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Journalismus aus Russland und Belarus in deutscher Übersetzung

  • Der Rubel bleibt unter der Matratze

    Der Rubel bleibt unter der Matratze

    Die jüngste Umfrage des Lewada-Zentrums zeigt, dass die Konsumbereitschaft der Privathaushalte weiter sinkt. Es mangelt an Ressourcen. Marina Krassilnikowa, Leiterin der Abteilung für Einkommens- und Konsumstudien des unabhängigen Instituts, erläutert die Daten. Alles deutet darauf hin: Die Krise ist in den Köpfen angekommen.

    Im Verlauf des vergangenen Jahres haben die von uns befragten Personen über sinkende Einkommen berichtet, die Einschätzung des eigenen Wohlstands hat sich kontinuierlich verschlechtert. Beides beeinflusste selbstverständlich das Konsumklima. Unsere Mitbürger haben endgültig realisiert, dass die Krise lange anhalten wird: 75 % der Bevölkerung sind überzeugt, dass sie erst in einigen Jahren überwunden werden kann, während der Anteil der Optimisten, die glauben, dass sich die Lage schon in etwa anderthalb Jahren verbessern könnte, bei ca. 20 %  liegt.

    Diese Stimmungen beeinflussen auch das Verhalten: Der Dezember – eigentlich der Monat, in dem seit jeher die Neujahrsgeschenke1 gekauft werden – war im Jahr 2015 geradezu ein Fiasko. Der Anstieg des Konsums fiel mit lediglich 2 % geringer aus als zu dieser Jahreszeit üblich. Hier schließe ich mich der Meinung einiger Kollegen an, dass die Konsumenten in einen Sparmodus geschaltet haben. Wobei das natürlich jeder auf seine Weise tut, je nach materieller Situation. Allerdings sparen so gut wie alle bei den Lebensmitteln.

    Ressourcenmangel zwingt zur Konsumbeschränkung

    Mit Sparen ist hier jedoch nicht gemeint, dass weniger gekauft wird. Oft versuchen die Menschen einfach, günstiger einzukaufen. Der Preis ist inzwischen das wichtigste Kriterium bei der Produktwahl. Was schade ist: Die russischen Verbraucher hatten sich gerade ein kleines Stück von diesem „Armutsschema“ entfernt und angefangen, mehr auf Qualität und Marke zu achten, und schon geht es wieder rückwärts.

    Wird das Verbraucherverhalten rationaler? In gewissem Sinne ja, aber es ist eine erzwungene Rationalität, wenn man spart, nicht, weil man geschickt mit Geld umgeht und seine Haushaltskasse kalkuliert, sondern einfach, weil man kein Geld hat.

    Einen festen Platz hat weiterhin der Geltungskonsum – die Demonstration von sozialem Status durch Anschaffungen. Allerdings können wir hier strukturelle Veränderungen beobachten. In den Nullerjahren, vor der Krise, gehörten zum demonstrativen Massenkonsum die Anschaffung von Kleidung und Urlaubsreisen ins Ausland. Heute demonstrieren Menschen, deren Geld gerade so zum Leben reicht, ihren Konsumstatus eher, indem sie teurere Lebensmittel kaufen. Das spricht natürlich Bände.

    Kaum Aussicht auf Belebung des Konsums

    Was die Prognose für die kommenden Monate angeht, gibt es bisher keine guten Nachrichten. Im Januar ist der Index des Konsumklimas, den das Lewada-Zentrum monatlich auf Basis von Umfragen unter der Bevölkerung Russlands erhebt, im Vergleich zum Dezember um 13 % gesunken. Dies deutet darauf hin, dass die Menschen vermehrt auf Konsumausgaben verzichten werden. Zugleich werden die Inflationserwartungen weiter ansteigen und der „Sparmodus“ andauern.

    Bisher hatten die Menschen in einer Wirtschaftskrise versucht, Geld auszugeben, um die Ersparnisse in Sachgüter zu verwandeln und sie so vor der Inflation zu schützen. Dieses Verhaltensmuster verschwindet jetzt. Heute hält man an seinen Ersparnissen fest, auch wenn sie bescheiden sind. Und darin liegt das Dilemma der aktuellen Krise: Es gibt Ersparnisse, aber niemand möchte sie ausgeben. Deshalb bleibt die Hoffnung, dass sich die Wirtschaft durch Ankurbeln des Konsums wieder in Schwung bringen ließe, vorerst nur eine Hoffnung.


    1.In Russland werden die meisten Geschenke nicht zu Weihnachten, sondern zum Neujahrsfest gemacht.

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  • „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    „Das System wird von selbst zusammenbrechen“

    Wladislaw Inosemzew gilt als herausragender Wirtschaftsexperte und politischer Denker. Bekannt ist der Wissenschaftler, der auch Mitglied der liberalen Partei Prawoje delo (dt. Die Rechte Sache) ist, vor allem für seine permanente Kritik an der Wirtschaftspolitik des Kreml.

    Im Interview mit Jewgeni Senschin entfaltet er in prägnanten Thesen ein Panorama des aktuellen Russland.

    Das russische System ist im Verfall begriffen: Russland ist nicht in der Lage, etwas zu neuen technischen Entwicklungen beizutragen, die Erdölpreise, von denen das Land abhängt, sinken. Sie betonen aber immer wieder, dass die Lage bisher ziemlich stabil ist.

    Erodierende Systeme sind gerade deshalb ziemlich stabil, weil sie den Verfallszustand kennen und daran gewöhnt sind. Nehmen wir mal an, Sie sind in einem europäischen, wirtschaftlich prosperierenden und wohlhabenden Land und plötzlich ereignen sich dort Dinge, die all das erschüttern. Zum Beispiel die Einkommen sinken um ein Drittel oder ein Teil des Territoriums muss abgegeben werden. Dann treten alle möglichen Formen der Störung auf.
    Wenn Sie aber über Jahrzehnte in einem Land leben, in dem das Volk der Regierung absolut egal ist, in dem Gewalt immer die Norm gewesen ist, in dem der Staat vor 70 Jahren 20 Millionen Menschen der eigenen Bevölkerung umgebracht hat, in dem man nie im Reichtum gelebt hat und nie etwas von der Welt gesehen hat: Wovor soll man sich dann fürchten?
    Etwa davor, dass ein neuer Krieg ausbrechen oder es massenhafte Repressionen geben könnte? Nichts dergleichen steht uns bevor. Unter diesen Umständen lässt sich dieses System nur schwer aus dem Gleichgewicht bringen.

    Ich sehe weder die Möglichkeit für eine Palastrevolution noch für einen Volksaufstand noch für sonstwas. Meines Erachtens gibt es nur einen einzigen Ausweg aus dieser Situation: Das System wird von selbst zusammenbrechen, wenn es nichts mehr zu holen gibt. Es muss an seiner eigenen Sinnlosigkeit sterben.

    Durch die Propaganda gelingt es, alle Probleme dem Westen anzulasten

    Aber der Lebensstandard und die Einkommen sinken. Die Menschen vergleichen doch, wie sie vor, sagen wir, fünf Jahren gelebt haben und wie sie jetzt leben. Die Ergebnisse fallen nicht zugunsten der Gegenwart aus. Wirft denn auch das keinen Schatten auf Putins Lage?

    Möglicherweise stimmt das, was Sie sagen. Aber leider hat es bei den Menschen keine Folgen, wenn sie so etwas merken. Niemand versucht, Putin die Schuld zu geben dafür, dass es dem Volk schlechter geht. Durch die Propaganda gelingt es, alle Probleme dem Westen anzulasten: Dem sei es ein Gräuel, dass sich Russland „von den Knien erhebt“ und eine wichtige Rolle im Weltgeschehen spielt.

    Was ein mögliches Sinken der Umfragewerte des Präsidenten betrifft, so muss man verstehen: Umfragewerte sind das eine und Wahlergebnisse das andere. Hier sind Polittechnologen am Werk. Daher denke ich nicht, dass Putin bedroht ist. Und ich habe bisher keinen einzigen seriösen Experten gehört, der die These vertreten hätte, dass Putin vor 2018 gehen würde. Abgesehen von dem werten Herrn Kasparow, von Piontkowski und solchen Leuten. Ich schließe nicht aus, dass es nach 2018 irgendwelche Veränderungen geben kann, aber bis zu diesem Zeitpunkt im Grunde nicht.

    Ich sehe derzeit niemanden, der Putin stürzen und an seine Stelle treten wollte

    Was halten Sie von dieser Variante: Nach einer Aussöhnung mit dem Westen, tritt Putin 2018 als großer Sieger ab – denn danach wird alles bedeutend schlimmer, und das würde seine historische Bedeutung gefährden.

    Die beste Variante zum Rücktritt wäre für Putin 2008 gewesen. Aber diese Chance hat er nicht genutzt. Die Frage ist eine andere. Ich wiederhole: Ich sehe derzeit niemanden, der Putin stürzen und an seine Stelle treten wollte. Vor allem, weil die Bevölkerung bereit ist, das gegenwärtige Regime noch lange zu ertragen.
    Vielleicht entscheidet er sich ja selbst gegen eine erneute Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen 2018. Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit dafür meiner Einschätzung nach bei 0,0001 %. Denn Wladimir Wladimirowitsch ist davon überzeugt, alles richtig zu machen. Er glaubt fest daran, dass alle Schwierigkeiten vorübergehend sind und es keinen Anlass für einen Rücktritt gibt.

    2015 bleibt als ein Jahr der Korruptionsskandale im Gedächtnis. Da ist der Prozess gegen Jewgenija Wasiljewa, der ehemaligen Leiterin der Abteilung für Vermögensverhältnisse des Verteidigungsministeriums. Die Inhaftierung der Gouverneure von Sachalin, Komi und des ehemaligen Regierungschefs von Karelien. Der Ex-Gouverneur der Oblast Brjansk wurde verhaftet. Und schließlich ist da Nawalnys Film über die Geschäfte der Söhne des Generalstaatsanwalts Tschaika.

    Beeinflussen solche Ereignisse die Gesellschaft und das Verhältnis der Bevölkerung zu den Machthabern? Oder ändert sich dadurch nichts Wesentliches?

    Der Kampf gegen die Korruption führt weder bei den Eliten noch in der Bevölkerung zu irgendwelchen Reaktionen. Den Film von Nawalny über die Söhne des Generalstaatsanwalts Tschaika haben angeblich Millionen gesehen. Na und?

    Die Gesellschaft betrachtet Korruption als etwas mehr oder weniger Normales

    Sie erwarten eine Reaktion der Eliten, und dabei gibt es nicht einmal eine Reaktion der Bevölkerung. Denn die Gesellschaft hat sich vollkommen an diese Vorgänge gewöhnt und betrachtet Korruption als etwas mehr oder weniger Normales.
    Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Korruption in Russland nicht nur den Eliten zu Gute kommt, sondern auch den einfachen Leuten. Denn wenn es die Korruption nicht gäbe und auch nicht die Möglichkeit, mit der Staatsmacht zu verhandeln, dann wäre das Leben der komplette Wahnsinn.
    Das bedeutet, das ganze System gründet darauf, dass die Leute klauen und die diebischen Oberen sie nicht daran hindern, sich mehr oder weniger bequem damit einzurichten. Und das stützt das System. Es nützt nicht nur denen da oben, sondern auch denen da unten, und deshalb wird es keine Reaktion der Bevölkerung auf die Korruption geben.
    Und wenn ihr euch später über den Anschluss der Krim freuen wollt, bekommt ihr auch einen wie Tschaika: Denn es ist das gleiche System und es wird von den gleichen Leuten gemacht.

    Ich sage Ihnen mal, warum Russland meiner Meinung nach versucht, in die Konflikte im Ausland einzusteigen: Es hält sich für den Mittelpunkt der Welt, für den Träger einer globalen Mission, für den Hort der geistigen Werte in den Zeiten der Apokalypse. Der Grund dafür ist im orthodoxen Erbe und in der Doktrin von Moskau als dem Dritten Rom zu finden. Da die Kirchenleute die heutigen Kremlbewohner auf diese Weise erhöht haben, sind die davon überzeugt, ihre Nase überall hineinstecken zu müssen.

    Wenn Sie sich darauf vorbereiten, die ganze Welt zu retten, dann müssen Sie das mit Hilfe von universellen Ideen tun, die von der Mehrheit verstanden werden. In diesem Sinne war die Sowjetunion, unabhängig davon, wie wir sie nun fanden, ein Staat, der über eine solche universelle und globale Ideologie verfügte – den Kommunismus. Ihre weltweite Expansion mit Hilfe des Kommunismus war also in gewisser Weise verständlich.

    Putin bietet der Welt heute die Doktrin von der Russischen Welt. Das ist jedoch eine lokal sehr begrenzte Idee. Wenn man die Idee von einer Russischen Welt in den Vordergrund stellt, muss man sich von einer globalisierten Welt verabschieden. Die Russische Idee steht für Autarkie, Autoritarismus, Abwesenheit ideologischer und religiöser Alternativen, täglich dreimaligen Kreuzgang um den Kreml und so weiter. Im globalen Denken einer modernen Welt erscheint das wohl kaum attraktiv. Zu einem solchen Europa hat die Russische Welt keinerlei Beziehung und wird von ihm niemals verstanden und akzeptiert werden. Aber wenn das so ist, dann kümmert euch halt um eure Sachen, oder habt ihr keine Probleme mehr?

    Europa hat es nicht eilig, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben. Können Sanktionen überhaupt bewirken, dass Russland die europäischen Spielregeln annimmt und sich wieder Europa zuwendet?

    Wenn es darum geht, ob die Sanktionen die russische Regierung dazu bringen können, etwas gegen ihren Willen zu tun, dann können sie das selbstverständlich nicht. Und die russische Regierung weiß, dass das nicht das Wesentliche ist. Die Europäer werden die Sanktionen so oder so wieder aufheben, weil sie keine Freunde der Konfrontation sind. Offen gestanden sind sie für sie überflüssig wie ein Kropf. Wenn aber in der heutigen Welt eine Seite eine andere überfällt, dann muss es darauf eine Reaktion geben. Die Europäer konnten nicht gegen Russland kämpfen, aber sie mussten irgendwie reagieren und haben deshalb die Sanktionen verhängt.

    Aber selbst, wenn die Sanktionen wieder aufgehoben werden, wird das nur wenig ändern. Die Sanktionen sind ein wichtiger und ernstzunehmender Faktor. Und sie untergraben zweifellos einige unserer wirtschaftlichen Möglichkeiten, aber das ist nicht das Entscheidende in unserer Situation.

    Es sind nicht die Sanktionen, die unsere Entwicklung zum Stillstand bringen

    Derzeit ist es den europäischen Banken verboten, Kredite an russische Unternehmen zu vergeben, doch das bedeutet nicht, dass die europäischen Banken nach dem Ende der Sanktionen mit Krediten nach Russland angerannt kommen. Die hatten in der Zwischenzeit hervorragend Gelegenheit, sich nach neuen Märkten umzusehen.
    Außerdem ist der Preis für unsere wichtigste Ressource, das Erdöl, auf ein Drittel gesunken. Und wo bitte liegen die Vorzüge unserer Wirtschaft, mit denen wir ausländische Unternehmen anlocken könnten? Es gibt schlicht und ergreifend keine! Das ist das Erste.
    Zweitens sind es nicht die Sanktionen, die unsere Entwicklung zum Stillstand bringen, sondern die Versuche, das eigene Unternehmertum umzubringen. Alle haben schon lange erkannt, wie risikobehaftet Geschäfte in Russland sind. Die Aufhebung der Sanktionen wird also nichts Grundsätzliches ändern.

    Mit dem Referendum auf der Krim und der Unterstützung der Volksmilizen in der Ukraine hat die russische Regierung dem Westen gezeigt, dass Russland sich von den Knien erhoben und auf globaler Ebene zu einer entscheidenden geopolitischen Rolle zurückgefunden hat. Sie sind häufig in den USA, sagen Sie, was denkt man dort darüber? Ist es Putin gelungen, zu zeigen, dass er, wie Chruschtschow, mit dem Schuh auf den Tisch donnern kann? Inwiefern ist Russland für Amerika von Interesse und in welcher Form zeigt sich das?

    Ich kann ein ganz simples Beispiel nennen. In den letzten anderthalb Monaten habe ich mit vielen amerikanischen Russisten gesprochen, und als erstes, nachdem wir uns begrüßt und Kaffee bestellt haben, erzählen sie mir, dass ihnen alle Forschungsmittel zu russischen Themen zusammengestrichen wurden, weil das niemand brauche. Das höre ich von vielen Leuten. Da haben Sie die Antwort, inwiefern Russland derzeit von Interesse für die USA ist.

    Und im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den internationalen Terrorismus, gegen den Islamischen Staat?

    Die Europäer sind als Menschen mit gesundem Menschenverstand natürlich bereit, mit Russland im Kampf gegen den Terror zusammenzuarbeiten. Wenn vorgeschlagen wird, ein gemeinsames Bodenkontingent für den Kampf gegen den IS zu schaffen, dann sind alle ausnahmslos dafür. Aber wir wollen das nicht. Wir wollen dorthin fliegen und dort schießen, wo uns Assad hinschickt. Aber die Europäer lassen sich aus guten Gründen nicht zwingen, Assad zu lieben. Also, was für eine Art von Koalition könnte es hier im Kampf gegen den Terror geben?

    In Bezug auf die geopolitische Rolle Russlands ist, wie Obama es kürzlich treffend ausgedrückt hat, unser Land ein regionaler Akteur. Es spielt seine Rolle in der Ukraine und im gesamten postsowjetischen Raum. Und genau so wird es wahrgenommen. Aber darüber hinaus, was ist da?

    Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Russland nicht mehr als Regionalmacht behandelt wird, sondern als Rowdy

    Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass Russland nicht mehr als Regionalmacht behandelt wird, sondern als Rowdy. Als solcher wurde Putin kürzlich von Hillary Clinton bezeichnet. Russland versuchte zu jenem Zeitpunkt einen unkonventionellen Zug. Es zog in den Kampf nach Syrien und wollte damit demonstrieren, dass es nicht nur eine Regionalmacht sei, sondern auch Interessen in anderen Regionen der Welt habe.
    Aber das hat nicht einfach so funktioniert, denn, wenn man gegen den internationalen Terrorismus kämpfen möchte, dann nach den Spielregeln des Westens. Zunächst musste Assad weg und anschließend der IS vernichtet werden. Und das alles in Abstimmung mit den USA. Dann wären die Amerikaner vielleicht bereit, sich mit Russland auszusöhnen, sogar in der Ukraine-Frage.
    Wenn Sie allerdings nach Syrien fliegen und dort die unglücklichen syrischen Turkmenen bombardieren, dann nimmt ihnen natürlich niemand mehr die ehrlichen Absichten im Kampf gegen den Terrorismus ab und keiner wird mehr mit ihnen zusammenarbeiten wollen.

    Europa ist unser wichtigster Absatzmarkt für Öl und Gas. Nicht nur für den Iran, sondern zum Beispiel auch für Katar oder die USA ist der europäische Markt ein Leckerbissen. Worauf müssen wir uns einstellen?

    Russlands größter Konkurrent auf dem europäischen Gasmarkt sind weder der Iran noch Katar, sondern die alternativen Energiequellen. Wir haben gesehen, dass es in Deutschland bereits 2015 einige Tage gab, an denen mehr als die Hälfte des Energieverbrauchs durch Wind- und Sonnenenergie abgedeckt wurde. Und die Beschlüsse, die von den Weltmächten auf dem UN-Klimagipfel in Paris Ende letzten Jahres gefasst wurden, sind ein Hinweis auf die enormen Investitionen, die in die alternativen Energien fließen werden. Das sollte uns durchaus beunruhigen.

    Sie sagen, dass Sie keine weltweite Krise erkennen können. Nun behaupten Wirtschaftswissenschaftler wie Sergej Glasjew aber das Gegenteil. Mehr noch, in ihren Augen ist die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise gerade deshalb so tiefgreifend und langanhaltend, weil sie mit dem Übergang in ein neues technisches Zeitalter verbunden ist – und dem Kampf verschiedener Wirtschaftssysteme und Staaten um den Platz an der Sonne. Ist das so?

    Tatsächlich stehen wir am Anfang eines neuen technischen Zeitalters. Dieser Prozess, der sich im Grunde genommen alle paar Jahrzehnte wiederholt, weil der Fortschritt nicht stillsteht, führt zum Einsatz neuer Technologien. Doch die andere Frage ist, wie diese neuen Strukturen mit der Wirtschaftskrise zusammenhängen. Erinnern wir uns beispielsweise an das Aufkommen der Computertechnik in der ersten Hälfte der 80er Jahre, als Microsoft, Dell und Apple auf den Markt kamen. Auch damals gab es eine Krise, aber nicht wegen der neu aufgekommenen Computertechnik, sondern wegen des von den Arabern erklärten Ölembargos. Also bin ich mir nicht sicher, ob die Krise zwangsläufig der Begleiter eines neuen Zeitalters ist.

    Zu glauben, dass Russland seinen Durchbruch erlebt, das ist auf gewisse Art schizophren

    Was Russland betrifft, so sind Glasjew und seine Freunde aus mir nicht ersichtlichen Gründen der Meinung, dass es eine Chance für Russland gibt, in diesem neuen Zeitalter seinen Durchbruch zu erleben. Das ist auf eine gewisse Art schizophren.
    Denn wenn wir die Geschichte betrachten, sehen wir, dass jede neue Entwicklung, ob das nun Dampfmaschine, chemische Industrie, Fließbandproduktion, Computer oder Biotechnologie sind, dort stattfindet, wo die zuvor existierenden Technologien bis zum Ende ausgereizt worden sind. Das heißt, dass es niemals eine Situation gegeben hat, in der der Maschinenbau in Großbritannien die höchste Entwicklungsstufe erreicht hätte und anschließend Paraguay plötzlich eine führende Rolle in der Computerproduktion gespielt hätte.

    Ich kann kein einziges Indiz erkennen, das auf eine Führungsrolle Russlands im neuen technologischen Zeitalter schließen lässt. Vorreiter dieser neuen Zeit werden erneut die USA, Japan, Kanada, Deutschland und so weiter sein. Eben jene Länder, die das bereits in den vergangenen Jahrzehnten waren. Und das ist eigentlich alles, was es dazu zu sagen gibt.

    Welchen Platz wird Russland in dieser neuen Struktur einnehmen? Besser gesagt, welchen Platz möchte es von sich aus besetzen?

    Jedes Land sollte – abhängig von den vorhandenen Ressourcen – eine Strategie entwickeln, um maximalen Wohlstand zu erreichen. Wenn klar ist, dass man Erdöl hat, sollte man über die 15 Jahre, solange es teuer ist, Mittel einsetzen, um einen neuen Motor zu entwickeln, der die Wirtschaft ankurbelt. Den arabischen Emiraten ist das sehr gut gelungen – heute sind Unternehmen wie die Emirates Airways und der Flughafen Dubai die größten Steuerzahler. Sie haben ein hervorragendes Drehkreuz für den Personen- und Warenverkehr geschaffen und mit Dschabal Ali außerdem einen exportorientierten Fertigungsplatz. Sie haben eine Reihe neuer Städte gebaut, unter anderem Anziehungspunkte für Touristen.

    Russland hat bisher nichts Vergleichbares geschaffen. Und hat das, allem Anschein nach, auch nicht vor. Wir haben uns also selbst die Rolle des Rohstofflieferanten ausgesucht.

    Der Weg, den wir gewählt haben, ist perspektivlos

    Wenn wir bislang so gehandelt haben, dann lassen Sie uns darüber nachdenken, wie es weitergehen könnte: Wir könnten entweder westliche Unternehmen zu uns einladen, wie Kasachstan es tut, die Erdölförderung erhöhen, die Produktion weiterentwickeln und sie äußerst flexibel gestalten. Beispielsweise könnten wir entlang aller Küsten Fabriken zur Gasverflüssigung errichten, die weltweit größte Tankerflotte aufbauen und Erdöl- und Erdgaslieferant für die Regionen der Welt werden, die einen extrem dringenden Bedarf haben, und so global eine ausgleichende Funktion übernehmen. Ein Beispiel: Die Preise für Erdöl in Japan sind gestiegen, und wir haben unsere Tanker dorthin geschickt. Das ist eine mögliche Strategie.

    Es gibt auch eine andere Strategie. Und zwar: Überall Pipelines hinverlegen, die Hälfte des aufkommenden Schmiergelds in die eigene Tasche stecken und hoffen, dass sich an der Konjunkturlage nichts ändert. Das ist der Weg, den wir gewählt haben. In meinen Augen ist der absolut perspektivlos.

    Aber es gibt doch in Russland immer noch Menschen, die Hochtechnologien entwickeln und realisieren. IT-Spezialisten aus Russland beispielsweise sind heutzutage im Ausland sehr geschätzt. Existieren bei uns wirklich keinerlei Voraussetzungen oder Möglichkeiten, um in irgendeiner Weise den Anschluss an die neuen technologischen Entwicklungen zu finden?

    Alle diese weltweiten Entwicklungen bilden ein komplexes globales Netz. Das besteht aus den enormen Leistungen von hunderttausenden von Experten auf der ganzen Welt. Auch russische Fachleute können Teil dieses Netzes sein. Entwicklungen müssen sich aber in konkreten Produkten materialisieren. So wie die Computertechnologie in Chips, Mobiltelefonen und so weiter. Die neuen technologischen Entwicklungen werden unter anderem Medizin und Biotechnologie voranbringen. Aber beispielsweise die Nanotechnik ist ja nicht einfach die Ionisierung von Luft. Sie ist Maschinenbau unter Verwendung von Nanoteilchen und Nanozusatzstoffen. Das heißt, man braucht grundlegende Produktionsstrukturen, in die die Innovationen integriert werden. Die gibt es aber in Russland nicht.

    Die USA und China sind nicht nur zwei eng verbundene Volkswirtschaften, sondern auch geopolitische Konkurrenten. Hinzu kommt die Krise: der Zusammenbruch der Börse. Einige Experten sehen das als Vorzeichen für einen Weltkrieg. Denn der Zweite Weltkrieg war ja auch eine Reaktion auf die Große Depression.

    Ja, die weltweite Krise der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts endete mit dem Zweiten Weltkrieg, das ist so. Allerdings brach zum Beispiel der Erste Weltkrieg zu einem Zeitpunkt aus, als der Zustand der Weltwirtschaft ausgezeichnet war. 1913 gab es einen industriellen und wirtschaftlichen Aufschwung und nichts deutete auf irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzungen hin. Ich kann keine festen Gesetzmäßigkeiten erkennen, die darauf schließen lassen, dass gerade eine Wirtschaftskrise zu einem Weltkrieg führen sollte.

    Dass in Russland ständig über Krieg gesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass irgendjemand nicht friedlich und ruhig leben kann

    Daher ist die Vorstellung, dass die Welt an irgendeiner Schwelle zu irgendeinem Weltkrieg stehe, der Versuch, eine Art selbsterfüllende Prophezeiung zu konstruieren. Und die wird gerade von Ländern und Regionen äußerst aktiv eingesetzt, die sich selbst irgendeine Art von Erschütterung wünschen. So versuchen sie, diese in irgendeiner Weise heraufzubeschwören.

    Dass in Russland ständig über Krieg gesprochen wird, ist ein Zeichen dafür, dass irgendjemand nicht friedlich und ruhig leben kann. Dass man es nicht als Wert an sich anerkennt, wenn auf der Welt alles in Ordnung ist. Ständig möchte man die Ursache irgendwelcher Probleme sein, damit man nur ja nicht übersehen wird.

    Die russische Führung versucht ja ganz offensichtlich, die Situation in verschiedenen Regionen der Welt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dann bemüht sie sich darum, mit den früheren westlichen Partnern über irgendetwas verhandeln zu können, nach dem Prinzip: Wenn wir nur irgendetwas Garstiges tun, dann werden sie schon gezwungen sein, mit uns zu verhandeln.

    Mit einem Wort: Es geht um die Idee, dass jeden Augenblick ein Krieg ausbrechen könnte. Das ist eine provinzielle Sichtweise, die aktiv von der russischen Propaganda geschürt wird. Lassen Sie uns nicht mehr davon sprechen.

    Unser Gespräch hinterlässt bei mir ein beklemmendes Gefühl. In Ihren aktuellen Artikeln beschäftigen Sie sich immer wieder mit der Emigration der „Bevölkerung mit gesundem Menschenverstand“. Nur: Was tun, wenn es keine Möglichkeit zur Emigration gibt, auch wenn man hundert Mal einen gesunden Menschenverstand besitzt? Protestieren? Den Mund halten? Still und leise Geld für die Ausreise ansparen?

    Emigration, das ist eine schwere Entscheidung. Sie bedeutet, das Haus zu verkaufen und das Geschäft aufzugeben. Und wenn sich Menschen dazu entschlossen haben, darf man sie nicht verurteilen. Nur ist es sehr traurig, dass Russland diese Menschen verliert. Denn genau diese Menschen werden hier gebraucht, Menschen, die bereit sind, etwas auf die Beine zu stellen. Daher rate ich ganz und gar nicht dazu, aus dem Land wegzulaufen.

    Dennoch sehe ich sehr klar, dass sich der Trend zur Emigration verstärkt. Und ich verstehe diese Menschen und respektiere ihre Entscheidung. Und denen, die bleiben, rate ich zu schweigen, denn derzeit gibt es ganz objektiv keine Voraussetzungen dafür, dass sich irgendetwas ändert. Und ich würde derzeit auch niemandem empfehlen, zu versuchen, etwas zu verändern. Probleme gibt es so schon genug, weshalb sich dann auch noch der Verfolgung aussetzen?

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  • Presseschau № 16

    Presseschau № 16

    Ramsan Kadyrow beschäftigt weiter die russische Öffentlichkeit: Er nimmt Oppositionspolitiker im wahrsten Sinne des Wortes ins Fadenkreuz und Putin lobt ihn für sein „effiziente Amtsführung“. Außenminister Lawrow liefert sich einen Schlagabtausch mit Frank-Walter Steinmeier, während die Kreml-Presse den Besuch von Bayerns Ministerpräsident Seehofer bei Putin feiert. Unterdessen bricht ein russischer Trickfilm um ein kleines Mädchen und einen Bären alle Rekorde. Unsere Presseschau in dieser Woche.

    Kadyrows Kampagne. In den russischen Medien ist Tschetscheniens Herrscher gegenwärtig omnipräsent: Ramsan Kadyrow und sein Feldzug gegen die führenden Köpfe der russischen Opposition. Mitte Januar hatte er sie pauschal als „Volksfeinde“ bezeichnet – und einen Aufschrei unter Menschenrechtlern provoziert. Nun schießt sich der starke Mann aus Grosny auf konkrete Figuren ein – im bildhaften Sinne: Auf Instagram postete er ein Video, das den Chef der Partei Parnas, Michail Kassjanow im Fadenkreuz eines Zielfernrohrs zeigte. Der Text dazu: „Kassjanow ist nach Straßburg gefahren, Geld abholen für die russische Opposition.“ Instagram löschte das Video, Kassjanow hat aber dennoch Anzeige erstattet, da er dies als Morddrohung und Aufruf zum Extremismus versteht. Schließlich wurde vor knapp einem Jahr auch sein Mitstreiter Boris Nemzow ermordet – und zwar, der jüngst fertiggestellten Anklage zufolge, von einem tschetschenischen Killerkommando. Den Auftraggeber habe man allerdings nicht ermitteln können, heißt es jedenfalls von amtlicher Seite.

    Dass allerdings jemals gegen Kadyrow ermittelt wird, ist mehr als unwahrscheinlich: Wladimir Putin lobte ihn vor kurzem ausdrücklich für seine „effiziente Amtsführung“. Dies nahm RBK zum Anlass für einen kritischen, aber ausführlichen statistischen Überblick in Form der 20 wichtigsten Fakten über Tschetschenien – von der höchsten Geburten- bis zur niedrigsten Kriminalitätsrate Russlands. Hintergrund von Kadyrows Hetzkampagne ist, so Vedomosti, dass sich dieser im Herbst erstmals in Tschetschenien zur Wahl stellen muss. Seine Amtszeit läuft aber offiziell schon im März aus, zu diesem Zeitpunkt müsste er also von Putin als Verweser seines eigenen Amtes eingesetzt werden. Deshalb will er sich als treuester Gefolgsmann des Präsidenten profilieren. Kadyrows Informationsminister versuchte im Nachhinein, die Kassjanow-Episode als Witz abzutun: Die Oppositionellen seien im Fadenkreuz eines Periskops abgebildet gewesen, behauptete er.

    Lisa und Lawrow. Im Fall von „Lisa aus Berlin“ beruhigen sich die Gemüter langsam wieder, sowohl in Deutschland wie auch in Russland. Was nun wirklich mit Lisa während ihres 30stündigen Verschwindens passiert ist, interessiert zunehmend weniger –  vor allem jene Medien, die auf russischer Seite die Empörung angefeuert hatten. Vesti, die Nachrichtensendung des  Staatssenders Rossija, übernimmt beispielsweise weiterhin nur die Darstellung von Lisas Mutter (anhand eines Interviews mit Spiegel TV). Unabhängige Medien wie Meduza bemühen sich hingegen, die Sache aufzuarbeiten – und schreiben über die Probleme des Mädchens  mit den Eltern und in der Schule wie auch über ihre Bekanntschaften mit volljährigen Männern. Gazeta.ru geht der Frage nach, inwieweit der Skandal den Ruf des russischen Außenministeriums beschädigt hat. Den Höhepunkt bildete in der vergangenen Woche ein Schlagabtausch zwischen den Außenministern beider Länder: Lawrow warf den deutschen Behörden vor, ein von Ausländern begangenes Verbrechen zu vertuschen, Steinmeier tadelte Russland daraufhin wegen einer Einmischung in innere Angelegenheiten mittels politischer Propaganda. Lawrow erwiderte wiederum pikiert, dass es sich schließlich auch der Westen ständig erlaube, mutmaßliche Verletzungen von Menschenrechten einzelner Personen in Russland an die große Glocke zu hängen.
    Die Novaja Gazeta bringt dazu ein Interview mit dem ehemaligen Moskauer Focus-Korrespondenten Boris Reitschuster. Der überzeugte Putin-Kritiker bezeichnet den „Fall Lisa“ als vom russischen Geheimdienst aufgegriffene Gelegenheit für eine Propaganda-Show. Das Ziel sei, in Russland wie auch unter den Russischsprachigen in Deutschland Stimmung gegen die massenhafte Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten zu machen. Laut Reitschuster gibt es Hinweise auf einen russischen Plan, „Merkel zu stürzen“, denn sie sei „der Hauptgegner Moskaus“. Derartige Vorwürfe nötigten wiederum Putins Pressesprecher Dimitri Peskow zu einem Dementi: Russland schütze lediglich die Interessen seiner Staatsbürger, irgendwelche geheimen Intrigen dürfe man darin nicht suchen, erklärte er.

    Seehofer in Moskau. Mit fast den gleichen Worten wies Peskow dann auch den ebenfalls in Deutschland laut gewordenen Vorwurf zurück, es gebe angesichts des Seehofer-Besuchs in Moskau so etwas wie eine Anti-Merkel-Verschwörung auf der Achse Moskau-München. Im vom Kreml veröffentlichten Teil des Gesprächs zwischen Putin und Seehofer ist dann auch nur brav von Beziehungspflege und Wirtschaftsförderung die Rede. Das kremltreue Nachrichten-Magazin Vesti betont in seinem Bericht aber dennoch, Bayern schaffe Beziehungen zu Moskau „unter Umgehung Berlins“ – und betont, dass der Freistaat die Russland-Sanktionen der EU für „absurdes Theater“ halte.

    Mascha und der Bär. Lächerlich und vergeblich müssen all diese angestrengten Bemühungen um Meinungsmache und öffentliche Präsenz erscheinen, wenn man sie mit dem Medienerfolg von Russlands populärstem Exportprodukt vergleicht. Es heißt, nein – nicht Erdgas und auch nicht Kalaschnikow, sondern „Mascha und der Bär“. Nie gehört oder gesehen? Dann wird es höchste Zeit – eine 2012 veröffentlichte Folge unter dem  Titel „Mascha plus Kascha“ dieser Trickfilmreihe hat jetzt bei Youtube die Schallmauer von 1 Milliarde Views (!) geknackt – was bisher nur 20 Webvideos überhaupt gelang. Das war sogar dem seriösen Wirtschaftsblatt Vedomosti einen Kommentar wert: Schließlich verdient das hochprofessionelle Moskauer Trickfilmstudio Animaccord mit seinem Mascha-Klamauk (es gibt ihn hier auch auf Englisch) allein auf Youtube jeden Monat 1,5 Mio. Dollar.

     

    Lothar Deeg aus St. Petersburg für dekoder.org

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  • „Serow? Hauptsache, da drinnen ist es warm“

    „Serow? Hauptsache, da drinnen ist es warm“

    Je länger die Schlange, desto besser – jedenfalls, wenn es um eine Kunstausstellung geht. Die Länge der Warteschlange ist ihr Erfolgsthermometer. In Moskau hat es höchste Werte gezeigt: Täglich standen dort Menschenmassen vor der Tretjakow-Galerie an; die Serow-Ausstellung, die von Anfang Oktober bis Ende Januar lief, zog fast eine halbe Million Menschen an. Das ist zwar noch kein Weltrekord (die Ausstellung des MoMA in Berlin 2004 hatte beispielsweise 1,2 Mio. Besucher), aber doch eine Landesbestleistung.

    Anlässlich des 150. Geburtstags des Künstlers wurden mehr als 100 Gemälde und 150 graphische Werke gezeigt, die überwiegende Mehrheit davon aus einer einzigen Gattung: dem Porträt. Gemalte Blicke zweier Zaren, zahlloser Fürsten, Fabrikanten und Künstler kreuzten sich mit den lebendigen der Besucher, der einfachen wie auch der prominenten: Eine Woche vor der offiziellen Schließung der Ausstellung war in Begleitung des Kulturministers auch Wladimir Putin zu Gast. Kaum wurde dies publik, wuchs die Schlange noch einmal gewaltig – das Ministerium für Katastrophenschutz musste eingeschaltet werden, um sie zu bändigen, die Russische Militärhistorische Gesellschaft und der Menschenrechtsrat beim Präsidenten.

    Moskau ist sonst nicht dafür bekannt, dass seine Bevölkerung in derart fanatischer Weise kunstsinnig wäre. Was trieb die Menschen auf einmal zu Serow, dem Hausporträtisten eines längst verschwundenen Adels und des ihn nachahmenden russischen Großbürgertums? Die Suche nach nationaler Identität? Sahen die Besucher in den Serow-Bildern nicht die Porträtierten, sondern das vorrevolutionäre Russland, nostalgisch verklärt? Oder lag der Grund für den Besucheransturm gar nicht in den ausgestellten Bildern, sondern in der Schlange selbst? In der Schlange sind alle Menschen gleich, sie verkörperte in der sowjetischen Welt laut dem Riten- und Alltagsforscher Konstantin Bogdanow die Idee der Gerechtigkeit. Grund genug, um stundenlang in der Kälte vor einer Porträtsammlung auszuharren?

    Wie dem auch sei: Die Serow-Schlange ist ein Phänomen. Sogar in das russische Internet hat sie sich in Form populärer Internet-Meme hineingeschlängelt. Für Takie Dela hatte sich Nina Nasarowa eingereiht und nicht nur gefroren.

    Ein Notarztwagen. Mehrere Rettungsfahrzeuge. Ein orangefarbenes Riesenzelt mit Heizkanonen. Vorbeieilende Leute in Uniformen des Katastrophenministeriums. Auf beiden Seiten des Platzes stehen gleich mehrere Feldküchen: An der einen gibt es starken, süßen Schwarztee aus großen Kübeln, deren Inhalt für bis zu 600 Personen reicht, an der anderen Dosenrindfleisch und Schwarzbrot. In der Mitte stehen die Leute in zwei Reihen Schlange: die lange führt zur Kasse, die zweite, halb so lange, ist für die, die ihre Eintrittskarten rechtzeitig online gekauft haben.

    „Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm Buchweizengrütze verdrückt“ - Foto © Nina Nasarowa
    „Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm Buchweizengrütze verdrückt“ – Foto © Nina Nasarowa

    Seit vergangener Woche erinnern die Nachrichten aus der Zweigstelle der Tretjakow-Galerie am Krymski Wal an Meldungen aus Krisengebieten.

    Besucher der Serow-Ausstellung haben die Tür des Galeriegebäudes aufgebrochen. Der Rat für Menschenrechte setzte sich für eine einmonatige Verlängerung der Ausstellung ein. Eine Verlängerung ist allerdings nicht möglich, aus Gründen, die nicht in der Macht des Museums liegen.

    Auch die Pressestelle der Galerie griff auf Formulierungen zurück, die eine Katastrophensituation beschreiben. Auf Facebook wandte sie sich an Besucherinnen und Besucher mit den Worten: „Ziehen Sie sich warm an, und bewahren Sie Ruhe.“

    „Ich zog in die Ausstellung wie in eine Schlacht. Schon am Vorabend habe ich mich vorbereitet und alles rausgesucht, was ich anziehen will. Darüber habe ich den Pelzmantel probiert, um zu schauen, ob ich da so noch reinpasse“, erzählt Marina Afanasjewna vergnügt. Sie arbeitet als Ingenieurin in einem Moskauer Wissenschaftszentrum. Sogar an die anderen hat sie gedacht und als Reserve ein flauschiges Wolltuch und eine Flasche Cognac mitgebracht.

    Der Cognac kam gerade recht: Am Samstag, den 23. Januar hatten die Leute vor ihr schon rund zwei Stunden auf die Öffnung des Museums gewartet – die ersten hatten sich schon gegen acht Uhr morgens eingefunden.

    „Serow – sehr famous. Sogar in China“

    Neben Marina Afanasjewna steht Wangding Chen, ein 19-jähriger Chinese, der an der Petersburger Kunstakademie studiert und sich auf Porträts und Landschaften spezialisiert. Er ist das erste Mal in Moskau und aus mangelnder Erfahrung ist er ohne Mütze und nur mit einem leichten Mantel hergekommen. Wangding Chen friert offensichtlich furchtbar, aber der Student will nicht aufgeben. „Serow – sehr famous“, erklärt er in gebrochenem Russisch, „sogar in China.“

    Mona-Lisa-Moment bei Serow - Foto © Nina Nasarowa
    Mona-Lisa-Moment bei Serow – Foto © Nina Nasarowa

    Die Serow-Ausstellung ist die meistbesuchte Ausstellung in der Geschichte Russlands und der UdSSR. Bereits 440.000 Menschen haben sie besucht. Die Garderobe in der Tretjakow-Galerie fasst mit 1200 Plätzen weit weniger. Außerdem muss aus Sicherheitsgründen ein Teil des Foyers unbedingt freigehalten werden, damit die Schlangen zur Kasse, Garderobe, dem Café und den Toiletten nicht durcheinander geraten, wie Lara Bobkowa erklärt, die Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit des Museums.
    Wenn endlich wieder eine Gruppe von Menschen durch die metallene Absperrung hindurch darf, ertönt ab und zu ein lautes „Hurra!“ – so sieht in Filmen die Erstürmung einer Festung aus.

    Es ist nicht das erste Mal, dass am Krymski Wal eine Schlange steht. Wie sich eine andere Museumsmitarbeiterin erinnert, gab es bei der Ausstellung zu Isaak Lewitan sogar eine Schlägerei.

    Jeder beschuldigt vor allem sich selbst

    Nicht nur die Tretjakow-Galerie rühmt sich des Phänomens der langen Schlangen – auch das Staatliche Puschkin-Museum ist dafür bekannt, Besucheranstürme schlecht in den Griff zu bekommen. Die Leute in der Schlange erinnern sich noch, wie sie für Caravaggio anstanden („vier Stunden im Regen, und dann gab es da ganze neun Bilder“), für Picasso, Dalí, Turner, einem fällt sogar wieder ein, wie 2007 Modigliani nach Moskau kam. Man hört jedoch keinerlei Beschwerden über die Museen, jeder beschuldigt vor allem zuerst sich selbst: „wir Russen sind halt schlampig“, „ … machen immer alles auf den letzten Drücker …“

    Schon gegen 11 Uhr ist das orangefarbene Zelt, in dem Heizkanonen heiße Luft spenden, proppenvoll. An einer der Feldküchen ist gerade die mit Dosenrindfleisch vermischte Buchweizengrütze fertig geworden. Verteilt wird sie von Mitgliedern der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, die sich sonst eher mit der Errichtung von Denkmälern und der Organisation von Ausstellungen, Festivals und Jugendfreizeitlagern beschäftigt. Eines ihrer letzten Projekte im Rahmen der Woche der Importsubstitution in St. Petersburg war eine Diskussion über militärpatriotischen Tourismus.

    Die Feldküche wurde auf persönliche Anweisung des Vorsitzenden der Gesellschaft, Kulturminister Wladimir Medinski, aufgestellt. Als Dank hat man den Freiwilligen an der Essensausgabe versprochen, sie abends nach Schließung des Museums in die Ausstellung zu lassen.
    Die Gesellschaft ist auch mit historischen Rekonstruktionen beschäftigt. Wahrscheinlich ist deshalb für die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch ein Mann verantwortlich, der eine NKWD-Uniform aus dem Jahr 1941 trägt. Die Initiative hat ausschließlich einen wohltätigen Zweck, erklärt er gelassen: „Die Leute bekommen alles kostenlos. Wir haben das alles mit unseren Ressourcen organisiert. Die Ausgaben sind nicht hoch, nicht der Rede wert.“

    Bald merkt die Schlange, dass es keine Toiletten gibt

    Die Grütze erfreut sich großer Beliebtheit. „Wenn ich nach Hause komme, mach ich mir das auch. Ich kaufe Dosenfleisch. Da könnten noch gebratene Zwiebeln dazu“, sagt Marina Afanasjewna.

    Innerhalb einer halben Stunde werden vor dem Museum 300 Kilogramm verdrückt. Wer zu spät kommt, kann sich noch mit Tee aufwärmen, der großzügig ausgeteilt wird, und bald merkt die Schlange, dass es keine Toilettenhäuschen gibt.

    Die Mitarbeiter des Katastrophenministeriums zucken mit den Schultern und raten dazu, den Wachmann am Mitarbeitereingang um Einlass zu bitten. In der Schlange wird geflüstert, dass man alternativ auch kurz ins Café Cervetti gehen kann.

    Wangding Chen lehnt die Buchweizengrütze mit Dosenfleisch rundweg ab und klagt, er sei ja selbst schuld: Er hat seinen Studentenausweis zu Hause vergessen, mit dem man ihn als Kunststudenten kostenlos und ohne Anstehen in der Schlange reingelassen hätte. Seine sechs gewissenhafteren chinesischen Studienkollegen schauen sich nun gerade die Ausstellung an.

    „Wir sehen, dass er schon ganz blau wird“

    „Wir haben ihm ja gleich gesagt: Pack dich warm ein, sonst erfrierst du“, erzählt Marina Afanasjewna besorgt. „Nein, sagt er, nur mein Handy kann erfrieren. Er steht und steht und wir sehen, dass er schon ganz blau wird. Ich habe ihm meine Wollhandschuhe gegeben und dann haben wir ihn dazu gebracht, sich wenigstens einen Schal um den Kopf zu binden. So haben wir ihn gerettet!“ Wangding Chen lächelt erschöpft: „Ich bin den Leuten in dieser Schlange sehr dankbar, dass ich erfahren durfte, wie freundlich die russischen Menschen sind.“

    Für den Rummel um die Serow-Ausstellung gibt es inzwischen viele Erklärungen: das durchdachte kuratorische Konzept, das dem Mythos vom goldenen Zeitalter der russischen Geschichte zuarbeitet, die professionelle PR-Kampagne des Museums, Putins Ausstellungsbesuch und letztlich auch die Möglichkeit, seltene Werke sehen zu können.

    „Serow liebe ich, aber Menschen nicht so“

    Michail Lwowitsch, ein pensionierter Ingenieur, ist mit seinem Sohn aus Tula angereist. Um Serow sehen zu können, ist er um 7.20 Uhr in die Elektritschka nach Moskau gestiegen.

    „Als wir wegen Korowin hergefahren sind, waren nur wenig Leute da“, spinnt er gelassen die Plauderei mit einer älteren Dame neben ihm fort. „Ich habe leider kein Maschinengewehr, hätte ich eins, wären hier auch nur wenig Leute. Serow liebe ich, aber Menschen nicht so.“ „Da gebe ich ihnen recht“, lacht die gebildete, ältere Dame laut auf.

    [video:https://www.youtube.com/watch?v=FRhysB-Ik_U align:left]
     
    Bitte anstellen! Besucher vor der Tretjakow-Galerie

    Die Mehrheit der Leute in der Schlange erinnert sich nicht mehr an die seltenen Arbeiten Serows, sondern weiß einfach: „Ein Volkskünstler, den kannte ich schon als Kind.“

    Ein  „Volkskünstler“ ist er auch in einem anderen Sinn, der in der Schlange mehrmals genannt wird. Auf die Frage: „Was hat Sie dazu gebracht, bei solchen Temperaturen die Ausstellung zu besuchen?“ antwortet eine junge Frau kurz: „Ich liebe die Impressionisten.“

    Der Minister verspricht seine Hilfe

    In der Wahrnehmung der breiten Masse gilt Serow als Repräsentant des russischen Impressionismus, deren Vertreter inzwischen schon lange zu den wohl wichtigsten Volkskünstlern geworden sind.

    Eine andere junge Frau, die endlich an der ersehnten Tür angelangt ist, sagt frohlockend zu ihrem Freund: „Das nächste Mal würde ich nur noch für Monet so lange in der Kälte warten!“

    Um 16 Uhr gibt der Museumsdirektor eine Sondererklärung ab: „Nach kurzfristig einberufenen Versammlungen unseres Museums haben wir nun beschlossen, die Ausstellung zu verlängern.“

    Sechs Bilder aus ausländischen Sammlungen müssten zurückgegeben werden, die anderen dürften noch eine Woche länger am Krymski Wal hängen. Diesen Kompromiss habe man gemeinsam mit dem Kulturministerium gefunden und der Minister persönlich habe Hilfe versprochen.

    Die Schlange als Traum von der Zivilgesellschaft

    Die Schlange zu Serow verkörpert plötzlich den Traum von der Zivilgesellschaft, ein Simulacrum für Reformen: Angefangen vom Volksaufruhr und der aufgebrochenen Tür, über die angespannte Suche nach einer Lösung, bis hin zur Einbeziehung staatlicher Organe – all das diente dazu, etwas zu verändern, was bis dahin scheinbar nicht zu ändern war.

    Das Katastrophenministerium, das den Frierenden tapfer seine volle Unterstützung gewährte (im Zentrum von Moskau), das Kulturministerium, die gemeinnützigen Vereine, die zu Hilfe eilten, sogar die Presseabteilung des Museums, die sich als ein Vorbild an Flexibilität und Geduld erwies – sie alle arbeiteten so vorbildlich, dass man über der ganzen Hektik schnell vergessen kann: Eigentlich hat es gar keine echte Krisensituation gegeben.

    Das Quentchen Freiraum am Krymski Wal wurde zum Eingang in den Kaninchenbau, durch den die ganze Schlange zu Serow verschwand. Sie kam am anderen Ende wieder raus und fand sich in einem anderen Land wieder.

    „Er hat umsonst angestanden, schade“

    „Er hat es nicht mehr ausgehalten und ist gegangen“, seufzt Marina Afanasjewna über Wangding Chen. „Nein, ich kann nicht mehr, hat er gesagt, kann mich nicht mehr auf den Beinen halten vor lauter Kälte. Dabei hatte er es fast geschafft.“

    „Er hat umsonst angestanden, schade“, ruft jemand aus der Schlange.

    „Na, zumindest hat er was, woran er sich erinnern wird.“

    Dann schweigen alle einen Moment und schauen gespannt und erwartungsvoll durch die Glasscheiben in das geräumige Foyer der Galerie. In dem sieht es wie zum Spott gerade völlig leer aus. „Ach, der Serow“, sagt Michail Lwowitsch, „Hauptsache, da drinnen ist es warm.“

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  • Die Untergangs-Union

    Die Untergangs-Union

    In westlichen Medien kaum beachtet, hatte sich am 1. Januar 2015 die Eurasische Wirtschaftsunion gegründet. Gründungsmitglieder dieses „Gegenmodells zur EU“ sind Russland, Belarus, Kasachstan und Armenien. Später trat auch Kirgisistan der Union bei. An das Gewicht der EU reicht die östliche Union allerdings nicht heran, weder von der Zahl ihrer Mitglieder her, noch von ihrer wirtschaftspolitischen Bedeutung. Vor allem aber fehlt es ihr auch an innerem Zusammenhalt. Die einzelnen Mitgliedstaaten verfolgen weitgehend ihre eigenen Interessen. So verstand sich die EAWU von Anfang an eher als Wirtschaftsunion, denn als politischer Zusammenschluss.

    Wjatscheslaw Polowinko hat für die Novaya Gazeta nach einem Jahr Eurasische Wirtschaftsunion kritische Bilanz gezogen, aus der Perspektive Kasachstans, das in der Union eine Schlüsselrolle einnimmt.

    Das erste Neujahrsgeschenk von Russland an Kasachstan im Jahr 2016 war ein Erlass von Präsident Putin. Demnach dürfen Waren aus der Ukraine nur noch in versiegelten Waggons, Zisternen und LKWs und ausschließlich von Belarus aus durch die Russische Föderation nach Kasachstan befördert werden.

    Dabei sollen die für den Transit durch Russland bestimmten Warenlieferungen mit einer Plombe versehen werden, die über das russische Navigationssystem GLONASS auffindbar ist. Bei der Einreise bekommt jeder Fahrer ein Ticket, das er bei der Ausreise wieder abgeben muss. Es verliert seine Gültigkeit, sobald GLONASS eine Unregelmäßigkeit zeigt.

    Natürlich gelten diese drakonischen Maßnahmen in erster Linie der Ukraine: Am 1. Januar hat Russland das Freihandelsabkommen mit seinem proeuropäischen Nachbarstaat ausgesetzt. Allerdings bescherte es auch Kasachstan damit zusätzliche Kopfschmerzen: Nach Informationen der Nowaya Gazeta wollte Russland nämlich zunächst überhaupt keinen Warentransit aus der Ukraine zulassen.

    Die Entscheidung, einen Transit unter der Aufsicht von GLONASS einzuführen, fiel auf den ersten Jahrestag der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) am 1. Januar 2015. Seitdem ist die Mitgliederzahl der EAWU, die sich quasi als Alternative zur EU sieht, mit dem Beitritt von Armenien und Kirgisistan fast um das Doppelte gestiegen. Doch dies ist beinahe der einzige Erfolg. Denn der Warenumsatz zwischen den Ländern ist gesunken und die Partner sind in Handelskriege verstrickt.

    Nichts bleibt ohne Folgen

    Die erste Bewährungsprobe musste die neue Union noch vor ihrer offiziellen Gründung bestehen, als Ende 2014 der russische Rubel stark abgewertet wurde. Damals rettete der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew die Situation. Er sieht sich als federführend im Aufbau der EAWU. „Die Union hat dieses Jahr dank dem Pragmatismus Nasarbajews überlebt“, sagt der Zentralasienexperte Arkadi Dubnow. „Nur dank der aus der Not geborenen politischen Weisheit des kasachischen Präsidenten hat Kasachstan damals die Handelsgrenze nicht geschlossen, obwohl es kurz davor war.“

    Vereinfacht ausgedrückt: Nasarbajew wollte das Gesicht der sich gründenden Union retten und opferte dafür im Endeffekt die Wirtschaftskraft des eigenen Landes. Zunächst veranlasste der niedrige Rubelkurs die Kasachen dazu, über die Grenze zu fahren und alles Mögliche zu kaufen, von Lebensmitteln bis hin zu Wohnungen. Das bescherte kasachischen Unternehmern in allen Branchen große Verluste. Im Sommer 2015 stürzte dann mit leichter Verzögerung nach dem Rubel auch der Tenge in den Keller und fällt seitdem kontinuierlich weiter. So kostete ein US-Dollar im August 2015 noch 188 Tenge, derzeit sind es dagegen 340 Tenge.

    Kasachstan zahlt einen hohen Preis

    Kasachstan kam dieses Manöver teuer zu stehen: Nasarbajew selbst gab zu, für die Stabilisierung des Tenge-Kurses 28 Milliarden US-Dollar ausgegeben zu haben – sprich, er hat einfach Geld zum Fenster hinausgeworfen. Denn die Maßnahme brachte keine Stabilität: Kasachische Löhne sind nur noch die Hälfte wert, und unzufriedene Stimmen werden immer lauter. Dafür machen die Einwohner Kasachstans nicht nur die eigene Regierung, sondern immer öfter die Eurasische Wirtschaftsunion verantwortlich. Der Tenge war Ende 2015 die schwächste Währung in der GUS und in Europa: Er fiel gegenüber dem US-Dollar gleich um 85,2%.

    Allerdings ist es in den Medien gelungen, die Abwertung des Tenge nicht mit der EAWU in Zusammenhang zu bringen. Die Wirtschaftsprobleme der Union erklärten sie mit der weltweiten Finanzkrise. Und die Abwertung des Tenge, die sei gar „auf Anfragen der Fernsehzuschauer“ geschehen: als hätten kasachische Unternehmer den Präsidenten flehentlich darum gebeten.

    Viel schwerer war es dagegen, die Handelskriege zu erklären, die sich die Mitgliedstaaten während des gesamten Jahres lieferten. Ende März, Anfang April kam es zum ersten und gleichzeitig schrillsten Konflikt: Damals verbot Kasachstan die Einfuhr von Mayonnaise, Süß-, Milch- und Fleischwaren, Eiern und Butter aus Russland. Als Antwort darauf führten die russische Verbraucherschutzbehörde Rospotrebnadsor und die Behörde für Veterinär- und Pflanzengesundheitsaufsicht Rosselchosnadsor eine Kampagne gegen Lebensmittel aus Kasachstan. Der Skandal konnte erst auf Ministerebene beigelegt werden.

    Am schwierigsten wurde die Situation, als Russland Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei verhängte. Kasachstan bekam diesen Konflikt zwar nur indirekt, aber empfindlich zu spüren: LKWs, die aus der Türkei nach Kasachstan fuhren, blieben an der russisch-georgischen Grenze stecken. Inzwischen ist es nahezu unmöglich, türkische Waren über Russland zu transportieren.

    Ein kasachischer Unternehmer, der anonym bleiben wollte, berichtete der Novaya Gazeta, dass er mehrere Arbeitertrupps zum Abladen an die Grenze entsenden musste. Die Zollbeamten hatten verlangt, die ganze Ware auszuladen und vorzuzeigen.

    Die kasachische Handelskammer veröffentlichte auf ihrer Homepage alternative Routentips, auf denen Waren aus der Türkei transportiert werden können, unter Umgehung Russlands. Der Weg per Fähre über das Kaspische Meer ist allerdings deutlich teurer. In Kasachstan scherzt man inzwischen schon, dass dank der russischen Politik die Brücke über das Kaspische Meer, von der Kasachstan, die Türkei und China seit Langem träumen, schon bald Realität werden könnte.

    Nicht alle lassen sich einspannen

    Wenn Experten Bilanz ziehen über das erste Jahr EAWU, dann konstatieren sie ein Fiasko nach dem anderen. „Zum Ende des Jahres 2015 fiel der Warenumsatz zwischen den EAWU-Ländern um 26 %, wobei einige Experten gar von 33 % ausgehen“, sagt Dosym Satpajew, Politologe und Direktor der Risikobewertungsgruppe. „Ich kann keinen einzigen positiven Aspekt nennen, der das Gefühl des Scheiterns irgendwie ausgleichen würde“, gesteht der kasachische Wirtschaftsjournalist Denis Kriwoschejew. „Alles, was 2014 noch vor der Unionsgründung vorausgesagt wurde, ist eingetreten: das Übergreifen der Inflation und der Währungsabwertung sowie der Druck auf die kasachischen Unternehmer. Und das ist erst der Anfang.“

    „Kasachstan ist eindeutig der Verlierer. Was Russland betrifft, so müssen wir die Dinge beim Namen nennen: Für Russland ist der Handel mit den EAWU-Staaten nicht so bedeutend. Die Verluste wirken sich nicht groß aus. Für Armenien dagegen bildet die EAWU die Grundlage des geopolitischen Überlebens. Die Gewinner sind, erstaunlicherweise, die Kirgisistan. Sie können nun ohne Gewerbeschein und Genehmigung in Russland arbeiten, gleichzeitig kann die Zusammenarbeit mit Kasachstan bei richtiger Zielsetzung gute wirtschaftliche Ergebnisse bringen“, so Arkadi Dubnow.

    Im Grunde genommen liegt das Hauptproblem in der Zielsetzung. Jedes Land trat mit eigenen Hoffnungen und Interessen der Union bei und traf schließlich auf zwei Dinge: das Diktat Russlands und den Vorrang der Geopolitik vor der Wirtschaft.

    Dosym Satpajew meint, das hauptsächliche Ergebnis des ersten Jahres EAWU sei die allseitige Enttäuschung. „Ein bedeutender Teil der kasachischen Wirtschaft sieht die EAWU nun viel skeptischer. Innerhalb Kasachstans sinkt das Loyalitätsniveau gegenüber der Union. Das bedeutet, dass die EAWU im Niedergang begriffen ist und kaum eine Chance hat, über dieses Stadium hinauszuwachsen“, so der Experte.

    Die Quadratur der Union

    Seit dem 1. Januar 2016 hat Kasachstan den Vorsitz der Union inne. Nach Meinung der Gesprächspartner der Novaya Gazeta wird Nursultan Nasarbajew alle Konflikte im Keim ersticken – wiederum, um das Gesicht der EAWU zu retten.

    Die Geschichte mit dem Warentransit aus der Ukraine unter Aufsicht von GLONASS könnte die ohnehin instabile Situation jedoch weiter ins Wanken bringen. Weder die kasachischen Machthaber noch die Gesellschaft haben es gerne, wenn man ihnen von außen etwas aufzwingt.

    Dass viele russische und prorussische Medien in Kasachstan über den Präsidenten-Erlass im Stile von „Putin hat erlaubt” (wörtlich zitiert) berichtet hatten, empfanden viele Kasachen als beleidigend. Dazu sollte man anmerken, dass viele Bewohner Kasachstans die russischen Medien als ein Instrument der Kreml-Expansion betrachten. Und als Ende 2015 die russischen Fernsehkanäle in Kasachstan wegen einer Änderung im Mediengesetz  ernsthaft in ihrer Existenz bedroht waren (kurz gesagt, weil die Ausstrahlung ausländischer Werbung verboten wurde, aber niemand wusste, wie man sie aus den Sendungen herausschneidet), hielt sich die Zahl der Anhänger und Gegner der russischen Sender in Kasachstan einigermaßen die Waage. Die russischen Sender sind inzwischen nicht mehr in Gefahr, allerdings war die Aufregung groß.

    Das größte Paradox ist allerdings, dass trotz all dieser großen Probleme keiner daran denkt, das Projekt EAWU abzuwickeln. „Zum Teil kann man die Überlebensfähigkeit der Union damit erklären, dass die Präsidenten Russlands, Kasachstans und Belarus‘ sich gegenseitig gut kennen und wissen, welche Retourkutsche ihnen blüht, wenn sie ein anderes Mitglied attackieren. Gleichzeitig wissen sie, welche Angriffe der anderen sie getrost ignorieren können“, erklärt Arkadi Dubnow.

    Am meisten jedoch fallen die Ambitionen von Präsident Nasarbajew ins Gewicht: Er hält sich, wie gesagt, in der EAWU für federführend.

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  • Februar: Gruppe TRIVA

    Februar: Gruppe TRIVA
    A. Trofimow, W. Worobjow, W. Sokolajew
    A. Trofimow, W. Worobjow, W. Sokolajew

    War jemand in der UdSSR von Beruf Fotograf, so arbeitete er für eine Zeitung, einen Betrieb oder eine staatliche Stelle wie das Standesamt. Für den Beruf des „freien Fotografen“, sei es als Künstler oder als Journalist, gab es im sowjetischen Staat keinen Raum. Umso interessanter sind daher Initiativen wie die Gruppe TRIVA, ein Zusammenschluss dreier Betriebsfotografen beim Metallurgischen Kombinat im sibirischen Nowokusnezk, die es sich 1978 zur Aufgabe machten, „die derzeitige Epoche aus der Position des Humanismus fotografisch zu dokumentieren”.

    Die Mitglieder von TRIVA – Wladimir Sokolajew, Wladimir Worobjow und Alexander Trofimow – arbeiteten nicht fürs private Archiv. Sie waren als „künstlerisches Kollektiv“ offiziell registriert und organisierten Ausstellungen ihrer Werke, teils in den Räumen ihres eigenen Kombinats, teils in anderen Städten und sogar im Ausland (mehr Details hier auf Russisch). Dabei mussten sie die Besonderheiten ihres sowjetischen Umfelds in Betracht ziehen: „Natürlich gab es diesen Parteisekretär für Ideologie“, erinnert sich Sokolajew, „das war ein Typ mit Einfluss, und wenn wir eine Ausstellung machten, dann mussten wir das berücksichtigen. Aber was du nicht ausstellst, dafür gibt es auch keinen Parteisekretär für Ideologie. Er läuft dir ja nicht hinterher, wenn du fotografierst, und schaut dir über die Schulter. Er weiß nicht, welche Bilder ich im Apparat habe, welche Abzüge ich mache, was ich Freunden zeige.“

    Vier Jahre lang ging die Arbeit gut. 1982 gelang es TRIVA sogar, ihre Fotografien beim World Press Photo Award einzureichen. Der erste Schritt zur Internationalisierung bedeutete jedoch auch das Ende von TRIVA: Auf „Empfehlung des Bezirkskomitees der KPdSU“ wurde die Gruppe aufgelöst, da sie „ideologisch schädliche Fotografien“ hervorbringe.

    Die Arbeiten der Gruppe sind heute wenig bekannt, selbst in Russland. Dabei steht ihre außergewöhnliche Qualität völlig außer Frage: Die Herangehensweise von TRIVA läßt sich – mit ihrem Augenmerk auf den entscheidenden Augenblick im Strom des Alltäglichen – durchaus mit der von Cartier-Bresson vergleichen. In ihrer fotografischen Unmittelbarkeit bieten diese Bilder einen Einblick ins Alltagsleben der UdSSR unter Breshnew, während der Zeit der Stagnation, wie er in anderen Zeitzeugnissen – dem Kino oder der Literatur – kaum je zu finden ist. 

    Alexander Trofimow. Regenschauer in Sotschi. 1978
    Wladimir Sokolajew. Feierliche Registrierung eines Neugeborenen. Standesamt des Zentralen Bezirks. Nowokusnezk. 1.10.1983
    Wladimir Sokolajew. Behandlung mit UV-Licht im Kinderheim Nr. 4. Suworow-Straße. Nowokusnezk. 22.01.1981
    Wladimir Sokolajew. Gymnastikwettkampf der Betriebssportgruppe im Gorpromtorg (dt. „Städtische Abteilung für Handel mit gewerblichen Waren“).  Nowokusnezk. 10.04.1983
    Wladimir Worobjow. Frau bietet Suppenfleisch zum Kauf an. Nowokusnezk. 1984
    Wladimir Sokolajew. Abendliche Schlange vor den Sandunowski-Bädern. Moskau. 30.04.1984
    Wladimir Sokolajew. Wind in der Stadt. Bahnhofsvorplatz. Nowokusnezk. 11.05.1981
    Wladimir Worobjow: Entlassung aus dem Wehrdienst. Prospekt der Metallurgen, Nowokusnezk, 1982
    Wladimir Sokolajew. Gesang vom Frauenchor auf einem Stadtfest. Nowokusnezk. 7.06.1979
    Wladimir Sokolajew. Eingang zur Ballettschule. Teatralnaja-Straße in Leningrad. 24.06.1982
    Wladimir Sokolajew. Fitnessgruppe im Schwimmbad RODNIK (dt. „Quelle“). Nowokusnezk. 5.04.1983
    Wladimir Worobjow. Mona Lisa auf einem beruflichen Wettbewerb der Ölbohrarbeiter. Niederlassung Elan. Nowokusnezker Bezirk. 26.05.1983
    Wladimir Sokolajew. Schafe hütende Zigeunerin. Gebiet Ongudai. Altai Gebirge. 30.07.1980
    Wladimir Sokolajew. Portrait eines Zechenarbeiters mit Hut. Kusnezker metallurgisches Kombinat. Nowokusnetsk. Juni 1977
    Wladimir Sokolajew. Pause bei den Bäckern. Bäckerei in der Gemeinde Ongudai. Altai Gebirge. 28.07.1980
    Wladimir Sokolajew. Masleniza-Fest im Bezirk Ordshonikishew. Nowokusnezk. 24.03.1985
    Wladimir Sokolajew. Erste Hilfe. Versuch der Rettung einer Selbstmörderin auf der Pokryschkin-Straße. Nowokusnezk. Mai 1978
    Wladimir Sokolajew. Hammelbrust-Hälften auf der Vera-Solomna-Straße. Nowokusnezk. 8.09.1988
    Wladimir Sokolajew. Neujahrsrodelbahn an der Kirow-Straße. Nowokusnezk. 1.01.1983
    Wladimir Sokolajew. Mauer, an der man sich zum Sonnenbaden trifft – auch im Winter. Peter-und-Paul-Festung. Leningrad. 28.02.1982
    Alexander Trofimow. Fahrradfahrer in der Gemeinde Maly Antibes. Bezirk Mariinski. 1983
    Wladimir Sokolajew. Gummitwist im Hof an der Toljatti-Straße. Nowokusnezk. 9.05.1985
    Wladimir Sokolajew. Autoreparatur auf dem Seitenstreifen des Prospekts Kurako. Nowokusnezk. 13.10.1981
    Wladimir Sokolajew. Zuschauer an der Ehrentafel. Masleniza-Fest. Nowokusnezk. 24.03.1985
    Wladimir Sokolajew. Vor den Feierlichkeiten zum Jahrestag der Oktoberrevolution wird das Lenin-Mausoleum einer Reinigung unterzogen. Moskau, 5.11.1988

    Wladimir Sokolajew. Eine Frau eilt zur Demonstration am 1. Mai, in der Hand ein Schild mit der Aufschrift „Glück“. Obnorski-Straße. Nowokusnezk. 1.05.1983


    Bildredaktion: Nastya Golovenchenko, einführender Text: Martin Krohs
    Veröffentlicht am 01.02.2016

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  • Die Schlacht ums Narrativ

    Die Schlacht ums Narrativ

    Im Mordfall Litwinenko gibt es vom Londoner High Court herbe Anschuldigungen gegen den russischen Präsidenten. In ihrem 329 Seiten starken Bericht schlussfolgern die britischen Ermittler, dass der Mord „wahrscheinlich” von Putin gebilligt worden sei. Beweise dafür gibt es allerdings keine – so geht es nun vor allem um die Deutungshoheit. Und hier steht viel auf dem Spiel, denn zugleich wird in dieser Diskussion um das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen verhandelt. Juri Saprykin hat für The New Times die Erzählstränge im Fall Litwinenko entwirrt.

    Marshall McLuhans berühmter Ausspruch „The medium is the message“ ist nun schon über fünfzig Jahre alt, und allmählich dürfte seine Kernaussage jedem Erstklässler geläufig sein: Egal welches Kommunikationsmittel man benutzt, es verändert unmerklich die Aussage, die es transportiert, und beeinflusst deren Gewicht und Status. Geburtstagsglückwünsche klingen unterschiedlich, je nachdem ob sie in Form einer Postkarte, eines Telefonanrufs oder eines Postings in der Facebook-Chronik ankommen. Kadyrows Drohungen gegen die Opposition wären nicht weiter aufgefallen, hätte er sie in einem Nachrichtenbeitrag auf Grosny-TV geäußert, im warmen, gemütlichen Instagram-Umfeld dagegen wirken sie verheerend. Der Name des Präsidenten der Russischen Föderation direkt neben Schilderungen von Mordkomplotten und Drogenhandelsrouten hätte keinerlei Aufsehen erregt, wäre er in diesem Zusammenhang auf der Website Kavkaz Center aufgetaucht – in einer dicken Akte mit der Aufschrift British High Court dagegen machen derlei logische Verknüpfungen einen ganz anderen Eindruck, und die oft gehörten Worte sind auf einmal mehr als nur Worte.

    Aber das gewählte Kommunikationsmittel ist nicht das einzige, was den Kern einer Mitteilung verändert: Alles hängt davon ab, in welche Geschichte, in welches Narrativ sich eine Aussage einfügt. Schon in den ersten Stunden nach der Veröffentlichung des Litwinenko-Berichts begann in Russlands Medien die Schlacht ums Narrativ. Die Fakten wirken ganz anders, wenn man den Bericht von vorneherein als Polit-Farce oder einen weiteren aggressiven Akt des britischen Geheimdiensts darstellt oder zumindest den Namen „Putin“ weglässt. Doch all das sind Tricks für den Hausgebrauch. Für diejenigen, die den Bericht im Original lesen, ergibt sich aus den Dokumenten der Untersuchung natürlich eine ganz andere Geschichte. Diese Geschichte handelt nicht von einer Teekanne mit Polonium und auch nicht vom Schicksal der Person Litwinenko, sondern davon, wie Russlands Machtspitze politische Gegner umbringt, nicht zuletzt auch auf fremdem Staatsgebiet, und zumindest in einem Fall unter Verwendung von radioaktiven Stoffen. Und diese Geschichte kann nicht folgenlos bleiben. Natürlich, wir sind gewohnt, in einer Welt zu leben, wo auch die krassesten Statements der hochrangigsten Personen oft schon am nächsten Tag vergessen oder bedeutungslos geworden sind, doch der Status des Londoner Obersten Gerichts wird verhindern, dass diese Geschichte sich in Luft auflöst, als hätte es sie nie gegeben.

    Denkt man an die Folgen, sieht man vor dem inneren Auge zunächst ein Brainstorming in Downing Street oder in der Nähe des Oval Office: Wie ist zu reagieren auf die Ergebnisse der Untersuchung, was könnte man noch beschränken, verbieten, einfrieren, ohne dass es nach endgültigem Bruch und Trennung aussieht (zumal die Entwicklung derzeit eher in Richtung Aufhebung der wegen der Krim verhängten Sanktionen geht)? Doch das ist nur der erste und offensichtlichste Teil der Gleichung: Im nächsten Schritt, das haben uns die letzten Jahre gelehrt, entsteht eine Lawine gegenseitiger Kränkungen, die Gott weiß wohin rast. Selbst wenn nur personenbezogene Sanktionen gegen Andrej Lugowois und Dimitri Kowtuns unmittelbare Vorgesetzte verhängt werden, ist als Gegenmaßnahmen mit allem zu rechnen: von einem Ale- und Stout-Verbot in Russland über die Absage des P.-J.-Harvey-Konzerts bis hin zu Bomben auf Woronesh. Selbst wenn der Name Putin aus weiteren Prozessunterlagen verschwindet, bleibt die persönliche Kränkung in der Welt und kann sich in völlig unvorhersehbaren Formen äußern. Sollte es nicht irgendwann zu einem Gerichtsurteil kommen (was schwer vorstellbar ist), gibt es immer noch die westlichen Staatschefs, die Presse, die öffentliche Meinung, die mit diesem Wissen irgendwie leben müssen. Und wenn das nächste Mal ein gemeinsames Vorgehen an irgendeinem Krisenherd zur Debatte steht, wird es unweigerlich wieder hochkommen.

    All das – der gegenseitige Argwohn, die sich auftürmenden Kränkungen, der Wettlauf von Sanktionen und Gegensanktionen – ist im Grunde nicht neu. Na gut, wir treten noch zwei Schritte auf die Frontlinien des Kalten Krieges zu, aber ein Einreiseverbot und ein paar eingefrorene Konten mehr (genau wie der Vorwurf der Gegenseite, es gehe darum, in Russland einen Umsturz herbeizuführen) beeindrucken niemanden mehr. Und auch die beiden großen Geschichten, in deren Zusammenhang die Widersacher die jüngst veröffentlichten Fakten bringen, existieren nicht erst seit gestern. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es auf russischer Seite zum Fall Litwinenko nicht nur eine, sondern ganze drei Geschichten gibt.

    Die erste ist die offizielle Geschichte, verbunden mit dem Namen Maria Sacharowa: Es handele sich nicht um Untersuchungsergebnisse, sondern nur um haltlose Spekulationen, die den Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien schaden sollen. Die zweite ist die geopolitische, die aus dem Volk, erzählt von Couchpublizisten auf Facebook: Ihr Engländer bringt doch selber weltweit heimlich Leute um, James Bond ist das beste Beispiel – warum sollen wir das dann nicht dürfen? Die dritte, unverhohlen menschenverachtende Geschichte erzählen die Organisatoren jener Kundgebung in Grosny, bei der der Dumaabgeordnete Adam Delimchanow erklärte: „Für jedes Wort, dass diese Leute gegen das Oberhaupt der Republik Tschetschenien oder gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin sagen, werden sie einstehen müssen! Vor dem Gesetz und ohne Gesetz werden sie einstehen müssen! Selbst wenn sie sich im Ausland aufhalten sollten, denn ausländische Gesetze erkennen wir nicht an!“ Und allein die Tatsache, dass diese drei Geschichten nebeneinander existieren, kann man als weiteren Beweis nehmen für die Seite der Anklage des Londoner High Court.

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  • Aus der Filmfabrik

    Aus der Filmfabrik

    Wo Russlanddeutsche gegen Flüchtlinge protestieren, hat oft auch das russische Staatsfernsehen seine Hand im Spiel. So berichten russische Medien derzeit ausgiebig über den Fall einer vermissten 13-Jährigen aus Berlin und behaupten, das Mädchen sei von Flüchtlingen entführt und vergewaltigt worden. Die Polizei sieht dafür allerdings keine Anhaltspunkte.

    Nachdem der russische Außenminister Lawrow deutschen Medien Vertuschung vorgeworfen hatte, schaltete sich schließlich auch Außenminister Steinmeier in die Debatte ein. Er warnte Russland davor, mit den Medienberichten über die angebliche Vergewaltigung Unfrieden zu stiften und die Migrationsdebatte unnötig anzuheizen.

    Etwa 1,2 Millionen Russlanddeutsche leben in Deutschland, einige Hundert von ihnen sind jeweils auf den Demonstrationen vertreten.

    The Insider, ein Portal für investigativen Journalismus, macht sich auf die Suche nach den Protagonisten der TV-Sujets, die derzeit für Aufruhr sorgen.

    Am 14. Januar hat der Kanal Swesda eine Erzählung von der Apokalypse der EU ausgestrahlt, wie sie derzeit typisch ist. Der Titel lautete: „Europa. Das Paradox der Toleranz“. Einen der Schlüsselkommentare liefert darin eine gewisse „Viktoria Schmidt“, die mit zitternder Stimme von durch Flüchtlinge begangenen Willkürakten in Deutschland berichtet. Sie erzählt, dass sie ein Abwehrspray bei sich tragen müsse und dass sie und ihr Mann planten, nach Russland zurückzukehren, weil das Leben in Deutschland immer gefährlicher werde.

     
    Reportage des Fernsehsenders Swesda über Russlanddeutsche, die von angeblichen Belästigungen durch Flüchtlinge erzählen

    In Wirklichkeit heißt diese „Viktoria Schmidt“ Natalja, tatsächlich lebt sie in Hannover, und ihre Tätigkeit besteht darin, russischen Fernsehsendern – darunter auch den großen staatlichen Kanälen – dabei zu helfen, Geschichten dieser Art gegen eine kleine Summe (rund 500 Euro) zu fabrizieren. Ein Korrespondent von The Insider nahm Kontakt zu Natalja auf, indem er sich als Produzent einer dieser Fernsehsender vorstellte und fand heraus, wie dieses einträgliche Geschäft funktioniert.

     
    „Ich spreche Ihnen jeden Text, den Sie wollen“ – „Viktoria Schmidt“ im Gespräch mit dem Insider-Redakteur, der sich als Produzent eines staatlichen Senders ausgibt

    „Horrorgeschichten“ aus der EU

    Natalja ist natürlich keinesfalls die Einzige in Deutschland, die „Horrorgeschichten“ über Europa fabriziert. Es gibt mehr als genug Leute, die sich mit Fakes schnelles Geld verdienen wollen. The Insider konnte mühelos einen anderen, ebenso erfolgreichen „Organisator“ solcher Geschichten für das Staatsfernsehen finden – den Kameramann Oleg T. Es beirrt ihn nicht, als ihn der Insider-Korrespondent, der sich als Produzent eines Fernsehsenders ausgibt, darauf hinweist, die Geschichte über Belästigungen seitens der Flüchtlinge müsse nicht den Tatsachen entsprechen. Und Oleg T. stellt eine bescheidenere Rechnung aus: 200 Euro. Was ja logisch ist, denn Natalja bietet ihre Storys, ihre Protagonisten und letztlich auch sich selbst an, Oleg T. dagegen nimmt die Geschichten nur auf Video auf.

    Ein Kameramann erklärt sich bereit, ein Interview zu filmen, unabhängig von dessen Wahrheitsgehalt

    Was aber soll man von den zwar vereinzelten, aber dennoch das ganze Land überziehenden Kundgebungen gegen Flüchtlinge halten? Solche Massen können doch nicht von russischen Journalisten mobilisiert sein? Doch, können sie. Und das geht ziemlich einfach, wie The Insider recherchierte. Zuerst wird ein Anlass gefunden – dieses Mal war es der Fall eines 13-jährigen russischen Mädchens: Russlands Medien verbreiten massiv Falschmeldungen über eine „Entführung und Vergewaltigung“, würzen das Ganze mit Kommentaren über die angebliche „vollkommene Tatenlosigkeit“ der deutschen Ordnungskräfte und das Verschweigen der Situation in den deutschen Medien, und dann verkünden die Protagonisten in ihren Geschichten, dass man „auf Gewalt mit Gewalt“ antworten solle.

    Die russische Diaspora in Deutschland (es handelt sich um rund sechs Millionen Menschen) schaut russische Fernsehsender und wird zum Zielpublikum deutscher Rechter. The Insider hat bereits über Kundgebungen der NPD berichtet, die mit einer russischen Nachrichtenkampagne „synchronisiert“ werden. Aber in Deutschland gibt es noch eine weitere rechtslastige Randbewegung: PEGIDA, die seit 2014 existiert und sich erweitert, indem sie auch Vertreter der russischsprachigen Diaspora zu ihren Agitatoren macht.

    Neuer Aufschwung für PEGIDA

    Bereits ein Jahr nach ihrem Erscheinen schien PEGIDA kurz vor dem Verschwinden, nachdem Lutz Bachmann, der Gründer der Bewegung, zurückgetreten war. Auslöser war ein Skandal um Fotos, auf denen er als Hitler zu sehen ist, sowie sein Posting auf Facebook, das einen Menschen in Ku-Klux-Klan-Kluft zeigte und mit dem Slogan „Three K’s a day keeps the minorities away“ betitelt war.

    2016 hat die Bewegung nun neuen Aufschwung erfahren – überraschenderweise durch die russische Diaspora. Bei Kundgebungen in vielen Städten in Deutschland, als deren Anlass der Fall um das 13-jährige Mädchen diente, bezog man die russische Diaspora ein und machte russische PEGIDA-Funktionäre zu den Hauptrednern, die bei ihrem Auftritt auf Russisch sprachen. So gab ein Zeuge einer solchen Kundgebung in Hannover, der anonym bleiben will, The Insider folgenden Einblick:

    „Zuerst gab es einen Aufruf bei Facebook und per SMS, zur Kundgebung zu kommen. Ich erhielt sechs Mal solche Mitteilungen.
    In Hannover kamen ungefähr 500 Menschen zusammen. Und irgendwelche Kosaken und Nationalisten redeten irgendeinen unglaublichen Blödsinn. Eine Frau trat auf und stellte sich als ‚Verwandte und enge Bekannte der Familie des Opfers‘ vor. Eine ihrer Bekannten verriet zufällig, dass die Frau in Wirklichkeit eine PEGIDA-Funktionärin sei. Von den sechs Leuten, die auftraten, waren drei von PEGIDA. Außerdem trat noch ein kleiner Mann mit Cowboyhut auf, er war jüdischer Abstammung und kam aus der deutsch-russischen Gemeinde. Zuerst lief sein Auftritt wie geschmiert, aber dann hörte er nicht mehr auf zu reden und begann von einem Freund in Israel zu erzählen, der die Araber hassen würde. Dann verkündete er, dass wir hier alle Deutsche seien, dass wir eine deutsche Ordnung bräuchten, eine deutsche Kultur und ein deutsches Gesetz. Die Leute, die auf diese Kundgebung kamen, waren durch die ganzen Nachrichten verängstigt, und sofort wurden sie hier bearbeitet. Direkt von der Bühne herunter agitierte man, sich PEGIDA anzuschließen.“

    Dieser Aufruf an die „russischsprachige Bevölkerung“ sich auf wichtigen Plätzen und vor Rathäusern zu Protestkundgebungen zu versammeln beginnt mit den Worten „Achtung! Es ist Krieg!“
    Dieser Aufruf an die „russischsprachige Bevölkerung“ sich auf wichtigen Plätzen und vor Rathäusern zu Protestkundgebungen zu versammeln beginnt mit den Worten „Achtung! Es ist Krieg!“

    The Insider liegt ein Video von dieser Kundgebung vor, darin ruft tatsächlich eine russischsprachige Frau zur Unterstützung von PEGIDA auf. Es ist deutlich, dass sie schlecht Deutsch spricht.

     
    PEGIDA-Kundgebung in Hannover

    Die deutschen Behörden suchen den Dialog mit der russischen Diaspora. Auf einer ähnlichen Demonstration in Lahr (rund 40.000 Einwohner) versucht der Bürgermeister mit den Versammelten zu sprechen und kann die Menschenmenge kaum übertönen: „Jetzt fragen Sie, wie man in unser kleines Lahr tausend Flüchtlinge schicken kann. Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich früher immer wieder gefragt worden bin: Wie sollen wir denn 9.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen? Ja, es war schwierig, es hat Jahre gebraucht, bis die Leute diese Situation annehmen konnten. Aber wir haben es geschafft und ich finde es richtig, letztlich haben wir alle davon profitiert.“

     
    Rede des Bürgermeisters der Stadt Lahr

    Viele russische Emigranten sind von diesen Ereignissen nicht minder geschockt als andere in Deutschland lebende Menschen. Wo Russen früher stolz darauf sein konnten, Deutschland von den Nazis befreit zu haben, befürchten sie nun, in den Augen der Deutschen mit rechtsextremen Randgruppen assoziiert zu werden. Das wäre ungerecht, denn PEGIDA-Kundgebungen gibt es nur vereinzelt und sie versammeln einige Hundert Menschen – wohingegen an einer Kundgebung zur Unterstützung von Flüchtlingen allein in Berlin mehrere Zehntausend teilnahmen, darunter auch viele Russen.

    Russisches TV als Informationsquelle

    Wie sich die Situation weiterentwickelt, hängt zu einem großen Teil von den russischen Fernsehsendern ab. „Das russische Fernsehen ist zurzeit die wichtigste Quelle der chauvinistischen und fremdenfeindlichen Propaganda für einen ziemlich großen Teil des russischsprachigen Publikums“, erläutert der in Berlin lebende Künstler Dimitri Vrubel gegenüber The Insider.

    Aber was die Fernsehnachrichten bringen, ändert sich sowieso ständig. Ging es noch vor kurzem bei zwei von drei Meldungen der staatlichen russischen Fernsehsender um die „Greueltaten der Faschisten in Noworossija“, gefolgt von der „Zerstörung der IS-Hauptquartiere in Syrien“, so widmen sich die Nachrichten heute ausschließlich den „unter dem Flüchtlingsjoch leidenden EU-Bewohnern“. Viele hoffen, dass dieses Thema sich früher oder später auch wieder erschöpft und die rechtsextreme Bewegung ihre Unterstützung verliert.

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  • Presseschau № 15

    Presseschau № 15

    Gleich mehrere Themen erregten die Gemüter in dieser Woche: Die angebliche Vergewaltigung des 13-jährigen Mädchens in Berlin schlägt hohe Wellen. Außenminister Lawrow meldet sich zu Wort und wirft den deutschen Behörden eine Vertuschung des Falls vor. Aus dem Londoner Bericht zur Ermordung Alexander Litwinenkos geht hervor, Putin habe dessen Vergiftung wahrscheinlich genehmigt. Auch Ramsan Kadyrow und seine Drohungen sind noch immer Thema. Derweil bilden sich lange Warteschlangen vor der Tretjakow-Galerie.

    Europa und seine Migranten.  Auch diese Woche ist die angebliche Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens in Berlin durch Flüchtlinge in den russischen Medien immer noch Thema. Einer der staatlichen Nachrichtensender, Rossija 24, führt nun die „Affäre Lisa in Berlin“ gar als Themenrubrik auf seiner Homepage. Auslöser war eine Reportage des Ersten Kanals, in welcher angebliche russischstämmige Auswanderer in ziemlich rabiatem Tonfall Selbstjustiz gegenüber Flüchtlingen andeuteten. Auch die russische Regierung hat den Fall kommentiert: Außenminister Lawrow forderte in einer Pressekonferenz Deutschland, dazu auf, den Fall nicht unter den Teppich zu kehren. Und dies, obwohl kein Journalist eine Frage zu dem Thema gestellt hatte.

    In ihren Berichten beriefen sich einige staatliche Medien auf den bisher kaum in Erscheinung getretenen Internationalen Konvent der Russlanddeutschen, zu finden unter der Internetseite www.genosse.su, welcher am Wochenende zu einer Demonstration vor dem Kanzleramt in Berlin gegen Gewalt von Migranten aufrief. Auch Meduza berichtet von den Kundgebungen. Andere wiederum kritisieren abermals die Arbeit der deutschen Medien. Im Massenblatt Komsomolskaja Prawda darf dies der deutsche „politische Experte und Analyst“ Hans Weber, einer der führenden Köpfe der neuen Frankfurter PEGIDA-Gruppe, welcher deutsche Medien allesamt aus Washington gesteuert sieht. Die Korrespondentin und ihr Gesprächspartner sind sich einig: Europa begeht durch den Zuzug der Migranten kollektiven Selbstmord, Rettung könne einzig aus Russland kommen, das versuche, der amerikanischen Dominanz eine multipolare Weltordnung entgegenzusetzen. 

    Andere russische Medien betonen allerdings die Fragwürdigkeit des Berichts. The Insider berichtet über die Anklage wegen möglicher Volksverhetzung gegen einen Korrespondenten im Ersten Kanal durch einen deutschen Anwalt. TV Dozhd besucht Russlanddeutsche in Berlin, welche stolz ihr Stück Heimat in der Fremde präsentieren. Inklusive russischer Lebensmittel, die deutschen seien ja voller Chemie, wie einer der Protagonisten erzählt.

    Radioaktive Spur erreicht Moskau.  Skandal, Lüge und eine Provokation: Mit harten Worten reagierte Moskau  auf den britischen Untersuchungsbericht zum Tode Alexander Litwinenkos. Als größter Aufreger erwies sich die vom Vorsitzenden der Kommission, Richter Robert Owen, erhobene Behauptung, Präsident Wladimir Putin sowie der damalige FSB-Chef Nikolaj Patruschew hätten die 2006 in einer Londoner Hotelbar erfolgte Vergiftung des ehemaligen Geheimagenten „wahrscheinlich genehmigt“ (auf Seite 246 des Reports). Mögliche Hintergründe, warum der nach seiner Flucht aus London 2000 zum Putin-Kritiker gewordene Litwinenko durch radioaktives Polonium vergiftet wurde, liefert The Insider. Wer die damaligen Ereignisse nicht mehr präsent hat, findet hier einen detaillierten Bericht über Litwinenkos letzte Tage in London und sein Zusammentreffen mit den Mordverdächtigen Dimitri Kowtun und Andrej Lugowoi.

    Kremlkritische Medien berichteten ausführlich über den Report. The New Times veröffentlichte ein langes Interview mit der Witwe, Maria Litwinenko. Die Reaktion der staatlichen Medien ließ dagegen auf sich warten. Wie ein Blick in die regierungseigene Rossiskaja Gazeta einen Tag nach Veröffentlichung des Berichts zeigt, waren andere Themen, etwa der Rubelkurs, wichtiger als der Fall Litwinenko. Trotzdem ließ die Rossisjaka Gazeta kein gutes Haar den dem Report; London würde die Brücken zu Moskau abbrechen, heißt es. TV-Sender sehen London und Moskau nun gar am Rande eines neuen Kalten Krieges. Auch Dimitri Kisseljow, Chef der staatlichen Medienholding Rossija Segodnja (dt. Russland Heute), berichtete in seiner sonntäglichen Nachrichtensendung erst nach Terroranschlägen, Syrien, Wirtschaftskrise und Flüchtlingen über die Ergebnisse von Richter Owen. Fazit des Beitrags (ab Minute 41): Litwinenko habe sich bei einer Geheimoperation durch unsachgemäße Handhabung des Poloniums wahrscheinlich selbst vergiftet. Rascher als die Medien reagierte allerdings die Politik. Bereits kurz nach der Veröffentlichung nannte das Außenministerium die Untersuchung eine politisch motivierte Farce. Für die in dem Bericht erhobenen schweren Anschuldigungen gegenüber der russischen Staatsspitze gäbe es keine Beweise, es grenze an Verleumdung und das „Spektakel“ werde die Beziehungen zwischen Russland und Großbritannien weiter belasten, sagte Außenminister Sergej Lawrow während einer Pressekonferenz. Mit seiner Strategie versuche Moskau das Narrativ an sich zu ziehen, schreibt The New Times. Es gehe allerdings nicht nur um die mediale Deutungshoheit, schreibt das Magazin weiter. Konkrete Folgen seien nötig. Es dürfe nicht vergessen werden, dass sich die russische Regierung in der Litwinenko-Affäre eines politischen Gegners entledigt habe und das auch noch außerhalb der russischen Staatsgrenzen.

    Schakale und Volksfeinde. Innenpolitisch richtet sich der Blick immer noch nach Tschetschenien. Am Freitag riefen die Behörden zu einer straff durchorganisierten Kundgebung gegen die liberale Opposition und für den Patrioten Ramsan Kadyrow auf. Bei dem Aufmarsch wiederholte die Entourage des Republikchefs dessen hetzerische Drohungen: „Wir kennen unsere Feinde und die Verräter dieses Landes. Ihre Namen stehen auf einer Liste“, sagte der russische Parlamentsabgeordnete Adam Delimchanow. Hier noch zusätzliche Informationen über den Cousin und engen Vertrauten des Republikoberhaupts. Der Kreml nimmt dies kritiklos hin und erteilt gar noch Rückendeckung. Putin hob dieser Tage die Effizienz Kadyrows als Republikchef hervor, dessen Drohungen hat er nicht kommentiert. Bereits seit Ende 2014 hat die tschetschenische Regierung ihre Hetzkampagne gegen Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner verstärkt. Laut The New Times will Kadyrow Putin damit Stärke und auch eine gewisse Unabhängigkeit vom Kreml demonstrieren. 60 Prozent der Russen halten die Aussagen des Republikchefs allerdings für unzulässig, lauten die Ergebnisse einer neuen Lewada-Umfrage. Letztes Jahr stand Kadyrow höher in der Gunst der Russen, was laut Lewada auf seine Position im Ukraine-Konflikt zurückzuführen war. Tschetschenen kämpften auch auf Seite der Separatisten im Donbass. Das sei nun vergessen.

    Eisige Warteschlange. Viel zu reden gab dieser Tage auch eine eingetretene Türe in Moskau. Dahinter stand jedoch kein politischer Vandalismus, vielmehr wurde die Tür von Leuten aufgebrochen, welche sich bei eisigen Temperaturen für den Besuch einer Ausstellung des Malers Walentin Serow anstellten. Das Personal der Tretjakow-Galerie wurde förmlich überrannt, die Schlange reichte mehrere hundert Meter bis zum Eingang des Parks. Das RuNet reagierte spöttisch und verglich die Schlange mit der aktuellen Tagespolitik: „Roskomnadsor hat den Zugang zur Schlange blockiert“, twitterte ein Nutzer in Anspielung auf die staatliche Zensurpolitik im Internet, ein anderer: „Peskow hat die Existenz einer Warteschlange bestritten“. Ein Verweis auf Putins Sprecher Dimitri Peskow und dessen Gabe, auch Offensichtliches erst einmal zu negieren.

    Beatrice Bösiger aus Moskau für dekoder.org

  • Was hat Moskau im Angebot?

    Was hat Moskau im Angebot?

    Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen: Der russische Präsident erteilte der zuvor oft beschworenen Partnerschaft mit der NATO ein klare Absage und positionierte Russland in unerwartet deutlicher Rhetorik als wiedererstarkte Weltmacht, die in der von ihm propagierten multipolaren Weltordnung ihre eigene Rolle zu spielen gedenke. Wie unerwartet diese Äußerungen für den größten Teil der Zuhörer kamen, ja wie schockierend sie für viele waren, rekonstruierte kürzlich der CICERO: „Die Konferenzgäste tauschen ungläubige Blicke aus, heben die Hände, zucken die Schultern. Alle Gesten fragen dasselbe: Was soll das?“ Manche, berichtet der Autor des Artikels, sprachen gar vom Beginn eines neuen Kalten Krieges.

    Mitte Februar steht nun wieder eine Sicherheitskonferenz in München an, zu der ursprünglich Putin erwartet wurde, nun aber wohl doch Premierminister Medwedew oder Außenminister Lawrow fahren werden – letzte Klarheit darüber, wer die russische Delegation leiten wird, scheint noch nicht erreicht. Die Tatsache, dass Putin kürzlich der BILD ein ausführliches programmatisches Interview gegeben hat, lässt vermuten, dass auch die diesjährige Konferenz den Rahmen für eine russische Standortbestimmung bieten könnte. In welcher Weise könnte Russland die heißen Eisen Ukraine, europäische Sicherheit, Terrorismus in der derzeitigen angespannten Situation handhaben? Wird versucht, einen neuen Dialog mit dem Westen anzuknüpfen, oder stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation? Darüber macht sich Wladimir Frolow für SLON Gedanken.

    Wladimir Putin wurde zur alljährlichen Münchner Sicherheitskonferenz eingeladen, die traditionell im Februar stattfindet. Und obwohl die Teilnahme des russischen Präsidenten noch nicht offiziell bestätigt ist, gibt es Anzeichen, dass seine neue „Münchner Rede“ schon in Arbeit ist. Einmal in seinem letzten Interview in der deutschen Klatschpresse, und in dem neuen Dokumentarfilm Weltordnung, in dem Putin seine Sicht auf die heutige Welt darlegt.

    Offenbar will sich Putin mit dem Westen aussprechen, und die neue Münchner Rede ist das ideale Format dafür. So erklärt sich auch die für viele befremdliche Auswahl der Boulevardzeitung BILD als Plattform für ein richtungsweisendes Interview. Die BILD ist eine Botschaft „an die Welt“ und „an die Völker“ (orbi). Der Auftritt auf der Münchner Konferenz eine Botschaft „an die Stadt“ (urbi) – also die westlichen Eliten.   

    Sagt uns nicht, wie wir leben sollen

    Sollte Putin nach München fahren, dann wäre das ein mutiger Schritt. Im Vorjahr hatte man als Abgesandten den russischen Außenminister Sergej Lawrow dorthin geschickt, der vor dem Hintergrund des glänzenden Angriffs russischer „Freiwilliger und Fronturlauber“ auf den Donezker Flughafen und auf Debalzewo [Debalzewe] massivem Widerstand ausgesetzt war, um nicht zu sagen ausgelacht wurde. Das Publikum dort ist gnadenlos, und Antworten auf Zuhörerfragen gehören zum Format.        

    Im Laufe des Jahres ist aber, insbesondere seit dem Einsatz Russlands in Syrien, das Beziehungsklima zwischen Russland und dem Westen etwas milder geworden, und neuerliche Widerstände in München wird es wohl nicht geben. Auch weil Putin ein erfahrener Polemiker ist und auf unbequeme Fragen zu antworten weiß. In letzter Zeit allerdings klingt es immer mehr nach einem „sagt uns nicht, wie wir leben sollen“.    

    Die letzten Auftritte des russischen Präsidenten bestanden vorwiegend in der Aufzählung wohlbekannter Kränkungen, die der arglistige Westen, allen voran die USA, Russland zugefügt hat: die Ausweitung der NATO, die militärischen Interventionen in Jugoslawien, im Irak und in Libyen, die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo, der vom CIA initiierte Arabische Frühling und die Destabilisierung des Nahen Ostens, der Ausbau der Raketenabwehr in Europa und Asien, der „Staatsstreich in Kiew“ und die „dumme Verhängung von Sanktionen gegen Russland“.

    Doch dieses sentimentale Narrativ ist vor allem faktisch nicht ganz korrekt.

    Der Streit um angebliche Versprechen, nach der Wiedervereinigung Deutschlands die NATO nicht Richtung Osten auszuweiten, ist schon lange beigelegt. Derartige Versprechen, geschweige denn Verpflichtungen, hat es einfach nie gegeben: Im Jahr 1990 hatte niemand an eine NATO-Osterweiterung gedacht. Es gab lediglich das Versprechen, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine Truppen anderer NATO-Länder bereitzustellen (die Armee der BRD betraf das nicht).

    Ausreichend wirksam verfocht Russland seine Sicherheitsinteressen in der Grundakte von 1997, in der verankert wurde, dass auf dem Territorium neuer NATO-Mitglieder keine Atomwaffen, keine militärische Infrastruktur und keine wesentlichen Truppenkontingente stationiert werden. Diese Garantien werden bis dato eingehalten. Ungeachtet dessen, dass einzelne NATO-Mitglieder versuchen, sie als Reaktion auf Russlands Vorgehen in der Ukraine und sein demonstratives militärisches Muskelspiel an den Nato-Grenzen aufzuheben.

    Doch derartige Zwistigkeiten interessieren heute kaum jemanden, etwas Neues muss her. Was genau hat Moskau im Angebot?

    Der erboste Moralapostel

    In den 70er und 80er Jahren bestand eine Tradition der sowjetischen Außenpolitik darin, dass die UdSSR-Führung bei internationalen Themen stets öffentlich mit großangelegten Initiativen zur Friedensthematik auftrat (meistens ging es um atomare Abrüstung). Diese Initiativen wurden sodann auf internationalen Foren und in bilateralen Verhandlungen diskutiert und weiterentwickelt. Doch Wladimir Putin bringt in letzter Zeit nichts dergleichen hervor, abgesehen von seinem nicht auf Gegenliebe stoßenden Vorschlag an die UNO, gegen die in Russland verbotene Terrororganisation ISIS eine „neue Anti-Hitler-Koalition“ zu gründen. Ansonsten gibt es lediglich Versuche, den Westen mit Moralpredigten zu belehren.

    Wie der Politologe Iwan Krastew feststellt, wirkt Wladimir Putin im Film Weltordnung wie ein „erboster Moralapostel“, der die Außenwelt wie ein „Familiendrama um Liebe, Hass und Verrat“ betrachtet. Russlands Außenpolitik der letzten Jahre beschreibt Krastew als  „Großmachtsgefühlsduselei“, die sich nicht auf nüchternes Kalkül von Interessen stützt, sondern auf Kränkung durch Ungerechtigkeit.

    Moskau ist der Ansicht, das europäische Sicherheitssystem befinde sich aufgrund der Osterweiterung von NATO und EU in der Krise. Diese Politik bedrohe die Interessen Russlands, das geradezu gezwungen gewesen sei, über die Angliederung der Krim und die Unterstützung der Aufständischen im Donezbecken Gewalt anzuwenden, um „eine weitere Expansion westlicher Bündnisse auf für Moskau überlebenswichtige Territorien aufzuhalten …“.      

    Damit möchte Moskau natürlich dem Westen gegenüber rechtfertigen, dass es 2014 in der Ukraine die Hölle anfachte, anstatt, wie 2005, mit der bestehenden Regierung zu verhandeln. Doch für den Westen funktioniert diese Logik nicht. Die europäische Ordnung sah definitiv stabil und sicher aus. Die Probleme begannen 2014, und es war völlig klar, wer sie lostrat.   

    Die Frage der Agenda

    Doch was kann das europäische Sicherheitssystem ersetzen, und wie kann das Sicherheitsvakuum gefüllt werden? Putin sagt im Großen und Ganzen, man hätte die mittel- und osteuropäischen Länder nicht in die NATO aufnehmen, sondern etwas „Neues, Gemeinsames, Europa Vereinendes“ schaffen sollen. Damit führt er quasi von Neuem die Breschnew-Doktrin ein: eine beschränkte Souveränität der zwischen Russland und Westeuropa liegenden europäischen Staaten – in einer Form, die sich nun schon weit über den postsowjetischen Raum hinaus erstreckt.

    Gleichzeitig leistet sich Putin ein paar ziemlich unvorsichtige Aussagen. Zum Beispiel spricht er von der Priorität „menschlicher Schicksale“ vor Grenzen, vom Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Völker vor der Wahrung der Souveränität und territorialen Integrität eines Staates. Wogegen Moskau mit dem Konflikt im Nordkaukasus die gesamten 1990er Jahre hindurch deutlich verstieß. Ganz abgesehen vom „Prinzip der Gerechtigkeit“, das er zur Lösung territorialer Unstimmigkeiten ins Instrumentarium der russischen Politik übernahm (nun ja, Japan könnte ihm beipflichten).

    Mit einem solchen Ideensortiment kann man in München nicht auf Erfolg zählen, und der Kreml wird sich für all diese mehrdeutigen Thesen eine unschuldigere Interpretation überlegen müssen. Eine positive Agenda von russischer Seite steht noch aus.

    Die NATO auflösen?

    Vielleicht hat Moskau vor, dem Westen eine aktualisierte Version des Vertrags über europäische Sicherheit vorzulegen – dieser Vertrag war die erste außenpolitische Initiative von Präsident Medwedew, sehr feierlich am 5. Juni 2008 in Berlin verkündet und bisher der fundierteste Vorschlag der Russischen Föderation zur Modernisierung des europäischen Sicherheitssystems. Er sollte eine Mischung darstellen aus Nichtangriffspakten vom Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. dem Briand-Kellogg-Pakt von 1928) und den Statuten des Völkerbundes. Er schlug  – gestützt auf die These  einer geeinten und unteilbaren Sicherheit – ein Beratungssystem der Mitgliedsländer vor, das Russland ein schlecht verschleiertes Vetorecht gegen alle Unternehmungen der NATO eingeräumt hätte.      

    Das ist natürlich besser, als NATO und EU aufzulösen oder ein neues Jalta-Abkommen über die Aufteilung der Einflusssphären zu schließen. Doch der Westen braucht einen solchen Vertrag nicht, insofern ist hier kein Erfolg zu erwarten. Außerdem wird Putin wohl kaum mit dem Ziel nach München fliegen, die gescheiterte Initiative Medwedews fortzuführen.   

    Vor dem Hintergrund des Feldzugs in Syrien ist zu erwarten, dass Putin in seiner Münchner Rede den Schwerpunkt darauf setzen wird, gemeinsam mit dem Westen den internationalen Terrorismus im Nahen Osten und in Afghanistan zu bekämpfen. Erst recht, weil in dieser Hinsicht bereits erste Schritte mit Frankreich gemacht worden sind, was Syrien betrifft (Putin bezeichnete französische Militärangehörige als „Verbündete“), und manche Vorzeichen auch für eine solche Entwicklung in Libyen sprechen.

    Moskau formuliert derzeit neue Organisationsprinzipien seiner Außenpolitik: Maßnahmen gegen die Verbreitung von Chaos und den Zusammenbruch des Staatswesens sowie die Aufrechterhaltung der staatlichen Kontrolle in denjenigen Regionen, die für die Russische Föderation von existentiellem Interesse sind. Hier wird dem Anspruch nach eine neue außenpolitische Doktrin formuliert, die im Gegensatz zur amerikanischen Doktrin der „Förderung von Demokratie“ steht. Stattdessen bietet Moskau die Erhaltung und Festigung autoritärer Regime als schrittweisen Übergang zu einer Demokratie mit „nationaler Färbung“. Das ist natürlich eine globale Agenda, die Agenda einer Supermacht. Aber mit Europas Sicherheit steht sie indirekt dennoch in Zusammenhang.

    Taktik der kleinen Schritte

    In München will man jedoch etwas anderes hören: vor allem von einem Ende des Konflikts in der Ostukraine. Aber alles hängt am Unwillen Moskaus, sich auf die Demontage der „Volksrepubliken“ einzulassen. Und Anzeichen, dass man diese Position überdenkt, gibt es bislang nicht. Eher setzt man darauf, dass durch Kiews Verschulden die Verhandlungen scheitern und die Sanktionen aufgehoben werden, weil Minsk II (die Wiedererlangung der Kontrolle über die Grenze zur Russischen Föderation) von Seiten der Ukraine nicht erfüllt werden kann.   

    Wenn Wladimir Putin den Dialog mit dem Westen über Sicherheit wiederaufzunehmen und das unglückliche Kapitel „Ukraine“ irgendwie zu beenden gedenkt, sollte er Themen wie Geopolitik, Aufteilung von Einflusssphären, neue Weltordnung und Umformatierung der bestehenden europäischen Sicherheitsstrukturen lieber vermeiden.   

    Wenn aber der russischen Regierung die konfrontative Atmosphäre des Blockdenkens lieber ist, dann gibt es keinen besseren Weg, die eigene Bedeutsamkeit auf den Status einer Supermacht zu heben, als den, mit der NATO über Rüstungsbeschränkungen zu verhandeln.

    Der Sorge darüber, dass die jeweiligen militärischen Infrastrukturen territorial wieder näher aneinander heranrücken, kann durch eine Modernisierung des Wiener Dokuments entgegengetreten werden: zum Beispiel, indem man die Anforderungen verschärft, dass geplante Manöver – eben auch jene, die zur Überprüfung der Kampfbereitschaft überraschend durchgeführt werden – unbedingt angekündigt werden müssen, sowie durch neue Abkommen über die Abwehr militärischer Vorfälle im Luftraum und auf See.      

    Man könnte weitergehen und die Verhandlungen über die Begrenzung konventioneller Streitkräfte in Europa wiederaufnehmen (2015 hat Russland seine Mitwirkung an den Mechanismen des KSE-Vertrags aufgekündigt) und neue Beschränkungen für den Aufbau schwerer Waffen ausarbeiten, durch die die Angst vor einem plötzlichen Einmarsch sinken würde. Man könnte den Dialog über Raketenabwehr und den Austausch von Daten zu Raketenstarts, über die Art der Bedrohung durch Raketen und das Zusammenspiel der Systeme von NATO und Russland weiterführen.

    Auf dem Gebiet der Sicherheit gibt es eine gemeinsame Agenda, mit der man sich befassen könnte, um so allmählich wieder Vertrauen aufzubauen. Würde Putin den Akzent auf eine reale, nicht auf eine fiktive Agenda setzen, auf eine Rückkehr zur Taktik der kleinen, aber konsequenten Schritte, auf Berechenbarkeit, so würde seine zweite Münchner Rede bedeutender werden als die erste. Sofern er sich überhaupt zu dieser Reise entschließt.

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