsgesetz nur die Einfuhr von Käse nach Russland verbietet, nicht aber den Verkauf – und dem Petersburger Supermarkt Magnit gelang es sogar, eine Buße von 30.000 RUB [360 EUR] wegen des Verkaufs von französischem Schafskäse anzufechten. Dennoch beschlagnahmte der föderale Verbraucherschutz weiterhin Waren in den Läden, und Pawel Sytschew, erster stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaftlichen Kammer zur Unterstützung von Familie, Kindern und Mutterschaft, regte sogar an, das Verkaufen sanktionierter Ware mit Gefängnis zu bestrafen. Der Vorschlag wurde bislang nicht umgesetzt, aber im Herbst gelangte deutlich weniger „verbotenes Gut“ in die Supermarktketten. Importierter Käse kommt zum größten Teil (81 Prozent) aus Weißrussland, den Rest machen teure Käse aus der Schweiz, Argentinien und einigen anderen Ländern aus.
Nach einer Analyse der in den Regalen verbliebenen Käsesorten erklärte die russische Landwirtschaftsaufsichtsbehörde in einer offiziellen Pressemeldung unerwartet, dass 78,3 Prozent der Produkte Imitate seien. Später präzisierte die Behörde, die Untersuchung sei noch nicht allzu aussagekräftig: Spezialisten hätten 23 Käseproben überprüft und in 18 von ihnen Pflanzenfette gefunden.
Das Ministerium für Landwirtschaft vertritt seinerseits die Meinung, der russische Käse sei durchaus von guter Qualität, nur 10 bis 15 Prozent seien Imitate; nach Angaben des nationalen Milchindustrieverbands Sojusmoloko wiederum sollen es 15 bis 20 Prozent sein.
Das Grundproblem ist das Fehlen der nötigen Milchmengen. „Es hat sich gezeigt, dass die Produzenten nicht in der Lage sind, den Import von Käse zu kompensieren, dessen Marktanteil sich vor dem Embargo auf rund 50 Prozent belief, weil sie nicht genug Rohmilch guter Qualität bekommen, aus dem man diesen Käse herstellen könnte“, lautet das Fazit des Geschäftsführers von Sojusmoloko, Artjom Below. Im Jahr 2015 seien in Russland insgesamt 30,5 Millionen Tonnen Milch produziert worden, der Markt hätte aber 8,5 Millionen Tonnen mehr benötigt, stellte man im Fachverband fest.
Anstelle von Milch setzen die russischen Käsefabrikanten daher nun munter Pflanzenfette ein, sprich Palmöl. Der Import nahm 2015 im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel zu, im November überstieg er die 700.000-Tonnen-Marke.
Palmöl ist zwar nicht schädlich (in Malaysia zum Beispiel hält man es sogar für gesund), aber nach der Fülle an echten Milchprodukten vor dem Embargo hat man irgendwie keine große Lust auf milchfreien Käse. Deshalb essen die Russen nun einfach ein bisschen weniger Käse. „Die Nachfrage nach Käse ist leicht gesunken, um 1 bis 1,5 Prozent, es gibt aber noch keine genauen Zahlen“, sagt der Milchmarkt-Analyst des Moskauer Forschungsinstituts für Agrarmarktkonjunktur IKAR, Wadim Semikin.
Es fehlt indessen nicht nur am Rohstoff, sondern auch an Erfahrung in der Produktion von Hartkäse. Für Milchverarbeiter ist der ein anspruchsvolles Produkt: Er muss monate- und manchmal jahrelang reifen, und für 1 Kilogramm Hartkäse braucht es 8 bis 10 Kilogramm Milch von guter Qualität (ganz zu schweigen von den nötigen Fertigkeiten, die man sich nicht in ein paar Monaten aneignet). Das bedeutet, es braucht viel Zeit, bis die teure Herstellung sich rentiert – eine kleine, gute Produktionsstätte kostet gut und gern 50 Millionen RUB [600.000 EUR]. Kein Wunder, dass die Leute nicht Schlange stehen, um im großen Stil in die Herstellung von Qualitätskäse einzusteigen – die Einrichtung und viele Zutaten stammen aus dem Ausland und müssen für immer teurer werdende Euro und Dollar importiert werden, und die Zinssätze für Kredite bewegen sich im Bereich der 20-Prozent-Marke.
Kurz und gut, von den einheimischen Käsefabrikanten erwartet man besser keinen russischen Parmigiano Reggiano, bei dem für die Herstellung eines Laibs eine halbe Tonne Rohmilch sehr guter Qualität benötigt wird. Zumal die Milch dazu nicht pasteurisiert werden darf, was die russischen Aufsichtsorgane nie und nimmer zulassen würden. Da ist es einfacher, Palmöl zuzusetzen oder die gewohnten russischen Sorten herzustellen – Altaiski, Kostromskoi oder Rossiski. Dabei behaupten die Käseproduzenten selbst allesamt, gerade ihr Käse sei wirklich gut, und der größte Troll der Käseindustrie Valentina Konstantinowna zeigt sich durchaus angriffslustig: „Es sind doch die Schweizer, die das mit dem Palmöl machen – unser russischer Käse ist der beste. Das spüre ich am Geschmack.“
Diese Woche: Der Ölpreis erreicht ein Rekordtief und animiert die Wirtschaftspresse zu immer düstereren Prognosen. Der sinkende Rubelkurs lässt die Bevölkerung unter weiter steigenden Preisen ächzen. Und ein Verkehrspolizist im Südural wird bei einem Schneesturm zum Volkshelden.
Ölpreis. Zum Jahresanfang bekam Russland den Horror in Form einer einfachen Zahl: 30. So wenige Dollar bringt gegenwärtig ein Barrel Rohöl ein – und die russische Sorte Urals noch weniger: Als es am Dienstag nur noch 27,4 Dollar waren, betitelte das wirtschaftsliberale Leitmedium Vedomosti Russlands Wirtschaftslage bereits mit „Zwischen Stress und Schock“. Schließlich liegt der Ölpreis inzwischen nochmals 20 Prozent niedriger als vor einem Monat – und somit deutlich unter jenen Werten, die vor kurzem nur in Stresstests von Ökonomen vorkamen. Inzwischen unterbieten sich Börsianer und Großbanken mit pessimistischen Prognosen, wie tief der Preis fürs Schwarze Gold noch sinken könnte: 25 Dollar, 20 Dollar, 10 Dollar…? Parallel schwindet der Wert des Rubels weiter – mit einem Dollarkurs von 77 Rubel und dem Euro knapp unter 84 Rubel wurden Kurse erreicht, die es bisher nur einmal gab: Am 16. Dezember 2014, jenem Tag, als am russischen Finanzmarkt vorübergehend totale Panik ausbrach.
Der Preis des Dollars könnte 2016 durchaus auf 90 bis 100 Rubel steigen, so das Wirtschaftsblatt Delowoi Peterburg in seiner Ölschock-Analyse. Das ist allenfalls für Russland-Fans, die eine Reise dorthin planen, eine gute Nachricht: Von der Kaufkraft her ist der Rubel jetzt schon 69 Prozent unterbewertet, so jedenfalls die jüngste Ausgabe des berühmt-berüchtigten BicMac-Index von The Economist. Oder, wie esRBC.ruanschaulich formuliert: Zum Preis einer Doppelstock-Bulette in den USA gibt es in Russland drei Stück.
Nicht nur Russlands wirtschaftliches Wohlergehen, auch der Staatshaushalt ist von den Öleinnahmen abhängig. Das Budget für 2016 ist aber auf einen Durchschnittswert von 50 Dollar je Barrel ausgelegt. Als erste Konsequenz hat die Regierung für alle Ressorts eine 10-prozentige Haushaltskürzung verkündet. Wenn diese und weitere Sparmaßnahmen nicht greifen, befürchtet selbst Finanzminister Anton Siluanow eine heftige Abwertung des Rubels „wie in der Krise 1998“. Doch radikales Sparen ohne grundlegende Reformen hält das ans üppige Ölgeld gewöhnte System nicht aus. „Das ist, als wenn man einem übergewichtigen Menschen ein Bein abschneidet, anstatt ihn auf Diät zu setzen“, warntVedomosti.
Inflation. Diät halten müssen zwangsweise bereits viele russische Bürger: Die Inflation war im letzten Jahr mit 15,5 Prozent doppelt so hoch wie im Vorjahr. Berücksichtigt man nur die Lebensmittelpreise, betrug die Teuerung nach amtlichen Daten sogar 20,8 Prozent. Ein kinderreicher Preis-Scout der Novaja Gazeta beteuert hingegen, dass seine Kassenbons zum Jahresende um 50 Prozent höher lagen als im Jahr zuvor – „und parallel zur Inflation gibt es Lohnkürzungen in allen Branchen“. Anders als in der Krise 2008 wachse jetzt die Armut im Lande, auch wenn der Staat verspreche, die Sozialleistungen zu garantieren, kritisiert Ex-Finanzminister Alexej Kudrin – dem viele russische Medien um den Jahreswechsel eine anstehende Rückkehr in ein Regierungsamt nachsagten. Vorerst dementiert er das.
Schneesturm. Was hilft am besten durch harte Zeiten? Aufopferung und Nächstenliebe. Prompt rührt ein Beispiel dafür die russischen Medien momentan ganz besonders: Anfang Januar tobte über dem Südural ein Schneesturm. Auf der Straße von Orenburg nach Orsk wurden 50 Autos von den Schneemassen verschluckt. Die Rettungsaktion verlief zäh und dauerte sträflich lange. Ein Mensch erfror, deshalb läuft ein Ermittlungsverfahren. Doch unter den Helfern vor Ort war auch der Verkehrspolizist Danila Maksudow. Einem elend frierenden Mädchen gab er seine Jacke, einem jungen Mann überließ er seine Handschuhe – und ging wieder in den Sturm hinaus, Leute retten. Nun liegt er mit Erfrierungen an den Händen im Krankenhaus. Patriarch Kirill lobte den 25-Jährigen Helden als Vorbild – und forderte auf, für dessen Genesung zu beten.
Im vergangenen Monat musste der langjährige Chefredakteur der offiziellen Zeitschrift des Moskauer Patriarchats, Sergej Tschapnin, seinen Posten räumen. Der Grund für die Entlassung dieser wichtigen Persönlichkeit des kirchlichen Lebens (Tschapnin hatte im Moskauer Patriarchat auch andere Ämter inne) wird in einer Reihe analytischer und durchaus kritischer Äußerungen zur jüngsten Geschichte der Kirche gesehen, mit denen Tschapnin in letzter Zeit hervortrat. Eine besondere Rolle spielte dabei nach Tschapnins eigenen Vermutungen der vorliegende Artikel über den Wandel der Kirche seit den Zeiten der Perestroika, der zunächst in der amerikanischen Religionszeitschrift first things erschien und nun in einer neuen Fassung des Autors bei Colta.ru veröffentlicht wurde.
Ich trat Ende 1989 in die Kirche ein und begann Anfang 1990, mich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen. Die Zeiten damals – zwei Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion – waren hart: Inflation, tiefgreifende Wirtschaftskrise, leere Regale in den Geschäften. Unsere Gemeinde bekam in der Stadt Klin, 85 Kilometer nordwestlich von Moskau, eine alte verfallene Kirche im Stadtzentrum zugesprochen. Die enthauptete Kirchenruine auf Bergen städtischen Mülls, der erstmal weggeschaufelt werden musste, wurde für uns zum Symbol der neuen Zeit. Es war das erste Gotteshaus in der Moskauer Umgebung, das der Kirche zurückgegeben, und das einem Bekenner aus der Zeit der Kirchenverfolgung geweiht wurde, dem Heiligen Patriarchen Tichon von Moskau und Russland.
Um den Kirchenvorsteher, einen jungen tatkräftigen Priester, versammelte sich eine junge Gemeinde, die von der Hoffnung einer Wiedergeburt Russlands lebte. Der Priester hatte noch den Druck der sowjetischen Geheimdienste zu spüren bekommen – er wurde überwacht, da er zwei Jahre zuvor in seiner damaligen Kirche gewagt hatte, einen Kinderkirchenchor zu gründen.
Damals, Anfang der 1990er-Jahre, zweifelte niemand daran, dass die Entwicklung des Landes, die Erfolge der kirchlichen Wiedergeburt und der Weg in die Zukunft unmittelbar mit der Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit zusammenhingen. Wir wussten und verstanden vieles nicht, aber wir fühlten es klar: Um das Land zu verändern, mussten wir uns selbst verändern und vor allem mussten wir aufhören, sowjetisch zu sein. Die innere Umkehr (Metanoia) war die zentrale und zugleich eine unbeschreiblich schwierige Aufgabe. Doch wir – damals Studenten und Schüler der höheren Klassen – lebten von der Hoffnung.
Nach dem Untergang der Sowjetunion geriet Russland in eine langanhaltende Identitätskrise. Zwei Wege standen zur Wahl: entweder die europäische Demokratie oder die eurasische Autokratie. Anfang der 1990er fiel die Wahl der Menschen eindeutig auf die Demokratie. Die Gesellschaft bewegte sich weg vom sowjetischen Imperium, sie stieß es regelrecht von sich weg.
Die kirchliche Wiedergeburt nahm in jenen Jahren äußerlich gesehen demokratische, ihrem Wesen nach aber regelrecht kanonische Formen an. Es entstand eine breite Laienbewegung, die zahlreiche Initiativen in den verschiedenen damals noch zur Sowjetunion gehörenden Regionen vereinte. Bereits im Herbst 1990 entstand aus dieser Bewegung der Bund der orthodoxen Bruderschaften. Eine Reihe von Eparchien in den Staaten, die nach der Auflösung der Sowjetunion unabhängig geworden waren, erhielt den Status autonomer Kirchen. Es begann die Verehrung von Neomärtyrern und russischen Bekennern aus der Zeit der Kirchenverfolgung. Wenige Jahre zuvor noch war die bloße Erwähnung der Verfolgung oder der Namen von Betroffenen nicht ungefährlich gewesen. Langsam und tastend entstand wieder ein Gemeindeleben. Und die lebendige kirchliche Predigt war gerichtet an die Herzen der Menschen, war Aufruf zu einem Leben in Christus.
Als eine Gemeinschaft, die so lange unterdrückt worden war und trotz brutaler Verfolgung überlebt hatte, erhielt die Kirche von der Gesellschaft und später auch vom Staat einen enormen Vertrauensvorschuss. Nicht nur die Orthodoxe Kirche insgesamt, sondern buchstäblich jeder einzelne Priester, jeder Träger von Kutte oder Talar, erhielt diesen enormen Vertrauensvorschuss.
Im ersten Stadium spielte das Konzept der kirchlichen Wiedergeburt – nennen wir es kirchliche Wiedergeburt 1.0 – eine wichtige Rolle bei der ideellen und kulturellen Befreiung von der sowjetischen Vergangenheit. Viele schauten auf das, was die Kirche allem Anschein nach hatte bewahren können: die traditionelle russische Kultur, also die andere, nicht die, die jedermann bekannt war, – nicht die sowjetische. Die Kirche zog sogar die Aufmerksamkeit derer auf sich, die sich nicht für Glaubenslehre und Gottesdienst interessierten. Und alle wollten irgendwie teilhaben an dieser Kultur, doch die überragende Mehrheit hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Eben in dieser Verwirrtheit der Mehrheit sind die Gründe für die ganz und gar beispiellose Hochachtung zu suchen, die die orthodoxe Geistlichkeit genoss. Für viele wurde der Priester zu einer Art Lotse auf dem Weg in die unergründete Welt eines anderen Russland.
Doch Wunsch und Wirklichkeit klafften stark auseinander. Die Kirche war unterdessen bereits ziemlich sowjetisch. Die höchste Geistlichkeit war Teil des sowjetischen Establishments, und die Priester erhielten – sofern sie sich bei ihrer Tätigkeit streng auf das Abhalten von Gottesdiensten beschränkten – erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Auch nach dem Niedergang der Sowjetunion gab es viele, denen der stillgelegte Zustand der Kirche à la Sowjetunion gelegen kam. Mitte der 1990er Jahre gab es die ersten Anzeichen dafür, dass das Episkopat beschlossen hatte, nicht mit neuen Tendenzen herumzuexperimentieren – und das Gemeindeleben zurück in die gewohnten sowjetischen Bahnen zu lenken. 1994 fasste die Synode den Beschluss, das Wachstum der Laienorganisationen bzw. der Bruderschaften zu begrenzen und unterstellte sie rigoros den Kirchenvorstehern. Viele Bruderschaften mussten aufgelöst werden.
In dieser Zeit begann auch die für das ideologisierte sowjetische Denken charakteristische Suche nach Feinden innerhalb der Kirche. Als erstes geriet die Gemeinde- und Katechesearbeit des Priesters Georgi Kotschetkow in die Schusslinie. Seine Widersacher bezeichneten ihn und seine Bewegung als Neo-Erneuerer, womit sie ihre kirchengeschichtliche Unwissenheit offenbarten, und versuchten, ihn als antikirchlich zu brandmarken. Eine offizielle Verurteilung seitens der Kirche konnten sie letztlich nicht erwirken – das Episkopat entschied, in der Angelegenheit zu schweigen. Doch seit jener Zeit besteht innerhalb der Kirche eine offene Spaltung in Liberale und Konservative.
Bei aller Bedingtheit dieser Begriffe im kirchlichen Kontext bleibt es eine wesentliche Tatsache, dass die Liberalen über die Katechese-Praxis und die Rolle des Gottesdienstes im Gemeindeleben nachdachten, während die Konservativen die althergebrachte Praxis als unabänderlich und nicht verhandelbar betrachteten. Sie sahen daher ihre Hauptaufgabe darin, sich in den gesellschaftlich-politischen Raum zu begeben und eine rechtgläubige [sprich: orthodoxe – dek] Ideologie zu etablieren.
Eine Zeitlang hielten sich die Kräfte die Waage. Das Episkopat war im Großen und Ganzen bemüht, in diesem Streit keine klare Position zu beziehen. Die Konservativen betrachteten sich als die Hüter des Glaubens und übten scharfe Kritik nicht nur an Laien und Priestern, sondern auch an Bischöfen (als einem der ersten – an dem heutigen Patriarchen, und dem damaligen Metropoliten von Smolensk und Kaliningrad, Kirill) für ihre „Abweichung vom orthodoxen Glauben“ und beschuldigten sie sogar der Häresie.
Seit dem Jahr 2000 änderte sich die Situation allmählich, als sich nämlich die Regierung mehr und mehr vom demokratischen Modell entfernte und zunächst autokratische, und dann auch autoritäre Züge annahm. Im Zuge dieser Wandlung änderten sich die Prioritäten im Konzept der Wiedergeburt der Kirche schlagartig. Die erste Etappe war abgeschlossen, als die Arbeit mit den Gemeindemitgliedern in den Hintergrund trat und das Zusammenwirken von Staat und Kirche zur zentralen Aufgabe wurde. Konkret ging es um
1) die Herausbildung einer neuen Identität durch das Predigen von Patriotismus und traditionellen Werten in voller Übereinstimmung mit der Innen- und Außenpolitik der Regierung und
2) die Verwaltung von Grundbesitz sowie die Einwerbung von staatlichen Mitteln für Bau und Restaurierung von Immobilien.
Gleichzeitig liefen Bürokratisierungsprozesse in der Kirche, neue Kirchenämter wurden geschaffen, der Dokumentenverkehr und die Zahl der Kirchenbeamten nahmen rasant zu.
Eine neue Etappe war angebrochen – die Wiedergeburt der Kirche 2.0. Dabei kommt mit der Kirche des Imperiums ein mächtiger und klar umrissener Archetyp ins Spiel, der unmittelbar auf Byzanz verweist und auf das ganze Feld weltanschaulicher Positionen um die Ideen vom Orthodoxen Reich und vom Dritten Rom. In diesem Konzept liegt zum einen ein großes Mobilisierungspotential – die Orthodoxe Kirche fügt sich bündig ein in das System der postsowjetischen Staatsführung, und zwar an der Leerstelle, die zuvor von der Kommunistischen Partei besetzt war. Das war für jeden offensichtlich, selbst für die kirchenfernen Staatsbeamten. Zum anderen ist dieser Archetypus auf emotionaler und ideologischer Ebene sehr attraktiv für viele Kirchenmitglieder – sowohl Laien als auch Amtsträger –, die sich für die wortgetreue Auslegung der Ideen von derHeiligen Rus und Moskau als dem Dritten Rombegeistern.
Das neue Imperium braucht gleichermaßen die Religion (als Form der Legitimierung einer nicht-demokratischen Regierung) wie auch die sowjetische Vergangenheit (als eine mythologische Zeit der großen Helden – darum ist auch der Tag des Sieges in den letzten Jahren zum wichtigsten Feiertag des Landes avanciert). Auch die Kirche bringt auf dieser Etappe durchaus ihre Sympathie für alles Sowjetische zum Ausdruck. Zum einen zeigt das ihre Solidarität mit der Staatsgewalt, zum anderen ist es ein Bekenntnis, dass die prosowjetischen Stimmungen innerhalb der Kirche sehr stark sind. Letzteres lässt sich durchaus erklären.
Die Wiedergeburt der Kirche 1.0 war außerstande, die drängendsten Aufgaben der Kirche zu bewältigen: Die Massen-Taufen der 1990er Jahre haben die Menschen nicht auf eine bewusste Teilnahme am Gemeindeleben vorbereitet. Das belegen nicht nur soziologische Umfragen, sondern auch die Priester selbst. Bezeichnend sind hierfür die Beobachtungen des Bischofs von Smolensk und Wjasemski (heute Orechowo-Sujewsk) Panteleimon: „Anfang der 1990er Jahre gab es einen regelrechten Ansturm von Gemeindemitgliedern auf die Gotteshäuser … Die Menschen gingen damals nicht in die Kirche, sie stürmten sie buchstäblich. Leider blieben nur wenige dort, und die Zeit des aktiven Interesses am Gemeindeleben, der Verkirchlichung war relativ schnell wieder vorbei … Der Anteil derjenigen, die am Sonntag in die Kirche gehen, macht nach meiner Einschätzung höchstens ein Prozent der Landesbevölkerung aus.“
Abgesehen von den Besucherzahlen der Kirchen, ist auch Folgendes zu erwähnen: Die sowjetischen Menschen empfingen zwar die Taufe, aber sie erlangten kein Wissen über die Grundlagen des Glaubens. Die Kirche nahm sie so auf, wie sie waren, und ging davon aus, dass die Verkirchlichung von alleine geschehen würde, auf einem irgendwie gearteten „natürlichen“ Weg. Aber in der überwältigenden Mehrheit empfanden die sowjetischen Menschen keinerlei Bedürfnis sich zu ändern, sie blieben genau so, wie sie waren … Veränderungen gab es freilich trotzdem: Es war die Kirche selbst, die durch die „Neugläubigen“ verändert wurde.
Und in dieser Situation vollzog sich unbemerkt ein wesentlicher Wandel. Der wichtigste Appell, den die Kirche sowohl an den Einzelnen wie auch an die Gesellschaft als Ganzes gerichtet hatte, klang lange Zeit attraktiv: „Lasst uns die Traditionen wahren!“, „Die Missachtung von Traditionen ist gefährlich!“ Auf den ersten Blick geht es hier um einen gesunden christlichen Konservatismus, doch im russischen Kontext muss man unbedingt nachfragen: Welche Traditionen genau meinen wir?
Riesige moralische und intellektuelle Anstrengungen sind im heutigen Russland nötig, um einen Blick tief in die Geschichte zu werfen – in die Zeit vor dem Oktoberumsturz, vor 1917, in die Geschichte des Russischen Reiches. Zu viel Zeit ist vergangen, zu viele Generationswechsel haben stattgefunden, zu viele Träger vorrevolutionärer Traditionen wurden bewusst vernichtet. Und so wird die Rückbesinnung auf kirchliche Traditionen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts unweigerlich zu einer Nachstellung historischer Ereignisse, zu einem Amateurtheater.
Aus der Behauptung, die Traditionen des Christentums seien aus dem russischen Alltagsleben verschwunden und in Vergessenheit geraten, lassen sich zwei praktische Schlüsse ziehen:
1) Man sollte sich auf die Suche nach einer noch erhaltenen lebendigen Tradition begeben.
2) Es muss eine Basis geschaffen werden, auf der neue Traditionen wachsen können, die unseren heutigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebensbedingungen entsprechen.
Als Christ ist diese Einsicht für mich besonders bitter, aber von einer lebendigen Tradition können in Russland nur diejenigen sprechen, die von der sowjetischen sprechen. Darin liegt das eigentliche Geheimnis der Anziehungskraft von allem, was mit der Sowjetunion und der kommunistischen Vergangenheit zu tun hat, nicht nur für die Rentner, sondern auch für die Jugend. Das heutige Gepäck Russlands – kulturell, geschichtlich, gesellschaftlich, philosophisch und religiös – besteht nicht in der Vielfalt, sondern in einer einzigen lebendigen Tradition, an die sich alle erinnern, die alle kennen und die alle an ihre Kinder weitergeben können. Das ist die sowjetische Tradition. Und ihre triumphale Wiederkehr in den letzten Jahren – sie ist das Eingeständnis, dass in Russland nichts anderes übrig geblieben ist.
So wurde die Wiedergeburt der Kirche 2.0 zu einem zentralen Element bei der Herausbildung einer postsowjetischen Zivilreligion, die dem Staat als ideologische Stütze dient. Und das hat Formen und ideologische Konstruktionen maßgeblich vorgezeichnet, die für das geltende Modell staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung tragend sind.
Obwohl sich die Kirche nicht auf die schöpferische Erschließung der zeitgenössischen Kultur konzentriert hat, sondern auf die Anrufung der Vergangenheit, die Rekonstruktion von Praktiken des 17.–19. Jahrhunderts, ist einiges für den Weg nach vorn getan worden. Der Historiker Alexej Beglow erkennt an dieser Stelle: „Es geht hier nicht um die mechanische Wiederherstellung von etwas einst Verlorengegangenem, sondern um einen Prozess der Inkulturation, um ein schöpferisches Eintreten der Kirche in die zeitgenössische – moderne und postmoderne – Kultur Russlands und aller Staaten des postsowjetischen Raums.“ Dass die Kirche nicht die richtigen Worte gefunden hat, um das zu erklären, ist eine andere Sache.
Warum ist dann die Wiedergeburt der Kirche abgeschlossen? Die Wiedergeburt oder auch die Renaissance der Kirche markiert eine Übergangsperiode, eine Zeit der Unbestimmtheit. Die Wahl zugunsten der Kirche des Imperiums ist bereits getroffen, und die entsprechenden kirchlichen Formen und Institutionen sind geschaffen. Gut möglich, dass man die neue historische Phase der Orthodoxie in Russland genau so wird bezeichnen können – als neoimperal, oder vielleicht sogar als neosowjetisch.
Quo vadis, Russland? Die wirtschaftliche Lage ist angespannt, der Ölpreis im Keller, die westlichen Sanktionen gehen weiter. Ökonomische Schwäche durch vermeintliche außenpolitische Erfolge zu kaschieren – das könne auf Dauer nicht gut gehen, warnen zwei renommierte Experten: Alexej Lewinson vom Lewada-Zentrum und Ljubow Borussjak von der Moskauer Higher School of Economics. Für Slon skizzieren sie die unterschiedlichen politischen Perspektiven und Hoffnungen innerhalb der russischen Gesellschaft für das kommende Jahr.
Denkt man darüber nach, was das neue Jahr wohl bringen mag, stellt sich auf die eine oder andere Weise die Frage nach möglichen Veränderungen: Die einen träumen von einer Wende zum Besseren, die anderen fürchten den Wandel zum Schlechteren. Die meisten jedoch setzen auf die Erhaltung des Status Quo, also darauf, jede Veränderung zu vermeiden.
Immer häufiger jedoch begegnet einem der Gedanke, dass sich der gegenwärtige Zustand unmöglich aufrechterhalten lässt. Wenn es zurzeit überhaupt ein Gleichgewicht gibt, dann funktioniert es so: Wirtschaftliche Schwächen werden durch außenpolitische Erfolge ausgeglichen – und seien es nur eingebildete. Dabei ist vielen klar: Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich weiter. Und bedeutende militärische und politische Erfolge sind nicht zu erwarten.
In dem bekannten Halbscherz von der Schlacht „Fernseher gegen Kühlschrank“ wird angedeutet, dass der leere Kühlschrank bald gewinnen wird. Danach, so darf man annehmen, kommt es zu Hungerrevolten. Und was folgt dann? Eine Revolution nach dem Muster der Februar- oder der Oktoberrevolution? Die Wenigsten sind in der Lage, sich den nächsten Schritt vorzustellen, bzw. bereit, die möglichen Szenarien zu durchdenken. Bei der einen Perspektive – dem möglichen Untergang Russlands – wäre das Höchste der Gefühle an Reaktion ein heftiges Erschrecken: Es wäre das Ende – über das, was danach kommt, möchte niemand nachdenken.
Wir sind weder Anhänger des Schlachtszenarios zwischen Kühlschrank und Fernseher noch erwarten wir Revolution und Untergang, aber dass das derzeitige Gleichgewicht durch ein anderes ersetzt werden muss, steht außer Frage. Wissen wir, wie es aussehen wird? Nein. Was wir aber kennen, sind einzelne Utopien. Und die versuchen wir im Folgenden zu beschreiben.
Die Utopie des Krieges
Eine weitere Perspektive ist die Rückkehr zu der Situation, wie sie sich direkt nach der Angliederung der Krim, aber vor den Sanktionen und der Wirtschaftskrise darstellte: Russland auf dem Gipfel des Ruhms, „wir sind stark, aber friedlich“ und das wird der Westen bald anerkennen. Dies wünschen sich die Mehrheit der Bevölkerung und die Eliten am meisten. Doch es ist klar, dass dieser Zustand in den nächsten Jahren (ja, überhaupt) unerreichbar ist.
Umfragen zufolge hat sich seit dem Krim-Anschluss in der russischen Gesellschaft das Bewusstsein durchgesetzt, nicht in „alltäglichen“, sondern in „Ausnahme-Zeiten“ zu leben. Ein solches Ausnahme-Bewusstsein denkt in den Kategorien der Heldentat. Es geht deshalb davon aus, dass weder Opfer noch Mühen gescheut werden sollten, dass der Sieg keinen Preis kennt und dass die Siegesfreude ausnahmslos alle ergreifen und vereinen wird.
Das Alltagsbewusstsein beruht auf entgegengesetzten Prinzipien: Es muss das normale Leben in der Gesellschaft gestalten. Im Alltag muss man zwangsläufig rechnen, wie teuer gewisse Dinge sind, und Wünsche danach prüfen, ob sie überhaupt zu erfüllen sind.
Natürlich erlaubt es das epische, von Heldentaten geprägte Bewusstsein, in einem wunderbaren Zustand zu verweilen, während das Alltagsbewusstsein mit düsteren Gedanken über die Lage und die dafür Verantwortlichen beschäftigt ist. Das derzeit Fatale ist, dass mithilfe der Medien versucht wird, die Ausnahmesituation (und das entsprechende Bewusstsein) nicht nur als Normalität, sondern auch als Norm zu verankern und das Alltagsbewusstsein als subversiv zu denunzieren. Die Gesellschaft im Ausnahmezustand zu halten und den alltäglichen Zustand verbieten zu wollen, ist jedoch utopisch und deshalb nicht machbar.
Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015
Diese Unerreichbarkeit treibt Politiker und Normalbürger zu abenteuerlichen Entscheidungen – zur Suche nach Lösungen mittels militärischer Erfolge. Die Schwelle, die uns vom realen Krieg als dem schlimmsten Übel abhält, ist in letzter Zeit dramatisch gesunken. So viele haben mit dem Begriff „Dritter Weltkrieg“ herumgespielt, dass es an der Zeit ist zu fragen, weshalb die Staatsanwaltschaft noch kein einziges Verfahren nach Artikel 354 des Strafgesetzbuches eingeleitet hat. Alle, die politisches Kapital aus Überlegungen schlagen wollen, wie sehr ein Krieg das gesellschaftliche Wohlergehen befördern könnte, seien daran erinnert, dass im Strafgesetzbuch ein Gesetz zu dieser Frage existiert: „Öffentliche Aufrufe zur Entfesselung eines Angriffskriegs … unter Nutzung der Medien durch Personen, die ein öffentliches Amt der Russischen Föderation oder eines ihrer Bestandteile innehaben, werden mit einer Geldstrafe … oder einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren belegt.“
Eine weitere Utopie der heutigen Zeit ist allerdings die Perspektive, die internen Probleme des Landes ausgerechnet durch solche extremen außenpolitischen Mittel zu lösen. Doch so werden diese Probleme nicht gelöst. Die Annahme, dass Russland sich auf militärischem Weg eine neue, vorteilhaftere Position in der Welt erringen könnte, ist nicht haltbar. Nicht haltbar deswegen, weil sie auf der primitiven Logik beruht, dass Frieden ein Ergebnis von Krieg ist. Die Stellung eines Landes in der modernen Weltordnung wird jedoch nicht mehr durch die Faktoren bestimmt, die in der Geopolitik relevant waren – einer Disziplin des vergangenen Jahrhunderts.
Was ist also zu tun? Die Gelder, die im Staatshaushalt für die Verteidigung vorgesehen sind, verteilen sich letztlich auf Millionen von Beschäftigten in der Rüstungsindustrie und bei den Streitkräften. Auch wenn wir der Auffassung sind, dass es für das Wohl der Gesellschaft besser wäre, diese Mittel in andere Wirtschaftsbereiche zu lenken, darf man das nicht vergessen. Die Hauptsache ist also, dass die mit diesen Geldern hergestellten Kugeln nicht abgefeuert werden. Das Land durch militärische Erfolge zu retten, ist eine Utopie. Es ins Unglück zu stürzen, ist hingegen leider eine sehr realistische Perspektive.
Die Atrophie des gesellschaftlichen Denkens
Es wäre wunderbar, anstelle dieser beiden dargelegten Perspektiven, die wir zu Utopien erklärt haben, eine dritte vorzuschlagen: Nennen wir sie „freies, demokratisches Russland“. Die über 80 Prozent der Bevölkerung, die heute ihre Zustimmung zu Putin bekunden, haben schließlich früher einmal ihre Zustimmung zu Gorbatschow und dann zu Jelzin zum Ausdruck gebracht und damit deutlich gemacht, dass sie die Perspektive einer demokratischen Entwicklung im Land unterstützen. Die Verteidigung dieser Ideale ist bekanntlich schwächer und schwächer geworden, heute scheint sie aus der politischen Realität Russlands völlig verschwunden zu sein. In der Tat gibt es zurzeit keine soziale Schicht, die eine solche Agenda verfolgen würde. Und auch von einer ernstzunehmenden politischen Kraft, die sie öffentlich vertreten würde, fehlt jede Spur.
Aber darin liegt unserer Ansicht nach gar nicht das größte Problem. Denn die Ideen von Menschenrechten, von demokratischen Freiheiten und von einer demokratischen Gesellschaft sind im öffentlichen Bewusstsein als solche präsent, wenn auch zurzeit in verdeckter Form. Die Ereignisse auf dem Bolotnaja-Platz haben gezeigt, dass diese Ideen in jedem Moment an die Oberfläche gelangen und große Menschenmengen inspirieren können. Das Problem ist, dass sie nach wie vor fast in demselben Gewand daherkommen, wie sie die Glasnost-Ära hervorgebracht hat – das heißt so, wie sie von den russischen Demokraten der Sacharow-Generation formuliert wurden. Die Aufgaben, die das moderne Russland stellt, lassen sich jedoch nur mit einer Neufassung dieser Ideen bewältigen, die die zeitlosen Werte von Gerechtigkeit und Freiheit zeitgemäß auslegt.
Repräsentative Befragung der russischen Bevölkerung (1601 Personen ab 18 Jahren), durchgeführt vom 18.–21. Dezember 2015
Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen sind nicht die edlen, zeitlosen Werte der Demokratie gefragt, sondern edle und moderne demokratische Konzepte. Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten inmitten des Kulturkonflikts, der über Europa hereingebrochen ist und über Russland hereinzubrechen droht? Wie soll sich ein anständiger Mensch verhalten in einer Gesellschaft, in der die Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten einhellig abgelehnt wird? Wie kann sich die Gesellschaft aus der moralisch-rechtlichen Verstrickung lösen, die sich unter anderem aus dem Konflikt zwischen dem Recht der Nationen auf Selbstbestimmung und dem Verbot der Revision von Grenzen ergibt?
Und vor allem: Wie lässt sich der friedliche Übergang bewerkstelligen, weg vom augenblicklichen – als Putinismus, Autoritarismus, Totalitarismus und so weiter bezeichneten – Zustand, hin zu diesem freien und demokratischen Russland? Uns scheint, die russische Gesellschaft hat aufgehört, über diese Frage nachzudenken. Vielleicht ist es eine Utopie, sie zu stellen? Hoffen wir, dass das neue Jahr eine Antwort auf diese Frage bringt. Oder ist auch das – eine Utopie?
Diese Woche stehen in Russland die Räder noch weitgehend still. Nach den Neujahrsfeierlichkeiten gönnt sich das Land traditionell eine Auszeit. Gedruckte Zeitungen erscheinen erst nächste Woche wieder, online beschränken sich viele Medien auf Rezept-Tipps und Ratschläge, wie man Streit mit der Familie und Freunden während der Feiertage vermeidet. Die Pause im Nachrichtenstrom bietet eine gute Gelegenheit, sich auf ein Thema zu konzentrieren, welches vor lauter Ukraine, Syrien, Sanktionen und Gegensanktionen in der ausländischen Wahrnehmung oft zu kurz kommt: dasjenige der Rechtsprechung. Dass diese in Russland oft ihren eigenen, für den Außenstehenden wenig transparenten Regeln folgt, ist bekannt. Schuldsprüche sind in mehr als 90 Prozent aller Prozesse an der Tagesordnung. Die offensichtlich politisch motivierten Urteile gegen die Brüder Alexej und Oleg Nawalny sind ja auch im Westen ausführlich diskutiert worden.
Die Öffentlichkeit reagierte mit Unverständnis. Vor drei Jahren berichteten Medien noch von 1500 Stück Schmuck, welche Ermittler in Wasiljewas 13-Zimmer-Wohnung beschlagnahmt hatten. Von einer Durchsetzung der staatlich propagierten Antikorruptionskampagne konnte offenbar nicht die Rede sein. Privilegien und Beziehungen erlaubten es der Beamtin, sich ihrer Strafe zu entziehen. Übrigens: Ex-Verteidigungsminister Serdjukow ging gar völlig straffrei aus. Sogar mit seiner Karriere geht es nun wieder steil nach oben. Im Oktober 2015 wurde er auf einen Direktionsposten bei der Staatskorporation Rostechnologii berufen.
Die beiden Ukrainer sind nur ein Beispiel für die selektive Anwendung der Rechtsprechung 2015. Zunehmend machten russische Gerichte im vergangenen Jahr von repressiven Gesetzen Gebrauch, schreibt Vedomosti. Unabhängigen Informationszentren wie OVD-Info zufolge sei die Zahl politisch motivierter Strafverfolgungen von 184 im Jahr 2014 auf 230 in diesem Jahr gestiegen, so Vedomosti weiter. Das bislang letzte umstrittene Urteil erging Anfang Dezember: Der Aktivist Ildar Dadin wurde wegen der Teilnahme an vier nicht genehmigten Demonstrationen zu drei Jahren Straflager verurteilt. Zum ersten Mal kam dabei ein Artikel zur Anwendung, der wiederholte Verletzungen des Demonstrationsrechts unter Strafe stellt. Wie bereits berichtet, sind noch weitere Personen aufgrund dieses Artikels angeklagt, etwa Wladimir Ionow. Der 75-jährige Aktivist entzog sich jedoch der russischen Justiz und floh kurz vor der Verkündung seines Urteils ins ukrainische Charkiw.
In Russland wird das Strafgesetzbuch immer stärker zum einzigen Instrument des Dialogs zwischen Staatsmacht und Gesellschaft, fasst die Novaya Gazetadie Entwicklung der vergangenen Monate zusammen. Die hier geschilderten Fälle bilden dabei nur einen kleinen Ausschnitt ab. Zu den prominentesten Häftlingen, welche derzeit noch auf ihre Urteile warten, gehört etwa die ukrainische Militärpilotin Nadja Sawtschenko. Ihr wird vorgeworfen, während des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine Informationen an Artillerieeinheiten weitergegeben zu haben, die dann zum Tode zweier russischer Journalisten führten. Zudem wird sie beschuldigt, illegal die russische Grenze überquert zu haben. Dem hält Sawtschenko entgegen, dass sie durch prorussische Separatisten im Juli 2014 gefangen genommen und gegen ihren Willen nach Russland gebracht worden sei. Zuletzt wurde ihre Untersuchungshaft bis zum 16. April 2016 verlängert, im Falle eines Schuldspruches drohen ihr bis zu 25 Jahre Haft.
Ebenfalls noch in Untersuchungshaft befindet sich Pjotr Pawlenski, welcher im November die Eingangstür der FSB-Zentrale an der Lubjanka in Brand gesteckt hatte. Der Performancekünstler hatte bei seiner Anhörung explizit auch für sich eine Anklage wegen Terrorismus gefordert und auf Senzow und Koltschenko und die Taten verwiesen, die ihnen zu Last gelegt werden.
Die Eigenheiten des russischen Rechtssystems zeigen sich auch an dem nach wie vor nicht aufgeklärten Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow. Die Bilder aus der Mordnacht und vom Gedenkmarsch, auf dem eine Woche später Zehntausende des Oppositionspolitikers, ehemaligen Vizeministerpräsidenten und Abgeordneten des Regionalparlaments von Jaroslawl gedachten, gehören zu den eindrücklichsten und verstörendsten des gesamten Jahres.
Bereits kurz nach der Bluttat am 27. Februar wurden fünf Verdächtige den Medien vorgeführt, Ende Dezember Anklage erhoben. Die Spuren des Mordes führen in Kreise tschetschenischer Sicherheitskräfte. Laut dem Ermittlungskomitee hat der Fahrer des ranghohen tschetschenischen Polizeioffiziers Ruslan Geremejew, Ruslan Muchudinow, das Verbrechen organisiert und in Auftrag gegeben. Geremejew selbst zu befragen, schafften die Behörden nicht, auch mögliche Verstrickungen von Republikchef Ramsan Kadyrow wurden nicht untersucht. Die Anklage geht davon aus, der Mord sei aus Rache erfolgt, wegen der öffentlichen Unterstützung Nemzows für das französische Satiremagazin Charlie Hebdo, schreibt der Kommersant. Die politische Tätigkeit des Kremlkritikers scheidet laut den Ermittlern als Motiv aus. Muchudinow ist zurzeit international zur Fahndung ausgeschrieben.
Die offizielle Version trifft bei politischen Weggefährten und Angehörigen des ermordeten Kremlkritikers auf Unverständnis und Empörung. Wadim Prochorow, der Anwalt der Hinterbliebenen, kritisiert in einem Interview mit der New Times, dass die Behörden den Vorgesetzen Muchudinows aus ihren Untersuchungen aussparten, sämtliche Angeklagten hätten nicht aus eigener Initiative gehandelt. Ein persönliches Motiv hätten auch die anderen Beschuldigten nicht, nur ihre Hintermänner. Er sei überzeugt, dass die Auftraggeber durch den Mord Russland von einer angeblichen Fünften Kolonne säubern wollten, so der Anwalt weiter. Von einem politischen Motiv geht auch Tochter Shanna Nemzowa, welche Russland nach dem Mord verlassen hat, aus. Die Journalistin, welche nun für die Deutsche Welle arbeitet, macht sich erst für die Zeit nach Putin Hoffnung auf eine restlose Aufklärung des Verbrechens.
Beobachtern zufolge sollen die harten und oft selektiv anmuntenden Gerichtsurteile des vergangenen Jahres in erster Linie potentielle Kritiker davon abhalten, öffentlich ihren Unmut zu äußern, sind im September 2016 doch Dumawahlen geplant. Politische Proteste seien für den Einzelnen vor dem Hintergrund einer sozialen Krise gefährlich, kommentiert Vedomosti. Dies stimmt wenig hoffnungsvoll für den Start ins neue Jahr.
„Szenen aus der Tiefe“ – so lautet der Untertitel von Maxim Gorkis berühmtem Theaterstück „Nachtasyl“ (1902). Gorkis Helden sind allesamt einmalige, einprägsame Charaktere, die unter fürchterlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft ein Leben ohne Zukunft führen. Auch heute sind Außenseiter und Obdachlose im russischen Alltag sehr präsent. Maria Tarnawskaja tauchte in St. Petersburg an den Grund und spürte ihrem Schicksal nach.
Es ist drei Uhr nachmittags an einem Dienstag, ich stehe in einem kleinen Park bei der Metrostation Tschkalowskaja. Vor mir hocken zwei Männer gekrümmt auf allen Vieren und übergeben sich direkt auf meine Schuhe.
Das sind Wladimir Leonidowitsch und Dima, sie sind 56 und 27 Jahre alt, vor einer Stunde haben wir uns zum ersten Mal im Leben gesehen und vor fünf Minuten die Kantine verlassen, wo ich sie zum Mittagessen eingeladen habe.
Wladimir Leonidowitsch und Dima sind obdachlos. Wladimir mit zehnjähriger Erfahrung: Er ist gebürtiger Moskauer, wuchs im Viertel um die Patriarchenteiche auf, die Eltern starben, er heiratete ein junges Mädel, reiste für längere Zeit dienstlich nach Sibirien, die Frau war, wie sich herausstellte, ein Luder und brachte es während seiner Abwesenheit irgendwie fertig, ihn aus der Wohnung abzumelden, sie zu verkaufen und sich in unbekannte Richtung abzusetzen.
Dima ist erst im Januar zu Wladimir Leonidowitsch gestoßen, als dieser sich dank einer glücklichen Fügung mit seinen Leuten zerstritten und beschlossen hatte, lieber komfortabel im Wartesaal des Moskauer Bahnhofs zu übernachten – dank Beziehungen brauchte er ein paarmal im Monat nur die Hälfte oder überhaupt keinen Eintritt zu bezahlen. Dima war ihm sofort aufgefallen: Er war der einzige, der nicht lag, sondern saß. Aber er saß so kerzengerade da und riss die Augen so unnatürlich auf, dass Wladimir Leonidowitsch sich erkundigte, ob alles in Ordnung sei, worauf er zur Antwort bekam: „Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts.“
Der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima
Das erwies sich als die reine Wahrheit – der Mann konnte weder seinen Namen noch sein Alter noch seine Herkunft nennen und nicht einmal seine Lieblingsfarbe oder sein Lieblingsessen. Er hatte keinerlei Papiere, Fahrscheine oder sonstige Dinge bei sich. Und so gab ihm Wladimir Leonidowitsch den Namen Dima, „nach dem einsamen Mammutkind aus dem Zoologischen Museum, über das sie sogar einen Trickfilm gedreht haben“, und beschloss, dass Dima 27 ist.
Sie waren auf der Polizei, wo man allerdings noch nie etwas von einer Suchdatenbank gehört hat; Foto und Fingerabdrücke einer Person werden mit einem lokalen, ebenfalls unvollständigen Fahndungskanal abgeglichen – und da sollte man besser gar nicht auftauchen, weil der hauptsächlich für die Suche nach flüchtigen Verbrechern gedacht ist.
Jetzt bleiben die beiden immer zusammen: Dima hat Angst, sich zu verlaufen und sein neues Gedächtnis zu verlieren, und Wladimir Leonidowitsch hatte in seinem früheren Leben zwar Literatur unterrichtet, wollte aber immer Psychologe werden. Dima ist sein idealer Gefährte – es sei hochinteressant, zu entschlüsseln, wer er sei, und gleichzeitig aus ihm einen neuen Menschen zu machen. „Dima ist meine Galateia, Tscheburaschka, mein Sancho Panza, mein Freitag und Doktor Watson“, sagt Wladimir Leonidowitsch stolz über seinen Freund.
Und jetzt reiern mir die beiden auf die Schuhe. Ich hoffe, dass sie einfach zu viel gegessen haben. Denn Wladimir Leonidowitsch hat zwei Suppen, Hering im Pelzmantel, Frikadellen mit Kartoffelpüree, Teigtaschen und ein Stück Sandkuchen genommen, und Dima hat ihm alles nachgeplappert. Ich hatte noch gedacht, es könnte in Anbetracht ihrer körperlichen Konstitution zu viel des Guten sein – beide sind eher klein, dünn, hager –, sagte aber nichts, um nicht als geizig dazustehen, und ich wollte sie auch nicht in Verlegenheit bringen. Wladimir Leonidowitsch hatte mich gestern angerufen: „Ich habe Sie neulich gesehen, Sie suchen Obdachlose, weil Sie sehen wollen, wie wir leben – ich bin bereit, mich mit Ihnen zu treffen.“
Als er nicht mehr erbricht, blickt mich Wladimir Leonidowitsch von unten an, wischt sich den Mund mit einem Papiertaschentuch ab und sagt: „Der Sandkuchen war zu viel. Dafür darfst du mich jetzt Wolodja nennen.“
Vor ein paar Tagen habe ich mich tatsächlich nach Obdachlosen umgesehen und damit im Nachtasyl der 1990 eröffneten Wohltätigkeitsorganisation Notschleshka begonnen. Die städtische Liegenschaftsverwaltung KUGI vermietet ihnen das baufällige Gebäude zu sozialen Sonderkonditionen, das ist ein Fünftel des eigentlichen Preises, aber auch noch durchaus beträchtlich. Die Energie- und Wasserversorger Lenenergo und Wodokanal gewähren keinen Rabatt. Renoviert hat man selbst: Das Baumaterial wurde von hilfsbereiten Organisationen gebracht, was noch fehlte, kaufte man, und nicht nur Profis, sondern auch die Bewohner waren aufgefordert, das Dach neu zu decken und die Zimmer zu streichen.
„Es ist überaus wichtig, dass man Leute von der Straße in einen sozialen Kontext einbezieht. Obdachlose verlieren ziemlich schnell ganz normale Fähigkeiten: Verantwortung für etwas zu übernehmen, etwas zu vereinbaren – sie brauchen das nicht. Auf der Straße sind andere Fertigkeiten gefragt: Wichtig ist, dass man sich bei Minus zwanzig richtig anzieht und mit zwei Stunden Schlaf am Tag auskommt“, erzählt der Leiter der Notschleshka Grigori Swerdlin.
Grischa ist 36 und arbeitet schon ein Drittel seines Lebens hier. Sein Arbeitstisch steht in der Mansarde des Heims neben denjenigen der Fundraiser und Geschäftsführer. Insgesamt sind sie zusammen mit den Sozialarbeitern, Psychologen, Juristen, Verwaltungsmitarbeitern und Fahrern zwanzig Leute. Alles angenehme, lächelnde, charmante Menschen mit höherer Bildung, allesamt um die dreißig. Ihre Schützlinge sind durchschnittlich fünfundvierzig, zwei Drittel von ihnen männlich.
Die Obdachlosen kommen jeden Tag ins Haus an der Borowaja. Die Sozialarbeiter hören jedem zu und versuchen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu helfen: Der eine braucht einen einfachen Rat, ein anderer juristische Hilfe, und manche sind es einfach müde, auf der Straße zu leben. Mit letzteren stellen die Sozialarbeiter eine Art Betreuungsplan auf, in dem sie Punkt um Punkt vereinbaren, was in den nächsten Monaten zu erledigen ist: einen neuen Pass besorgen und sich temporär in der Notschleshka anmelden, eine Arbeit finden, ab dem zweiten oder dritten Gehalt ein Bett in einem Wohnheim oder ein Zimmer mieten – langsam, Zentimeter um Zentimeter, wieder hochkommen.
Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher
„Obdachlose lassen sich in drei Hauptgruppen einteilen“, sagt Grischa. „Am häufigsten hängt die Obdachlosigkeit mit Familienangelegenheiten zusammen: eine Wohnung wurde nicht aufgeteilt, ein Mann verlässt seine Frau ins Nichts, dazu kommen schauderhafte Geschichten von herangewachsenen Kindern, die ihre eigenen Eltern rauswerfen. Die zweite Gruppe sind Abgänger aus Waisenhäusern. Die haben gesetzlichen Anspruch auf Wohnraum, viele werden aber betrogen oder haben einfach keine Ahnung, wie man Geld verdient oder einen Haushalt führt, sie kennen die Preise von Dingen nicht. Wir hatten hier einen Jungen, der sein Zimmer verspielt hat, an Spielautomaten , weil er davon ausging, dass man ihm nach dem ersten auch ein zweites Zimmer geben würde, wie vorher. Die dritte große Kategorie sind Opfer von Wohnungsschwindlern. Eine Wohnung wiederzubekommen, gelingt uns höchstens fünfmal im Jahr, meistens ist alles so verworren, dass es unmöglich ist, die Immobilie zurückzukriegen.“
Ins Obdachlosenheim kommen außerdem oft ehemalige Häftlinge, die in der Regel ins Gefängnis zurückwollen – dort ist alles verständlicher. Oder Leute aus der Provinz, die zum Geldverdienen in die Großstadt fahren, und dann geht etwas schief, die Papiere kommen abhanden, es gibt keinen Ort zum Schlafen und man schämt sich, nach Hause zurückzukehren oder wenigstens anzurufen und zu sagen, dass man in Not geraten ist.
„Ja, merkwürdigerweise schämen sich die Leute vor ihrer Familie über ihren Misserfolg.“ Die Sozialarbeiterin Valentina Marjanowa sieht aus wie eine Absolventin des Smolny-Instituts für höhere Töchter: graues Haar, Hochsteckfrisur, aufrechte Haltung, Anstand, Brosche. „Sie kennen nicht mal ihre Grundrechte. Doch leider sind wir gezwungen zu wählen: Wenn wir ein freies Bett haben, wählen wir zwischen einem Anwärter, der vor fünf Jahren auf der Straße gelandet ist, und einem, der seit drei Monaten auf der Straße lebt, den letzteren – die Wahrscheinlichkeit, dass er zu einem normalen Leben zurückfindet, ist sehr viel größer.“
Sie helfen auf jede erdenkliche Weise, geben einen Platz in einem Gemeinschaftszimmer, Kleidung, Essen, schicken die Leute zum Arzt, holen zusammen Stempel und Unterschriften ein, sorgen für Unterhaltung: Einmal im Monat gibt es einen Ausflug in die Eremitage, Konzerte werden organisiert, in der Bibliothek gibt es viele gute Bücher, und dort stehen auch drei Computer und ein Fernseher mit einer Filmsammlung.
Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle
Durchschnittlich bleiben die Leute fünf Monate in der Notschleshka – das ist gewöhnlich lange genug, um in jeder Hinsicht zu Kräften zu kommen. Wer keinen Umbruch seiner Situation herbeizuführen versucht und das Heim stattdessen als Umschlagplatz missbraucht, wird mehrmals ermahnt und schließlich weggeschickt, damit ein Platz für einen motivierten Obdachlosen frei wird.
An solchen mangelt es nicht. Einer von ihnen kam vor vier Jahren in miserablem Zustand zu einer der Aufwärmestellen, die die Notschleshka den Winter über an mehreren Stellen in der Stadt einrichtet. Er meldete sich im Heim an. Besorgte sich neue Papiere, fand Arbeit, mietete sich eine Schlafstatt, sparte genug für einen kleinen LKW. Begann, Transporte durchzuführen, heiratete eine Ärztin aus der staatlichen Übernachtungsstelle Dom notschnowo prebywania. Unterdessen haben sie mit einem Kredit eine Wohnung gekauft.
Es gibt tausende von Geschichten, aber – der Bettenzahl entsprechend – nur 52 aktuelle.
Witali ist 28, er kommt aus dem Verwaltungsgebiet Nishni Nowgorod. In St. Petersburg fand er Arbeit als Schießtrainer und lebte in einem Hostel. Dann stahl man ihm die Tasche mit Geld, Sachen, Papieren – und Witali landete auf der Straße. Am Bahnhof warb ihn eine Organisation an, die ihm versprach, bei der Besorgung neuer Papiere und einer Arbeit zu helfen.
Letztlich arbeitete Witali ein paar Monate als Lastenträger. Nach der Trillerpfeife aufstehen, nach der Trillerpfeife schlafengehen, zum Frühstück Brei, zum Mittagessen eine dünne Suppe, zum Abendessen eine Kinderportion von etwas Undefinierbarem. Weder Geld noch Papiere, nur Versprechen. Als er gehen wollte, bedrohten sie ihn. Und als er sich schwer am Bein verletzte, jagten sie ihn weg.
Katerina ist von ihren Cousins aus der Wohnung geworfen worden
Katerina ist von ihren Cousins, mit denen sie viele wunderbare Erinnerungen an Sommer, Erdbeeren und frischgemolkene Milch verbindet, aus der Wohnung geworfen worden. Die Großmutter, bei der Katerina von klein auf gelebt hat, hatte zwei Testamente hinterlassen: die Wohnung war für Katerina, das Haus und Grundstück außerhalb der Stadt für die Cousins. Ins Testament für die Cousins hat sich das Wort „sämtlich“ eingeschlichen, statt „Hausbesitz“ hieß es dort „sämtlicher Hausbesitz“. Und die Cousins konnten beweisen, dass sich „sämtlicher Hausbesitz“ auf das ganze unbewegliche Vermögen bezog, also auch auf die Wohnung. Katerina schubsten sie einfach zur Tür hinaus.
Laut Statistik gab es im letzten Jahr in St. Petersburg 60.000 Obdachlose. Mit jedem Jahr werden es mehr. Und jedes Jahr ändert sich die Belegschaft – das bedeutet, dass Menschen sterben, verschwinden, und an ihre Stelle treten andere. Dieser gruselige Umstand fällt besonders Igor, dem Fahrer des Busses der Notschleshka, auf: Jeden Abend fährt er zusammen mit Freiwilligen warme Mahlzeiten in die vier Bezirke, mit deren Verwaltungen Vereinbarungen getroffen werden konnten, und versorgt dort Obdachlose mit Essen.
Der Bus heißt zwar Nachtbus, eigentlich ist er aber abends unterwegs: Die erste Station ist um sieben Uhr am Rangierbahnhof, die letzte um halb elf am Bahnhof Nowaja Derewnja. Das Essen wird von Kantinen, Cafés und Restaurants kostenlos zubereitet. Jeden Tag gibt es einen Eintopf auf Fleischbasis, süßes Gebäck und Tee.
Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten. Wie sie im Winter neben Essen auch warme Mützen verteilten und ein junger Kerl gleich mehrere unterschiedliche haben wollte, um in dem Haus, das er sich zum Überwintern gesucht hatte, nicht die Aufmerksamkeit der Wachfrau zu erregen. Wie manchmal Verlage der Notschleshka Bücher spenden und sie immer sofort weg sind – nicht um Papirossy zu drehen, sondern wirklich zum Lesen. Wie ein sehr bescheidener Obdachloser plötzlich Nachschlag wollte und sich herausstellte, dass er drei Kätzchen zu sich genommen hatte, die auch etwas zu essen brauchten.
Während wir herumfahren, erzählt Igor Geschichten
Das Publikum unterscheidet sich von Haltestelle zu Haltestelle. Am Rangierbahnhof sind es größtenteils Alkis. Im Bezirk Ligowo kommen nicht nur Obdachlose, sondern auch Rentner, die zwar eine Wohnung haben, aber unterhalb der Armutsgrenze leben.
Auf der Wassiljewski-Insel gibt es viele Punks und Alternative – sogenannte Neformaly. Und in Nowaja Derewnja Kranke, Behinderte und Heimkinder. Überall geht das Abendessen äußerst höflich vonstatten: Man bildet eine Schlange, lässt die Frauen vor, führt gepflegte Gespräche, bedankt sich für das Essen, sammelt die gebrauchten Teller in eine Tüte und bringt sie zum Müllcontainer. Betrunkene gibt es zwar, aber nicht sehr viele, und die verhalten sich ruhig. Im Grunde sehen alle so aus, dass sie in einer Menschenmenge nicht sehr auffallen würden – wie ganz normale Menschen.
In Nowaja Derewnja hält der Bus an einer Nachtunterkunft mit einem Malteser-Zelt davor. In einem kleinen Raum hängt ein strenger männlicher Geruch, hier wohnen sechs oder sieben Menschen, zwei von ihnen haben keine Beine. Der Zimmer-Chef ist Wassili, ein sehr sympathischer Mann, der Anfang der 1990er im Gefängnis landete, und als er rauskam, war es, als hätte es ihn nie gegeben: Er tauchte in keiner Datenbank auf, keinem Dokument, weder beim Standesamt noch bei seinen ehemaligen Arbeitgebern noch in der Poliklinik – nirgends. Seitdem versucht Wassili zu beweisen, dass es ihn gibt, doch die Sache läuft schleppend.
Von Beruf ist Wassili Schneider, aber jetzt beschäftigt er sich mit etwas ganz anderem: Zusammen mit den Obdachlosen hat er eine Genossenschaft zur Herstellung von Birkenwaren gegründet. Er ist sehr geschickt darin, Ikonen, Ausweishüllen und märchenhaft verzierte Schatullen aus Birkenrinde zu fertigen. Wassili ist verantwortlich für Gestaltungskonzept und Ästhetik, seine Kumpel für die kleineren, aber wichtigen Arbeiten – Igor, einer der Invaliden kann zum Beispiel sehr gut kleben, ist schnell im Flechten. Igor hat seine Beine unlängst im Donbass verloren, doch darüber will er nicht reden.
Ich gebe allen einfach so meine Telefonnummer, vielleicht entschließt sich jemand, in einem anderen Rahmen mit mir zu sprechen. Und ein paar Tage später bekomme ich tatsächlich einen Anruf – von Wladimir Leonidowitsch, der nun mit dem gedächtnislosen Dima im Park an der Metrostation Tschkalowskaja vor mir kniet. „Wir sollten uns erst mal ausschlafen“, sagt Wladimir Leonidowitsch. „Wir können uns dann morgen treffen.“ Geld für das Ticket lehnen sie ab und verschwinden in der Metro.
Die eine betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld
Am nächsten Morgen gehen wir ins Botkinski-Krankenhaus, wo es eine Erste Hilfe eigens für Obdachlose gibt. Hier ist alles wie im Bilderbuch: Es versammeln sich Obdachlose, auf die schon eher der Begriff Penner, Bomsh, passt – mit eingeschlagenem Schädel, faulenden Gliedern, pilzschwarzen Nägeln, ausgeschlagenen Zähnen, eingedrückten Augen und umgeben von schwerem Gestank nach billigem Sprit, Dreck und Fäkalien. Diese Patienten machen etwa die Hälfte aus, die andere Hälfte – Obdachlose, die aussehen wie der Durchschnittsrusse – gehen in dieser Menge lebender Bruegel-Figuren schlichtweg unter.
Die eine Krankenpflegerin betrachtet die Leute voller Abscheu, die andere mit Nachsicht und Geduld. Sie geht zwischen ihnen hin und her, trägt bei dem einen eine Salbe auf, gibt einem anderen eine Tablette. In der hintersten Ecke sitzt ein schmächtiger Jugendlicher mit blutverschmiertem Gesicht. Wladimir Leonidowitsch steuert geradewegs auf ihn zu.
„Hier, eine Geschichte für Sie“, sagt er und deutet auf den jungen Mann. „Darf ich vorstellen – Wladik, desertierter Soldat.“ Vor Entsetzen werden Wladiks graue Augen schwarz, er springt auf, will die Flucht ergreifen, aber Wladimir Leonidowitsch packt ihn geschickt am Kragen und flüstert ihm ins Ohr: „Keine Angst, du Depp, hat doch niemand gehört, wir verraten dich nicht, ist für die gute Sache.“ Nicht sofort, aber bald, entspannt sich Wladik, kommt mit uns nach draußen, bittet uns, ihn weder bei seinem Namen noch reale Orte zu nennen und auch sein Äußeres nicht zu beschreiben.
Das Reden fällt Wladik schwer, er ringt mit den Worten: „Vor vier Jahren hat mich der Kompanieälteste im Suff vergewaltigt und mir befohlen zu schweigen, dann hat er mich nochmal vergewaltigt und mich gezwungen, ihm die Stiefel zu lecken. Ich hab’s nicht ausgehalten, bin weggerannt. Hab mich im Wald verlaufen, Wölfe und Bären gesehen, einmal habe ich die abgefressene Leiche eines Jägers gefunden und mir sein Gewehr geschnappt, ging sofort leichter mit der Essensbeschaffung. Dann bin ich auf eine Bahnstrecke gestoßen, durchs ganze Land bis nach Petersburg gefahren. Habe immer davon geträumt, es einmal zu sehen. Jetzt bin ich hier, was ich tun soll, weiß ich nicht, wahrscheinlich buchten sie mich ein als Vaterlandsverräter. Zum ersten Mal seit zwei Jahren habe ich meine Mutter angerufen, die ist am anderen Ende in Ohnmacht gefallen. Dann kam meine Schwester ans Telefon, ich sag zu ihr: ‚Ljuba, ich bins, ich bin am Leben.‘ Sie hat geweint und geantwortet: ‚Ich rufe gleich die Polizei! Wir haben Wladik vor zwei Jahren in einem geschlossenen Sarg beerdigt. Er ist bei Übungen umgekommen! Wer bist du?!‘ Wobei ich gehört habe, dass sie mich an der Stimme erkannt hat. Aber am meisten mache ich mir Sorgen, dass ich jetzt schwul bin.“
Dima hört mit offenem Mund zu. Genau wie ich. Wladik verstummt. Wladimir Leonidowitsch holt aus seiner Tasche ein iPhone 5 und schaut nach, wie spät es ist. Als er meinen verwirrten Blick bemerkt, sagt er: „Ach das … Komm, ich zeigs dir. Ich hab es ehrlich gegen eine Uhr getauscht, und die Uhr habe ich gefunden.“
Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren
Wir gehen über den Apraschka, und ich verliere inmitten dieses orientalischen Basars vollkommen die Orientierung: Gassen, Korridore, Lagerräume – nie im Leben würde ich den Ort, zu dem wir jetzt gehen, wiederfinden. Wladimir Leonidowitsch scheint sehr zufrieden: „Gut, dass du dir nichts merken kannst, dann bleiben wir heil. Überhaupt, sei vorsichtig beim Schreiben. Keine Namen, Adressen, Behörden, und versuch gar nicht erst Fotos zu machen. Dir ists egal, aber wir müssen so leben. Irgendeine kleine Beamtin Anna Iwanowna könnte ihren Namen in deinem Artikel entdecken und wütend werden. Das ganze Böse steckt in den kleinen Leuten, die bloß ihr Häkchen unter eine Bescheinigung setzen und sie von einem Ordner in den nächsten sortieren. Aber wegen diesen kleinen Häkchen führen sie sich auf wie die Lenker des Schicksals. Und wenn sie morgens Streit mit ihren Mann hatte, diese kleine Sadistin, kann ich meine Bescheinigung erstmal vergessen.“
Wir bleiben vor einer Tür zu einem Halbkeller stehen. Wladimir Leonidowitsch sagt: „Den Mann hier nennen wir mal Hasan“, und klopft ein Geheimzeichen an die Tür. Ein paar Sekunden später macht uns ein orientalisch aussehender Mann auf. Die Szene gleicht eins zu eins der Episode mit dem Nazi im Film Brat-2. Der Orientale sieht mich ohne zu blinzeln an und fragt: „Wer ist das?“ „Sie gehört zu uns“, entgegnet Wladimir Leonidowitsch. Der Orientale zieht eine Augenbraue hoch, wiegt den Kopf, aber gibt die Tür frei und lässt uns herein.
Im flackernden Licht trüber Glühbirnen öffnet sich vor mir Ali Babas Höhle 2.0. Berge von iPhones und Tablets, ausgeschüttete Ray-Ban-Brillen, die coolsten Bikes – das verlorene, oder besser: das gestohlene Hipster-Paradies. Irgendwo hier steht mit Sicherheit auch das Fahrrad meines Bekannten, das ihm vor ein paar Tagen vor der Tür einer angesagten Bar geklaut wurde. Hasan hält mir ein iPhone mit einem holographischen Kätzchen-Aufkleber hin: „Hier, gehört dir, wenn du willst. Dreitausend.“ Ich will nicht, aber Wladimir Leonidowitsch streckt Hasan eine kleine Tüte entgegen. Der wirft einen Blick hinein und gibt ihm zum Tausch ein iPad.
Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen
Am nächsten Tag laufe ich mit Wladimir Leonidowitsch und Dima durch die Randbezirke. Wladimir Leonidowitsch erzählt mir von den vielen Obdachlosen, die in die Fänge von Zigeunern, Dagestanern, Landwirten und Organisationen geraten, die sich als „Rehabilitationszentren“ ausgeben. Die kenne ich bereits: In Igors Nachtbus habe ich Dutzende Visitenkarten gesehen, bedruckt mit orthodoxen Kreuzen und hübschen Stadtansichten, und auf jeder von ihnen ein Spruch wie: „Dein Weg in die Freiheit!“, „Werde ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft!“, „Arbeit, Wohnung, Zukunft!“, „Der Beginn deines Siegeszugs!“
Die Namen der Organisationen unterscheiden sich nur unwesentlich von den Slogans: Lebenslinie, Perspektive, Land der Zukunft – Dutzende gibt es davon. Ihre Autos warten direkt an den Haltestellen des Nachtbusses. Als ich mit Igor unterwegs war, bin ich einmal hingegangen, um mit einem von ihnen zu sprechen. Ein Jüngling im roten Trainingsanzug ließ die getönte Fensterscheibe ein Stück herunter und erklärte mir, er sei ein Hirte Gottes und wolle als Christ den Menschen helfen.
„Die Rechnung ist simpel“, klärte Igor mich danach auf. „Sie sammeln Hunderte von Leuten ein, stecken sie wie die Schweine in Scheunen oder Baracken und fahren sie jeden Tag zum Bau, zum Verladen und zu anderen Arbeiten. Sie füttern sie mit Versprechungen über Pässe und Geld, aber nichts davon passiert, sie kassieren nur das Geld von den Auftraggebern. Die Arbeit eines Menschen bringt im Durchschnitt 1.000 Rubel pro Tag. Du kannst dir selbst ausrechnen, wie viel das zusammen macht, wenn in einer Baracke rund 500 Menschen leben. Kein schlechtes Business, oder?“
An einem der nächsten Tage gehe ich zu einer der vielen Banjas, die im Branchenbuch für Obdachlose aufgeführt sind. Heute ist ermäßigter Eintritt – Baden zum Preis von zwanzig Rubel. Die nette Frau am Telefon sagt mir, sie verstehe natürlich, dass es in der Stadt viele Mittellose gebe, und wer in annehmbarem Zustand komme, den lasse man nicht nur sich, sondern auch seine Wäsche waschen.
Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat
Am Abend des ermäßigten Tages wird der Waschraum von oben bis unten desinfiziert. Ich setze mich auf die Bank am Eingang und beobachte die Leute. Aus der Tür kommt eine reizende kleine Alte, ich habe sie schon an der Nachtbus-Haltestelle auf der Wassiljewski-Insel gesehen. Reingewaschen, rotwangig und mit frisch hennagefärbten Haaren. Ich komme leicht mit ihr ins Gespräch, offenbar freut sie sich über jedes Gramm Aufmerksamkeit. Ich begleite sie nach Hause – auf einen Friedhof, wo sie sich in einer schönen Grabkammer aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet hat.
Die Geschichte der alten Frau ist die herzzerreißendste, die ich in der letzten Zeit gehört habe. Die Frau heißt Galina, hat früher als Buchhalterin in Jekaterinburg gearbeitet, lebte mit ihrem Mann und den Söhnen in einer Dreizimmerwohnung. Ihr Mann, ein passionierter Wettangler, starb an einem Herzinfarkt, kurz vor Silvester 2006, direkt über seinem Eisloch. „Alle haben dagesessen, auf Fische gewartet, und niemand hat mitbekommen, dass er tot ist. Erst am nächsten Tag, als sie wiederkamen und sahen, dass er immer noch dasaß.“
Ein halbes Jahr später, im Sommer, verschwand der jüngste Sohn, Galinas Liebling. Hatte gesagt, er würde für ein paar Tage zu Freunden fahren, und kam nicht wieder. Mehrere Monate suchte Galina nach ihm, lag mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus, schickte eine Suchanzeige in die Sendung Warte auf mich, ging zu Hellsehern – vergebens. Dann erinnerte sie sich, dass er immer von St. Petersburg geträumt hatte, aber sie ihn nie hatte gehen lassen. Sie ließ alles stehen und liegen, kam hierher, klapperte sämtliche Polizeireviere und Leichenschauhäuser ab und fand ihn schließlich auf einem Foto, das den stark verstümmelten, verwesenden Körper eines „Unbekannten, etwa zwanzig Jahre alten Mannes“ zeigte, mit einer Nummer darauf, wie bei allen nicht identifizierten Toten. Ihr Sohn hätte eine charakteristische Narbe gehabt, „wie Harry Potter“ – daran habe sie ihn erkannt. Auf der Bescheinigung aus der Pathologie stand, dass er an einer schweren Vergiftung gestorben war, und dann, als er bereits tot war, von einem Auto, dessen Halter nicht ermittelt werden konnte, angefahren wurde.
Galina machte sich auf die Suche nach dem Grab, das diese Nummer trug. Der Friedhof in Kolpino ist übersät mit gleichförmigen nummerierten Hügeln. Täglich werden hier Unbekannte beerdigt – Bomshi und solche, deren Identität aus irgendwelchen Gründen nicht festgestellt werden konnte. Am nächsten Tag sah sie, wie irgendwelche Eltern buchstäblich mit bloßen Händen die gefrorene Erde aufkratzten, um zu einem Sarg vorzudringen. Eben diese Menschen riefen den Krankenwagen, als Galina dort in Ohnmacht fiel. Nach einer Weile im Krankenhaus wurde ihr klar, dass sie keine Kraft hatte, ihren Sohn noch einmal zu bestatten. Sie rief ihren Ältesten in Jekaterinburg an, der sagte: „Oh, hallo Mama! Hast du mich doch nicht ganz vergessen! Übrigens, ich habe dich aus der Wohnung abgemeldet“, und legte auf.
Der Friedhof ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses
Galina blieb in St. Petersburg, ihr Pass ging verloren, sie zog auf den Friedhof – das ist ihre Sommerresidenz. Im Winter wohnt sie in der obersten Etage des Treppenaufgangs eines benachbarten Hauses. Die Bewohner haben Mitleid mit ihr und vertreiben sie nicht.
In der Grabkammer ist es auf ganz eigene Art heimelig: In einem Glas stehen ein paar Blumen, auf der Grabplatte ist eine verhältnismäßig frische Tischdecke ausgebreitet, darauf alte Ausgaben der Zeitschriften Sem dnej [Sieben Tage] und Cosmopolitan. In der Ecke liegt eine ordentlich zusammengerollte Matratze.
Galina schlägt vor, auf „den Seelenfrieden der Entschlafenen“ zu trinken, ich lehne so delikat wie irgend möglich ab. „Rate mal, wie alt ich bin?“, fragt Galina zum Abschied. Ich will ihr ein Kompliment machen und sage „60“, obwohl ich sie auf knapp 70 schätze. Galina seufzt traurig: „56.“
Am Tag darauf ruft mich ein gewisser Fjodor an, ein paar Stunden später Sinaida, dann Roma, Shanna und noch jemand. So geht das einige Tage lang weiter. Alle wollen mir ihre Geschichte erzählen, laden mich ein zum Besuch auf eine Müllhalde, zu einer geheimen Abtreibung, zum Angeln oder zur Erdbeerernte. Jemand weint und schreit in den Hörer: „Versteh doch, wir sind auch Menschen! Nicht alle verstehen das! Versteh du es bitte!“ Ich stehe da und schweige.